The Project Gutenberg eBook of Bagdad, Babylon, Ninive

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Title : Bagdad, Babylon, Ninive

Author : Sven Anders Hedin

Release date : September 9, 2023 [eBook #71601]

Language : German

Original publication : Leipzig: F. A. Brockhaus

Credits : Peter Becker, Reiner Ruf, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK BAGDAD, BABYLON, NINIVE ***

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1918 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.

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Original-Einband
Frontispiz: Sven Hedin in   kaiserlicher Uniform

GRÖSSERES BILD

Sven Hedin

Bagdad
Babylon
Ninive

Verlagssignet

Leipzig: F. A. Brockhaus · 1918

Zensursiegel: Völkerschlachtdenkmal

Copyright 1918 by F. A. Brockhaus, Leipzig.

Seiner Hoheit
Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg

in Erinnerung an
unvergeßliche gemeinsame Kriegsfahrten und Reisen

in Verehrung und Dankbarkeit

zugeeignet

vom Verfasser.

Inhalt.

Seite
Erstes Kapitel. Die Türkei im Weltkrieg
Zweites Kapitel. Aleppo
Drittes Kapitel. Eine mißglückte Autofahrt
Viertes Kapitel. Mein neuer Feldzugsplan
Fünftes Kapitel. Auf den Wellen des Euphrat
Sechstes Kapitel. Unter Nomaden und armenischen Flüchtlingen
Siebentes Kapitel. Deutsche Artillerie auf dem Wege nach Bagdad
Achtes Kapitel. Im Reich der Palmen
Neuntes Kapitel. Mein Einzug in Bagdad
Zehntes Kapitel. Bagdad einst und jetzt
Elftes Kapitel. Sommertage in „Dar-es-Salaam“
Zwölftes Kapitel. Zwei Deutsche: von der Goltz und Moltke
Dreizehntes Kapitel. Kut-el-Amara
Vierzehntes Kapitel. Meine Fahrt nach Babylon
Fünfzehntes Kapitel. Bibel und Babel
Sechzehntes Kapitel. Die Ruinen Babylons
Siebzehntes Kapitel. Eine deutsche Studierstube am Euphrat
Achtzehntes Kapitel. Samarra, die Hauptstadt des Kalifen Mutawakkil
Neunzehntes Kapitel. Die Karawane des Herzogs
Zwanzigstes Kapitel. Die Königsstadt Assur
Einundzwanzigstes Kapitel. Erlebnisse auf einer Etappenstraße
Zweiundzwanzigstes Kapitel. Mosul
Dreiundzwanzigstes Kapitel. Ninive
Vierundzwanzigstes Kapitel. Die Keilschrift und die älteste Bibliothek der Welt
Fünfundzwanzigstes Kapitel. Über Mardin zurück nach Aleppo
Sechsundzwanzigstes Kapitel. Assyrien und Babylonien

[S. 1]

Türkische Soldaten auf dem Wege nach Nesibin, Mosul und Bagdad.

Erstes Kapitel.
Die Türkei im Weltkriege.

Stockholm, 7. Mai 1917.

W er dieses Buch in der Erwartung zur Hand nimmt, eine ausführliche Schilderung des Anteils der Türkei am Weltkrieg zu finden, wird schon, ehe er bis Bagdad gekommen ist, enttäuscht ausrufen: Aber das ist ja kein Kriegsbuch! Das ist ja nur eine Reisebeschreibung!

Er hat vollkommen recht. Nicht der Krieg lockte mich zu neuen Abenteuern. Davon hatte ich an den europäischen Fronten genug gesehen. Diesmal sehnte ich mich vor allem danach, die Weltreiche des Altertums, Assyrien und Babylonien, und die Ergebnisse der modernen Forschung auf diesem ehrwürdigsten Boden der Erde kennen zu lernen. Ich wollte die altberühmten Städte sehen, die der Spaten der Archäologen jetzt aus vieltausendjährigem Schlummer geweckt hat.

[S. 2]

Den Leser an der überreichen Fülle meiner Eindrücke teilnehmen zu lassen, ist die vornehmste Aufgabe dieses Buches. Bald aber wird er merken, daß meine Reise in kriegerischer Zeit vor sich ging. Er hört den Schritt marschierender Soldaten und sieht deutsche Batterien in türkischen Diensten den königlichen Euphrat hinabfahren. Der Kanonendonner von Kut-el-Amara dringt an sein Ohr, und ich kann ihm einige Mitteilungen über den Vormarsch der Engländer in Mesopotamien nicht ersparen. Doch diese Gegenwartsbilder ziehen nur flüchtig vorüber vor dem machtvollen Hintergrund des Altertums.

Den Kampf der Osmanen gegen Rußland kann ein Schwede nicht aufmerksam genug verfolgen. Denn er berührt die Zukunft seiner Heimat näher, als viele meiner Landsleute zugeben wollen. Bisher war Rußland auch unser Erbfeind — die nächste Zukunft wird zeigen, ob der jetzige Umsturz den Erbfeind in einen Freund verwandelt hat. Seit Karl XII. den Europäern die Augen für die moskowitische Gefahr öffnete und die Vernichtung des slawischen Großstaates als das unumstößliche politische Ziel seiner Nachbarn bezeichnete, haben Schweden und die Türkei das gleiche Lebensinteresse gehabt. Der Sieg des einen war auch des andern Vorteil, die Niederlage des einen auch der Schaden des andern. Schwedens Mißgeschick gab den russischen Zaren stets die Hände im Süden frei. Türkische Niederlagen sicherten ihnen den Rücken vor gefährlichen Feinden, wenn sie es für angebracht hielten, ihre Aufmerksamkeit auf unsre Grenzen zu richten.

Das Gemeinsame in den politischen Bedürfnissen Schwedens und der Türkei hat dennoch nicht vermocht, sie zu förderlicher Zusammenarbeit zu vereinen, nicht einmal da, wo es nur die Abwehr galt. Und doch hat die geographische Lage beider, die die Flanken des moskowitischen Reiches umfaßt, jedem von ihnen mit oder gegen seinen Willen eine außerordentlich wichtige Rolle aufgezwungen. Schweden hält Rußland vom Meere ab und sperrt seine Verbindungen mit Westeuropa. Das bisherige Rußland — unter dem Zepter des Zaren — hat unser bloßes Dasein stets als einen erstickenden Druck empfunden; die Lehren des Weltkrieges haben diese Wahrheit nur bestätigt. Rußlands auswärtige Politik will diese Fesseln sprengen. Andrerseits kann die künftige Sicherheit Schwedens und der Türkei zu keinem billigeren Preise errungen werden, als durch [S. 4] Verwirklichung der Pläne Karls XII.! Denn die neue Staatsform, mit der Rußland soeben die Welt überrascht hat, gibt keinerlei Bürgschaft für die Zukunft. Nichts könnte törichter sein, als blind auf ihren Bestand zu vertrauen!

Halil Pascha ,
der Nachfolger des Feldmarschalls von der Goltz.
Mit eigenhändiger Unterschrift.

Die Stellung der Türkei zur westeuropäischen Frage im modernen Sinn ergab sich, als die Moskowiter ohne historisches Recht den Weg nach dem Bosporus und den Dardanellen einschlugen und ohne Umschweife erklärten, ihr Ziel sei „Zarigrads (Konstantinopels) Befreiung“! Zur selben Zeit wollte Karl XII. alle Kräfte sammeln zum gemeinsamen Kampf gegen einen Feind, dessen Charakter und Entwicklungsmöglichkeiten er wie kein andrer vor oder nach ihm mit prophetischem Blick durchschaute. Vergebens aber rief er Schweden, Polen und Türken auf. Sein Plan kam nicht zur Ausführung, nicht zum wenigsten weil westeuropäische Mächte den Russen Helferdienste leisteten. Nach Karls XII. Tode war Schweden wie Polen und die Türkei durch innere Zwistigkeiten geschwächt, die Rußland und England — damals wie jetzt in brüderlicher Eintracht — anfachten und schürten. Polen verschwand. Schweden wurde einstweilen durch Gustav III. gerettet. Den Türken aber öffnete der verhängnisvolle Vertrag von Kütschük-Kainardschi (1774) die Augen über die dunklen Pläne, die schon Zar Peter der Große im Schilde führte. Damals schon begann der Marsch über türkische Gebiete, die dem Vordringen Rußlands nach dem Mittelmeer im Wege lagen.

Der Plan der Entente, die Mittelmächte in dem jetzt tobenden Weltkrieg zu zerschmettern, hat seine Wurzeln in der Balkanhalbinsel. Über das Ziel der Russen waren die Osmanen im klaren: sie wußten , daß sich England und Rußland, um ihre Absicht durchzusetzen, über türkisches Gebiet hinweg die Hand reichen mußten , und daß alles aufgeboten werden sollte, sich freie Bahn zu erzwingen. Für beide Teile handelte es sich also um einen Kampf auf Leben und Tod. Als daher die Hohe Pforte vor der Wahl stand: Krieg oder Untergang? gab es für sie kein Bedenken mehr. Zum erstenmal nach zweihundert Jahren lebten Karls XII. Gedanken wieder auf, und aufs neue erhob sich das Ziel, an das er Schwedens ganze Kraft gesetzt hatte. Diesmal waren auch die Nachbarn im Westen auf dem Posten. Nur Karls XII. eigenes Land fehlte in der Reihe — vom Geist des Eisenkopfs war bei den [S. 5] Nachkommen seiner Helden wenig mehr zu spüren. Immerhin wirkte Schweden durch seine geographische Lage.

Tatsächlich hatten die Türken keine andere Wahl, wenn sie am Leben bleiben wollten. Die neutrale Türkei hätte dasselbe tragische Schicksal getroffen wie das verfolgte, ausgehungerte, erwürgte Griechenland, dessen einziges Verbrechen war, daß es dem weltzerfleischenden Kampfe fernbleiben wollte. Dann hätte Konstantinopel jetzt eine russische und englische Besatzung, wie sich Athen der englischen und französischen erfreut.

Hätte sich der Türkei im Laufe des Weltkriegs jemals eine Spur von Zweifel oder Ermüdung bemächtigt, so sorgte der russische Ministerpräsident Trepow in seiner Dumarede vom 2. Dezember 1916 dafür, daß sie aufs neue zu eisernem Widerstand zusammengeschmiedet wurde. Er gestand nämlich, eine mit Großbritannien, Frankreich und Italien im Jahr 1915 geschlossene Übereinkunft habe „definitiv Rußlands Recht auf die Meerengen und auf Konstantinopel festgestellt“. Sein oder Nichtsein stand also für die Türken auf dem Spiele.

Wer nun geglaubt hat, das neue Rußland werde auf solche Kriegsziele verzichten, erlebte eine große Enttäuschung. Die erste Revolutionsregierung wenigstens verharrte bei dem Anspruch auf die Dardanellen und Konstantinopel, und der Minister des Äußeren Miljukow übernahm in unveränderter Form den „russischen Reichsgedanken“, den Trepow in die Worte gefaßt hatte: „Die Schlüssel zum Bosporus und zu den Dardanellen, Olegs Schild über dem Tor Konstantinopels — das ist der Jahrhunderte alte innerste Traum des russischen Volkes zu allen Zeiten seines Daseins.“

Die junge Türkei hatte also Grund genug, dem Umschwung der Dinge in Rußland, den sie — selbst ein Kind der Revolution — an sich mit Befriedigung begrüßt hatte, größtes Mißtrauen entgegen zu bringen. Als unlängst der Großwesir Talaat Pascha der Presse seine Gedanken darüber mitteilte, tat er das mit den wohlüberlegten Worten: „Wir sehen indes mit Bedauern, daß der Gedanke der Revolution von aggressiven Absichten durchaus nicht frei ist. Miljukows ‚ehrenvoller‘ Friede setzt eine Lösung der türkischen Frage zugunsten Rußlands voraus! Ob die russischen Liberalen diese alte Lehre von Angriff und Feindseligkeit billigen, [S. 6] wissen wir nicht. Wenn aber das russische Volk das verhängnisvolle Erbe des Zarismus als Richtschnur nimmt, dürfte es zwecklos sein, von Frieden zu reden.“ —

Was hat im übrigen die Türkei dadurch gewonnen, daß sie unerschütterlich den Kurs beibehielt, den sie bei Beginn des Krieges einschlug? Nun, sie hat ihr eigenes Dasein für eine Zeitspanne gesichert, deren Weite wir noch nicht überblicken können . Indem sie die Verbindung zwischen Rußland und England verhinderte, hat sie wirksam zum Zusammenbruch des Zarenreichs beigetragen. Rußlands Kraft ist in Auflösung begriffen — kein Staat kann zu gleicher Zeit mit Erfolg Krieg führen und eine Revolution durchmachen. In diesem ungeheuern Kampfe, der nun seinem Ende zugeht, können die Moskowiter die Osmanen nicht mehr aufs Knie zwingen. Auch die zufällige Überlegenheit Englands in Mesopotamien wird daran nichts ändern. Denn die Entscheidung des Weltkriegs fällt auf den Schlachtfeldern Europas; außerdem erzittert das englische Weltreich selbst in seinen Grundfesten. Der Dienst, den die Türkei indirekt Deutschland geleistet hat, muß daneben auch in Anschlag gebracht werden. Großbritanniens Zusammenschluß mit Rußland über die Dardanellen und den Bosporus hinweg war eine der Voraussetzungen für die Zerschmetterung Deutschlands. Bei Gallipoli wurde dieser Traum zuschanden.

Die russische Revolution verlief anders, als Englands Selbstsucht erwartet hatte. Damit war eine der letzten Karten ausgespielt — es gelang England nicht wie einst im Jahre 1808, Rußland auf Kosten anderer zu kaufen. Jetzt ist es zu spät! Die Legionen Großbritanniens verbluten vergeblich an der deutschen Westfront, immer drohender erhebt sich das Gespenst des Hungers aus den Wogen des Atlantischen Ozeans. Der Sturz des russischen Zaren besiegelte Englands Mißerfolg und entschied den Ausgang des Weltkrieges! Deutschland rechnet nicht mehr mit den Slawen, sie sind matt gesetzt. Das Riesendrama, das schon drei Jahre lang über die Weltbühne geht, beginnt seinen letzten Akt. Wir haben erlebt, wie Königreiche vernichtet, Kronen in Stücke zerschlagen und Verfassungen zerrissen wurden. Überall gärt es, auch in neutralen Ländern, die jetzt in der Stunde der Entscheidung besser täten, ihre Ruhe zu bewahren.

[S. 7]

Mitten in diesem hoffnungslosen Durcheinander steht Deutschland unerschütterlich fest, wie der Fels im aufgewühlten Meer. Die Sturmwogen, die von allen Seiten hereinbrechen, zerschellen an seinen Klippen zu Schaum. Habt acht! Der Vorhang rauscht zum letzten Male empor. Hindenburg tritt auf. Dann wird die gewaltige Kampfgruppe, die seit dem Feldzug gegen Rumänien zu einer in der Weltgeschichte unerhörten Vollkommenheit ausgebildet wurde, ihre Ernte einbringen. Der Krieg wird zur Ruhe gezwungen werden. Frieden soll wieder auf dieser gemarterten, zerfleischten, vergrämten Erde herrschen! Stark und mächtig wird Deutschland der neuen Zeit entgegengehen. Dann darf auch das osmanische Volk des Dankes gewiß sein für seine ehrenvolle Teilnahme am Freiheitskampf der Germanen.

[S. 8]

Die Grabmoschee Salhein in Aleppo.

Zweites Kapitel.
Aleppo.

A m 15. März 1916 war ich mit Graf Wichard von Wilamowitz-Möllendorff, dem neuernannten Militärattaché der deutschen Gesandtschaft in Persien, von Konstantinopel abgereist. Ein Dampfer hatte uns vom Goldenen Horn nach Haidar-Pascha an der asiatischen Küste gebracht, und in sieben Tagen erreichten wir mit der Bahn Aleppo.

Zweimal hatten wir den Zug verlassen müssen, denn die Strecke der Bagdadbahn bis Aleppo war noch nicht ganz ausgebaut. Zwischen Bosanti und Gülek im Taurus war zwar schon ein gewaltiger Tunnel durchs Gebirge gebohrt, er sollte aber erst im Herbst dem Verkehr übergeben werden. In Bosanti hatten uns zwei deutsche Offiziere in türkischen Diensten, Oberstleutnant Vonberg und Major Welsch, die auf [S. 9] dem Wege nach Bitlis waren, ein Kriegsautomobil zur Verfügung gestellt, das uns auf steilen und weiten, ohne Brustwehr über schwindelnden Abgründen hängenden Zickzackwegen über die 1300 Meter ansteigenden Höhen des Taurus nach Gülek beförderte. Auf der Talfahrt durcheilten wir die Pylae Ciliciae, den hohlwegartigen Engpaß des Tales Tarsus-tschai, durch den Xerxes und Darius, Cyrus der Jüngere und Alexander der Große vorrückten, und in späteren Zeiten Harun-er-Raschid und Gottfried von Bouillon. Das Wetter war nicht eben einladend gewesen, es wechselte anmutig zwischen Land- und Platzregen. Dabei wimmelte die aufgeweichte und schlüpfrige Straße von Kamelkarawanen, die Baumwolle von Adana brachten, von Lastautos, requirierten Bauernwagen, Ochsenfuhrwerk mit Kriegsmaterial, marschierenden Soldaten und Reitern. Am meisten bemitleideten wir die Züge gefangener Sikhs, die von Bagdad her zu Fuß nach ihrem Bestimmungsort in Kleinasien wandern mußten, einen Stock in der Hand, den Brotbeutel auf dem Rücken, die Uniformen zerrissen und die Turbane zerlumpt. Welche Qual für die Söhne des Sonnenlandes Indien, dem kalten Regen auf den Höhen des Taurus schutzlos preisgegeben zu sein! Kleine Gesellschaften reisender Türken mit Eseln, Kühen und — aufgespannten Regenschirmen boten dagegen einen lustigen Anblick.

In der Mitte zwischen Bosanti und Gülek, in dem offenen Gebiet des Taurus, das Schamallan-han genannt wird und ringsum von spärlich bewaldeten Bergen umgeben ist, lag eine deutsche Automobilstation, wo man uns mit liebenswürdiger Gastfreundschaft aufnahm und eine Nacht trefflich beherbergte. In dem welligen Kesseltal war eine ganze Stadt emporgewachsen von gelben, grauen und schwarzen Zelten oft riesiger Ausdehnung, Schuppen und Reparaturwerkstätten. Mannschaftsbaracken und Offizierszelten. Deutsche und türkische Flaggen wehten darüber. Von Gülek aus hatten wir Tarsus besucht, den Geburtsort des Apostels Paulus, ein sehr langweiliges Städtchen.

Zwischen Mamure und Islahije waren die Tunnel ebenfalls schon fertig, aber nur eine Feldbahn führte hindurch. Diese Strecke über den Amanus und durch das 300 Meter breite, zwischen Basaltklippen sich öffnende Amanische Tor, durch das einst König Darius zog, um seinem Gegner Alexander in den Rücken zu fallen, mußten wir auf der Landstraße [S. 10] in einem „Jaile“ zurücklegen, einem hohen, überdeckten, kremserähnlichen Fuhrwerk, das Wilamowitz „Leichenwagen“ taufte, als ob er geahnt hätte, daß er von seiner Reise nach Persien nicht mehr zurückkehren werde. Man sitzt nicht, sondern liegt in dieser merkwürdigen Fahrgelegenheit, polstert sich den Boden so gut wie möglich mit Stroh und nachgiebigem Gepäck aus und freut sich, wenn das „gerüttelt Maß“ nicht allzureichlich ausfällt. Für mich war diese Fahrt noch dadurch besonders denkwürdig, daß auf ihr meine wohlversorgte große Proviantkiste aus Konstantinopel spurlos verschwand. Das immer trostloser werdende Regenwetter hatte uns schließlich gezwungen, in einem elenden Krug zu Islahije bei einem griechischen Wirt Georgios Vassili ein etwas romantisches Nachtlager zu bestehen, und schließlich hatte uns ein Pferdetransportzug in einem Viehwagen um 1 Uhr nachts glücklich nach Aleppo gebracht.

Hier sollte ich nun abwarten, was das Oberkommando der türkischen Armee über mein weiteres Schicksal beschließen würde. Minister Enver Pascha hatte mir die Erlaubnis zur Reise durch Kleinasien bis nach Bagdad nur unter der Bedingung erteilt, daß Feldmarschall von der Goltz, der von Bagdad aus die 6. Armee befehligte, keine Bedenken dagegen habe; er allein wollte die Verantwortung für meine Sicherheit nicht auf sich nehmen, da wilde Beduinenhorden die Wege unsicher machten. Das endgültige Ergebnis des Depeschenwechsels zwischen Konstantinopel und Bagdad sollte mir in Aleppo gemeldet werden.

Aleppo, das Haleb der Araber, nach Smyrna und Damaskus die größte Stadt Vorderasiens, ist Hauptstadt eines Wilajets, eines Gouvernements, das das ganze nördliche Syrien umfaßt und im Osten vom Euphrat begrenzt wird. Die Einwohnerzahl soll 200 bis 250000 betragen; davon sind zwei Drittel Mohammedaner, 25000 Armenier, 15000 Juden, ebensoviele Griechen, die übrigen Lateiner, Maroniten und unierte Syrer. In der Altstadt herrscht noch der arabische Stil vor, der nach der Straße zu nur öde Mauern zeigt. Doch finden sich auch dort schon solide Steinhäuser mit Erkern, Balkonen und eingebauten Altanen, und die neuen Stadtteile an der Peripherie haben eine fast europäische Bauart. Mit ihrem unaufhörlich hin- und herwogenden orientalischen Verkehr bieten Aleppos Straßen wundervolle Bilder; noch [S. 11] lieber aber verirrt man sich in die dunkeln Labyrinthe der Basare, deren kleine, enge Kaufläden mit Teppichen und Stickereien, Gold und Silberschmuck, Pantoffeln und Lederwaren und all dem Kram angefüllt sind, der von Europa eingeführt wird.

Graf Wichard von Wilamowitz-Möllendorf.

Der Krieg hatte zwar den Handel ziemlich lahm gelegt; der Han Wesir, ein Gebäude aus dem 13. Jahrhundert, war fast leer geräumt. [S. 12] Dennoch herrschte in den Basaren noch immer lebhafter Betrieb. Selbst französische Weine, Konserven, Lichte usw. konnte man kaufen, da die Vorräte der Küstenstädte noch nicht erschöpft waren, so daß ich meine verschwundene Proviantkiste leicht ersetzen konnte. Manche Artikel aber stiegen unerhört im Wert. Für Petroleum forderte man das Zwanzigfache des Friedenspreises, und das türkische Papiergeld stand tief im Kurs: in Konstantinopel galt ein türkisches Pfund 108 Piaster, in Aleppo nur 90, in Jerusalem sogar, wie man mir versicherte, nur 73 (ein Piaster hat einen Wert von etwa 18 Pfennig). In manchen Gegenden weigerte sich die Landbevölkerung überhaupt Papiergeld anzunehmen; ich hatte mich glücklicherweise in Konstantinopel mit einer größeren Summe in Gold und Silber versehen.

In der Mitte der Stadt erhebt sich die Zitadelle auf einer uralten, wahrscheinlich künstlich geschaffenen Anhöhe. Vom Rundgang des Minaretts dort oben hat man eine wundervolle Aussicht über das Häusermeer der Stadt mit seinem sparsamen Grün und die Straßen, die wie die Speichen eines Rades von diesem Mittelpunkt ausgehen, auf das weite, hügelige, graugelbe Gelände und das Tal des Kuwekflusses, wo Platanen, Silberpappeln, Walnußbäume, Oliven und vor allem Pistazien in den Gärten grünen.

Aleppos Hauptsehenswürdigkeit ist die „große Moschee“ Dschami-kebir oder Dschami-Sakarija. Sie hat ihren Namen vom Vater Johannes des Täufers, Zacharias, dessen Grab im Innern hinter vergoldetem Gitter gezeigt wird, und wurde von den Omaijaden an einer Stelle errichtet, wo vordem eine von der Kaiserin Helena gestiftete christliche Kirche stand. Ihr gegenüber erhebt sich die Dschami-el-Halawije, die ebenfalls ein Abkömmling einer von der Kaiserin Helena erbauten Kirche sein soll. Ihr Inneres zieren Pilaster und Chornischen mit Akanthusmotiven und ein „Maschrab“, eine Gebetsnische, von künstlerischem Wert. Vor der Stadt liegt die vornehme Begräbnisstätte Ferdus mit zahlreichen Heiligengräbern und den charakteristischen Grabsteinen: immer zwei aufrecht stehend als Sinnbilder des Lebens, dazwischen ein liegender als Sinnbild des Todes. Die Ecken des liegenden Steins haben schalenförmige Vertiefungen: darin sammelt sich das Regenwasser, und die Vögel kommen, um zu trinken und den Schlaf der Toten mit ihrem Gesang zu [S. 13] versüßen. Als ich den Friedhof besuchte, küßte eine alte Türkin weinend die Steine der Heiligengräber, um, wie sie sagte, Schutz zu erflehen für ihren Sohn, der an der Front gegen die Russen kämpfte.

Eine andere, teilweise verfallene Grabmoschee trägt den Namen Salhein. Über ihren Denkmälern erhebt sich ein sehr hübsches Minarett.

Arabischer Junge in Aleppo.

Vor der Stadt liegt auch die Moschee Scheik-ul-Hussein; ihre Gebetsnische birgt einen Stein, der nach der Versicherung Rechtgläubiger alljährlich am 10. Oktober, dem Todestage des schiitischen Heiligen Hussein, blutet. Nördlich von Aleppo träumt zwischen Anhöhen das Derwischkloster Scheik Abu Bekr, eine viereckige Halle unter einer Kuppel, im Innern ausgestattet mit prächtigen Skulpturen und Fayencen; zahlreiche große Fenster werfen helles Licht auf die Farbenpracht der Kunstwerke. Im Hof spiegeln Zypressen ihr ewiges Grün in einem klaren [S. 14] Wasserbecken; daneben schlummert unter einem von Kletterpflanzen umsponnenen Grabmal eine Prinzessin. Hier hausen die betenden Derwische von der Brüderschaft der Mutevelli-Derwische, deren Hauptsitz Konia ist. Auch die tanzenden Derwische haben in Aleppo ein Haus.

Vor dem Krieg war in Aleppo eine deutsche Kolonie von ungefähr 300 Köpfen. Jetzt war ihre Anzahl bedeutend gesunken. Von den beiden deutschen Schulen war die katholische vor vier Jahren gegründet und in einem vornehmen, hundertundfünfzig Jahre alten arabischen Hause untergebracht; sie beschäftigte sechzehn Lehrer und acht Borromäerinnen (barmherzige Schwestern) und hatte zur Zeit meines Besuches 220 Schüler, die nur deshalb ein geringes Schulgeld zahlen mußten, weil sonst der Unterricht nicht als etwas Erstrebenswertes gegolten hätte. Im ganzen sollen 400 Borromäerinnen an den verschiedenen Fronten stehen. Die protestantische, noch jüngere Schule wird von 110 türkischen, deutschen, jüdischen und armenischen Mädchen besucht; sie gehört den Kaiserswerther Diakonissen, die auch in Smyrna, Beirut und Jerusalem Schulen und in Konstantinopel ein großes Krankenhaus eingerichtet haben. Aus Kairo und Alexandria wurden sie während des Krieges vertrieben. Andere Lehranstalten in Aleppo stehen unter der Leitung der Franziskaner und Jesuiten, der Sacré-Coeur- und St. Josephsschwestern.

Das gesellige Leben der Deutschen hat seinen Mittelpunkt im Hause des Herrn Koch, dessen Gattin als Schwester Martha mir zuerst bei Feldmarschall von der Goltz begegnete, als er noch Generalgouverneur in Brüssel war. Ihr gastliches Heim, das sich seit dreißig Jahren so manchem Reisenden aufgetan hat, wurde auch mir jetzt eine Freistätte, und hier im Kochschen Hause entschied sich mein nächstes Reiseschicksal.

Einige Tage nach meiner Ankunft in Aleppo brachte mir der Adjutant Neschad Paschas, des dortigen Etappeninspektors, den Bescheid Enver Paschas, ich könne nach Bagdad reisen und wohin ich sonst wolle. Ich hatte nur den Weg zu wählen. Aber eben darin lag die Schwierigkeit. Eine gewisse Vorsicht war durch die kriegerischen Ereignisse auf jeden Fall geboten. Schon in Konstantinopel hatte ich gehört, die Russen seien in Persien ziemlich stark. Kirmanschah hatten sie genommen. Bagdad war also nicht mehr weit. Im Norden war Erserum gefallen, [S. 15] und wenn es dem Großfürsten Nikolai gelang, nach Diarbekr vorzustoßen, und die Engländer, die sich allerdings bei den Dardanellen blutige Köpfe geholt hatten, etwa eine Landung im Golf von Alexandrette erzwangen, um sich mit den Russen zu vereinen, schlugen die Wellen des Krieges rettungslos hinter mir zusammen. Andererseits hatte uns schon auf der Fahrt nach Aleppo ein Eisenbahningenieur, ein Kroate, versichert, Bagdad sei von den Engländern besetzt; das war natürlich leeres Gerede, denn dann hätte der Feldmarschall auf dem Rückzug nach Westen sein müssen. Enver Paschas Telegramm strafte all diese Etappengerüchte Lügen. In Islahije schließlich hatte es geheißen, die Russen kämen Mosul immer näher. Ob ich überhaupt Bagdad erreichen würde, erschien also immerhin etwas unsicher, und doppelt unsicher war ich daher über den Weg, den ich einzuschlagen hatte. Mein Reisekamerad Graf Wilamowitz sollte eine Trainkolonne den Euphrat entlang führen; ihm und dem Obersten von Gleich, dem neuen Stabschef bei von der Goltz, konnte ich mich auf ihrem 800 Kilometer langen Ritt anschließen. Aber es gibt nichts Einförmigeres als die ewigen Wüsten an den Ufern des Euphrat. Da war es doch reizvoller, über Nesibin nach Mosul zu fahren, die Ruinen von Ninive zu sehen, von dort auf einem „Kellek“, einem Floß, den Tigris hinabzutreiben und die Altertümer von Nimrud und Assur zu besuchen. Freilich machten die Schammarbeduinen, die wegen ihrer Überfälle berüchtigt sind, den Weg bis Mosul unratsam, wenn ich nur auf den Schutz meines Kutschers angewiesen blieb. Auch waren die Nebenflüsse des Euphrat, die vom Armenischen Gebirge herkommen, zu reißenden Strömen angeschwollen. Aber die eigentliche Regenzeit war ja schon vorüber; in ein paar trocknen Tagen mußten sie wieder fallen. Ich beschloß also, meinem alten Glück zu vertrauen und mich von Aleppo aus gleich ostwärts zu wenden. Frau Koch hatte bereits einen „Arabatschi“, einen Hauderer, gefunden, der mir für 30 türkische Pfund (555 Mark) eine Viktoria und einen Jaile vermieten wollte, und ich beriet gerade mit dem deutschen Etappenkommandanten Rittmeister von Abel, Direktor Hasenfratz und Inspektor Helfiger von der Bagdadbahn und andern deutschen Freunden, wie Wagen und acht Pferde mit der Bahn nach Ras-el-Ain befördert werden könnten, als zwei junge deutsche Offiziere [S. 16] in türkischen Diensten ins Zimmer traten. Der eine von ihnen, Major Reith, hatte als Chef einer Automobilkolonne den Auftrag, die Verkehrsmöglichkeiten auf der Straße zwischen Ras-el-Ain und Mosul zu untersuchen, der andere, sein Bruder, sollte ihn als Arzt begleiten. Major Reith hatte kaum von unsern Beratungen gehört, als er rief: „Aber warum so viel Zeit und Geld verschwenden? Kommen Sie mit mir! Ich habe reichlich Platz für Sie und auch für Ihr Gepäck, und in drei Tagen sind wir in Mosul!“

Diesem verführerischen Vorschlag zu widerstehen, wäre übermenschlich gewesen. Eine günstigere Gelegenheit konnte sich mir ja gar nicht bieten. Also auf nach Mosul!

[S. 17]

Pferdebeförderung über den Dschirdschib.

Drittes Kapitel.
Eine mißglückte Autofahrt.

M eine bisherigen Reisekameraden waren bereits aufgebrochen: Graf Wilamowitz mit Oberst von Gleich den Euphrat entlang, Vonberg und Welsch nach Ras-el-Ain, wo sie drei Tage auf Pferde und Wagen für die Fahrt nach Bitlis warten mußten, so daß ich ihnen am nächsten Tag noch einmal begegnete. Major Welsch sah ich einige Monate später wieder; Oberstleutnant Vonberg aber sollte von Bitlis nicht mehr zurückkehren: er starb dort am Flecktyphus.

Am 28. März schlug auch für uns die Stunde des Aufbruchs. Das Wetter war herrlich geworden, für unsere Autofahrt nach Mosul mußten die Straßen ausgezeichnet sein. Major Reiths fünf Automobile, zwei Personen- und drei Lastwagen, wurden auf offenen Loren verladen, und am Vormittag setzte sich unsre Kolonne mit neun Chauffeuren und einem türkischen Dolmetscher in Bewegung. Die Lastautos enthielten reichliche Vorräte an Benzin und Öl, Ersatzteile, Gummiringe, Werkzeug, Spaten, Zelte, Tische, Stühle, Betten und Proviant.

[S. 18]

Zuerst brachte uns die Bahn nach Muslimije zurück. Dann wandte sie sich nach Osten durch wenig bebautes Land, wo nur hier und da die zusammengedrängten Kuppeldächer eines Dörfchens sichtbar wurden. Diese bienenstockartigen Hütten aus an der Sonne getrocknetem Lehm finden sich überall da, wo anderes Baumaterial, Holz oder Stein, fehlt. Weiter entfernt von der Bahnstrecke, wo Kalkstein zu Tage tritt, sind auch die Dorfhäuschen aus Stein und ihre Dächer flach. Fast ohne Ausnahme liegt auch die kleinste dieser Ansiedelungen auf dem Abhang oder am Fuß eines „Tell“, einer nackten Anhöhe, deren durchweg regelmäßige, flach konische Form aus dem ebenen Gelände einsam hervorragt. Solch ein Tell birgt die Geschichte des betreffenden Dorfes; er reicht bis in die Morgendämmerung der assyrischen und hethitischen Zeit zurück, beginnt vielleicht vor den frühesten menschlichen Urkunden und war auf alle Fälle schon uralt, als mazedonische Hopliten und Hypaspisten, die schweren Fußtruppen und leichter beweglichen Schildträger, durch diese Gegenden vorrückten. Eine Quelle, ein Bach oder auch nur die Nähe von Grundwasser reizten zur Ansiedelung, die dann durch Jahrtausende fortgelebt hat. Alte Häuser stürzten ein; Schutt und Unrat häuften sich auf; aber die nachkommenden Geschlechter bauten auf demselben Platze weiter, und so wuchs der Tell schichtweise zu einem Hügel empor.

Um die Dörfer herum breiten sich Äcker aus, auf denen die Fellachen, die festansässigen Bauern, mit Ochsen pflügen, und Frauen und Kinder in buntzerfetzter Kleidung unserem Zuge offenen Mundes nachschauen. Sonst ist der weiche rote Erdboden gewöhnlich mit Gras und Kräutern bewachsen, und seine Einförmigkeit wird nur selten durch eine wandernde Kamelkarawane unterbrochen. Neben der Eisenbahn wirken die prächtigen Tiere wie Anachronismen. Wie gut, daß es noch Gegenden gibt, wo die Menschen ohne das „Schiff der Wüste“ verloren wären!

Die Stationsgebäude sind feste Blockhäuser. Auf dem Bahnsteig von Akdsche-Kojunli wartet eine Kompagnie Rekruten auf ihren Zug. Der Ort liegt am Sadschur, einem Nebenfluß des Euphrat, und sein trübes Wasser verrät, daß in seinem Quellgebiet Regen gefallen ist. Ein bedenkliches Vorzeichen! Fern im Norden leuchten die Gebirge Armeniens, die zum Taurus gehören, unter ihrer Schneedecke.

[S. 19]

Am Nachmittag stiegen wir in Dscherablus am Euphrat aus.

Hier begrüßten uns der türkische Etappeninspektor des Flußweges, Oberst Nuri Bei, und Kapitänleutnant von Mücke, der berühmte Kommandant der „Ayesha“, jetzt Chef der Euphratfluß-Abteilung, die nicht weit vom Bahnhof am Ufer große Werften und Werkstätten angelegt hat. Eine kleine Stadt von deutschen und türkischen Häusern war hier erstanden, und auf der Werft waren deutsche Matrosen beim Bau gewaltiger Boote von 12 Meter Länge, 4 Meter Breite und einer Tragkraft von 25 Tonnen; sie sollten Kriegsmaterial den Euphrat abwärts nach Risvanije bringen, von wo eine Feldbahn es nach Bagdad schaffte. Die türkische Werft liegt 25 Kilometer weiter flußaufwärts in Biredschik. Dort baut man seit alter Zeit Euphratboote, sogenannte Schahtur, die 6 Meter lang und 2½ Meter breit sind und auf dem Wasser gewöhnlich paarweise zusammengebunden werden. Das Holz liefern die Gebirgsgegenden oberhalb Biredschik. Flußabwärts ist Holz sehr selten; was an solchen Booten oder Fähren dort hinunter kommt, wird daher gewöhnlich an seinem Bestimmungsort verkauft. Kapitänleutnant von Mücke wollte aber versuchen, die zahllosen Boote, die von Dscherablus ausgingen, zu retten, indem er sie durch deutsche Lotsen mit Motorbooten wieder an ihren Ausgangspunkt zurückbefördern ließ. Die ganze Stromstrecke bis Feludscha beträgt über 1000 Kilometer, ein einzelner Lotse kann sich daher nicht mit ihr vertraut machen. Deshalb sollte sie in zehn Teilstrecken zerlegt und im Herbst eine genaue Karte des ganzen Stromlaufs hergestellt werden, denn dann ist die Schiffahrt am schwierigsten. Jetzt war der Strom im Steigen, aber der Wasserstand wechselte; am 28. März war er schon fast einen Meter höher gewesen als jetzt; nach der bevorstehenden Schneeschmelze erwartete man, daß er wieder um anderthalb Meter steigen werde. Ein während des Hochwassers aufgenommenes Kartenbild würde leicht irreführen, da alle Untiefen, Sandbänke und Riffe dann überschwemmt sind und die Wassermenge bei niedrigem Wasserstand sich zu dem bei Hochwasser verhält wie 1:12. Obendrein sollten an den Ufern Signale angebracht werden mit Angaben über den Verlauf der tiefen Stromrinne und über alles, was der Euphratschiffer wissen muß.

Gleich oberhalb der Werft liegen die Ruinen einer uralten Stadt, die George Smith 1876 entdeckt hat. Auf einer Reise durch Syrien [S. 20] und Mesopotamien im Jahre 1879/80 kam auch Professor Sachau aus Berlin nach Dscherablus — er nennt es Dscherâbîs —, dem Europus der Römer, dem alten Karkemisch, mit dessen Namen die Erinnerung an einen glänzenden Sieg verknüpft ist. Hier schlug Nebukadnezar im Jahr 605 v. Chr., ein Jahr nach Ninives Fall und ein Jahr vor seiner Thronbesteigung, den Pharao Necho. Dieses Ereignisses gedenkt auch die Bibel; zum Propheten Jeremias geschah das Wort des Herrn: „Wider Ägypten. Wider das Heer Pharao Nechos, des Königs in Ägypten, welches lag am Wasser Euphrat zu Karchemis, das der König zu Babel, Nebukadnezar, schlug im vierten Jahr Jojakims, des Sohnes Josias, des Königs in Juda.“

Als Sachau in Dscherablus eintraf, hatte der englische Konsul Henderson in Aleppo gerade seine Ausgrabungen begonnen. Sie deckten zwei Kulturperioden auf: die uralte hethitische mit künstlerisch ausgeführten Reliefs, breiten Treppen und massiven Häusern, und die römische. Noch bei Ausbruch des Weltkrieges waren englische Archäologen hier an der Arbeit gewesen. Jetzt stand ihr Wohnhaus leer, ihre Betten waren requiriert. Funde und Sammlungen hatte die türkische Regierung versiegeln lassen, damit sich niemand daran vergreife. Durch einen Spalt in der Holztüre sah ich Skulpturen, Vasen usw. auf Regalen und auf dem Boden aufgestellt. Von den größeren Skulpturen draußen auf dem Hof sind, fürchte ich, einige durch die Beduinen beschädigt worden. Seit Dscherablus ein so wichtiger Punkt auf der Etappenstraße nach Bagdad geworden ist, haben Türken und Deutsche die strengsten Maßnahmen zum Schutz der ausgegrabenen Altertümer getroffen. Das Ruinenfeld war auch in bestem Zustand. Da standen in langen Reihen die aus der Erde gegrabenen mächtigen Steinplatten, geschmückt mit Löwen und Greifen und den Bildern assyrischer Könige. Ein etwa einen Meter langer geflügelter Löwe trug außer seinem eigenen Kopf noch den eines Mannes mit eigentümlicher Zipfelmütze oder Krone. Die Grundmauern alter Häuser traten deutlich hervor, oft auch die Einteilung der Räume.

Oberhalb dieses Ruinenfeldes erhebt sich ein Hügel mit Spuren einer Akropolis, und von hier aus bietet sich eine herrliche Fernsicht. Flußabwärts verliert man den Euphrat zwischen seinen ziemlich hohen Ufern bald aus den Augen. Unmittelbar unter uns springt die Brücke [S. 21] der Bagdadbahn von Ufer zu Ufer, und weiterhin liegt eine Flottille von Kähnen, die mit dem erwarteten Schneewasser in wärmere Gegenden fahren soll.

Als die Dunkelheit unsern Studien im Freien ein Ziel setzte, versammelten wir uns an Kapitänleutnant von Mückes Tisch in der Offiziersmesse. Hier berichtete nun der Held der „Ayesha“, ein glänzender Vertreter des Offizierkorps der deutschen Marine, selbst über seine märchenhaften Abenteuer, wie er auf der nördlichsten Kokosinsel von der „Emden“ an Land ging, mit seinem kleinen Schoner über den Indischen Ozean das Rote Meer erreichte und sich in blutigen Kämpfen mit Araberstämmen durchschlug, bis der Weg nach Konstantinopel frei war.

Auch hier in Dscherablus gingen allerhand Etappengerüchte um, die befürchten ließen, daß sich die Russen von Norden her näherten. Teile einer türkischen Division waren auf dem Marsch nach Mosul, also auf dem Wege, den wir morgen mit dem Auto einschlagen sollten, überfallen worden; offenbar hatten die Russen die Eingeborenen aufgewiegelt, um den Verkehr auf der Etappenstraße zu stören. Die Türken hatten natürlich die Kurden in die Flucht gejagt. Aber war die Straße nun wieder frei?

Die Antwort auf diese Frage gab ein Telegramm aus Kut-el-Amara, das mir in diesem Augenblick ein Matrose überbrachte: „Habe bereits Großes Hauptquartier benachrichtigt, daß keinerlei Bedenken gegen Ihre Herreise vorliegen. Freue mich sehr, Sie wiederzusehen. Goltz.“

Wenn der Feldmarschall „keinerlei Bedenken“ hatte, mußten mir auch die bedrohlichsten Etappengerüchte gleichgültig sein.

Spät am Abend begleitete uns Kapitänleutnant von Mücke zum Bahnhof. Unsere Automobile waren schon nach Ras-el-Ain vorausbefördert, um sich dort reisefertig zu machen; am andern Morgen sollten wir wieder zu ihnen stoßen.

Gegen Mitternacht rollte unser Zug langsam nach Osten der 950 Meter langen Euphratbrücke zu, die mit zehn eisernen Bogen auf neun Steinpfeilern das gewaltige Flußbett überspannt. Die Nacht war sternenhell. Vor ihren Blockhäusern standen die Bahnwärter mit bunten Laternen unbeweglich wie Statuen. Bald begannen Räder und Schienen zu singen und zu donnern, die Brücke war erreicht, und im matten Schein der [S. 22] Sterne breitete der majestätische Strom seinen weiten Spiegel zu unsern Füßen aus. Dann stieg die Geschwindigkeit; die Bahn lief am Fuß von Anhöhen entlang und kletterte zwischen ihnen mit merkbarer Steigung auf das öde, einförmige Flachland zwischen Euphrat und Tigris hinauf.

Als ich am Morgen erwachte, waren wir schon fast am Ziel. Weit bis zum Horizont dehnte sich das Land eben wie eine Tischplatte oder doch nur ganz schwach gewellt. Hier und da verstreut zeigten sich schwarze Nomadenzelte und trieben Hirten ihre Herden auf die grüne Steppe. Der Himmel strahlte in sonniger Klarheit, der Tag versprach heiß zu werden; nur im Norden schwebten über den Bergen weiße Wolken, und weit im Süden stand der Dschebel (Bergrücken) Abd-el-Asis da wie ein hellblauer Schild. Wir überschritten einen kleinen Flußarm und waren im nächsten Augenblick in Ras-el-Ain.

Die fünf Autos warteten in Ras-el-Ain schon auf uns, und Major Reith brannte darauf, seinen Auftrag so schnell wie möglich auszuführen. In der türkischen Etappenkommandantur versicherte man uns obendrein, die Wege seien gut und trocken und die beiden Arme des Dschirdschib, die wir einige Kilometer östlich von Ras-el-Ain zu passieren hatten, jetzt ganz schmal. Also los!

Das ganze elende Dorf war auf den Beinen, als unsre Kolonne zur Abfahrt bereit stand. Vorauf die beiden Personenwagen, der erste ein Benz, von Major Reith selbst gelenkt, mit Dr. Reith, einem Chauffeur und mir als Passagieren; hinterdrein die drei Lastautos. ¾10 Uhr setzten wir uns in Bewegung. Die Straße hätte nicht besser sein können, das Gelände war eben oder ging in sehr flachen Wellen, und nach 17 Minuten waren wir schon am ersten Arm des Dschirdschib. Die Furt war ein paar hundert Meter nördlich von der Straße. Die Personenwagen brausten schäumend durch das Wasser und waren bald wieder auf dem Trocknen, aber die Lastautos fuhren auf der steilen, linken Uferterrasse fest, und es kostete unsere vereinten Anstrengungen, sie wieder freizumachen.

Nun bogen wir vom Damm der Bagdadbahn allmählich nach links ab, den Telegraphenstangen nach, die unsere einsame Straße verfolgten. Wir überholten einen Wanderer, einen Jaile und eine Karawane von [S. 23] Mauleseln. Sonst sahen wir an Lebewesen nur in einiger Entfernung einen Wolf, dem der Major vergeblich ein paar Kugeln nachschickte.

Schon nach 22 Minuten hatten wir auch den zweiten Flußarm des Dschirdschib erreicht. Er führte kaum drei Kubikmeter Wasser, sein Bett war hart und voller Kies, und die Uferböschung flach. Dieses Hindernis wurde also ohne Schwierigkeit genommen. Als wir dann aber in einen Hohlweg mit weichem Boden gerieten, fuhr ein Lastauto so gründlich fest, daß wir mit Spaten und Hebeln drei Stunden schwer zu arbeiten hatten.

In nordöstlicher Richtung ging es weiter, dem Gebirge von Mardin entgegen. Wie ein breites gelbrotes Band zog sich die Straße in leichten Krümmungen durch die grüne Steppe. Lerchen, Wildgänse, Falken und Geier beherrschten die Luft; auf der Erde sah man nur zahllose Löcher von Feldmäusen und hier und da die Reste eines gefallenen Kamels oder Maulesels. Ein türkischer Offizier, der uns auf seinem Jaile begegnete, berichtete uns, der Weg vor uns sei gut; zwei schwierige Stellen habe man ausgebessert, da Enver Pascha in Bagdad erwartet werde. Bei dem Dorfe Arade rasteten drei deutsche Soldaten, die vor einem Monat aus Bagdad aufgebrochen waren; dort sei es, versicherten sie, schon damals bedeutend wärmer gewesen als jetzt hier bei Arade.

Beim nächsten Dorf — Bunas mit Namen — standen mehrere Zelte, deren Bewohner ihre Rinder- und Schafherden zusammentrieben. Hier lebten Fellachen, Ackerbauer, und Beduinen, Nomaden, durcheinander, die eintönige Steppe wurde daher nicht selten durch bestelltes Feld unterbrochen. Die Dörfler starrten verwundert unsren vorbeisausenden Autos nach, von denen das erste die türkische — weißer Halbmond und Stern in rotem Feld —, das zweite die deutsche, schwarzweißrote Flagge führte.

Schon legte sich Abendstimmung über die Landschaft. Die Sonne verbarg sich hinter den Wolken. Einige Araber zu Pferde zeigten uns den Weg, der fast geradeaus nach Norden führte, wo die Berge von Mardin immer schärfer hervortraten. In dem Dorf Abd-el-Imam zeigten sich prächtige Gestalten, besonders Frauen in roten Trachten, zwischen den Hütten. Schließlich kamen wir über eine kleine neuerbaute Steinbrücke, eine seltsame Erscheinung in dieser Gegend, und an einem Tell ohne Dorf vorüber und bogen ¼7 Uhr etwa 50 Meter seitwärts [S. 24] von der Straße ab. Hier sollte unser erstes Nachtquartier auf dem Wege nach Mosul sein.

In militärischer Ordnung wurde unser Lager aufgeschlagen. Unsere Wagen- und Zeltburg — links die drei Lastautos, rechts die Personenwagen, vorn zwei Zelte und hinten die offene vierte Seite nach der Wüste zu — bildete einen kleinen Hof, in dessen Mitte bald ein Feuer brannte. Mit dem Dolmetsch Gabes waren wir insgesamt zwölf Mann. Im Handumdrehen waren die beiden Offizierzelte aufgerichtet, die Betten fertiggemacht, die Zeltstühle um eine Kiste gestellt, Büchsenkonserven, Suppe, Fleisch und Gemüse, gekocht, und bald saßen wir beim Schein einer Karbidlampe um unsern Abendbrottisch, während die Mannschaft es sich in malerischen Gruppen am Lagerfeuer bequem machte. Dann wurde die Lampe ausgelöscht, die Zigaretten angezündet, und wir lauschten noch eine Weile den frischen Gesängen der Chauffeure.

Am 30. März waren wir schon um ½6 Uhr zum Aufbruch fertig. Da erhob sich plötzlich aus Nordwest ein rasender Sturm, und kalter Regen peitschte die Steppe. Heraus mit den Regenmänteln! Und nun vorwärts zum Aufmarsch der Kolonne auf der Straße! Das erste Lastauto zog an, aber der Erdboden war bereits so feucht, daß die Räder nicht recht faßten. Noch einmal losgekurbelt! Man hörte ein betäubendes Knattern und Schleifen — und plötzlich stand die Maschinerie still. Die Chauffeure sprangen herunter, und eine kurze Untersuchung ergab als Resultat: das Auto ist ein Wrack, die nötigen Ersatzteile können nur aus Scham-allan-han am Taurus beschafft werden — und das kann ein paar Wochen dauern!

Nun kam das zweite an die Reihe. Es fuhr an, ratterte und krachte — und dann stopp! Genau derselbe Schaden wie beim ersten! Auch dieser Wagen war also erledigt. Der Major biß die Zähne zusammen über dies Mißgeschick; aber nur nicht den Mut verlieren! Umladen, und dann mit dem Rest der Kolonne weiter!

Das dritte Lastauto wurde bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit, die drei Tonnen betrug, beladen; genügenden Vorrat an Benzin, Proviant, Öl und Wasser mußten wir mitnehmen, außerdem Betten, Kleider, Zelte und anderes. Die beiden Wracks blieben fast mit ihrer ganzen Last zurück. Darunter befanden sich mein Zelt, meine Proviantkiste [S. 25] und mein Primuskocher mit Kessel. Drei Chauffeure, Conrad, Buge und Lopata, und der türkische Dolmetsch Gabes sollten das unfreiwillige Depot bewachen und auf Ersatzteile warten. Waffen, Geld und Proviant hatten sie genug.

Gegen 1 Uhr war endlich alles fertig, und nachdem wir noch eine gründliche Regendusche von Nordwesten her erhalten hatten, fuhren wir los. Bei Tell-Ermen, einem großen Dorf mit Trümmern von Kirchen und Moscheen, kamen wir auf die alte Straße von Urfa nach Nesibin, den Heerweg Alexanders des Großen. Nordwärts führte ein anderer Weg über Mardin nach Diarbekr und Bitlis. Schon trat Mardin auf dem Gipfel eines Bergrückens immer deutlicher hervor. Aber wir kamen nur langsam vorwärts. Der nasse Erdboden klebte an den Rädern und bildete weiche Ringe von rotem, plastischem Lehm. Bei dem Dorfe Deguk am Westufer eines kleinen Flußbettes mußten wir die ganze männliche Bevölkerung aufbieten, um die Wagen das ziemlich steile Ostufer hinaufzuschieben.

Es regnete nicht mehr. Wenn wir nur erst an Nesibin vorüber und von dem Gebirge fort wären, wo die Niederschläge am stärksten sind! Dann wird sich das Wetter wahrscheinlich aufhellen. Aber bis dahin geht es noch entsetzlich langsam! Das Benzauto fährt voraus, muß aber immer wieder auf das Lastauto warten, das schnaufend herankommt; man hört, wie der Motor sich aufs äußerste anstrengt. Wir lassen es ein Stück voranfahren, folgen ihm, haben es bald überholt und warten wieder. So geht es in einem fort, bis wir endlich das kleine Dorf Bir-dava erreicht haben.

Einige Dorfbewohner laufen herbei und winken eifrig. Mein mangelhaftes Türkisch muß nun zur Verständigung dienen.

„Halt!“ rufen die Leute, „ihr könnt nicht weiterfahren. Gleich östlich vom Dorf ist eine Senkung, die der Regen in einen Sumpf verwandelt hat. Da sinken eure Wagen bis zu den Achsen ein, und ihr kriegt sie nie wieder los.“

„Wie weit geht der Moorboden?“ frage ich.

„Etwa drei Stunden nach Osten. Weiter kennen wir die Gegend nicht. Aber bis Nesibin wird es wohl nicht anders sein.“

„Gibt es weiter nördlich oder südlich keinen Weg?“

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„Nein, die Senkung erstreckt sich sehr weit nach Norden und Süden.“

„Hat es in der letzten Zeit viel geregnet?“

„Nein, noch gestern war der Weg bis Nesibin ganz trocken. Heute aber ist er durch Regen unmöglich geworden.“

„Wie lange dauert es gewöhnlich, bis der Boden trocken wird?“

„Einen oder zwei Tage, wenn die Sonne scheint.“

„Glaubt ihr, daß es noch mehr Regen geben wird?“

„Das weiß Gott allein. Auf alle Fälle müßt ihr hier warten; denn eure schweren Wagen würden im Schlamm versinken.“

Dorfbewohner schleppen unser Auto durch den Schlamm.

Einen Versuch wollten wir dennoch wenigstens mit dem kräftigen Benzauto machen. Die Straße führte unmittelbar nördlich an den kleinen elenden Lehmhütten von Bir-dava vorüber, dann senkte sich das Land zu einer flachen Mulde, an deren tiefster Stelle ein gemauerter Brunnen stand; er war jetzt von einer Wasserlache umgeben. Hinab kamen wir ganz gut. Als es aber wieder aufwärts ging, blieben wir rettungslos in dem zähen Lehm stecken. Unsere Chauffeure und einige Männer aus dem Dorf mußten aus Leibeskräften arbeiten, um uns wieder nach Bir-dava hinaufzubringen. Für heute blieb uns nichts anderes übrig, als hier auf ein besseres Morgen zu warten.

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Die drei Wagen wurden nebeneinandergestellt, daneben das schwarze Zelt des Majors, das kaum unsre Betten faßte. Darüber brach die Nacht herein. Die Mannschaft hatte ihr Lager im Lastauto hergerichtet, und ihr Teekocher brannte lustig zwischen den Benzinfässern. Aber heute sangen die Chauffeure nicht, die Anstrengungen des Tages hatten sie übermüdet. Einer von ihnen, namens Lundgren, war schwedischer Abkunft, aus Umeå, aber in Deutschland geboren; die andern hießen Hofmeister, Buschkötter, Ludwig und Bodak — lauter tüchtige, prächtige Männer, die für solch eine Reise wie geschaffen waren.

Der Himmel sah bedenklich aus, nur ein einziger Stern blitzte zwischen den zerfetzten Wolken. Ich lag noch eine Weile wach und lauschte der wunderbaren Stille der Wüste, die nur hier und da von Hundegebell in der Ferne oder von den Lauten eines Nachtvogels unterbrochen wurde. Ich hörte meine Uhr unter dem Kopfkissen ticken und die langen, tiefen Atemzüge meiner beiden Reisekameraden. Dann schlief auch ich ein.

Gegen 11 Uhr aber erwachte ich durch einen furchtbaren Sturzregen. Schwere Tropfen platschten draußen in neu entstandene Wasserlachen und trommelten auf die Zeltbahnen. Und das Trommeln dauerte die ganze Nacht mit unverminderter Heftigkeit! So oft ich erwachte, hörte ich dieses trostlose Rauschen, das uns mindestens auch für den nächsten Tag den Weg nach Osten versperren mußte.

Am Morgen spannten wir bei immerfort strömendem Regen die Zelttür zu einem Dach auf, das von zwei Stangen getragen wurde, und frühstückten auf dieser luftigen Veranda Eier und Schinken, die wir auf einem Primuskocher gebacken hatten. Nach Norden zu lag die freie Steppe vor uns, aber von den nahen Bergen war keine Spur mehr zu sehen. Schwere Wolken schwebten über der Erde, und wer das Zelt verließ, sank fußtief in den roten Schlamm ein.

Gegen Mittag hörte der Regen eine Weile auf. Da kamen auch schon die Dorfleute neugierig heran, und ein altes runzliges Weib bat um Medizin für ihren Sohn, den seit einigen Tagen starker Kopfschmerz und Fieber plagten. Dr. Reith gab ihr etwas für den Kranken. Vor kurzem war in Bir-dava der Flecktyphus ausgebrochen und hatte von den fünfunddreißig Einwohnern sieben weggerafft. Für Geld und [S. 28] gute Worte brachte man uns etwas armseliges Reisig zu einem Feuer, dessen Glut wir in einem eisernen Kessel ins Zelt trugen, um in der feuchten Kälte nur ein gewisses Gefühl von Wärme und Trockenheit zu gewinnen. Kleine zerlumpte Kinder sammelten Konservenbüchsen und leere Flaschen, und die Dorfhunde wurden immer frecher auf der Suche nach Abfällen. Sogar eine Maus quartierte sich unter unsern Kisten und Säcken ein und entwischte uns immer wieder, so oft wir auch Jagd auf sie machten.

Schließlich begann es wieder zu regnen. Man hörte und sah, wie ein Regenschauer nach dem andern wolkenbruchartig über die Steppe daherkam. Sogar in unserm Zelt waren wir nicht mehr sicher. Die Chauffeure mußten ringsherum einen Kanal graben und einen Erdwall aufwerfen, um uns vor Überschwemmung zu schützen. Vor dem Eingang bauten sie eine Brücke aus Planken des Lastautomobils. Das ganze Feld war ein einziger Sumpf, denn es dauerte lange, bis das Regenwasser den Lehm durchdrang, dessen Oberfläche glatt war wie Seife. Ein tragikomisches Schauspiel bot eine vorüberziehende kleine Karawane von Mauleseln: die auf den schwer beladenen Saumsätteln sitzenden Araber hatten ihre schwarz- und braungeränderten Mäntel über den Kopf gezogen, und der Regen floß nur so von ihnen und ihren Tieren herunter. Die endlich hereinbrechende Dämmerung wirkte fast wie eine Erlösung. Wir bereiteten mit möglichster Langsamkeit unser Abendessen und überließen uns einer neuen Nacht.

Gegen Mitternacht weckte mich wiederum ein fast tropischer Regenguß aus dem Schlaf. Feine Wassertropfen sprühten durch das Zelttuch auf uns herab, und einige Stunden später regnete es so kräftig herein, daß Dr. Reith in das Unwetter hinaus mußte, um den Schutzlappen des Zeltfensters an der Windseite wieder festzubinden, der aufgegangen war.

Am Tage wurde es nicht besser. Die Zelttür mußte geschlossen bleiben, denn der Wind stand gerade gegen sie; wir frühstückten auf meinem Bett und saßen da wie Schiffbrüchige auf kleiner Klippe in einem Meer von Schlamm; der Zeltgraben stand ebenfalls bis an die Ränder voll Wasser. Die schmutzigen Hunde wurden immer kecker, da wir sie nicht verfolgen konnten. Dazu kam die erschreckende Nachricht, [S. 29] daß der Kranke von gestern über Nacht gestorben sei — wir hatten also den Flecktyphus als nächsten Nachbarn!

Später am Tage sahen wir denn auch, wie sich ein kleiner Leichenzug nach dem Friedhof bewegte, der in einiger Entfernung südöstlich von unserm Zeltplatz lag. Auf einer Bahre trug man den Toten langsam dahin. Am Grabe sprachen die Begleiter Totengebete; bald reckten sie die Hände in der Richtung nach Mekka empor, bald sanken sie in dem fürchterlichen Schlamm neben der Leiche nieder. Endlich wurde der Tote in die Erde gesenkt, abermals Gebete gesprochen und das Grab zugeschaufelt. Ich glaube, die Zeremonie dauerte ein paar Stunden. Dabei regnete es unaufhörlich, und die groben Mäntel der Fellachen glänzten von Wasser. Nach vollbrachter Arbeit ging das Trauergefolge ebenso langsam nach Haus, wie es gekommen war.

Während der Flecktyphus-Epidemie in Aleppo haben deutsche Ärzte die Beobachtung gemacht, daß Europäer für Ansteckung weit empfänglicher sind als Eingeborene. Auch hat sich während des Krieges gezeigt, daß die Krankheit bei russischen Soldaten und Kosaken einen milden Verlauf nimmt, weil sie an Ungeziefer gewöhnt sind. Je älter der Patient ist, um so schwerer kommt er durch.

Einem türkischen Soldaten, der gen Westen ritt, gab der Major einen Brief mit, worin er die zurückgelassenen Chauffeure über unsre Lage unterrichtete. Sonst zeigte sich kein Reisender, der kühn genug gewesen wäre, den Kampf mit den Elementen aufzunehmen.

Bei Dunkelwerden hörte der Regen auf. Da brachte „Lohengrin“ — wie Lundgren von den Kameraden genannt wurde — das Teewasser ins Zelt und meldete, im Norden sei eine Reihe Feuer sichtbar. Was mochte das sein? Biwakfeuer? Doch nicht etwa russische? Aber das war unmöglich, dann hätten wir etwas von einem Rückzug der Türken merken müssen. Diese waren aber im Vormarsch. Nach der Karte lag in jener Richtung, nur 10 Kilometer entfernt, Mardin, das sich seit gestern hartnäckig hinter dem Regenschleier verborgen hatte; die Feuer waren nichts anderes als die Lampen in den Häusern dieser Stadt. Wir konnten uns also ohne Sorge in unserm Gefängnis zur Ruhe begeben und den Regenschauern lauschen, die am Abend mit vermehrter Heftigkeit einsetzten.

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Am nächsten Tag dasselbe Bild! Man steht auf, wäscht sich, kleidet sich an, öffnet einen Spalt der Zelttür, frühstückt und hat den ewig langen Tag vor sich. Ich habe Bezolds „Ninive und Babylon“ und „Moltkes Briefe aus der Türkei 1835–39“ bei mir, aber die Ruhe zum Lesen fehlt. Man wartet in sehnsüchtiger Qual, daß irgendetwas geschehe, uns aus dieser hoffnungslosen Lage zu befreien. Volkstypen zu zeichnen ist auch unmöglich; Leute mit Flecktyphus bringenden Läusen ins Zelt hereinlassen — das fehlte noch! Im Dorfe geht das Leben seinen alltäglichen Gang. Frauen treiben von den Feldern Schafe und Ziegen herein oder holen in Lehmkrügen Wasser am Brunnen. Der Himmel ist blauschwarz. Zuweilen grollt unglückverheißend und dumpf der Donner in den Bergen. Und das ist Mesopotamien im April, wo ich Frühlingswärme erwartet hatte, Trockenheit und Skorpione! Aber wir waren ja freilich in einer Höhe von 550 Meter und am Fuß eines Gebirges, wo der Winter noch nicht gewichen war. Nachmittags um 5 Uhr zeigte das Thermometer nur 10 Grad, eine Temperatur, die wir nach den warmen Sonnentagen in Aleppo als Kälte empfanden.

Drei Soldaten kamen von Ras-el-Ain zu Fuß; sie hatten unsre verunglückten Automobile und das Zelt der Chauffeure gesehen. Ein paar andere zogen in entgegengesetzter Richtung. Sie waren schon 20 bis 30 Kilometer östlich von Nesibin in das Moorbad geraten, das bis hierher reichte, und sie gaben uns die tröstliche Versicherung, daß mindestens zwei Tage warmer Sonnenschein nötig seien, um das Land wieder zu trocknen.

Am Nachmittag trat einen Augenblick die Sonne hervor, und mit ihr in Nordnordwest die alte Festung von Mardin auf dem Gipfel des Bergkammes; unmittelbar darunter die Häuser wie Schwalbennester an den Böschungen, dazwischen die armenischen und syrischen Kirchen und weißen Minarette. Aber bald verschwand wieder alles unter schwarzen Wolkenmassen und neuen Regenschauern.

Eine verzweifelte Lage! Wären wir nur einen Tag früher aufgebrochen, so wären wir bereits in Mosul! Die ganze Strecke ist nur 320 Kilometer lang, für ein Auto zwei Tage Fahrt. Nun saßen wir in diesem elenden Gefängnis und konnten weder vor- noch rückwärts. Proviant hatten wir ja noch für acht Tage, nur Brot und Wasser gingen [S. 31] zu Ende. Aber an letzterem war ja kein Mangel — wir brauchten nur ein Stück Segeltuch aufzuspannen, um die Kannen gefüllt zu erhalten.

Am Morgen des 3. April weckte uns die Meldung, die Sonne scheine. Wirklich! Der halbe Himmel blau und hell, und über die andere Hälfte segelten freundliche weiße Frühlingswolken. Wir kleideten uns in aller Eile an und rasierten uns sogar aus lauter Feststimmung. Für vier Soldaten, die von Ras-el-Ain dahergewandert kamen, kauften wir bei der Dorfbevölkerung einige Brote, denn sie hatten nichts mehr zu essen, da sie während der Regentage hatten liegen bleiben müssen.

Mardin von Südosten gesehen.

Dann beobachteten wir mit zunehmender Spannung, wie die Regenlachen zusammenschrumpften und die Ackerschollen rings um unsern Lagerplatz immer deutlicher hervortraten. Kurz nach Mittag war alles Wasser auf der Erdoberfläche verschwunden. Nur um Zelt und Autos herum war der von uns und den Chauffeuren zerstapfte Lehmschlamm noch fußtief. Die Mistkäfer aber schienen dem guten Wetter noch kein Vertrauen zu schenken, so eilig rollten sie ihre Erdklümpchen daher.

Nun zeigte sich auch wieder Leben auf der Straße. Eine Karawane von fünfzig mit Munition beladenen Kamelen zog nach Nesibin, und ein türkischer Offizier kam mit seinem Diener von Westen geritten. Wir luden ihn in unser Zelt ein und bewirteten ihn mit Kakao und [S. 32] Keks. Der Türke war Leutnant Ahmed Dschemal, von kurdischer Abkunft, als Kompagnieführer auf dem Marsch nach dem Irak; morgen sollte er in Nesibin sein. Der Major bat ihn, eine Depesche nach Schamallan-han mitzunehmen, die Ersatzteile für die verunglückten Automobile bestellte, und vom Kaimakam von Nesibin acht Jailewagen zu verlangen, die schleunigst hierhin kommen sollten, um unser schweres Gepäck zu holen. Jeder dieser Wagen konnte bei schlechtem Weg 200 Kilogramm fassen und so das Auto mit seiner Last von 3000 Kilogramm um die Hälfte erleichtern. Als der Leutnant hörte, daß unser Brot zu Ende sei, schenkte er uns aus seinem reichen Vorrat einige herrliche türkische Kommißbrote. Bald kam auch seine Kompagnie dahermarschiert, gegen 100 Mann, leicht bepackt und in vortrefflicher Verfassung. Ihnen folgten eine Stunde später Packpferde mit Waffen, Munition usw., und zuletzt zwei Gepäckwagen. Die Leute waren die vier Tage im Platzregen marschiert und bis auf die Haut durchnäßt; aber bis Bagdad wurden sie wohl wieder trocken!

Ahmed Dschemal war mit seiner Truppe kaum abmarschiert, als sich über den Bergen neue Wolkenmassen sammelten. Wir hatten zu früh gejubelt. Die blauen Flecke am Himmel verschwanden, und es wurde dunkler und dunkler, und plötzlich stürzte ein neuer Platzregen, zur Abwechslung mit Hagel vermischt, auf uns herab. In wenigen Minuten waren Ackerfurchen und Zeltgraben wieder mit Wasser gefüllt und das ganze Land ein unermeßlicher Sumpf. Es wurde 3 Uhr, 5 Uhr, 6 Uhr — der Regen rauschte mit Erbitterung herunter. Als er um 7 endlich aufhörte, hatte sich eine neue Nacht auf die Erde gesenkt und unsre Hoffnungen auf baldige Befreiung begraben.

Obgleich es am andern Morgen nicht mehr regnete, war die Straße hoffnungslos. Ein vorüberreitender türkischer Soldat versicherte, ein fester Kiesweg am Fuß des Gebirges entlang verbinde Mardin mit Nesibin; auf diesem Wege hätten die Türken noch vor fünf Tagen Geschütze nach Osten transportiert; diese Richtung sollten wir einschlagen. Ehe der südliche Weg trocken werde, könnten wir noch einen Monat oder länger hier liegen bleiben! Sofort schickten wir die Chauffeure aus, um den nördlichen Weg zu untersuchen. Sie fanden ihn — noch schlechter als den unsrigen!

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Da der Schlamm um uns her lebensgefährlich wurde, verlegten wir unser Zelt etwa 20 Meter nordwärts von der Straße, zogen neue Kanäle und Wälle, bauten zwischen Zelt und Wagen eine Brücke und luden die Benzinfässer aus, um sie beim ersten Sonnenschein über die gefährliche Senkung zu rollen, am liebsten gleich 6 Kilometer weit, damit das Auto schneller vorwärts komme.

Vergebliches Bemühen! Um 5 Uhr goß es wieder in Strömen. Man sah, wie sich die Regenzentren am Gebirgsrand im Osten und weiter südlich bildeten, nach Westen zogen, über unserem Lager haltmachten und ihre Wolkenmassen über uns ausbreiteten. Es war, als beeile sich jedes einzelne Wassermolekül, das aus dem Mittelmeer und dem Persischen Meerbusen aufstieg, ausgerechnet nach der Gegend zwischen Ras-el-Ain und Nesibin zu kommen und dort niederzugehen, wo wir in dem roten Lehm, dem vorzüglichsten Terrakottamaterial, so elend gestrandet waren!

Nachdem wir noch einen Tag im Sumpf gelegen hatten, war die Geduld des Majors erschöpft. Am Morgen des 6. Aprils fragte er mich plötzlich, ob ich Lust hätte, mit ihm allein nach Ras-el-Ain zurückzukehren.

„Ja, mit Wonne, wenn wir nur von Bir-dava fortkommen!“

„Dann fahren wir jetzt gleich mit dem Benz und nehmen nur das Unentbehrlichste mit. Was zurückbleibt, lasse ich nach Mosul und Bagdad schaffen, sobald die Straßen besser sind.“

„Aber glauben Sie, daß das Auto in dem Schlamm und Regen vorwärtskommt?“

„Wir mobilisieren jedes Dorf bis zur Eisenbahn!“

Und so geschah es. Wir ließen die Chauffeure bis auf Hofmeister bei Dr. Reith zurück, der wohl oder übel sich in das Schicksal ergeben mußte, auf unsrer Schlamminsel bei dem zurückgelassenen Gepäck auszuharren. Vor unsern Benz spannten wir zunächst die männliche Bevölkerung von Bir-dava, soweit sie sich anwerben ließ, und mit vereinten Kräften zogen und stießen wir unsern Wagen bis zum nächsten Dorf, wo eine neue Abteilung Fellachen requiriert wurde. So ging es zum Verzweifeln langsam, aber sicher, von Ort zu Ort; denn Zugtiere waren nirgends aufzutreiben. Wo die Bevölkerung phantastischen Kriegslohn forderte, halfen uns türkische Soldaten aus der Verlegenheit.

Das Auto wird an Bord einer Fähre geholt.

[S. 35]

Bis zu den beiden verunglückten Lastautos blieb der Regen unser treuer Begleiter. Am 8. April endlich klärte sich das Wetter auf, die Wege wurden wieder fahrbar, und wir durften unsern Wagen endlich wieder seiner eigenen Motorkraft überlassen. Schwierigkeiten machten nur noch die beiden Arme des Dschirdschib, die durch den tagelangen Platzregen zu reißenden Strömen angeschwollen waren. Über den ersten brachte uns eine Fähre, die zum Truppentransport zur Stelle war; und durch den zweiten zog uns eine Koppel Ochsen von einer türkischen Trainkolonne. Motor, Ochsen und Chauffeur hatten dabei aber ein so gründliches Bad genommen, daß wenigstens die ersteren streikten. Wir mußten daher noch einmal militärischen Vorspann nehmen, diesmal von Pferden, und so fuhren wir sechsspännig in pechfinstrer Nacht endlich wieder am Bahnhof von Ras-el-Ain vor.

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„Kapitän“ Mohammed am Steuerruder.

Viertes Kapitel.
Mein neuer Feldzugsplan.

E in Feldzugsplan im wörtlichen Sinne war es nun eigentlich nicht, denn daran war mir auf den grundlosen Feldwegen nach Bir-dava und zurück die Lust vergangen. Aus den zwei Tagen, in denen ich Mosul hatte erreichen sollen, waren zwei Wochen Ungemach geworden. Wenn doch einmal alles zu Wasser werden sollte — warum sich dann nicht lieber diesem Element ganz anvertrauen und noch einmal solch eine fröhliche Stromfahrt versuchen, wie ich sie schon zweimal vor Jahr und Tag im Innern Asiens auf den Fluten des Tarim und des Brahmaputra unternommen hatte?

Der Euphrat war mir noch so gut wie fremd. Im Mai 1886 hatte ich ihn zum erstenmal gesehen. Damals war ich auf dem englischen Dampfer „Assyria“ vom Persischen Meerbusen in den Schatt-el-Arab hineingefahren und einige Tage später nach Korna gekommen, wo [S. 37] am Zusammenfluß des Euphrat und Tigris das Paradies gelegen haben soll. Dann war ich im November 1905 bei einem kurzen Aufenthalt in Erserum bis in die Nähe der Quelle des Frat-su oder Euphrat geritten. Jetzt hatte mich mein Schicksal zum drittenmale an diesen gewaltigen Strom geführt, der in der Geschichte der Menschheit älter ist als Nil und Brahmaputra. Ließ ich diese Gelegenheit, ihn gründlich kennen zu lernen, ungenutzt vorübergehen — wer weiß, ob sie jemals wiederkehrte!

Am 9. April saß ich wieder in der Bahn, die mich von Aleppo nach Ras-el-Ain gebracht hatte, und ich fühlte mich wie befreit aus langer Gefangenschaft, als ich endlich wieder die mächtig wogende Wasserstraße vor mir sah, die mich jetzt — dazu war ich fest entschlossen — meinem Ziel, der Stadt der Kalifen, entgegenführen sollte. In Dscherablus verabschiedete ich mich von Major Reith und war bald wieder in der deutschen Marinestation am Euphrat. Kapitänleutnant von Mücke war vor einigen Tagen nach Konstantinopel gefahren, statt seiner empfingen mich nun sein Vertreter, Schiffsbaumeister Schneider, und acht deutsche Flieger und Artillerie-Offiziere, die sich in den nächsten Tagen zur 6. Armee nach Bagdad begeben sollten.

Sofort machte ich mich an die Vorbereitung meiner Euphratfahrt. Etappeninspektor Oberst Nuri Bei überließ mir einen einheimischen Doppelschahtur, und bald fanden sich zwei Schahturtschis, Ruderer, bei mir ein, um die Löhnung für die Reise zu vereinbaren. Dem Ustad oder Kapitän bewilligte ich zwei türkische Pfund, die anderen Schiffer erhielten je ein Pfund und zwar für die Strecke bis Der-es-Sor, wo die türkische Besatzung von Arabern abgelöst werden sollte. Als Sicherheitswache sollte mich ein Gendarm begleiten; gegen einen Überfall durch Beduinen hätte der aber wohl schwerlich viel ausgerichtet.

Auf der Werft war alles in lebhafter Tätigkeit. Kräftige deutsche Matrosenfäuste schwangen die Äxte, Türken und Araber sägten und hämmerten. Ein Boot nach dem andern wurde fertiggestellt, auf einen Wagen geladen, zum Ufer hinabgerollt und dem Strom übergeben. Jedes erhielt einen Namen nach irgendeinem berühmten Ereignis des Weltkriegs. Auf einer Flottille solcher Boote oder Fähren verstaute gerade eine Fliegerabteilung ihre Tauben und Doppeldecker; bald sah ich sie den [S. 38] Strom hinab schwimmen und bei der ersten Biegung verschwinden. Man hatte mich freundlichst eingeladen mitzufahren; aber mir lag jetzt vor allem daran, meine völlige Unabhängigkeit zu bewahren.

Auf andere Fähren schob eine bayerische Batterie unter Major von Schrenk, deren Train wir am Dschirdschib begegnet waren, ihre 15- cm -Haubitzen und Munitionswagen. Jedes dieser plumpen, aber praktischen Fahrzeuge trug 25 Tonnen, wurde aber nur bis zu 18 beladen und faßte vier volle Munitionswagen und eine bedeutende Menge loser Munition. Mehrere Tage noch sollte die Verladung dauern, und der Batterieführer wollte warten, bis auch sein letzter Schahtur reisefertig war.

Für meine Fahrt den Euphrat abwärts hatte ich einen starken türkischen Doppelschahtur, dessen beide Hälften mit Stricken fest zusammengekoppelt wurden. Seine Länge betrug 6,58 Meter, seine Breite 5. Hinten wurde ein Steuer angebracht, vorn an jeder Seite ein Ruder. Reserveruder durften natürlich auch nicht fehlen. Gewöhnlich rechnet man auf die Fahrt bis Feludscha zwei Wochen. Ich brauchte aber längere Zeit, da ich die Reise dazu benutzen wollte, eine Karte des Stromes aufzunehmen; die Nächte über mußte ich also vor Anker gehen. Deshalb wollte ich an Bord einigermaßen bequem wohnen, und der Zimmermann Murat mußte mir nach einem Papiermodell das Fahrzeug entsprechend einrichten. Die linke Fähre erhielt ein Holzdeck, das vorn und hinten für Kapitän und Ruderer Raum ließ. Auf Deck wurde eine 3 Meter lange und 2 Meter breite Hütte aufgeschlagen, deren schmale Vorderwand in Angeln ging und sich nach oben aufklappen ließ. Tagsüber diente diese als Sonnendach für meinen Arbeitstisch; nachts wurde sie herabgelassen. Das übrige Mobiliar bestand aus Feldbett und zwei Kisten. Proviant, den ich in Dscherablus gekauft hatte, wurde unter Deck verstaut. Ein Fenster in der Steuerbordseite ermöglichte mir im Stehen den freien Ausblick auf den Strom, ein zweites kleineres Fenster wurde gegenüber so angebracht, daß ich auch im Liegen hinaussehen konnte. Beide wurden mit Gardinen versehen. Ein niedriges Regal unter dem Fenster des Steuerbords enthielt Waschgeschirr, Seife und alles das, was zur Pflege des äußeren Menschen unentbehrlich ist. Ein Querbrett an der schmalen Wand trug Fernrohr, Thermometer, elektrische Lampe, Metermaß, Stearinkerzen, Zigaretten, Zündhölzer und [S. 39] meine kleine Bibliothek. Letztere bestand nur aus drei Büchern, die aber zur Not für ein ganzes Menschenleben ausreichten: der „Assyrischen und Babylonischen Geschichte“ von Bezold, einer „Praktischen Grammatik der osmanisch-türkischen Sprache“ von Wahrmund und dem Buch der Bücher, der Bibel, die ich noch nie mit solchem Interesse gelesen habe als auf dieser Fahrt in das Land der babylonischen Gefangenschaft. Meine greisen Eltern hatten sie mir bei meinem letzten Abschied von Stockholm mit auf die Reise gegeben.

Hussein am Steuerbordruder.

Ich hatte den 12. April als Tag der Abreise bestimmt, nicht etwa um dem 13. auszuweichen, denn diese Zahl hat mir auf meinen Reisen in Asien immer Glück gebracht, nur weil ich vor Ungeduld brannte, endlich fortzukommen. Schon früh am Morgen erklangen die Hammerschläge und rasselte die Säge; die Wände der Hütte wuchsen an ihren Pfosten hinauf; etliche kurze Bretter fügten sich zu einem Tisch zusammen, [S. 40] und ein bodenfester Stuhl baute sich daneben. Als alles fertig war, schien vom hellen, wolkenfreien Himmel die untergehende Sonne auf den Euphrat herab. Der Strom war nach den heftigen Regenfällen der letzten Wochen und infolge der Schneeschmelze, die jetzt Tag für Tag zunahm, noch immer im Steigen. Die Wassermasse, die sich unter der Brücke hindurchwälzte, berechnete man auf 1200 Kubikmeter in der Sekunde; das konnte noch ganz anders kommen, denn einmal in den letzten Jahren hatte man 2000 Sekundenkubikmeter gemessen. Die Reise war also nicht ohne Gefahr, auch wenn mein tapferer Gendarm alle Beduinen und sonstigen Wegelagerer in die Flucht trieb, und von den mancherlei Abenteuern auf den Wellen und an den Ufern des Euphrat darf ich dem Leser in den folgenden Kapiteln einiges berichten.

Nur noch ein paar Worte über die Besatzung meiner Fähre. Mein „Kapitän“ Mohammed war ein Türke aus Biredschik im stattlichen Alter von achtzehn Jahren. Seit acht Jahren hatte er, erst als Gehilfe seines Vaters, dann als eigener Herr, gegen hundert Reisen nach Der-es-Sor gemacht, und Arabisch sprach er so geläufig wie Türkisch. Hussein am Steuerbordruder war noch drei Jahre jünger, aber trotz seiner Jugend schon zwanzigmal zu Schiff in Der-es-Sor gewesen; der sechzehnjährige Kerif am Backbordruder nur siebenmal. Diese Stadt bezeichnete die Grenze der Ortskenntnis der türkischen Schiffer. Beide Jungen waren ebenfalls Osmanen aus Biredschik und radebrechten wenigstens etwas Arabisch. Der vierte im Bunde war der Gendarm Mahmud, ein Türke aus Urfa von zweiundvierzig Jahren, der zwanzig Jahre im Heer des Großsultans gedient hatte, seit Beginn des Weltkrieges in Biredschik stand und mit seinem grau gesprenkelten Bart wie ein Greis aussah. In seinem grauen, groben Soldatenmantel, das Gewehr über der Schulter, präsidierte er in martialischer Haltung auf der Steuerbordfähre, wo sich die kleine Mannschaft einzurichten hatte. Was mir fehlte, war nur ein Dolmetscher, um mich mit meinen eignen Leuten leicht zu verständigen — ein heilsamer Zwang, mein mangelhaftes Türkisch durch eifrigstes Studium zu vervollkommnen.

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Meine Fähre am Ufer der Silman-Araber.

Fünftes Kapitel.
Auf den Wellen des Euphrat.

E s war ½6 Uhr nachmittags, als ich mich von meinen deutschen Freunden in Dscherablus, von Rittmeister von Abel, der dienstlich dorthin gekommen war, von Major von Schrenk und seinen Offizieren, und von Nuri Bei verabschiedete.

„Jallah! Bismillah rahman errahim!“

Auf dieses Kommando stieß meine Fähre vom Ufer ab, wurde sogleich vom Strom erfaßt, und bald waren Dscherablus und die deutsche Marinestation außer Sehweite. Ich war, wie so oft auf meinen Entdeckungsfahrten, allein mit meiner Arbeit unter wenigen eingeborenen Begleitern.

Unaufhaltsam trägt die starke Strömung meine Fähre gen Süden. Die schmale Vorderwand meiner Hütte ist als Sonnendach hochgeklappt; Kartenblatt, Kompaß und Uhr vor mir, sitze ich an meinem Schreibtisch und zeichne unsere Fahrtrichtung und die Formen der Ufer ein. Die steilen Bergfronten, die Klippen und Sandbänke, die grasbewachsenen [S. 42] Inseln, die Wiesen, Dörfer und Zelte, Lehmhäuser und Hügel, die Ergebnisse der Tiefen- und Geschwindigkeitsmessungen, sogar die weidenden Herden, alles wird in die Karte eingetragen. Selten ist die Richtung fünf Minuten lang die gleiche; gewöhnlich muß ich nach zwei, drei Minuten neue Peilungen machen, und ich habe kaum Zeit, zwischen den einzelnen Beobachtungen eine Zigarette anzubrennen. Ein Fernrohr ermöglicht mir, das Leben der Nomaden an den Ufern zu beobachten und die Eigentümlichkeit des beständig wechselnden Landschaftsbildes genauer zu studieren. Kleine Entenscharen flattern dicht über der Oberfläche des Flusses vor uns her. In der Ferne schreit der Kuckuck, und von den Ufern her klingen die Glocken der Schafherden. Wenn es ganz ruhig ist, hört man an der Oberfläche des Wassers ein Brodeln und Zischen, wie wenn Wasser eben zu kochen beginnt. Dieser Laut begleitete mich mehrere Tage und verschwand erst, als Luft und Wasser wärmer geworden waren. Tag und Nacht bin ich auf dem Flusse; ich bin eins mit ihm, lebe sein Leben und fühle, wie er arbeitet und sich rührt, um weit im Süden bis zur Küste vorzudringen und im Meere seine Freiheit zu gewinnen.

Das Land ringsum ist eine ungeheure Miozänkalksteinplatte, die bis unterhalb Hit am Euphrat und bis Samarra am Tigris reicht und nicht nur Nordsyrien bedeckt, sondern auch el-Dschesire, die Insel, oder das Land zwischen den beiden Brüderströmen, das ungefähr dem alten Assyrien entspricht. Ihre Höhe beträgt bis 500 Meter, so daß man von einer Hochebene sprechen kann. Wo im Süden die tertiäre Kalksteinschale aufhört, beginnt reines Schwemmland, dessen alluviale Ablagerungen eine bedeutende Tiefe erreichen. Vermehrt durch den Schlamm, den beide Ströme mit sich führen, schieben sich diese Ablagerungen immer weiter in den Persischen Meerbusen vor. 2000 Jahre vor unserer Zeitrechnung lag die chaldäische Stadt Suripak an der Küste, jetzt sind ihre Ruinen 210 Kilometer von ihr entfernt! Noch zur Zeit Sardanapals mündeten Euphrat und Tigris jeder für sich in den Persischen Golf. Der Schatt-el-Arab, zu dem sich beide jetzt vereinen, ist also einer der jüngsten Ströme der Welt. Dies Alluvialland entspricht dem alten Babylonien, dem Irak-Arabi der Gegenwart. In seinem subtropischen Klima gedeihen Zuckerrohr, Reis und Datteln, und in naher Zukunft sollen hier reiche Baumwollernten eingebracht werden.

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Durch diese Kalksteinplatte arbeitet sich der Euphrat in zahllosen kleinen Windungen nach Südosten. Wo das Gestein dem Ansturm des Stromes getrotzt hat, und dieser sich daher auf etwa 100 Meter Breite zusammendrängt, fallen die Ufer schroff ab; in den oft alabasterweißen Wänden hat das Wasser in jahrtausendelanger Arbeit schalenförmige Vertiefungen und gigantische Felsentore, Grotten und Höhlen, Löcher und Klüfte ausgewaschen, in denen Raubvögel und Dohlen horsten. Hier und da scheint die Natur mit der Überlegung des Menschengeistes geschaffen zu haben; steile Treppen mit gewaltigen Stufen führen die Uferwände empor, oder man glaubt mächtige Kais zu erkennen, die das Wasser eindämmen sollen. Meist ist die Erosionsterrasse bei konkaven Uferstrecken ein oder mehrere Meter hoch, senkrecht und sogar überhängend; Wurzelfasern von Kräutern und Sträuchern reichen ins Wasser herunter, und ab und zu stürzen Erdklumpen klatschend ab. Man hört und sieht, wie der Fluß sein Bett unablässig formt, am konkaven Ufer bricht er ab und reißt er nieder, und die Wellen schäumen um Felsblöcke, die herabgestürzt und an seichten Stellen liegen geblieben sind; am konvexen Ufer baut er auf, manche flachen, unfruchtbaren Anschwemmungen können erst gestern oder vorgestern entstanden sein. Auf diesen Strecken lassen sich nur hier und da schmale Uferstreifen bewässern und bebauen.

Dann wieder schiebt sich die Kalksteinschale rechts und links mehrere hundert Meter zurück, so daß der Strom bei Hochwasser eine Breite bis zu 800 Metern gewinnt und sich wie eine Meeresbucht vor uns ausdehnt, deren Weite und Richtung kaum erkennbar ist. Die Gipfel der Höhen schimmern grün, hier und da ist Lava drübergebreitet. Oft tragen die beherrschenden Höhen auch Ruinen von Festungen und Türmen, von denen aus die Völker des Altertums wahrscheinlich herannahende Kriegsgefahr meldeten. Auf dem weiten Uferland weiden Ziegen, Schafe und Rinder, der Reichtum der Nomaden; Klippen und Landzungen springen als schaumumwirbelte Wellenbrecher in den Strom vor, auf breiten Schlammbänken sitzen Möwen und Meerschwalben wie Perlenreihen und steigen bei unserem Nahen mit gellenden Schreien in die Luft. Oft teilt sich auch der Strom durch langgestreckte Inseln, die das Hochwasser jetzt überspült; Sträucher und Steinhütten, die über die Oberfläche [S. 44] hervorragen, verraten dem Steuermann der Fähre ihre Nähe. Erst wenn das Wasser fällt, werden sie wieder zu richtigen Inseln.

Während der ganzen Stromfahrt bietet der Durchbruch des Euphrat durch diese Kalksteinplatte eine Fülle charakteristischer Formen, und ich habe das großartigste Naturtheater vor mir, das sich denken läßt; in wechselnden Szenerien kommt mir die Landschaft entgegen, während ich selbst in tiefster Ruhe das köstliche Schauspiel genieße. Kletterte ich die Uferwände hinan, so sähe ich nur eine öde, endlose Steppe; man braucht sich nur wenige Kilometer vom Euphrat zu entfernen und sieht keine Spur mehr von der Nähe dieses prächtigen Flußtals.

In den ersten Tagen ging meine Stromfahrt so langsam vor sich, daß ich schon daran verzweifelte, auf diesem Weg überhaupt Bagdad zu erreichen. Ein oder zwei, höchstens drei Meter in der Sekunde war bei ruhigem Wetter die Durchschnittsgeschwindigkeit meiner Fähre; das machte in der Stunde 4 bis 7 Kilometer, an sich ein ganz erfreuliches Tempo. Da aber meine Arbeit an Bord Tageslicht erforderte, mußten wir die ruhigen Nächte über still liegen; außerdem machten uns Nebel und die Frühlingsboten, Regen und Sturm, so viel zu schaffen, daß wir immer wieder in den Schutz der steilen Uferwände flüchten und halbe Tage lang vor Anker gehen mußten. Bei 13 und 14 Grad Luftwärme fror ich im Schatten meines Sonnendachs. Der Wind pfiff quer durch meine Hütte, und durch die Dachritzen tropfte der Regen auf Bett und Schreibtisch, bis ich ein kleines, grünes Zelt darüber nagelte, das ich auf meiner unglücklichen Autoreise von Major Reith erhalten hatte; mein eigenes großes, weißes Zelt hatte bei dem übrigen Gepäck in Bir-dava bleiben müssen. Erst am 17. April machte sich der Frühlingsanfang mit 24 Grad Wärme bemerkbar. Trotzten wir dem Wind, so trieb die Fähre regellos von einem Ufer zum andern, drehte sich wie eine Nußschale, so daß Ruderer und Steuermann machtlos waren, trieb auch wohl auf erst in der Nähe erkennbare Schlammbänke, und einmal mußten wir sie sogar wieder in ihre beiden Hälften zerteilen, um nur wieder flott zu werden. Wenig aber fehlte, und sie hätte mitsamt ihrer Besatzung ein vorschnelles Ende in den strudelnden Wassern des Euphrat gefunden.

Das war am 18. April, als wir Rakka hinter uns hatten und eine Strecke weit unterhalb das Dorf Säbcha am Fuße der Kalkwand [S. 45] in Sicht kam. Säbcha ist eine Poststation auf dem Wege von Aleppo nach Bagdad.

Der Strom war in den letzten Tagen über einen Meter gestiegen. Seit einer Weile wehte Ostwind. Die Sonne verschwand hinter undurchdringlichem Gewölk, und über uns begann der Donner zu grollen in immer kürzeren Zwischenräumen und immer lauter. Die Luft war drückend schwül, und alle Anzeichen deuteten daraufhin, daß eine rasende Entladung bevorstand. Die Arbeiter an den Schöpfwerken blickten prüfend zum Himmel, spannten die Ochsen aus und trieben sie zu den Zelten. Schon begann auch der Regen auf das Dach meiner Hütte und das ölgetränkte grüne Zelt niederzuprasseln.

Es fehlten gerade noch vier Minuten an ½6. Ich hatte eine neue Peilung genommen, die zeigte, daß wir S 40 W fuhren. Langsam glitten wir am rechten Ufer hin und streiften eine kleine, grasbewachsene Insel, die sich bei niedrigem Wasserstand mit dem Festland vereinigen mußte. In einer Viertelstunde hoffte ich am Han, dem Postwirtshaus, von Säbcha zu sein.

Da hörte ganz plötzlich der Regen auf. Der Donner verstummte, und einen Augenblick herrschte unheimliche Stille. Nur einen Augenblick! Die nun folgenden zwanzig Minuten aber werde ich niemals vergessen. Sie brachten das fürchterlichste, wildeste Naturschauspiel, das ich jemals erlebt habe, und ich habe doch ziemlich viel dergleichen mitgemacht. Erst fielen vereinzelte, schwere Tropfen, dann schmetterte ein Platzregen herunter, wie ihn nur die Tropen kennen. Gleichzeitig brauste ein betäubender Orkan über den Strom. Die Fähre stutzte wie vor Schreck, stand einen Augenblick still, dann drehte sie sich so, daß die Backbordhälfte mit der Hütte leewärts lag und somit als Windfang und Segel wirkte. Und sofort trieben wir in reißender Schnelligkeit quer durch die Strömung zum linken Ufer hin. Der Euphrat mochte hier etwa vierhundert Meter breit sein, und diese weite Fläche hatte sich in wenigen Minuten mit gewaltigen, schaumgekrönten Wogen bedeckt, deren Kämme immer höher emporspritzten und über die Reling der leeren Luvfähre stürzten. In dieser Hälfte unsres Fahrzeuges stieg das Wasser beunruhigend an, und ich berechnete schon mit Entsetzen den Augenblick, da sie untersinken und die andere Hälfte nebst Hütte und allem mit sich in die Tiefe reißen mußte.

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Der furchtbare Druck des Sturms auf die Hütte trieb außerdem die Backbordfähre so hart leewärts, daß die Reling ganz auf die Wasseroberfläche zu liegen kam. Nur noch ein paar Finger breit tiefer, und wir waren verloren! Es knackte und knallte in dem dünnen Holzwerk der Hütte, als wollte sie jeden Augenblick bersten und in die Luft fliegen, und zwischen den Planken der Luvwand spritzte der sturmgepeitschte Regen in wagerechten Strahlen herein. Ich raffte Karten, Bücher usw. zusammen aufs Bett und barg sie unter Decke und Regenmantel. Dann stemmte ich mich mit aller Kraft gegen die Luvwand, um ihren Widerstand gegen den Wind zu verstärken. Ein heftiger Knall — das Zelttuch draußen ist losgerissen! Eben flattert ein Zipfel am Fenster vorüber; ich greife zu und habe ihn fest. Naß bis auf die Haut halte ich nun das wie ein Notsignal hin und her klatschende Zelt, stemme dabei die Schultern immerfort gegen die Wand, obgleich ich unter dem Luftdruck kaum atmen kann, und jage so mit der Fähre in rasendem Tempo — ja, wohin? Keine Möglichkeit einer Orientierung! Durchs Fenster sah ich nur in ein graues Chaos von Wogen und Schaumkämmen, die mit erbitterter Wut gegen die Hütte hämmerten und die Luvfähre mit Wasser zu füllen drohten. Ob wir wohl noch ein Ufer erreichten, ehe die Fähre bis zum Rande voll war und sank oder von den Wogen zerschmettert wurde? Trieben wir parallel mit der Hauptrichtung des Stromes, dann mußte sie untergehen, ehe wir an Land waren. Der Sturm war aus Südwest gekommen, und in derselben Richtung strömte dieser Teil des Flusses. Später zeigte sich glücklicherweise, daß die Gleitkraft der Wassermasse eine Ablenkung hervorrief, wodurch unsere Richtung genau östlich wurde.

Betäubendes Donnern und Tosen ringsum; der Regen geht in Hagel über, Eisklumpen knallen gegen die dünne Wand der Hütte, als würden wir von einer Menschenmenge mit Steinwürfen bombardiert. Die Hagelkörner zischen ins Wasser wie Flintenkugeln und ballen sich auf der Fähre zu kleinen weißen Inseln zusammen; einige, die ich später maß, hatten einen Durchmesser von achtzehn bis zwanzig Millimeter. Der Aufenthalt im Freien mußte lebensgefährlich sein. Meine Leute waren schon bei den ersten Vorboten des Sturms unter Deck gekrochen; ging die Fähre unter, so mußten alle vier Mann wie in einer Mausefalle ertrinken.

Araber mit seiner jungen Frau.

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Endlich trat etwas Dunkles aus dem Nebel hervor: Tamariskenbüsche am linken Ufer. Wir waren also quer über den Euphrat gejagt, nicht aufwärts gegen den Strom. Eben kroch mein Kapitän Mohammed aus seinem Versteck hervor und brachte durch sein Schreien auch die anderen auf die Beine. Es war auch die höchste Zeit! In wenigen Sekunden mußten wir an Land geschleudert werden — das Vorderteil der Fähre zerriß schon die Wurzeln der Tamarisken, die wie Vorhänge von der zwei Meter hohen, senkrechten Erosionsterrasse herabhingen und das Dach der Hütte fegten. Mahmud schwang sich an einer Tamariske aufs Ufer hinauf, Kerit folgte ihm, rutschte aber aus und bis an die Schultern ins Wasser hinein. Im selben Moment prallte die Fähre heftig auf, der Stoß wurde aber von dem Wurzelwerk aufgefangen. Schon war auch Hussein an Land und schlang ein Seil um einen festen Ast. Die Fähre schaukelte und schlingerte, riß sich aber nicht mehr los. Schnell war das Zelt gerettet und zusammengepackt.

Nun ließ die Heftigkeit des Sturmes bald nach. Regen und Hagel hörten ebenso plötzlich auf, wie sie gekommen waren. Das Zentrum des Unwetters zog in nordwestlicher Richtung weiter. Es war dreizehn Minuten vor 6; die ganze Geschichte hatte nur zwanzig Minuten gedauert. Das Thermometer zeigte 22 Grad. Die Erde war noch weiß von Hagelkörnern, die jedoch bald wegschmolzen.

Es dauerte eine Weile, bis wir uns von dem Schreck erholt hatten. Nach und nach wurde die Luft ganz ruhig, glättete sich die eben noch so aufgeregte Wasserfläche, und man hörte nur das stille Brausen der ersterbenden Wogen. Mahmud begab sich nach dem nächsten Nomadenzelt, um Holz, Brot und Joghurt zu holen. Die anderen sammelten Tamariskenzweige und machten mit vieler Mühe ein Feuer an; dann entkleideten sie sich und trockneten ihre Sachen. Auch in meiner Hütte war alles so durchnäßt, daß Bettzeug und Decken an Stangen ums Feuer zum Trocknen aufgehängt werden mußten. Schließlich schöpften meine Leute das Wasser aus der Steuerbordfähre. Welch ein Glück, daß ich zwei zusammengebundene Schahtur hatte! Einer allein mit freier Hütte wäre ohne Zweifel gekentert. Die leere Steuerbordfähre hatte meinem Fahrzeug die nötige Festigkeit gegeben, um einen solchen Sturm auszuhalten.

[S. 49]

Es dunkelte. Am nordöstlichen Himmel flammten unter einer pechschwarzen, am Hinterrand scharf begrenzten Wolkenbank blaue Blitze und erhellten den Strom und die Tamarisken am Ufer, daß sie wie friedlose Geister mit bittend ausgestreckten Armen erschienen. Nach dem Lärm, der eben noch unsere Ohren erfüllt hatte, lag mir die friedvolle Stille der Nacht geradezu beklemmend auf der Brust. Ich atmete auf, als endlich die Schakale ihr übliches Abendlied anstimmten, das auf dem einen Ufer mit langgezogenem Geheul begann, gleichsam im Bogen auf das andere übersprang und bald wie Hohngelächter, bald wie der Hilferuf bangender Kinder klang, und dazwischen der traurige Schrei eines Esels vom anderen Ufer herübertönte.

Diese zyklonartigen Stürme, die von Zeit zu Zeit über Mesopotamien hinziehen, sind der Schiffahrt auf dem Euphrat äußerst gefährlich, und wenn ich weiterhin an wracken Booten vorüberkam, begriff ich nur zu gut, wie solche Schiffbrüche vor sich gegangen waren. Noch vor einigen Wochen wurde Kapitän Pfeffer, einer meiner Bekannten aus Dscherablus, als er mit seiner Flottille von großen, mit Munition und Gewehren beladenen Fähren bei Rakka vor Anker lag, von einem Zyklon überrascht. Der Sturm kam ohne jedes warnende Vorzeichen wie ein Dieb in der Nacht, meterhohe Wellen füllten die Fahrzeuge mit Wasser, und drei davon sanken; ein Deutscher, ein Photograph aus Metz, ertrank dabei. Ein ähnliches Schicksal konnte auch der Fliegerabteilung, die zwei Tage vor mir Rakka verlassen hatte, oder der bayrischen Batterie des Majors von Schrenk, die ungefähr am 15. April von Dscherablus hatte aufbrechen sollen, beschieden sein. Wie ich aber später hörte, erreichte sie der Sturm, der meine Fähre fast zum Kentern gebracht hatte, nicht; sein Zentrum war also ganz scharf begrenzt gewesen.

Chesney’s Fähre auf dem Euphrat.
(Aus: „ Narrative of the Euphrates Expedition “. )

Auch aus älterer Zeit finde ich solch ein Ereignis beschrieben, das mit meinem Erlebnis die größte Ähnlichkeit hat. In den Jahren 1835/37 untersuchte Oberst Francis Rawdon Chesney im Auftrag der englischen Regierung die Schiffahrtsverhältnisse auf dem Euphrat und Tigris. Am 21. Mai 1836, mittags ½2 Uhr, wurde seine Expedition von einem Zyklon überfallen, der ebenso plötzlich daherbrauste, wie der von mir erlebte, ebenso mit plötzlicher Finsternis einsetzte, nur fünfundzwanzig Minuten dauerte und einen der beiden Dampfer Chesneys, den „Tigris“, versenkte, wobei vier Offiziere, elf Artilleristen und Matrosen [S. 51] und fünf Eingeborene ums Leben kamen. Der Sturm preßte den Dampfer so stark nieder, daß die offenen Kajütenfenster unter Wasser gerieten. Schon war der Befehl gegeben: Rette sich wer kann! als sich für einen Augenblick die Dunkelheit erhellte und das Ufer ganz nahe schien. Sofort hieß es wieder: Jeder auf seinen Posten! Aber im nächsten Augenblick herrschte wieder schwarze Nacht, und eine Minute später war das Schiff gesunken. Ebenso schnell wie er kam, war der Zyklon wieder vorüber, und seine Spur war ebenso schmal gewesen, wie ich es beobachtet hatte. Chesney, der sich mit zwanzig Mann von dem sinkenden Schiffe hatte retten können, will Hagelkörner von anderthalb Zoll Dicke gemessen haben; das erscheint mir etwas übertrieben, und seine Meinung, solche Zyklone über dem Euphrat seien „äußerst selten“, widerlegt sich wohl durch meine Erfahrungen.

Chesneys Schilderungen liest man noch heute mit größtem Interesse. Daß damals an den Ufern des Euphrat noch Löwen vorkamen, hört man mit einigem Erstaunen; im übrigen ist noch alles so, wie er es beschrieb; man erkennt die Orte Der-es-Sor, Ana und Hit deutlich wieder, sogar den Hügel von Babel, wo damals noch keinerlei Ausgrabungen begonnen waren, und die Karte des Euphrat, die sich in seinem Werk „ Expedition for the survey of the rivers Euphrates and Tigris in the years 1835–1837 “ (London, 1850–68) findet, ist so gewissenhaft ausgeführt, daß sie noch während dieses Weltkrieges benutzbar war; man brauchte nur in die vergrößerte Kopie die Änderungen des Stromlaufs während der letzten achtzig Jahre einzuzeichnen. Die von ihm angegebenen Namen der Berge, Hügel, Ruinen, Landzungen usw. stimmten alle, nur die Ortsnamen waren andere; denn man nennt die Orte am Ufer nach dem Scheich des Stammes, der dort zeltet. Die Namen wechseln daher alle Menschenalter.

Chesneys Expedition hatte die Aufgabe, die Möglichkeit einer schnelleren Überlandverbindung mit Indien zu untersuchen. Der Euphrat wurde bis Meskene schiffbar gefunden, für nicht zu tief gehende Dampfer sogar bis Biredschik; bis zum Golf von Alexandrette wäre dann nur noch eine kurze Strecke zu überwinden gewesen. Chesney versichert, die Araber an den Ufern des Euphrat und ebenso die türkische Regierung hätten die geplante Eröffnung eines neuen Handelsweges zwischen Indien und Europa freudig begrüßt. Aber ein Menschenalter blieb das Projekt unausgeführt, und dann machte der Bau des Suezkanals die Euphratstraße für England überflüssig.

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Beduinenzelt am Euphratufer.

Sechstes Kapitel.
Unter Nomaden und armenischen Flüchtlingen.

W enn Sturm oder Gegenwind mich zwangen, auch am Tage den Schutz steiler Uferwände aufzusuchen oder am Lande festzumachen, gaben mir diese meist unfreiwilligen Aufenthalte, die meine Geduld auf harte Proben stellten, gleichwohl willkommene Gelegenheit, meinen Proviant zu vervollständigen und dabei das Leben der Nomaden an den Ufern des Euphrat aus nächster Nähe kennen zu lernen.

Gleich am zweiten Tage der Stromfahrt mußten wir bei dem Zeltdorf Hammam längere Zeit liegen bleiben, und in Begleitung Kerits, der als arabischer Dolmetsch diente, und des Gendarmen Mahmud begab ich mich zu den zwanzig schwarzen Zelten am Fuß der Uferhöhe, die das Dorf bildeten. Drei halbwilde Hunde empfingen uns, die Einwohner selbst aber verschwanden wie Ratten in ihren Zelten. Fürchteten sie sich vor uns? Ja, erklärte Mahmud, „sie halten uns für Werber, die Rekruten sammeln“. Und mit dieser Vermutung schien er recht zu haben. Denn als ich auf das vornehmste Zelt, das des Häuptlings, zuging, traten mir zwei Araber in offenbarer Bestürzung entgegen, und diese [S. 55] wich erst, als sie hörten, daß wir nichts anderes im Schilde führten, als Eßwaren zu kaufen. Sie waren vom Stamm der Beni-Said-Araber, die in dieser Gegend sechzehn Dörfer hatten. Die Männer trugen weiße, weite Beinkleider, über den Schultern bunte Mäntel und auf den Köpfen schwarze Lappen, die von zwei weichen Ringen auf dem Scheitel festgeklemmt wurden. Auf Kissen und zerlumpten Matten saßen fünf würdige Weißbärte inmitten des großen länglichen Zeltes und rauchten Nargileh und Zigaretten, die sie selber drehten. Mit vornehmer Lässigkeit erhoben sie sich und luden mich ein, unter ihnen Platz zu nehmen. Nachdem wir uns eine Weile unterhalten und uns gegenseitig mit gleichem Interesse angestaunt hatten, brachte ich mein Anliegen vor: ob sie uns Eier und saure Milch verkaufen wollten? Erst machten sie Schwierigkeiten und versicherten, sie brauchten ihren kärglichen Vorrat selber; die verführerischen Töne einiger türkischer Silbermünzen lockten aber bald die Frauen aus ihrem Versteck hervor. Ich tat natürlich so, als sähe ich sie gar nicht, sondern widmete meine ganze Aufmerksamkeit dem, was sie herbeischafften. Hier kam eine mit zwei, dort eine mit fünf, eine dritte mit einem ganzen Haufen Eier; ich kaufte fünfzig und bezahlte für je drei den verlangten Preis von zwei Metalliks. Andere brachten Milch und Joghurt in Büchsen, und es zeigte sich bald, daß die Leute viel mehr entbehren konnten, als wir brauchten.

Nomadenfrauen bei Hammam.
Beni-Said-Araber.

Der Frauen anfängliche Scheu war nach Abschluß des Handels spurlos verschwunden, und ich konnte nun sie und ihre grellfarbige, malerische Kleidung mit Muße betrachten. Ihre dunkelblauen Mäntel, die gewöhnlich ein bauschiger Stoffgürtel um den Leib hielt, waren nach vorn zu offen und ließen ein rotes oder weißes westenartiges Unterkleid vorschimmern. Füße und Arme waren frei. Die Armgelenke zierten hübsche Silber- oder Messingringe, den Hals wertlose Perlenschnüre. Ihr Haar war in starke Zöpfe geflochten, und um den Scheitel schlangen sich schwarze Turbanschleier. Alle Frauen hatten die Unterlippe blaugrün bemalt, ebenso das Kinn. Diese Bemalung entstellte sie keineswegs, im Gegenteil vermittelte das kräftige Blaugrün vortrefflich das Dunkelblau der Mäntel mit dem bronzenen Braun der Gesichter. Woher diese Sitte? Auf diese Frage antworteten sie nur: „Das ist bei uns von altersher so Brauch.“ Einige Frauen trugen kleine [S. 56] braungebrannte Kinder auf dem Rücken oder an der Brust. Unter den jüngeren fielen mehrere durch echte, ungepflegte Wüstenschönheit auf.

An den weiten Ufern des Euphrat genießen diese Nomaden eine unbegrenzte Freiheit. Wenn die Steppe rings um das Dorf abgegrast ist, ziehen sie mit Zelten und Herden zu neuen Weidegründen. Sie starren von Schmutz und Ungeziefer, Frauen wie Männer, und ihre buntscheckige Kleidung ist verschlissen und zerlumpt, voller Flecken von Fett und Schafblut und vom Ruß des Lagerfeuers geschwärzt. Das kümmert sie nicht. Abgehärtet von Wind und Wetter fühlen sie sich stark und gesund; ihre Bedürfnislosigkeit macht sie leichten und frohen Sinnes; doch der Neugier huldigten sie mit naiver Unbefangenheit, und selbst die Kinder waren uns wildfremden Gästen gegenüber gar nicht blöde; Knaben und Mädchen sprangen übermütig aus und ein und trieben ihren Scherz mit uns. Fähren wie die meinige sahen sie ja alle Tage vorbeitreiben; höchstens daß ihnen solch eine Hütte darauf neu war. Mehrfach schon hatte sie spielenden Knaben als Zielscheibe für ihre Schleuder gedient, und die kleinen barfüßigen Mädchen am Strande pflegten ohne Schüchternheit nach dem Woher und Wohin unserer Fahrt zu fragen. Nur einmal, bei dem Dorf Sedschere, am 15. April, machten wir Aufsehen und störten sogar ein Leichenbegängnis: das ganze Gefolge überließ den Toten sich selbst und eilte ans Ufer, um uns vorüberfahren zu sehen.

Die Zelttücher der Nomaden sind aus grober, schwarzer Ziegenwolle; sie ruhen auf mehreren in einer Reihe aufgestellten, senkrechten Stangen, fallen nach beiden Seiten ab und sind mit Stricken festgemacht. Ringsum ist das Zelt mit Reisigbündeln umgeben, die als Brennmaterial benutzt und immer erneuert werden. Das Innere ist durch Wände von Schilfmatten in verschiedene Räume eingeteilt. Der vornehmste, das Empfangs- und Konversationszimmer, liegt in der Mitte, links der Stall für Schafe und Kälber, rechts Vorratsraum und Küche. Dort bereitete eine alte Frau in einem Topf über dem Feuer das erfrischende Getränk „Airan“ aus Wasser und gegorener Milch. Die Milch wird in Ziegenfellen aufbewahrt, die an den Zeltstangen hingen. Milch und Brot ist die Hauptnahrung dieser Nomaden; seltener wird ein Schaf aus der Herde geopfert. Mit diesem ihrem Reichtum sind sie sehr sparsam, wie ich am nächsten Tage erfahren sollte.

[S. 57]

Sale, ein Lamm an der Brust haltend.

Die Abenddämmerung hatte meiner Arbeit ein Ziel gesetzt, und ich ließ meine Fähre bei drei schwarzen Zelten am linken Ufer halten. Ihre Bewohner kamen uns entgegen und begrüßten uns auf europäische Art durch Handschlag. Wir folgten ihrer Einladung und ließen uns in einem der Zelte im Kreise um das Feuer nieder, das mit stachligen Rasenstücken genährt wurde, die draußen aufgehäuft waren. So oft ein neuer Arm voll in die Glut geworfen wurde, flammte die Lohe hoch empor und beleuchtete prächtig diese Kinder der Wüste, die wettergebräunten Hirten, die dunkelblauen Trachten der Weiber und das zerlumpte Durcheinander der lärmenden Kinder. Sie waren vom Stamme al-Murat; ihre Nachbarn auf dem anderen Ufer gehörten zum Stamm der Bobani. Der Winter 1915/16, erzählten sie, sei sehr hart gewesen, und es sei reichlich Schnee gefallen; vor fünf Jahren habe das Flußeis sogar Menschen und Tiere getragen. Unsere neugierigen Wirte wurden nicht müde, sich über unseren Besuch zu wundern, uns anzustarren und auszufragen, und als ich am Abend in meiner Hütte Tee trank, leisteten sie mir vom Ufer aus Gesellschaft. Ich kaufte von ihnen weiches Brot und Joghurt, [S. 58] aber ein Fettschwanzschaf wollten sie nicht herausrücken, d. h. sie verlangten dafür 150 Grütsch oder anderthalb türkische Pfund (fast 30 Mark), einen drei- oder viermal zu hohen Preis, der jeden Handel unmöglich machte.

Araberinnen vor einem Zelt.

Zwei Tage später hatte ich damit mehr Glück. Wir waren beim Dorfe Dibse vorübergefahren, dessen Ruine auch unter dem Namen El-Burdschi, d. h. die Burg, bekannt ist. Hier lag in alter Zeit die berühmte Stadt Thapsacus, die ehemals die Ostgrenze des Salomonischen Reiches bezeichnete (1. Buch der Könige, 4, 24). Gleich oberhalb des Ortes ist noch heute eine Kamelfurt, durch die seinerzeit der jüngere Cyrus und Alexander der Große den Euphrat überschritten. Hinter Dibse waren wir an einer Stelle gelandet, die den Namen Oasta führte. Hier wohnten die Araber des Oäldästammes. Ihnen gegenüber sollen die Hamidije-Araber ihre Weideplätze haben, und weiter abwärts am rechten Ufer folgt der Stamm Hamed-el-Feratsch. Hochgewachsene Männer in braun- und weißgeränderten, sackähnlichen Mänteln empfingen uns mit dem Gruße „Salam“. Sie erwarteten das diesjährige Hochwasser erst in vierzehn Tagen; nach zwei Monaten schrumpfe dann der Fluß zur Bedeutungslosigkeit zusammen. Ihre Schafherden scheren sie Mitte Mai; dann kommen die Händler von Aleppo hierher, um die Wolle aufzukaufen. [S. 60] Für klingendes türkisches Silber erstand ich hier ein prächtiges Fettschwanzschaf; einer der Araber zog sofort blank und schnitt mit einem Hieb die Weichteile bis zu den Halswirbeln durch, daß das Blut über das Gras spritzte. Kerit tauchte die Hand in das rauchende Blut und malte ein paar breite, rote Streifen über das Vorderteil der Fähre — jedenfalls ein uralter Opferbrauch, der die unheimlichen Mächte des Wassers besänftigen und den Schiffern eine glückliche Fahrt schenken soll. Mit sicherer Hand zog der Araber das Schaf ab, entfernte die Eingeweide und zerschnitt kunstvoll das Fleisch; Fett, Niere, Herz und Leber wurden für sich gelegt. Die Fleischstücke ließ ich an der Hinterwand meiner Hütte aufhängen, mit Ausnahme derer, die zum abendlichen Gastmahl meiner Besatzung bestimmt waren.

Araber am Euphrat.

Nachdem die uns begleitenden Araber zu ihren Zelten zurückgekehrt waren, machten meine Leute am Ufer Feuer, und nun begann ein emsiges Kochen und Schmoren. Für mich wurden die Schafsnieren am Spieß über der Glut gebraten. Jede Schafschlachtung ist in Asien ein festliches Ereignis. Die Männer bleiben länger als gewöhnlich sitzen, verzehren unglaubliche Mengen Fleisch, plaudern und singen und schweigen bloß, so lange sie essen. —

Neben den schwarzen Zelten der Araber zeigten sich an den Ufern des Euphrat oft Hunderte weißer Zelte. Das waren die Lager der armenischen Flüchtlinge. Mehrfach war ich diesen Unglücklichen schon begegnet, wenn ich tagsüber oder am Abend an Land ging. Einmal, in der Nähe der Festung Dschabar, hatte ich eine Schar von ihnen, meist Frauen und Kinder, die auf dem Wege nach Der-es-Sor und Mosul waren, mit allem bewirtet, was sich an Brot, Eiern und Fleisch an Bord meiner Fähre fand. Genauer lernte ich ihr Elend erst kennen, als ich am 18. April das Städtchen Rakka erreichte, das am Fuß einer isolierten, fünfgipfligen Gebirgspartie liegt.

Zwischen Inseln hindurch, die bald aus Schlamm bestanden, bald mit Gras bewachsen oder mit Flugsanddünen bedeckt waren, näherten wir uns dem größten Ort, den ich bisher am Euphrat angetroffen hatte. Bei Rakka erreicht eine Karawanenstraße von Urfa her den Strom, der hier sehr breit ist und so gerade läuft, daß die Ufer keine Erosionsterrassen haben. Diese entstehen nur bei Windungen, wo der beständige seitliche [S. 61] Druck des Wassers sie bildet. Auf dem rechten Ufer weidete eine Herde von etwa hundert Kamelen; wahrscheinlich war sie für die Transportkolonnen bestimmt, die die Verbindung mit der mesopotamischen Front aufrechterhielten.

Am linken Ufer waren zahlreiche Frauen bei der Wäsche beschäftigt, während Kinder im Wasser planschten, und Sakkas, Wasserträger, ihre Ledersäcke füllten und auf Eseln nach der Stadt beförderten, die einzige Wasserleitung, die Rakka besitzt.

Armenische Flüchtlinge bei meiner Fähre.

Mohammed und Hussein blieben bei der Fähre als Wache, während Mahmud, das Gewehr am Riemen über der Schulter, und Kerit mich nach der Stadt begleiteten. Sie liegt zwölf Minuten vom Ufer entfernt, damit das Hochwasser, dem das flache Land ausgesetzt ist, nicht bis zu den Häusern dringt.

Mein Ziel war das Amtszimmer des Kaimakam. Gendarmen empfingen uns am Tor und führten uns über den inneren, viereckigen Hof die Treppe hinauf zu einer Galerie oder Veranda und von dort in das Empfangszimmer des Gouverneurs. Es war mit einfachen Matten belegt und mit Sofas und Stühlen möbliert. Viele Besucher warteten, Militärs und Zivilisten. Der Kaimakam, ein alter Mann mit weißem [S. 62] Vollbart, klobiger Nase, freundlich träumerischen Augen und rotem Fes, saß vor einem mit Bergen von Briefen und Akten beladenen Schreibtisch. Sein Dolmetsch stand daneben wie ein angezündetes Licht.

Nachdem der Kaimakam meinen türkischen Paß durchgesehen, sich über meine Reisepläne unterrichtet und mir die neuesten Nachrichten vom Kriegsschauplatz mitgeteilt hatte, bat ich um die Erlaubnis, Antiquitäten von Rakka kaufen zu dürfen. Die kleine Stadt, die jetzt zum großen Teil von ihrem Handel mit den in der Umgegend wohnenden Anese-Arabern lebt, liegt auf dem Platz, wo ehemals die alte Festung Nicephorium stand. Als Avidius Cassius im Jahre 164 n. Chr. gegen das Partherreich vorrückte, fand er an der Euphratlinie hartnäckigen Widerstand, doch konnten Europus, Nesibin, selbst die Hauptstadt der Parther, Ktesiphon, und viele andere Städte, darunter die Feste Nicephorium, der überlegenen Kriegskunst der Römer nicht widerstehen. Rakka ist auch dadurch berühmt, daß der Kalif Harun-er-Raschid hier den Sommer zu verbringen pflegte. Meinem Wunsch nach Altertümern durfte übrigens der Gouverneur nicht stattgeben, da die Ausfuhr verboten ist.

Hauptstraße in Rakka.

Während ein alter Offizier mit dem Kaimakam eilige Geschäfte erledigte, unterhielt ich mich mit dem französischen Dolmetscher. Er war ein Armenier aus Konstantinopel und mit einer großen Schar von [S. 63] Landsleuten über Aleppo und Meskene nach Rakka gekommen, wo sie seit sechsunddreißig Tagen festgehalten wurden. Wir sahen ihre Zelte am rechten Stromufer, das von Frauen und Kindern wimmelte. Man schätzte ihre Zahl auf 5000; sie waren aus Gegenden an der kaukasischen Front ausgewiesen worden. Der Dolmetsch, der ein treffliches Französisch sprach, hatte dem Kaimakam seine Dienste angeboten und war sofort angestellt worden.

Vor zwanzig Tagen, erzählte er mir, sei ein deutscher Offizier auf einem Schahtur angekommen und habe um die Erlaubnis gebeten, an die ärmsten Armenier 30 Pfund in Silber austeilen zu dürfen; der Kaimakam sei selber bei der Verteilung zugegen gewesen. Auf meine Bitte, dem Beispiel des Deutschen folgen zu dürfen, erwiderte aber der Kaimakam, er sei für das Angebot herzlich dankbar und habe an sich nichts dagegen. Aber er habe vom Wali in Urfa gerade ein Telegramm erhalten, das verbiete, ohne dessen Erlaubnis Gaben an die Ausgewiesenen zu verteilen.

Ich suchte nun den Basar auf, um meinen Proviant mit Brot, Käse, Apfelsinen und Salz zu bereichern. Ein armenischer Arzt aus Eriwan, der seit vielen Jahren in Rakka ansässig war, begleitete mich durch die staubigen Straßen der langweiligen Kleinstadt. Nach seiner Versicherung zählte die armenische Kolonie von Rakka gegen anderthalb Tausend Personen.

Auf unserem Wege folgte uns ein Heer armer Kinder und Frauen auf den Fersen, lauter Armenier, und als ich an einem Bäckerladen vorüberkam, auf dessen Tischen große Haufen frischer, runder Brote aufgestapelt lagen, konnte ich mir das Vergnügen nicht versagen, den ganzen Ladeninhalt aufzukaufen und an die Hungernden zu verteilen. Sie stürmten von allen Seiten auf mich ein, stießen sich, schrieen, fielen zu Boden, traten aufeinander und zerrten an meinen Kleidern, um nur ihres Anteils nicht verlustig zu gehen, dann zerstreuten sie sich, jeder mit seinem Fang zufrieden. Es war eine Herzensfreude sie essen zu sehen, und mit schmerzlicher Teilnahme dachte ich an die Fünftausend, die auf dem anderen Ufer verschmachteten. Aber wenn ich auch alles, was ich hatte, an die Ärmsten verteilte — für so viele hätte es doch nicht entfernt gereicht.

* *
*

[S. 64]

Holoß Bachmakdjan, 14jährige Armenierin aus Erserum.

Die Verfolgungen der Armenier, vor allem die Grausamkeiten gegen unschuldige Frauen und Kinder, gehören zu den dunkelsten Kapiteln des Weltkrieges. Sie übertrifft nur die Grausamkeit, mit der zwei Millionen in Rußland ansässiger Deutschen bei Kriegsausbruch in die Pesthöhlen Sibiriens verschleppt wurden, um dort das Schicksal der unglücklichen Opfer aus Ostpreußen zu teilen. Was aber die Engländer über die armenischen Massaker in die Welt hinausposaunen, ist ungeheuer übertrieben und fordert den Widerspruch heraus. In seiner Oberhausrede vom 6. Oktober 1915 behauptet Lord Bryce, die Türkei wolle ihre nichtmohammedanische Bevölkerung ausrotten, weil sie die Einheit des Staates störe und sich nicht immer der Unterdrückung füge. Die Türkei zählt über 21 Millionen Einwohner; mehr als ein Viertel davon sind Christen und Juden. Die Juden, die fast eine Million zählen, haben von den Türken nichts auszustehen gehabt, im Gegensatz zu Rußland, wo sie der empörendsten Verfolgung ausgesetzt waren, und die Christen in Syrien und anderen Teilen der Türkei leben mit den Herren des Landes in gutem Einvernehmen, sind wenigstens während dieses Krieges in keiner Weise von ihnen behelligt worden. Die Armenier bilden nur etwa den vierten Teil der gesamten Christenheit des türkischen Reichs.

[S. 65]

Lord Bryce leugnet, daß sich die Armenier jemals ungesetzlich gegen ihre Regierung gezeigt hätten. Aber eine Broschüre von Arnold J. Toynbee in Oxford, die eben jene Rede des Lords enthält, versichert, daß 250000 Armenier über die russische Grenze desertiert seien, die jetzt „die einzige Hoffnung und Stütze der armenischen Rasse“ bildeten! Die 750000 Armenier, die (nach einer andern Stelle derselben Broschüre!) in Transkaukasien leben und russische Untertanen sind, gehören wohl nicht zur armenischen Rasse? Nach der zuverlässigsten Bevölkerungsstatistik von Armenien in „Petermanns Mitteilungen“ (42. Bd. 1896) sind es sogar 958000. Lord Bryce will nur von „vereinzelten“ Deserteuren gehört haben und behauptet, das Freiwilligenkorps, das zu Anfang des Krieges dem russischen Heer so wertvolle Dienste leistete, habe nur aus russischen, im Kaukasus wohnenden Armeniern bestanden. Darüber können nur die türkischen Behörden zuverlässige Aufklärung geben. So harmlos, wie der Lord sie schildert, haben sich die Armenier bei früheren Gelegenheiten nicht erwiesen, weder im türkischen noch im russischen Asien. Die Massaker des Jahres 1896 verursachte der wahnsinnige Versuch der Armenier, die Ottomanische Bank in Konstantinopel zu stürmen, und das Blutbad, das 1903 die Tataren in Baku unter den Armeniern anrichteten, war die Folge der politischen Morde, die letztere an russischen Beamten verübt hatten. Die Tataren glaubten, sich durch Hinschlachtung der Armenier einen Dank von Rußland verdienen zu können; dieses ließ sie auch gewähren, und als es endlich eingriff, waren die Greuel schon vorüber. Als ich Ende November 1905 in Nachitschewan weilte, hatten die Armenier, wie ich in meinem Buche „Zu Land nach Indien“ (1. Bd., S. 95 f.) berichtet habe, im Tatarendorf Ikran vierzig Männer, Frauen und Kinder niedergemacht, und in Nachitschewan selbst war ein Tatar von ihnen erschossen worden, als er unter freiem Himmel sein Abendgebet verrichtete. Darauf töteten die dortigen Tataren einen Armenier, und nun ging die Blutrache weiter.

Lord Bryce ist zweifellos ein Ehrenmann — so are they all, all honourable men ! Aber was er von den schrecklichen Grausamkeiten bei Räumung des kaukasischen Kriegsgebiets vor der Besetzung durch die Russen erzählt, stimmt schlecht zu den übrigen Angaben der genannten Broschüre. 800000 Armenier, sagt Lord Bryce, hätten bei dem Transport [S. 66] nach südlicheren Gegenden den Tod gefunden. In der Broschüre aber heißt es (S. 15 der dänischen Übersetzung) von den 1200000 Armeniern des türkischen Reichs sei gut wie die Hälfte „systematisch niedergemetzelt“ worden. Wenn nun wirklich 250000 nach Rußland flohen und die Hälfte der Zurückbleibenden getötet wurde, so ergäbe das etwa 475000, aber keineswegs 800000! Ganz abgesehen davon, daß 5000 sich nach Port Said retteten und zahlreiche in türkischen Diensten blieben. Allein aus der Stadt Mersina sollen nach Lord Bryces Brief an die Presse vom 26. November 1915 25000 Armenier nach Süden verschickt worden sein! Nur schade, daß diese Stadt bei Kriegsausbruch bloß 22000 Einwohner zählte, unter denen — nach Baedeker und „Petermanns Mitteilungen“ — überhaupt keine Armenier waren!

Ebenso leichtfertig ist die Statistik, die das armenische Patriarchat der Kollektivnote der europäischen Gesandten beifügte, um nach Artikel 61 des Berliner Vertrags die Durchführung von Reformen in den von Armeniern bewohnten Wilajets zu erzielen. Darnach sollten in den betreffenden Gebieten ebensoviele Armenier (780700) wie Mohammedaner (776500) wohnen. Tatsächlich bildeten die ersteren nur den sechsten Teil der Bevölkerung.

Der Zweck dieser Falschmeldungen ist ja klar: die Deutschen sollen die Schuldigen sein! Sie haben ja niemals etwas gegen diese Grausamkeiten getan, obgleich sich die Türkei der Autorität Deutschlands ohne weiteres gefügt hätte! Woher weiß der Verfasser jener Broschüre, daß Deutschland niemals einen solchen Schritt getan hat? Ich kann ihm versichern, daß er in einem fürchterlichen Irrtum befangen ist, und ebenso falsch ist sein Glaube, als ob Deutschland in der Türkei nur so zu befehlen habe! Die Türkei ist aus eigenem Entschluß, ihrer eigenen Sicherheit wegen in den Krieg eingetreten, nicht Deutschland zu Gefallen. Die schändliche Behandlung Griechenlands beweist ja, daß sie beim besten Willen nicht einmal neutral hätte bleiben können!

Hirten von Kal’at Rebei.

Von gleichen Widersprüchen wimmelt eine Denkschrift von 700 Seiten, die im Oktober 1916 dem englischen Parlament zuging: „ The Treatment of Armenians in the Ottoman Empire 1915–1916. Documents presented to Viscount Grey of Fallodon by Viscount Bryce “. Hier hören wir plötzlich aus dem Munde des amerikanischen Zeitungskorrespondenten [S. 68] Henry Wood — was Lord Bryce bei seiner Rede vom 6. Oktober 1915 keineswegs noch unbekannt war —, daß die Armenier in offenem Aufruhr gegen die Türken standen, Wan und mehrere andere Städte besetzt hatten und eine selbständige Regierung zu bilden beabsichtigten! Mit vollem Recht hatte die türkische Regierung die Kriegsgesetze gegen die Empörer angewandt, die sie obendrein noch vorher gewarnt hatte! Aus Erserum, Trapesunt, Siwas, Charput, Bitlis und Diarbekr sind nach jener Denkschrift (S. 12) etwa eine Million Armenier deportiert worden. Aber diese Wilajets hatten vor dem Kriege überhaupt nur gegen 600000 armenische Bewohner! Die Wilajets Erserum, Bitlis und Wan, die jetzt im Bereich der russischen Linien liegen, sollen nach den Untersuchungen des Patriarchats im Jahre 1912 580000 Armenier gezählt haben; tatsächlich waren es nur 331000! Im Mai 1916 soll es (nach S. 664 des Blaubuchs von Bryce) nur noch 1150000 überlebende Armenier gegeben und die Zahl der Hingeschlachteten mindestens 600000 betragen haben, also nicht mehr 800000, wie er ein Jahr vorher behauptete! Das armenische Patriarchat zählt insgesamt 2100000 Armenier im türkischen Reich , die türkische Regierung nur 1100000! Lord Bryce nimmt also einen Mittelwert von etwa 1600000 an, neigt aber mehr zu 2000000, weil er sie für seine obige Rechnung braucht! Nach der Schätzung von Lynch gab es aber in ganz Asien nur 2100000 Armenier; und nach der von Selenoy-Seydlitz aus dem Jahre 1896 2600000. Das ergäbe einen Mittelwert von 2350000. Davon müssen aber die 958000 Armenier, die in Rußland, und die 50000, die in Persien wohnen, abgezogen werden. Bleiben also für die Türkei nur 1350000 übrig. 150000 Armenier wohnen außerdem in Konstantinopel und Smyrna; diese Annahme Lord Bryces stimmt mit sicheren Quellen überein. Das ergäbe zusammen 1500000 Armenier im ganzen türkischen Reich, eine Ziffer, die auch in der Denkschrift von Lord Bryce (S. 11) angeführt wird und ganz mit der Berechnung Professor Philippsons im Jahre 1915 übereinstimmt.

Zieht man von dieser Gesamtzahl die der überlebenden 1150000 ab, so können nicht 6 oder 800000 oder gar über eine Million Armenier umgekommen sein, sondern nur etwa 350000. Die von den Engländern behaupteten Zahlen bestehen also in keiner Weise zu Recht. Nur das wollte ich damit bewiesen haben.

Schuschanik Pambuchian, 20jährige Armenierin aus Erserum.

[S. 70]

Grausamkeiten sind verabscheuenswert, wo, von wem und warum sie auch verübt werden, und kein Ehrenmann kann sie billigen. Aber wenn man zu ihrer Beleuchtung die Statistik heranzieht, ist das wenigste, was man verlangen muß, deren Richtigkeit!

Und haben obendrein nicht gerade die Engländer das Recht verwirkt, die Armenier vor der Welt zu vertreten? Lord Kitchener berichtete mir einst, wie er die Ruhe im Sudan nur dadurch herstellte, daß er die ganze waffenfähige Bevölkerung des Landes ausrottete, und französische Quellen enthalten haarsträubende Bilder von den Konzentrationslagern in Transvaal, wo Burenfrauen und -kinder zu Zehntausenden verhungerten! Und schreit nicht das Schicksal Irlands zum Himmel? In einem unbarmherzigen Krieg, der 150 Jahre lang dauerte, wurden zwei Drittel der irischen Bevölkerung ausgerottet. Nur ihre große Fruchtbarkeit rettete die irische Rasse vor völligem Untergang. „Als die Engländer“, sagte kürzlich der Ire Georges Chatterton-Hill in der Zeitschrift „ Ord och Bild “ (1916, S. 561 ff.) „sie nicht durch direkten Mord vernichten konnten oder durch Gesetze, die die ganze Nation außer Landes treiben sollten, versuchten sie eine andere Methode, die sie auch in Indien erprobt haben: den organisierten Hunger. Und diese Methode erwies sich als sehr wirksam. In siebzig Jahren, von 1841–1911, sank die Bevölkerungsziffer Irlands von 8196597 auf 4381951! Während der drei Jahre der sogenannten großen Hungersnot (1846–1848) starben über eine Million Menschen in Irland an Hunger inmitten lachender Getreidefelder! In diesen drei Jahren wurde aus Irland an Nahrungsmitteln (Getreide und Rindvieh) für nicht weniger als 50 Millionen Pfund unter dem Schutz englischer Bajonette nach England ausgeführt, um Steuern für den englischen Staat und Pacht für die abwesenden englischen Grundbesitzer zu bezahlen. Die folgenden drei Jahre (1849–1851) starben weiterhin etwa 400000 Menschen an Entbehrungen.“

Wenn die angeblichen „Beschützer der kleinen Nationen“ unter den 380 Millionen Menschen, die durch die Laune des Geschicks unter ihren „Schutz“ gekommen sind, nicht genügend Spielraum für ihre menschenfreundliche Betätigung finden, so sollten sie doch wenigstens, statt bei den Mittelmächten, zuerst bei ihren nächsten Verbündeten anklopfen! In Rußland ist weit mehr zu bessern als in der Türkei! Das Telegramm, [S. 71] das der Generalsekretär des Verbandes der unterdrückten Völker Rußlands, Baron Friedrich Ropp, am 21. Dezember 1916 an Lloyd George richtete, fand diesen offenbar zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt! Vielleicht wird die revolutionäre Regierung Rußlands selbst auf diesen erschütternden Notschrei hören?

Vartiter Pambuchian, 18jährige Armenierin aus Erserum.

Auch in neutralen Ländern hat man Broschüren und Bücher über die Leiden der Armenier geschrieben und die Regierungen interpelliert. Ich zweifle nur, ob hier die reine, unverfälschte Menschenliebe am Werke ist. Denn diese macht keinen Unterschied zwischen Armeniern und Belgiern einerseits und — Ostpreußen, Polen und russischen Juden andrerseits! Neben der Religionsheuchelei ist nichts so verabscheuenswert wie der [S. 72] Schwindel, der unter der Maske der Barmherzigkeit nichts anderes als politische Geschäfte treibt und die Leiden anderer ruchlos ausbeutet, um politische Gegner, die Türken und ihre Verbündeten, verhaßt zu machen!

Die kriegerischen Vorgänge an der kaukasischen Front haben dazu gezwungen, die Zivilbevölkerung zu entfernen, besonders weil diese sich offen mit dem Feinde verbündete und gegen die eigene Regierung aufstand. Brutaler Eifer untergeordneter Behörden ist zu Grausamkeiten ausgeartet, zu denen — daran zweifle ich nicht — die Regierung in Konstantinopel keine Befehle gegeben hatte. Die gebildete Welt darf aber erwarten, daß die türkische Regierung weiterem Blutvergießen ein Ende macht, durch nachdrücklichen Schutz des unglücklichen armenischen Volkes sich unvergänglichen Ruhm erwirbt, ihre Feinde dadurch entwaffnet und ihre Freunde mit noch stärkeren Banden an sich knüpft. Sie muß dafür sorgen, daß die Klagen in den Bergen Armeniens verstummen.

[S. 73]

Einfahrt nach Der-es-Sor.

Siebentes Kapitel.
Deutsche Artillerie auf dem Wege nach Bagdad.

I n der Nacht nach dem im fünften Kapitel geschilderten Abenteuer hatte sich der Sturm nochmals aufgerafft, und er blies auch den folgenden Tag, den 19. April, so ungestüm und regellos, daß mir nichts übrig blieb, als bei Säbcha im Schutz der Tamariskengebüsche zu verweilen und mir und meinen übermüdeten Leuten Ruhe zu gönnen.

Unter dichten Weißdornbüschen, geschützt vor dem Wind, hatten sie sich am Ufer hingestreckt und freuten sich in der Morgenfrische der Wärme, die ein knisterndes Feuer ausströmte. Ich fühlte mich an Bord am wohlsten, hatte es mir mit Hilfe dicker Winterkleider einigermaßen behaglich gemacht und lag lesend auf meinem Bett, als ich auf einmal Schritte auf der Laufplanke hörte und ein junger Europäer vor meiner Hütte erschien. Zu meiner größten Überraschung war der Ankömmling ein Landsmann von mir, Nils de Maré, Major in persischen Diensten. Am Abend vorher war er mit Major Pousette und sechzehn Österreichern, die aus russischer Gefangenschaft in Taschkent entflohen waren und sich [S. 74] durch Persien hatten durchschlagen können, in Säbcha angelangt. Sie hatten meine Fähre ankommen sehen, und da de Maré überzeugt war, daß ich mich darauf befände, hatte er seine Begleiter nach Meskene und Aleppo vorausfahren lassen. Dann brach der Orkan aus, und meine Fähre war im Sturmnebel verschwunden. Mit einem persischen Diener hatte sich der Major in einem gebrechlichen Fahrzeug aufgemacht, um meine letzte Spur zu suchen, und er war jetzt nicht wenig erstaunt, mich völlig wohlbehalten in meiner Hütte zu finden, die er höchstens als ein trauriges Wrack anzutreffen gefürchtet hatte.

Ich ließ dem willkommenen Gast auftischen, was das Haus vermochte. Das war nun leider wenig, und Apfelsinen und Zigarren mußten die Dürftigkeit unseres Mahles vergolden. De Maré war auf der Heimreise nach Schweden; er hatte den Rückzug über Kirmanschah nach Chanikin mitgemacht und in den Kämpfen mit den nachdrängenden Russen so viel erlebt, daß die Stunden unseres Beisammenseins nur so verflogen.

Um 4 Uhr nachmittags saßen wir noch immer über seine persischen Kartenskizzen gebeugt, als plötzlich Mahmud herbeigesprungen kam mit der Meldung, eine große deutsche Fähre sei im Anzug. Und richtig! Nur wenige hundert Meter flußaufwärts kam ein großer, schwerer Prahm im heftigen Wind gerade auf uns zu, als ob er mein leichtes Fahrzeug in den Grund bohren wollte. Aber er steuerte mit tadelloser Sicherheit nahe vorbei und landete unter dichtem Tamariskengebüsch ein Stück weiter abwärts. Auf der Längsseite der Fähre stand in großen Buchstaben ihr Name „Möve“. Sie war also die Vorhut der bayrischen Batterie, die einige Tage nach mir Dscherablus verlassen hatte. Bald kam auch die ganze Flottille an der letzten Biegung des Stromes vor, die „Emden“ mit ihren verdeckten Munitionswagen, die „Hella“ unter Gesang ihrer Besatzung, „Mohammed Reschid V.“ mit starkem Tiefgang infolge seiner schweren Last an Geschützen und Granaten, und schließlich ein türkischer Doppelschahtur von der Größe des meinigen, das Admiralschiff des Majors von Schrenk, das unter Flaggengruß, Winken und Hurrarufen der Offiziere an mir vorüberfuhr. Wenige Minuten später durfte ich den Major und seine Kameraden vor meiner Hütte begrüßen, und am Abend führte Leutnant Schmidt mich und meinen Landsmann mit einer Laterne durch stachliges Tamariskengebüsch zum [S. 75] Lagerplatz der Deutschen, wo wir uns beim Licht des Mondes und einer Karbidlampe zum gemeinsamen Abendbrot niederließen und im Austausch unsrer Erlebnisse während der letzten Woche reizende Stunden verbrachten. De Maré verabschiedete sich um 9 Uhr, um mit seinem persischen Diener nach Säbcha zurückzukehren; er konnte aber sein Boot im Dunkeln nicht finden und verbrachte daher die Nacht, in meinen Mantel gehüllt, am Lagerfeuer, um am frühen Morgen endgültig aufzubrechen.

Vier von den neunzehn deutschen Fahrzeugen fehlten noch; sie waren in der Nähe von Rakka auf Sandbänke getrieben, und der Major wollte nun hier warten, bis er alle wieder beisammen hatte. Da am andern Morgen der Wind noch ebenso heftig wehte, der Euphrat in weißbraunen Wogen rollte und das Wetter so rauh war, daß man sich seiner Winterkleider und des Ledermantels aufrichtig freute, beschloß auch ich den Tag in Gesellschaft meiner deutschen Freunde zuzubringen.

Am Vormittag wurden auf einer Anhöhe in der Nähe des Lagers zwei Masten aufgestellt, um den Nachzüglern Signale zu geben, und ein Rundblickfernrohr schaute nach ihnen aus. Zwei türkische Doppelfähren kamen bald in Sicht und erhielten ihre Plätze am Ufer angewiesen. Von den zwei übrigen deutschen machte die „Bavaria“ am meisten Sorge. Sie war schwer befrachtet, und da der Euphrat in der Nacht bedeutend gesunken war, saß sie wahrscheinlich auf ihrer Sandbank um so fester und mußte entladen werden, um nur wieder loszukommen. Nach stundenlangem Ausspähen meldete endlich Leutnant Max Kirchmair, daß über der Zeile von Tamarisken und Wasserwerken, die in dem flachen Lande die Windungen des Euphrat kenntlich machten, eine deutsche Flagge langsam vorrückend zu sehen sei. Sie kam näher und näher, und endlich wurde das Fahrzeug selbst sichtbar: es war „Kaiser Wilhelm II.“ Ein Seil flog ans Land, und mit starken Tauen wurde das schwere Fahrzeug festgemacht.

Nach einer weiteren Stunde kam endlich auch die „Bavaria“ in Sicht. Von dem starken Strom getrieben, schien sie auf ihren Vorgänger anrennen zu wollen. Da sprang ein Mann der Besatzung, ein Seil in der Hand, in das mehrere Meter tiefe Wasser, verschwand einen Augenblick unter der Oberfläche, tauchte dann wieder auf und schwamm flugs ans Land, um die „Bavaria“ oberhalb des „Kaiser Wilhelm“ zu vertäuen.

[S. 76]

So hatten sich die neunzehn deutschen Fahrzeuge wie Schildkröten am Lande festgebissen, und in dem Tamarisken- und Hagedorngebüsch des Ufers entwickelte sich ein Lagerleben, dessengleichen die Station Säbcha wohl schwerlich vorher gesehen hatte. Deutsche Artilleristen lagen gruppenweise um die Feuer, plauderten und sangen bei siedenden Kesseln und schöpften mit großen Kellen Suppe in ihre Eßschüsseln. Dazwischen bildeten türkische Soldaten und Ruderer, die lebhaft über die bevorstehende Fahrt nach Der-es-Sor berieten, mit ihrer orientalischen Kleidung bunte Farbenkleckse. Unteroffiziere gingen hin und her und erteilten Befehle für den Abend, die Nacht und den Aufbruch am andern Morgen. Bei den Fahrzeugen, wo mancherlei instand zu setzen war, erklang der Schlag der Hämmer und das Zischen der Sägen, und Äxte zersplitterten die Tamariskenstämme, die den himmelan lodernden Flammen der Lagerfeuer verfallen waren.

Major von Schrenks Schahtur war überaus praktisch eingerichtet. In seiner Mitte standen zwei türkische Zelte mit je drei Betten; am Tage wurden die Betten zusammengepackt, die Zelte abgenommen, nur das Stangengerippe blieb stehen. Auf leichten Tischen lagen Bücher, Karten und Fernstecher, und Zeltstühle sorgten für ausreichende Bequemlichkeit.

Am nächsten Morgen wollten wir zusammen aufbrechen. Es war Karfreitag, der 21. April. Der Fluß war am Tage wieder 20, in der Nacht 42 Zentimeter gestiegen. Schon kurz vor ½5 Uhr ließ ich die Haltetaue meiner Fähre lösen und fuhr voraus. Kurz vor 5 Uhr ging die Sonne in strahlender Klarheit auf und beleuchtete auf den Wassern des Euphrat das ungewöhnliche Schauspiel, wie sich die Fahrzeuge der deutschen Artilleristen eins nach dem andern vom Ufer lösten, stromabwärts zogen und bei der nächsten Biegung verschwanden; das Admiralschiff bildete wieder den Schluß.

Auf den Rat vorüberfahrender Araber war ich in einen schmalen Sund eingebogen, der die erste Stromwindung abschnitt. So überholte ich die deutschen Boote bis auf zwei. Bei einer scharfen Biegung nach Südosten trieb mich aber der hartnäckige Wind in einem Dickicht überschwemmter Tamarisken am linken Ufer auf Grund, und bei der nächsten Windung nach Nordwesten preßte er meine Fähre gegen eine Landzunge [S. 77] am rechten Ufer. Hussein versuchte krampfhaft mit dem Ruder abzustoßen; mit gewaltigem Krach zerbrach es, und das schnell gefaßte Reserveruder blieb im zähen Grundschlamm stecken. Während dieses Aufenthalts schwamm die ganze deutsche Flottille an mir vorüber; als wir dann aber den Wind im Rücken hatten, überholte ich wieder zwei Gruppen meiner deutschen Reisegesellschaft, die auf der sonst eintönigen Fahrt eine angenehme, spannende Abwechslung brachte. Die am schwersten beladenen Fahrzeuge fuhren am schnellsten, denn sie hatten bedeutenden Tiefgang und wurden von Wasserschichten getragen, die der Wind nicht beeinflußte. Meine leichte Fähre schwamm wie eine Nußschale auf der Oberfläche, ein Spielzeug jedes Windes; oft wenn ich am Schreibtisch saß, drehte sich die Landschaft um mich herum wie eine Scheibe um ihre Achse. Außerdem hatten die Deutschen stämmige Kanoniere an Bord, die den eingeborenen Ruderern fleißig halfen. So mußte ich es bald aufgeben, mit den Vorauseilenden gleichen Schritt zu halten. Dafür konnte aber mein kleineres Fahrzeug schmale Seitenarme benutzen und seinen Weg mehrfach abkürzen.

Mein neuer „Kapitän“ Sale Abdul Mohammed (in der Sonne das Gesicht verziehend).

Aus den Gebüschen am Ufer erhoben sich zahlreiche Krähenschwärme mit heiserem Geschrei; Schafherden und viele Zeltdörfer bedeckten das Uferland. Eine zeitlang schwamm eine Gruppe stolzer Pelikane vor uns her; die Tiere ließen uns nicht aus den Augen; sobald wir ihnen aber [S. 78] näherkamen, erhoben sie sich mit klatschenden Flügelschlägen und streuten einen Regen von Wassertropfen herab. An diesem Tag sahen wir auch die erste Heuschrecke; sie ließ sich auf den Rand der Fähre nieder, Kerit schlug sie tot und schalt wie ein Rohrspatz auf das Ungeziefer, das das Brot des Volkes auffresse; dann aber kamen sie zu Hunderten, und Kerit mußte sie wohl oder übel sitzen lassen.

In der Gegend El-Hamma durchschneidet der Euphrat den kleinen Bergrücken il-Bischri, und die jäh abfallenden Bergwände rücken erst auf dem rechten, dann auch auf dem linken Ufer wieder eng an den Fluß heran, nur schmale Streifen Wiese oder bebautes Feld an ihrem Fuße freilassend. In diesem wunderschönen Hohlweg drängt sich der Euphrat auf etwa 100 Meter Breite zusammen. Rechts auf der Höhe stehen die alten Doppelmauern und Türme der Feste Halebije, und auf dem Berggipfel drüben die stolzen Ruinen des Kastells Selebije. Der Grundriß von Halebije ist ein Dreieck, dessen eine Seite direkt am Ufer liegt; die beiden andern treffen in einem Turm zusammen, dessen Zinnen sich hoch über die ganze Festung erheben.

Allzu schnell treten die Kalksteinwände wieder zurück, und der Fluß verbreitert sich. Rechts liegt die Poststation Tibni, über ihr auf einem Hügel die Ruine gleichen Namens; der Ort ist ein „Kischla“, eine Garnison mit geringer Besatzung. Auf einer kleinen Insel prangen die Weiden in frischem Frühlingsgrün, und bei dem Dorf Issyf Pascha am linken Ufer stehen wieder Zelte armenischer Flüchtlinge.

So wechseln die Landschaftsbilder unaufhörlich. Der Tag geht zur Neige, und die Berge breiten tiefe Schatten über das Tal. Heute aber denke ich noch nicht an Landung; die „Aleman“, versichert mir ein Araber am Ufer, meine deutschen Reisegefährten, seien weit voraus. Fern in Ostsüdost blitzt ein helles Licht; jedenfalls der Scheinwerfer der deutschen Schiffe, der uns den Weg zeigen soll. Er gibt mir die Möglichkeit, sichere Peilungen zu machen, und von Stunde zu Stunde kommen wir dem Lichtzeichen näher. Es ist ½9 Uhr. Da donnert das Megaphon uns die Warnung vor einer Sandbank entgegen, wir sollten den Kurs direkt auf eine schwimmende Laterne zu halten. Die Ruder knirschen, als die Fähre über den Strom hinübergezwungen wird. Aber es gelingt, und wir landen glücklich unter den deutschen Fahrzeugen, von [S. 79] denen nur zwei noch fehlen. Der Küchenwagen an Bord der „Möve“ brodelt noch und bewirtet mich mit trefflicher Erbsensuppe.

Am andern Morgen waren die Deutschen vor Sonnenaufgang aufgebrochen. Ich wartete noch auf Windstille, als das kleine Avisoboot „Blitz“ mit zwei Artilleristen an Bord heransauste, um Erkundigungen über die Weiterfahrt der Flottille einzuziehen. Es kam von der „Bavaria“, die in einem schmalen Flußarm festgelaufen war, wo der Wind auch meine Fähre im Kreise gedreht hatte. Während die beiden Gäste mit mir frühstückten, kam die „Bavaria“ mit dem noch vermißten Doppelschahtur schon vorübergefahren und verschwand hinter dem nahen Dorf El-Busera. „Blitz“ machte sogleich wieder fertig und jagte ihr nach. Um 9 Uhr stießen auch wir vom Lande ab. Die deutschen Kameraden sah ich aber erst am Abend wieder bei den hellbraunen Lehmhäusern und den fünf weißen Minaretts der kleinen arabischen Stadt Der-es-Sor, die sich in dem üppigen Grün von Weiden und Platanen, Kastanien und Walnußbäumen mit ihren zahlreichen Wasserschöpfwerken und ihrer auf Steinpfeilern ruhenden, verkehrsreichen Holzbrücke überaus schmuck ausnimmt.

Der-es-Sor.

Diesem Ziel der heutigen Tagereise hatte ich mit Spannung entgegengesehen. Denn hier war eine Telegraphenstation. Welche Nachrichten aus der lärmvollen Welt mochten dort vorliegen?

[S. 80]

Keine Siegeskunde empfing mich zum Osterfest 1916, wohl aber eine erschütternde Trauerbotschaft: Vor drei Tagen, am 19. April, war Feldmarschall von der Goltz, nach der Rückkehr von einer Inspektionsreise nach Kut-el-Amara, in Bagdad am Flecktyphus gestorben! —

Straße in Der-es-Sor.

Der-es-Sor ist der offizielle türkische Name der Stadt; gewöhnlich sagt man nur Ed-Der, d. h. das Kloster. Sor bezeichnet das Land zwischen Palmyra, Ed-Der, Chabur, Sindschar, Nesibin und Rakka. Nach Sachau beträgt die Einwohnerzahl gegen 5 bis 6000, nach M. von Oppenheim gegen 6 oder 7000 Mohammedaner und 700 Christen. Die Stadt, deren Straßen in besserem Zustand waren als die Bagdads, und das ganze Gebiet zwischen Rakka und Ana wird von einem Mutessarrif, einem Gouverneur, regiert, der unmittelbar dem Ministerium des Innern in Konstantinopel untersteht. In Friedenszeiten lagen in Der-es-Sor ein Bataillon regulärer, auf Mauleseln berittener Infanterie und eine größere Abteilung Saptije zu Pferd; diese Truppen mußten die Anese-Beduinen in der syrischen Wüste und den Schammarstamm in Mesopotamien im Zaume halten. Das hinderte nicht, daß mit diesen ein lebhafter Handel getrieben wurde, und Der-es-Sor ist ein wichtiger Knotenpunkt auf den Karawanenstraßen zwischen Aleppo und Bagdad, Damaskus und Mosul.

[S. 81]

Nachdem ich ein Telegramm und einen Brief nach Hause auf die Post gegeben hatte, suchte ich einen der größeren Hans der Stadt auf, wo, wie ich erfahren hatte, eine Landsmännin, Frau Major Erikson, wohnte. Ich fand die junge, liebenswürdige Dame in Gesellschaft von vier deutschen Herren aus Persien, die sie von Bagdad auf der üblichen Karawanenstraße den Euphrat entlang nach Konstantinopel begleiteten. Die Reise bis Der-es-Sor war sehr beschwerlich und langwierig gewesen. Überschwemmungen hatten zu weiten Umwegen auf ungebahntem Gelände gezwungen, und an einigen Stellen hatte man die Pferde, Maulesel und Wagen auf Fähren über hindernde Wasserläufe befördern müssen. Frau Erikson pflegte die Nächte in ihrem wohlverschlossenen Wagen zuzubringen, auf dessen Kutscherbock ein großer kluger Rattenfänger grimmig Wache hielt.

Major von Schrenk wirbt in Der-es-Sor Ruderer.

Den Abend dieses ereignisvollen Tages verbrachten wir in einem türkischen Wirtshaus in Gesellschaft des Majors von Schrenk und seiner Offiziere, sowie der der Fliegerabteilung, die ich ebenfalls hier getroffen hatte. Beim Abschied übergab mir Frau Erikson einen Brief an ihren Gatten, der in deutschen Diensten damals in Kasr-i-Schirin stand; beim Vorrücken der Russen kam er allmählich nach Chanikin an der persisch-türkischen [S. 82] Grenze. Da ich ihn nicht traf, schickte ich ihm den Brief durch einen deutschen Offizier. Erst nach meiner Abreise kam auch Major Erikson nach Bagdad — doch nur um zu sterben. Er liegt auf dem christlichen Friedhof vor der Kalifenstadt begraben, seine irdische Hülle soll aber seinerzeit nach Schweden gebracht werden.

In Der-es-Sor wechselten die Deutschen und ich die türkische Begleitung. Ich mietete drei junge, kaum zwanzigjährige Araber, alle drei stattliche, gut gekleidete, sonnenverbrannte Kerle von kräftigem Körperbau. So zuverlässig wie die Türken waren sie nicht, aber — wenn sie wollten — in ihrem Handwerk überaus gewandt, voll Heiterkeit, ja Übermut und zu allerhand Streichen aufgelegt, die mancherlei Kurzweil gaben. Mein neuer „Kapitän“ Sale Abdul Mohammed trug seinen schönen Kopf mit dem roten, gelbgepunkteten Turban stolz wie ein Königssohn, sang den ganzen Tag und hielt unter seinen Kameraden Mannszucht wie ein Alter. Wenn seine Eitelkeit mit im Spiele war, arbeitete er musterhaft. Die beiden Ruderer, Said Ahmed und Hussein Ali, erschienen in langen, dünnen Kaftans, bauschigen weißen Beinkleidern, Leibgürteln aus Tuch und spitzen Pantoffeln. Ihr ganzes Gepäck bestand aus einem Bündel mit Brot, Eiern und Gurken. Der neue Gendarm hieß Hussein Ben Mohammed, und ein Freipassagier namens Asis Ben Ibrahim fand sich auch noch hinzu; er mußte sich natürlich verpflichten, mit zuzugreifen, wenn Not an Mann war. Die einheimische Besatzung der deutschen Kriegsfähre erhielt keine Löhnung, sondern genügte an Bord ihrer militärischen Dienstpflicht. Die Türken als Angehörige einer kriegerischen Nation fügten sich dem ohne weiteres; die Araber aber kniffen mit Vorliebe aus, und es machte nicht geringe Mühe, die nötige Anzahl kundiger Schiffer aufzutreiben. Und als wir am Ostersonntag die Anker lichteten, gab es für die kurze Reise nach Ana, das zweite Drittel der Flußfahrt, ein tränenreiches Abschiednehmen von den Angehörigen, als ginge es direkt in den Schützengraben und ins Granatfeuer.

[S. 83]

Unter Palmen am Euphratufer.

Achtes Kapitel.
Im Reich der Palmen.

N och zwei Tage hielt ich mit dem deutschen Geschwader gleichen Schritt, dann aber gab ich das Rennen auf und ließ die so angenehme Reisegesellschaft im Stich. Ihr lag daran, so schnell wie möglich flußabwärts zu kommen, und sie konnte die geselligen Abendstunden durch Schlafen am Tage einbringen. Meine Arbeit aber erforderte angestrengte Aufmerksamkeit über Tag und Ruhe bei Nacht. Bei dem Dorf Do-er verabschiedeten wir uns, und am Morgen des 25. Aprils lag meine Fähre wieder einsam am Ufer. Als die Sonne über dem Horizont heraufstieg, stand ich auf dem Gipfel des nächsten Kalksteinfelsens. Vor mir breitete sich die Wüste aus, flach, öde und unfruchtbar. Kleine Stücke hübsch geschliffenen Feuersteins lagen überall umher. Kein lebendes Wesen war zu sehen. Bald trieb mich die zunehmende Hitze wieder hinab zu dem kühlen Strom unter den Schatten meines Zeltdaches. Der Frühling hatte endlich gesiegt; gestern Mittag zeigte das Thermometer über 25 Grad im Schatten, und bei der kleinen Stadt Mejadin hatten [S. 84] uns die ersten Palmen daran erinnert, daß wir uns wärmeren Gegenden näherten. Noch standen sie vereinzelt, aber am folgenden Tage zeigten sich bei dem Dorfe Rawa die ersten Palmenhaine, und abwärts von Ana, das ich am 27. April erreichte, bilden diese köstlichen Oasen den herrlichen, das Auge immer wieder entzückenden Schmuck des Euphratufers. Mit ihrem Auftreten wird zugleich die Schiffahrt gefährlicher, denn die Bewässerung der Palmengärten erfordert umfangreiche, oft weit in den Strom vorstoßende, die Fahrstraße einengende Wasserschöpfwerke.

Das erste Wasserschöpfwerk.

Schon am fünften Tag meiner Euphratfahrt, dann am 18. April kurz vor dem Dorfe Säbcha, war ich an den ersten, noch primitiven Schöpfwerken, Denkmälern einer tausendjährigen Tradition, vorübergekommen. Damit sich das Berieselungswasser über das Ufer verbreiten kann, muß es ziemlich hoch hinaufbefördert werden; dazu eignet sich nur ein Ufer, das sich etwa drei Meter über den Wasserspiegel erhebt und senkrecht ausgewaschen ist. Wo es fehlt, muß es künstlich geschaffen werden. Die Schöpfeinrichtung besteht aus einem kunstlosen Holzgerüst, in dessen Oberteil ein Seil über eine Rolle läuft. Nach dem Wasser zu hängt daran ein großer Ledersack; das innere Seilende wird von einem Zugtier — Ochse oder Pferd — oder durch Menschenkraft landeinwärts [S. 85] gezogen und so der Wassersack emporgewunden. Seine Öffnung ist durch ein Holzkreuz aufgespannt, damit er sich ordentlich füllen kann, und wenn er oben ankommt, ergießt er durch einen rüsselartigen, durch eine zweite Rolle und ein dünneres Seil regulierten Fortsatz seinen Inhalt in den Anfang des Bewässerungskanals, ein kleines, aus Weidenruten geflochtenes, mit Lehm gedichtetes Becken. Nach fünfzehn oder zwanzig Schritt kehrt das Zugtier um, der Sack sinkt durch seine Schwere wieder hinab und füllt sich aufs neue. So geht das den ganzen Tag. Häufig zwingt die Laune des Flusses dazu, die Schöpfmaschine zu verlegen. Steigt der Strom und überschwemmt er die Ufer, so können Tiere und Menschen ruhen; die befruchtende Flut findet von selbst ihren Weg zu den Äckern, und die eigentlichen Bewässerungskanäle stehen dann wie schmale Hafendämme über der weiten Wasserfläche.

Das Wasser wird mit Hilfe von Ochsen oder Pferden gehoben.

Die knarrende Musik dieser Wasserhebewerke hatte mich von Tag zu Tag begleitet, und ihre derben Holzgerüste glichen besonders bei Nacht den Skeletten vorweltlicher Tiere. Bald sah ich auch zwei, drei Säcke an jedem Holzgestell auf- und abwärts steigen; jeder Sack hatte sein Zugtier und seine menschliche Bedienung, und jede Rolle knirschte ihre eigene Melodie.

[S. 86]

Im Bezirk Chreta sah ich das erste Paternosterwerk. Pferde mit verbundenen Augen drehen ein wagerechtes Rad; dessen Zähne greifen in ein senkrechtes Rad, über das die Kette mit den Wassereimern läuft. Solch eine Einrichtung heißt Näura oder Dolab, während die einfachere mit den Ledersäcken Dschird genannt wird. Nicht weit hinter Do-er stand mitten in der Strömung ein einsamer Pfeiler aus gebrannten Ziegeln. Sale behauptete, das sei der Rest eines alten Turmes; wahrscheinlicher aber war es das Überbleibsel eines der großen Wasserschöpfwerke, wie ich sie bald in vollem Betrieb zu sehen bekam.

Wasserschöpfwerk.

Am Morgen des 26. Aprils war der Fluß wieder um 20 Zentimeter gestiegen, und von den überschwemmten Weizenfeldern waren am Abend feuchte Nebel und Myriaden von Mücken aufgestiegen, so daß ich zum erstenmal mein Moskitonetz hatte gebrauchen müssen. Wir glitten in ruhiger Fahrt an der schroffen Bergwand Baghus vorüber und kamen dann an eine große, mit Gras und Gebüsch bewachsene Insel, die den Euphrat in zwei Arme teilte. Wir bogen links ein und sahen hier zum erstenmal die Wasserkraft selbst zum Heben des Wassers ausgenutzt. Eine Steinmauer war in den Fluß hineingebaut; ihre Spitze bildete ein großes Rad von etwa acht Meter Durchmesser. In der Peripherie des Rades hingen längliche Tontöpfe, die bei der Umdrehung das Wasser schöpften und in eine Rinne entleerten, die rechtwinklig von dem über [S. 87] den Kamm der Mauer laufenden Kanal ausging. Jetzt stand das Rad still, weil das Wasser über seine Achse gestiegen war; fließt es unter der Achse, dann dreht der Strom das Rad Tag und Nacht, und unermüdlich ergießen die Schöpfeimer ihren kostbaren Inhalt in die Kanalrinne, wenn auch immer etwas daneben fließt, sobald sich der Schöpfeimer bei der Umdrehung zu neigen beginnt. Das Rad ist aus rohem Treibholz zusammengezimmert, die Speichen sind krumm und schief, aber wenn es nur halbwegs rund ist, erfüllt es seine Aufgabe.

Ein Paternosterwerk unter einem Maulbeerbaum am Euphratufer.

Solcher Wasserschöpfwerke oder Dolabs sah ich auf meiner Weiterfahrt im Reich der Palmen eine Unzahl. Je nach ihrer Länge sind die Mauern durch Bogenwölbungen unterbrochen, damit sie dem ungeheuren Druck besonders bei Hochwasser standhalten und der Strom ungehindert hindurch kann. Ich zählte bis zu siebzehn solcher Mauerbogen und bis zu vier an kleineren Mauerarmen untergebrachten Rädern an einem Dolab. Mauern und Räder sind im Laufe der Zeit grünschwarz geworden von Flechten und Moosen. Oft sind sie auch nur noch Ruinen; der Strom hat die Räder, manchmal auch nur die Töpfe zerbrochen oder mit sich geführt, die Mauern zerstört, und nur einzelne Pfeiler halten sich noch inmitten der brausenden Strudel. Auf einem solchen [S. 88] einsamen, vor Raubtieren sichern Pfeiler nistete ein Storchenpaar. Am Anfang der Mauer am Ufer steht meist eine Palme oder mehrere wie eine Schildwache.

Wasserrad eines Dolabs im Gang.
Ein Dolab mit vier Rädern.

Sind mehrere Räder am selben Mauerrahmen im Gang, so entsteht ein fürchterliches Konzert wie von Ferkeln, Katzen und Hyänen. Aber den Fellachen ist dieser ohrenbetäubende Lärm die liebste Musik; da strömt Leben auf die Äcker, da gibt es üppige Weizenernten und [S. 89] Brot für die Familie, und sie legen ihr Worte unter und singen mit. Die Eingeborenen könnten mit verbundenen Augen eine Strecke den Fluß hinabfahren, die ihnen vertraute Musik der einzelnen Dolabs verriete ihnen, wo sie sich befänden. Wo die Schöpfwerke zerfallen sind, kann der Ackerbau am Ufer nicht gedeihen.

Die Dolabs werden möglichst bis in die stärkste Strömung hineingeführt und treten gern paarweise auf, gleichzeitig auf beiden Ufern. Das verschmälert die Fahrstraße oft bedeutend, steigert die Stromschnelle, die Geschwindigkeit der Räder und damit die Masse des hinaufbeförderten Wassers; man merkt deutlich, wie zwischen zwei solchen Mauerspitzen der Strudel zunimmt und der Euphrat in stärkeren Schlagwellen geht, und ich konnte noch von Glück sagen, daß wir bei der häufigen Unaufmerksamkeit Sales ohne ernstlichen Schiffbruch das Dorf Ana erreichten, das sich am Fuß der rechten Uferfelsen, von Palmen beschattet, unendlich lang ausdehnte. Es waren spannende Augenblicke, bis es Sale und den Ruderern endlich gelang, zwischen zwei Dolabs, die hier dicht hintereinander die Fahrstraße einengten, aus der reißenden Strömung herauszukommen und, ohne gegen die nächste Mauer getrieben zu werden, am Ufer zu landen.

Sale mit einem Ruder auf der „Kommandobrücke“. Links die Hütte mit dem Arbeitstisch.
Straße in Ana.

Solange wir mit den Deutschen zusammengefahren waren, hatte [S. 90] Sale seinen Stolz darein gesetzt, durch Geschicklichkeit und Dienstfertigkeit seine Kameraden aus Der-es-Sor zu überstrahlen. Jetzt, als niemand mehr da war, vor dem er paradieren konnte, hatte sein Eifer merklich nachgelassen. Nur seine allzeit frohe Laune und seine Sangeslust waren auf gleicher Höhe geblieben. Den ganzen Tag schallten die gutturalen Laute und klingenden Vokale seiner Muttersprache nur so über den Euphrat. Wenn er aber gerade nicht sang, sein helles Lachen nicht von den Felsen widerhallte oder er seine Gefährten nicht durch Märchen und Geschichten erheiterte, mußte ich Obacht geben, denn dann schlief mein Kapitän gewiß in aller Gemütsruhe am Steuerruder und ließ die Fähre treiben, wohin der Strom sie führte. Saßen wir dann auf einer Schlammbank oder in dem dichten Tamariskengebüsch eines schmalen Seitenarmes fest, oder drehte sich die Fähre über einem saugenden Strudel, so tobte und fluchte er im schönsten Arabisch auf die armen Kameraden, die seinen Schlaf mit doppelter Arbeit bezahlen mußten. Kamen wir aber glücklich los, sofort war er wieder eitel Sonnenschein und sang unverdrossen seine Lieder. Machte ich ihm dann Vorwürfe, [S. 91] er sei ein schlechter Kapitän und so etwas wäre seinem Vorgänger, dem Türken Mohammed, nie widerfahren, so lachte er voll glücklichen Übermuts und bewies mir mit sprudelnder Beredsamkeit, seine Kurven seien Muster von Geschicklichkeit und Eleganz.

Eines Tages begann er die Leute am Ufer anzurufen: „Habt Ihr etwas von Ben Murat gehört?“ oder „Habt Ihr Ben Murat gesehen? Sagt ihm, daß ich in acht Tagen zurückkomme!“ Niemand kannte Ben Murat, und Sales Kameraden wollten sich jedesmal totlachen. Schließlich fragte ich, wer denn der vielberufene Ben Murat sei. Da mußte er selbst so lachen, daß er das Steuer fahren ließ und in einer Ecke zusammensank. Als er endlich wieder zu Atem kam, vertraute er mir an: seines Wissens gebe es in der ganzen Gegend keinen Ben Murat; er treibe nur mit den Uferleuten Spaß. Mehrere Tage spukte Ben Murat an Bord und beruhigte sich erst, als wir Ana erreichten. Denn hier wechselte ich zum letztenmal meine Besatzung für die Strecke bis Feludscha.

Ahmed Apti.

Der neue Kapitän war ein Greis von siebzig Jahren, sehr wortkarg und ernst, aber er hatte sein Leben lang den Euphrat befahren, kannte, wie die neuen Ruderer Ismail Ben Halil und Dschemi Ben Omar versicherten, jede Biegung, jede Insel, jede Sandbank im Strom, ja jede Palme am Ufer, so daß es in ganz Mesopotamien keinen Schiffer gebe, der mit ihm zu vergleichen sei. Sale hatte mich gebeten, ihm den Traum seines Lebens zu erfüllen und ihn nach der berühmten Stadt Bagdad mitzunehmen; auch könne ich, meinte er, einen Koch gut gebrauchen, hütete sich aber einzugestehen, daß er von Kochkunst keine Ahnung hatte. [S. 92] Ich ließ ihn gewähren, und da meine neue Besatzung kein Wort Türkisch verstand, leistete er mir als Dolmetscher wertvolle Dienste. Außer dem neuen Gendarmen namens Saalman, einem Araber aus Mosul, der seine Mutter in Bagdad besuchen wollte, erhielten wir aber noch einen Passagier, und zwar diesmal einen Soldaten von Major von Schrenks Batterie, die, wie ich jetzt erfuhr, nur zwölf Stunden voraus war. Ahmed Apti, so hieß er, war auf unerklärliche Weise zurückgeblieben und bat mich himmelhoch, ihn doch ja mitzunehmen, damit er noch rechtzeitig seine Kameraden einholen könne.

Kapitän Ali am Steuerruder.

Kapitän Alis Ruhm bewährte sich denn auch glänzend schon in dem schwierigen Moment, als wir Ana verließen und um die nächsten Dolabmauern herum die Fähre mit einer kurzen, aber gewaltigen Anstrengung wieder in den Strom hineinbugsieren mußten. Ruhig und seiner Sache sicher stand er am Steuerruder, und seine braunen Falkenaugen bemerkten jede Tücke des Stromes und jede Lässigkeit oder Dummheit der Mannschaft. Der Euphrat stand jetzt 3,23 Meter über dem normalen Niederwasserstand, und unser leichtes Fahrzeug wurde von der brausenden Flut so pfeilschnell entführt, daß die wunderbare Schönheit der Ufer bei Ana mit ihrer Palmenpracht wie ein Traum an mir vorüberflog. Nicht minder malerisch waren kleine Inseln, die zum Schutz gegen das Hochwasser rundherum mit Steinmauern umzäunt waren; bei tiefem Wasserstand [S. 93] mußten sie wie kleine Festungen aussehen. Direkt an Ana schloß sich das Dorf Dschemile, und die ununterbrochenen Palmengärten schienen kein Ende zu nehmen. Erst bei Wadi Gaser hörten sie wieder auf. Der Reichtum an Zelten, der oberhalb Der-es-Sor die Ufer belebte, war jetzt völlig verschwunden, hier gab es nur feste Dörfer mit Palmenhainen und Feldern und Wasserwerken oder wüstenstille Ufer. Nomaden, die zeitweise am Flusse hausten, hatten sich, wie ich in Ana hörte, in die Steppe zurückbegeben. Auf einer jähen Felsenspitze des linken Ufers lag das Heiligengrab Habibi Nedschar. Dort liege der Baumeister der Arche Noah begraben, erklärte mir Ali, der in der Tat jede Einzelheit an den Ufern kannte, und Sale fügte hinzu, die Arche sei ein Schahtur gewesen ganz wie der unsrige, aber wohl ein paar Kilometer lang. „Wann war das?“ fragte ich. „Das ist mindestens schon zweihundert Jahre her“, antwortete Sale in tiefstem Ernst.

Mehrfach bemerkte ich auf der Wasserfläche lange, dunkle Streifen, die sich teilten und wieder vereinten, über Wasserstrudel hinzogen und Inseln bildeten. Erst glaubte ich, es seien verweste Pflanzen. Dann aber zeigte sich, daß es lauter Heuschrecken waren, tote und lebende, die in verschiedenen Stadien der Ermattung hilflos im Wasser zappelten und schwammen. Auf ihren Raub- und Freßfahrten hatten sie sich verflogen und waren ein Opfer des Stromes geworden. Auch meiner Fähre hatte sich das Gesindel bald bemächtigt; in Bataillonen saß es auf den Relingen und dem Zeltdach; es war nicht durch die Luft gekommen, sondern ein Teil der unglücklichen Schwimmer hatte sich an die Fähre angeklammert und war an der Reling emporgeklettert. Hier trockneten sie nun an der Sonne und schöpften neue Kraft nach diesem unbehaglichen Abenteuer.

Die Hitze hatte in den letzten Tagen mächtig zugenommen; am 28. April zeigte das Thermometer fast 53 Grad, und was auf meinem Schreibtisch der Sonnenglut ausgesetzt war, begann zu brennen. An diesem Tage erfuhr ich durch einen türkischen Offizier, der vor fünf Tagen Bagdad verlassen und bei Ismanije am Ufer sein Zelt aufgeschlagen hatte, daß die Engländer bei Kut-el-Amara rettungslos eingeschlossen seien und das Begräbnis des Feldmarschalls unter großem militärischen Pomp stattgefunden habe. So drang das Echo der großen Weltereignisse auch in diese meine Stromeinsamkeit.

[S. 94]

Am 29. April landeten wir bei dem herrlichen Garten Misban, dessen Besitzer, ein weitberühmter Mann, seinen Sohn sandte, um mich zum Gastmahl einzuladen. Da es aber schon zu spät am Abend war, machte ich diesem kleinen Märchenschloß erst am anderen Morgen einen Besuch.

Durch einen langgestreckten Vorhof kamen wir zunächst in einen Stall, wo einige braune Vollblutstuten an den Krippen standen, und dann in den eigentlichen Hof, wo Misbans Sohn und Diener mich empfingen und ins Haus geleiteten. In einem großen prächtigen Zimmer saß ein würdiger Alter, der Bruder des Hausherrn, mit gekreuzten Beinen auf einem Teppich und las laut, mit knarrender, eintöniger Stimme, in einem Buche, wobei er den Körper auf und ab wiegte. Jetzt stand er auf, hieß mich willkommen und führte mich an den erhöhten Ehrenplatz, von wo man durch vergitterte Fenster eine herrliche weite Aussicht auf den majestätischen Strom hatte.

Schaker, 14jähriger Araber aus Ana.

[S. 95]

Das ganze Zimmer war mit Teppichen belegt. In seiner Mitte erhob sich ein viereckiger Herd, auf dem Palmenholz glühte und die Kaffeekanne brodelte. Nach einer Minute trat auch Misban selber herein, vornehm und würdig wie ein Herrscher, in weißem, goldgesäumtem Mantel, ein weißseidenes Tuch mit Silberringen um den Kopf. Mit der verbindlichen Höflichkeit eines reichen Arabers erkundigte er sich nach meiner Fahrt und erzählte dann bei Kaffee und Zigaretten von sich und seiner Besitzung.

Sein Vater hat die Oase vor siebzig Jahren angelegt; seit zwanzig Jahren bewirtschaftet er sie selbst. Sein vollständiger Name ist Misban Ibn Schoka. Er hat vier Söhne und sechs Diener, die mit ihren Familien, insgesamt dreißig Personen, hier wohnen. Er besitzt tausend Palmen und ist dabei, seine Plantagen noch zu erweitern. Ich sah gerade eine Fähre mit Palmenschößlingen landen, die angepflanzt werden sollten.

Misban und sein Bruder.

Der Spaziergang durch den Garten war köstlich. Treibhauswarm, schwer und still hing die Luft zwischen Mandel-, Orange- und Maulbeerbäumen, und die schönen zackigen Blätter der Palmen und ihre zarten, noch weißen Datteltrauben hoben sich scharf von dem blauen Himmel ab. Das Korn stand hoch und sollte in einigen Wochen geschnitten werden, einen Monat später der Weizen. Erst im September glänzen die Datteln braungelb wie Bernstein und sind dann reif zur Ernte. In Misban gediehen auch Zucker- und Wassermelonen, mehrere Arten Trauben, Zwiebeln und Bohnen und viele andere Küchengartengewächse.

[S. 96]

Die Einkünfte der Oase sind schwankend, aber im allgemeinen gut. Die Dattelernte allein beträgt im Durchschnitt vierzig Kamellasten, jede zwei türkische Pfund in Gold oder etwa vierzig Mark wert. Die gesamte Ernte berechnete der Besitzer, alles eingerechnet, auf vierhundert Pfund. Aber nur die Hälfte davon wurde alljährlich verkauft, die andere an Ort und Stelle verbraucht.

Misban Ibn Schoka.

Misbans Garten war kein Kavekhane, kein Wirtshaus, wo man einkehrte, um sich ein Abendbrot zu bestellen. Aber wer vorüberfuhr, war Misbans willkommener Gast, und es verging kaum ein Tag, an dem nicht jemand eine Weile auf den bequemen Sofas vorne am Kai rastete, bis die Sonne unterging und Abendkühle eintrat. Zuweilen kamen sogar die Karawanenleute von der einige Stunden entfernten großen Landstraße zwischen Bagdad und Aleppo herüber, um hier auszuruhen [S. 97] und ihre Tiere zu tränken. An glühenden Sommertagen, wenn die Hitze über der trockenen Wüste zittert und der feine Staub von den Tritten der Kamele aufwirbelt, muß es allerdings ein Hochgenuß sein, von der Uferhöhe aus Misbans Palmen ihre Kronen über reifenden Äckern wiegen zu sehen. Da winkt Ruhe, da kann man sich satt trinken und im kühlen Schatten die Mühsal der Wüste vergessen! —

Ein Schahtur landet am Ufer der Oase Misban.

Eins der schönsten Landschaftsbilder, das der Euphrat zu bieten hat, ist die kleine Stadt Hit, ein uralter Ort, dessen Asphaltquellen vor Jahrtausenden das Erdpech lieferten, das die Baumeister der babylonischen Königspaläste brauchten. Über einem wogenden Palmenmeer thront sie auf einem Hügel, an dessen Fuß ein Minarett trotzig seine weiße Spitze erhebt. Sie ist die erste arabische Stadt, die Seehandel treibt und an deren Kai sich ein regelrechtes Schiffsleben entwickelt. Am Kopf der Schiffbrücke, die beide Ufer verbindet, liegen zahlreiche arabische „Meheile“, große Kähne mit spitzen Vorder- und Hintersteven, schräg stehenden Masten und langen zusammengerollten Rahesegeln vor Anker, die in voller Fahrt mit vom Wind geblähten weißen Segeln, Schaum am Vordersteven, von überaus malerischer Wirkung sind. Matrosen waten im Uferwasser geschäftig hin und her. Mächtige Schollen zähflüssiges Erdpech liegen wie Teppiche auf dem Ufer ausgebreitet, werden zusammengerollt [S. 98] und auf Prahme geworfen. Pechgestank erfüllt die Luft. Frauen in dunkeln Mänteln balancieren mit Pech gedichtete Töpfe auf dem Kopf, füllen sie am Kai mit Wasser und plaudern mit ihren Nachbarinnen, die eifrig ihre Wäsche in den Fluten des Euphrat spülen.

Gleich unterhalb des Minaretts landete ich an einem offenen Uferplatz. Eine Schar spielender Buben stürmte bald herbei, und ein kleiner Türke in buntem Hemd rief mir zu: „Gestern ist Kut-el-Amara gefallen. Heute ist das Telegramm gekommen!“

„Bist du dessen auch sicher?“ fragte ich.

„Ja“, antwortete er, „der Herr kann ja auf dem Telegraphenamt nachfragen.“

Schön, dachte ich, dann ist Bagdad außer Gefahr, auch der Weg nach Babylon noch offen, und begab mich mit meiner gewöhnlichen Begleitung, dem Gendarm und Sale, in die Stadt hinauf. Eng die teilweise mit Asphalt belegten Gassen, grau die Mauern, ärmlich die Lehm- und Steinhäuser. Dunkle Gänge führten durch offene Tore zu Hütten und auf schmutzige Höfe. Wasserträger mit tropfenden Ledersäcken auf dem Rücken, Esel mit Fruchtlasten, kleine Läden mit Sonnendächern oder offener Auslage von Brot, Erbsen, Granaten und andern Eßwaren; auf den Holzschwellen an den Gassen Kinder mit Schmutznasen, das Gesicht mit Fliegenschwärmen bedeckt; an einer Mauer Aussätzige von abschreckendem Äußeren — welcher Gegensatz zu dem lieblichen Bild, das Hit dem Ankömmling zu Wasser vortäuscht! Auf die braunen Fluten des Stroms öffnete sich in den winkligen Gassen nur selten ein flüchtiger Ausblick.

Gendarm Saalman.

Zum Marktplatz mußten wir wieder hinabsteigen bis dicht an den Strand. Dort standen zwei stattlichere Häuser; in deren einem wohnte [S. 99] der Mudir von Hit, ein Araber, dessen fortschrittlich europäische Kleidung mit seiner bedenklich zurückgebliebenen Intelligenz auffallend kontrastierte. Das andere war das Telegraphenamt, wo mir der Fall von Kut-el-Amara bestätigt wurde. Der englische Oberbefehlshaber General Townshend war mit 13000 Mann gefangen — ein bedeutender Sieg also, dessen Kunde die ganze mohammedanische Welt durchlaufen und die Macht des Sultans kräftigen mußte. Am 29. April hatte der Feind seine Stellungen räumen müssen — zehn Tage vorher war Feldmarschall von der Goltz gestorben! Ein grausames Schicksal hatte es ihm verwehrt, diesen Siegestag zu erleben, den sein Genie und seine Umsicht an der Spitze der 6. Armee erzwungen hatten.

Landungsplatz in Hit.

Während ich auf der Post weilte, war ein kleiner Doppelschahtur bei meiner Fähre angekommen mit einem katholischen Priester an Bord und einem zweiten jungen Deutschen namens Kettner. Wir verbrachten den Abend zusammen und verabredeten uns für den folgenden Tag zu gemeinsamer Fahrt.

Hit verließ ich am 1. Mai, und nun näherte sich meine Stromfahrt ihrem Ende. Mein Freipassagier Asis war in Hit zurückgeblieben; daß [S. 100] er sich auf Französisch gedrückt hatte, wunderte mich nicht, wohl aber, daß er verduftet war, ohne ein — Trinkgeld für seine Reisebegleitung zu fordern.

Das linke Euphratufer heißt von hier ab bei den Arabern El-Dschesire (Insel), ein Begriff, der sich ungefähr mit Mesopotamien deckt; das rechte Esch-Scham. Diese beiden Namen traten nun immerfort in Verbindung mit Strömung, Wind und Landungsplatz auf. Am Schamufer fuhren wir an den niedrigen Felsabhängen von Leguba entlang und lenkten dann hinter der tamariskenbewachsenen Insel Abu Tiban nach Dschesire hinüber. Beim Palmenhain Tell-essued zwang uns heftiger Südost wieder längere Zeit still zu liegen, und voll Neid sah ich die stolzen Meheile in dem ihnen günstigen Wind mit vollen Segeln an uns vorüber stromaufwärts fahren. Während ein Araber gewandt am Stamm weiblicher Palmen hinaufkletterte, ihr Samengehäuse mit dem Staub der männlichen Blüten bestreute und dann die Blattbüschel mit Bast zusammenband, vertrieben sich meine Leute die Zeit mit Vogelfang und mit dem Bau kleiner Schiffchen aus Palmblättern. Dann versuchten wir die Fähre am Ufer entlang vorwärtszuziehen; bei offenem Strand ging es; wo aber Gestrüpp den Leinpfad unwegsam machte, kamen wir verzweifelt langsam vorwärts.

Wir landen bei Tell-Essued.

[S. 101]

In dieser Gegend vollzieht sich der Übergang der Hochebene in das vollständig ebene Schwemmland, das zur Zeit der assyrischen und babylonischen Königreiche von gewaltigen Kanälen durchschnitten und mit üppigen Gärten und Äckern bedeckt war. Die weißen Kalksteinwände verschwinden, nur noch vereinzelte Ausläufer ziehen sich bis an den Strom heran. Der Horizont rückt in weite Ferne, und der Euphrat benutzt seine neu gewonnene Freiheit, um sich mächtig auszudehnen.

Unser Lager bei Tell-Essued.

Auch am 2. Mai kämpften wir vergebens mit Gegenwind, und die zahlreichen Schöpfwerke — hier wieder von dem primitiven Typ — machten es fast unmöglich, die Fähre vom Lande aus weiter zu bugsieren. So krochen wir mit unendlicher Mühe bis Ramadije. An diesem Tag begegnete uns die erste Guffa, eines der runden asphaltbekleideten Korbboote von großer Leichtigkeit und Tragfähigkeit, die schon aus assyrischer Zeit bekannt sind. Der Ruderer war selbst Mast und Segel, er stand in der Mitte des Bootes, und sein Mantel war als Windfang ausgebreitet.

[S. 102]

Meheile auf dem Euphrat.

Am nächsten Tag fanden wir die Ufer auf weite Strecken überschwemmt. Der Euphrat macht hier große, oft fast kreisförmige Windungen, und das in diesen Schleifen liegende Land war von dem eigentlichen Strom kaum noch zu unterscheiden, so daß es die ganze Kunst meines Kapitäns erforderte, sich zwischen diesen unter Wasser liegenden Landzungen, Inseln und Schlammbänken, in kleinen und großen Seitenarmen zurechtzufinden. Da standen Palmenhaine mitten im Strom; dann wieder waren Äcker mit reifenden Ernten von der Flut verschont, und Schaf- und Rinderherden, Hütten und Zelte standen wie auf der Wasserfläche. Die Anwohner hier mußten geradezu ein amphibienartiges Dasein führen, jeden Augenblick gewärtig, von den launischen Wellen überrascht zu werden. Oft war auch das, was ich für Zelte hielt, nichts weiter als die Segel der Meheileboote, die rechts oder links über der Wasserfläche emporragten und denen wir dann in großem Bogen, den der Euphrat beschrieb, begegneten. Meine Leute mußten schließlich nackt ins Wasser hinein, um [S. 103] uns nur vorwärts zu bringen. Dabei war die Insektenplage fast unerträglich. Wenn wir abends an einem öden Strand vertäuten, durfte ich mein Licht nur für mein schnelles Abendbrot brennen lassen. Überall schwirrte und surrte es von Insektenschwärmen, die in dieser Sumpfgegend und bei der tropischen Hitze myriadenweise gediehen. Das innere Dach meiner Hütte war mit einer schwarzen, kribbelnden Decke bezogen, plumpe Käfer stießen gegen die Wände, törichte Nachtfalter taumelten in die Flamme und plumpsten mit verbrannten Flügeln in mein Eßgeschirr. Die Grillen zirpten um die Wette, die Frösche quakten im Sumpf und das höhnische Lachen und langgezogene Heulen der Schakale ging in unheimlichen Wellen über die Steppe. Die schlimmsten Quälgeister aber waren Mücken und Moskitos, von denen immer einige durch die Maschen des Moskitonetzes schlüpften. Ein brennendes Jucken lief über den ganzen Körper, und an Schlaf war in diesem Bett von Brennesseln nur wenig zu denken. Am Morgen, wenn sie dickgefressen und zu faul waren, wieder hinauszufliegen, hatte ich wenigstens die Freude, blutige Rache nehmen zu können. Die Morgenkühle pflegte das Jucken zu beseitigen.

Dorf in der Gegend von el-Beschiri.

Am 4. Mai erschien endlich über der glatten Steppe das Minarett von Feludscha, erst im Südosten, dann im Nordosten, denn der Euphrat [S. 104] macht hier wieder einen mächtigen Bogen nach Süden. Als wir den Landungsplatz erreichten, war das erste, was ich sah, ein Schahtur von Schrenks Batterie; die Abteilung des Roten Kreuzes war noch hier und sollte am nächsten Tag aufbrechen.

Bei Feludscha ist der Euphrat ungewöhnlich schmal. Diesem Umstand hat der Ort seine Entstehung zu verdanken. Denn hier geht die große Karawanenstraße über den Strom. Die Brücke war aber des Hochwassers wegen eingezogen; die Pontons lagen am Ufer und sollten auch nicht mehr verwendet werden, da die Brücke für die Fähren nach Risvanije ein gefährliches Hindernis war. Die Reisenden müssen sich daher damit abfinden, daß sie und ihr Gepäck auf einzelnen Prahmen über den Euphrat gesetzt werden.

Von Feludscha aus konnte ich nun zu Wagen auf der Karawanenstraße nach der Stadt der Kalifen gelangen oder zu Schiff bis Risvanije weiterfahren, das durch eine kleine Feldbahn mit Bagdad verbunden ist. Bei ruhigem Wetter rechnet man zu Wasser bis Risvanije acht Stunden. Ich entschloß mich daher, auf der Fähre zu bleiben, mußte aber bald diesen Entschluß bereuen. Gegenwind und Gewitterregen, dazu ein tüchtiger Weststurm, zwangen uns immer wieder stillzuliegen und dehnten die acht Stunden zu mehr als einem Tag. Die Araber sind gegen nichts empfindlicher als gegen Regen; vor jedem kleinen Schauer ließ meine Besatzung die Ruder im Stich, flüchtete unter Deck und war erst wieder aufzutreiben, wenn wir zu kentern drohten. Einmal wären die Leute, als sie die Fähre ins Schlepptau nehmen wollten, beinahe alle im Schlamm ertrunken. Ich atmete daher erleichtert auf, als ich endlich am 5. Mai Risvanije erreichte und mein tüchtiger Doppelschahtur seine Reise von 1040 Kilometern ohne schwere Unfälle vollbracht hatte.

[S. 105]

Phot.: Schölvinck.
Eine Guffa auf dem Tigris.

Neuntes Kapitel.
Mein Einzug in Bagdad.

E s regnete in Strömen, als ich meine Fähre verließ. Am Ufer erwarteten mich Herr Kettner und der Flugzeugmonteur Knitter, der zur Fliegerabteilung des Hauptmanns Niemayer gehörte. Ich kam gerade recht, ein Zug von zweiundzwanzig Wagen sollte nach Bagdad abgehen, sobald der Regen aufhörte. Ich eilte daher zum Kommandanten von Risvanije, dem Kurden Ahmed Mukhtar aus Suleimanije, einem gewandten, höflichen Mann, der in der französischen Missionsschule zu Bagdad die klangvolle Sprache der Boulevards gelernt hatte. Alles ging nach Wunsch: der Zug sollte warten, bis ich reisefertig sei.

Ich speiste also mit den Deutschen zu Mittag und trank Tee bei Ahmed Mukhtar. Mittlerweile packte Sale meine Sachen. Die Fähre, auf der ich unvergeßliche Stunden verbracht hatte, stellte ich unter den Schutz des Kommandanten. Vielleicht konnte sie zur Fahrt nach Babylon noch gute Dienste leisten.

[S. 106]

Das Gleis der Feldbahn führt bis zum Strand hinunter. Die Wagen sind aus Eisen und haben dieselbe Form wie die schwedischen Erzwagen auf der Linie Luleå-Reichsgrenze, sind aber viel kleiner. Die Lokomotiven waren noch nicht fertig; das einzige Zugmittel war Menschenkraft; Araber wurden zum Schieben der Wagen ausgehoben. Bis Bagdad wurden die Leute sechsmal gewechselt, jedesmal fünfzig Mann. Sie erhielten drei Brote am Tag und zusammen ein Lamm. Ihr Sold war unbedeutend, und oft genug rissen sie wieder aus. Demnächst sollten aber die Lokomotiven fertig und damit die Leistungsfähigkeit der Bahn bedeutend gesteigert werden. Jeder Wagen faßte zwei Tonnen. Die Güter, die mit meinem Zug befördert wurden, waren Kriegsmaterial und Proviant. Mein Gepäck wurde auf den letzten Wagen geladen; oben drauf thronten ich selbst und mein Diener Sale.

Um 3 Uhr hatte der Regen aufgehört. Die Luft war frisch und kühl. Alle Mann standen an ihren Wagen bereit, und auf ein gegebenes Zeichen begann der wunderliche Eisenbahnzug sich in Bewegung zu setzen. Schnell ging es nicht, und wir als letzte mußten wohl oder übel jeden Aufenthalt mitmachen, den einer der vorderen Wagen verursachte.

Zu beiden Seiten der Bahn breiteten sich Weizen-, Korn- und Haferfelder aus, denen ein Kanal Wasser aus dem Euphrat zuführte. Die ganze Gegend heißt Risvanije oder Nasranije, wie man es auch ausspricht. Der angebaute Feldstreifen war aber nur schmal, und bald fuhren wir wieder durch die Wüste. Zu beiden Seiten der Schienen hatten die Füße der schiebenden Araber in den graugelben Alluviallehm Rinnen getreten, die jetzt voll Wasser standen.

In der Nähe des Ufers waren wir durch eine kaum ein paar Meter ansteigende Höhe gefahren. Ein zweiter Hohlweg dieser Art bei Jusfije ließ vermuten, daß diese Höhen nichts anderes waren, als Dämme zu beiden Seiten uralter Kanäle. Links vom Wege lag, von einigen grauen Ruinen umgeben, die Grabmoschee Brahim-el-Halil Imam, auf der anderen Seite eine kleine Anhöhe namens Tell-achijen. Hier erhielt der ganze Zug Befehl zu halten, und mein Wagen wurde auf einem Nebengleis an die Spitze geschoben. So hatte ich nun freie Bahn und freie Aussicht, und wir ließen den übrigen Zug bald weit hinter uns.

[S. 107]

Die Bahn läuft schnurgerade nach Bagdad. Die ganze Entfernung beträgt nur 45 Kilometer; sie ist die kürzeste zwischen Euphrat und Tigris an der Grenze zwischen Mesopotamien und dem Irak.

Kurz nach 5 Uhr erreichten wir die erste Station Kal’at Risvanije, wo neue Araber als Schlepper eintraten und ein neuer Gendarm zu uns stieß. Dieser berichtete mit bedenklicher Miene, in der vorigen Nacht sei zwischen der ersten und zweiten Station ein Zug von Räubern angefallen worden. Durch Gewehrschüsse habe man zwar die Angreifer in die Flucht gejagt. Immerhin sei es gut, an der gefährlichen Gegend so schnell wie möglich vorbeizukommen, denn man könne nie wissen! Unter diesen Umständen wäre es zweifellos vorsichtiger gewesen, bei den andern Wagen zu bleiben, die eine türkische und deutsche Eskorte hatten. Aber da ich den Arabern schon ein tüchtiges Trinkgeld versprochen hatte, wenn sie ordentlich liefen, mochte es nun auch dabei bleiben.

Der Gendarm hatte es so eilig, daß er selber mit schob. Vor jeder Anhöhe aber rannte er mit einer unermüdlichen Ausdauer, obgleich ihn Mantel und Gewehr beim Laufen hinderten, voraus, um die Bahn entlang zu spähen; war nichts Beunruhigendes in Sicht, so gab er von oben ein Zeichen, die Leute legten sich kräftiger ins Zeug, und er selbst kam atemlos wieder herbeigesprungen. Der gefährlichste Punkt war eine Stelle, wo der Zug wieder einen alten Kanaldamm kreuzte: hier hatte die Räuberbande heute Nacht auf der Lauer gelegen. Wir kamen aber unbelästigt auch durch diesen Hohlweg hindurch und an dem Hügel Tell Wabo vorüber. Rechts von der Straße erhob sich in der Ferne Hamudija, eine kleine, an der Karawanenstraße zwischen Bagdad und Hille gelegene Anhöhe.

Dann fuhren wir über ein Feld, das mit zahlreichen Ziegelscherben bedeckt war. Welche Schätze aus der Zeit babylonischer Größe mochte wohl diese Erde im Schoße bergen! Über dem Horizont wurden die einfachen Hütten des Dorfes Taldama sichtbar, und vor 6 Uhr waren wir dort. Beim Stationsgebäude lagerte eine Schar Araber auf Strohmatten; sie warteten darauf, ihre Kameraden an den Wagen abzulösen. In der Nähe standen fünfundzwanzig Zelte. Schmale, neuangelegte Kanäle mit kleinen Brücken führten den Feldern Wasser zu, aber offenbar zu wenig, denn das Korn sah kümmerlich aus. Heuschrecken waren [S. 108] hier zahlreich, und viele von ihnen fanden auf den Schienen einen schnellen Tod.

Meine Araber liefen, was das Zeug halten wollte; der Schweiß tropfte ihnen von der Stirn, und sie keuchten wie atemlose Hunde. Als einmal zwei leere Wagen die Strecke sperrten, hoben sie das Hindernis einfach vom Gleis herunter und ließen es daneben stehen.

Die Sonne war blutrot untergegangen, und die Dämmerungsstunde nahte. Über Bagdad flammten bläuliche Blitze. Am Horizont war der Himmel klar. Die Sterne traten hervor, und der Mond zeigte seine Hörner. Im Norden flackerten die Feuer arabischer Nomaden bei dem Hügel Abu Hanta.

Das Stationsgebäude bei Tell-Essued hatte ein auf Pfosten ruhendes Schutzdach, unter dem die Araber lagen und schliefen oder ihre Wasserpfeifen rauchten. Hier wurde Rast gemacht, im „Mangal“, dem Kohlenbecken, Feuer angezündet, und Sale mußte Tee kochen zu einem schnellen Abendessen aus Brot und Eiern. Kurz vor ½9 begann die vierte Wegstrecke.

Der Mond hatte sich hinter Wolken verkrochen. Über Bagdad aber leuchtete es wie der Widerschein heftigen Artilleriefeuers. Die Gefahr eines Überfalls schien jetzt vorüber zu sein, wenigstens wurde nicht mehr davon gesprochen. Zu beiden Seiten lag die Wüste still und dunkel.

Die fünfte Wegstrecke reichte bis Jesr el-Cher. Der Mannschaftswechsel dauerte ein paar Minuten; die alten Leute empfingen ihren Backschisch, und die neuen sahen sich dadurch angespornt, die sechste und letzte Strecke bis zum Tigris mit größter Geschwindigkeit zu nehmen. Auf einer Eisenbahnbrücke überschritten wir den großen Kanal Jesr el-Cher. Dann wieder eine letzte Strecke Feld, und schon tauchten Lichter und Laternen auf, die immer zahlreicher wurden. Palmen traten aus dem Dunkel wie gespenstige Schatten hervor. Nebengleise zweigten sich ab, Güterzüge mit Kriegsmaterial standen hier und dort, und schon hielten wir am Ufer des Tigris. Hammale, Lastträger, kamen gesprungen, bemächtigten sich meines Gepäcks und schleppten es zu einer Treppe, an deren Fuß eine gewaltige Guffa vertäut lag.

Wir stiegen an Bord, und drei Mann ergriffen ihre kurzen, breitblattigen Ruder. Sie standen im Vorderteil der Guffa, soweit man bei einem Boot, das wie ein kreisrunder Korb ist, von Vorder- und [S. 109] Hinterteil reden kann, stießen die Ruder mit beiden Händen soweit wie möglich vor dem Boot ins Wasser und arbeiteten sich mit schnellen und immer gleichmäßigen Ruderschlägen vorwärts. Wären nur zwei Ruderer da, so würde das Boot sich bald im Kreise drehen; deshalb arbeitete der mittlere bald mit dem linken, bald mit dem rechten Nachbar, ohne beim Wechseln von der einen Seite zur andern Seite den Takt zu verlieren. So schaukelte das originelle Fahrzeug über den Tigris, Bagdad entgegen. —

Bagdad schlief bei meiner Ankunft. Nur hier und da brannte in einem Fenster noch ein Licht oder eine Öllampe. Im übrigen war das linke Tigrisufer stockdunkel. Beim Schein der Blitze waren nur hin und wieder Schattenrisse von Hausdächern, Minaretten und Palmen zu erkennen.

Wohin nun? Als die Guffa an dem sanft abfallenden Ufer gelandet war, fragte ich die Ruderer, ob sie ein Haus wüßten, wo deutsche Offiziere wohnten. Freilich! Sie schulterten meine Sachen und hießen mich ihnen folgen. Einer von ihnen mußte mich führen, denn Straßenbeleuchtung gab es nicht, und man konnte die Hand nicht vor den Augen sehen; man merkte nur, daß man durch fürchterlichen Schlamm watete.

Endlich hielten meine Führer vor einem Tor. Auf dreimaliges Klopfen mit dem Eisenring öffnete ein Diener.

„Wer wohnt hier?“ fragte ich.

„Einige deutsche Herren. Aber sie sind schon alle zu Bett bis auf einen, der noch nicht zu Haus ist.“

„Ist noch ein Zimmer frei?“

„Ja, eins.“

„Führ mich dahin!“

Vom Hof ging es eine Treppe hinauf über eine offene Galerie in das Zimmer. Ein Licht wurde angezündet, mein Feldbett mit dem Moskitonetz aufgestellt und mein Gepäck auf Tisch und Stühle gelegt. Es war gegen 1 Uhr. Bei wem ich mich einquartiert hatte, ahnte ich nicht. Aber ich machte mir darüber auch keine Gewissensbisse. Denn die Fahrt auf Euphrat und Tigris an einem Tag und auf der merkwürdigen Eisenbahn hatte mich ermüdet, und ich sehnte mich nach Ruhe.

Als getreuer Wächter hatte sich Sale vor meiner Zimmertür auf den Boden gelegt. Eben wollte ich unter das Netz kriechen, da erklangen feste Schritte auf der Galerie, und ein deutscher Feldgrauer trat herein. [S. 110] Als er mich erblickte, stutzte er und stand da wie ein fleischgewordenes Fragezeichen. Er hatte das Licht brennen sehen und geglaubt, der rechtmäßige Besitzer des Zimmers sei zurückgekehrt.

„Wer ist denn der?“ fragte ich.

„Der Tibetforscher Professor Tafel aus Stuttgart.“

„Wie, Tafel? Mein alter Freund aus der Berliner Richthofen-Zeit!“

„Ja, eben der. Er war einige Tage krank und ist in Behandlung bei Dr. Herle.“

So hatte der Zufall mich, der ich bei stockdunkler Nacht Bagdad betrat, ohne daß jemand von meiner Ankunft wußte, nicht nur in das Haus, sondern auch in das Zimmer geführt, das ausgerechnet ein Tibetforscher bewohnte, und noch dazu einer, den ich schon seit vielen Jahren kannte!

Nachdem mich Hauptmann Müller — denn das war der Feldgraue — noch eine Weile über die Verhältnisse in Bagdad unterrichtet hatte, wünschte er mir gute Nacht und überließ mich dem Schlaf.

Abdurrahaman Gilani, Nakib in Bagdad.
Das Minarett Suk-el-Gasl in Bagdad.

Am Morgen des 6. Mais erwachte ich bei einem wahrhaft tropischen Wetter. Es goß in Strömen; wie Glas stand der Regen vor dem Fenster, er klatschte auf die steifen, blanken Palmenblätter, er schäumte aus den Dachrinnen, rieselte die Veranden herein und brodelte in Strömen über den Hof. Der Donner rollte durch schwere, blauschwarze Wolken. Ohne [S. 112] Zweifel tat das tüchtige Sturzbad der nicht gerade sauberen Stadt recht gut: aber sachkundige Leute meinten, es käme viel zu spät; Regen im Mai sei eine ungewöhnliche Erscheinung.

Als das Unwetter einigermaßen vorüber war, machte ich mich fertig, durch den Straßenschmutz nach dem Hause des früheren deutschen Konsuls Richarz zu wandern, wo Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg, mein liebenswürdiger Wirt von Bapaume, seit einiger Zeit sein Zelt aufgeschlagen hatte. Die Wechselfälle des Krieges hatten ihn jetzt nach Asien geführt; sein Wunsch, als Führer einer eigenen kleinen Armeegruppe an einer der türkischen Fronten kämpfen zu dürfen, war jedoch zu seinem Bedauern nicht in Erfüllung gegangen. Übrigens war er kein Neuling in diesem Lande, denn in seiner Jugend, vor ungefähr zwanzig Jahren, war er von Jerusalem nach Berlin geritten.

Eben trat ich aus meinem Zimmer auf die Galerie hinaus, da kam mir der Herzog schon entgegen, frisch und munter wie gewöhnlich. Er hatte von meinem nächtlichen Einzug gehört und wollte der erste sein, der mich willkommen hieß. In unsere Regenmäntel gehüllt wanderten wir über die vornehmste Straße Bagdads, die Halil Paschas Namen trägt, zum Hause des Herrn Richarz, einem gewaltigen Viereck, das ein schattenspendender Garten umgab. Offene, überdachte Galerien, die auf geschnitzten und buntbemalten, aber verwitterten Säulen ruhten, boten freie Aussicht über Nachbarhöfe und enge Gassen, auf den großen königlichen Strom und sein anderes Ufer.

Herr Richarz war 1894 bis 1907 deutscher Konsul in Bagdad und von 1912 bis 1914 amerikanischer. Dann hatte er seinen Abschied genommen, war aber hier wohnen geblieben; er mochte sein Haus nicht im Stich lassen, es auch nicht während des Krieges zu einem Spottpreis verkaufen. Außerdem liebte er Bagdad und hatte sich im Lauf der Jahre an sein eigenartiges Klima gewöhnt und sich in diese bunte orientalische Welt, ihre Sitten und Sprachen — Richarz beherrschte fließend ihrer elf — so eingelebt, daß er mit seinen sechzig Jahren dieses ruhige, sorgenlose Dasein nicht ohne Zwang aufgeben wollte. Wie dunkel und farblos waren die Straßen Berlins und Hamburgs verglichen mit den Gassen Bagdads! Mit der Genauigkeit eines Uhrwerkes hatte er sein Tagewerk geregelt; pünktlich zur Sekunde nahm [S. 115] er seine Mahlzeiten, seine Bäder, machte er seine Spaziergänge, las er seine stark verspätet einlaufenden Zeitungen oder die Schätze seiner Bibliothek, und ebenso regelmäßig verrichtete er seine Arbeiten für den deutschen Nachrichtendienst. Salon, Arbeitszimmer, Bibliothek und Speisesaal gingen auf die Galerie hinaus, die um den Hof lief. Im Salon stand ein über Meer und Ströme beförderter Flügel, dessen Innerm sein Besitzer schöne Melodien entlockte, denn er war sehr musikalisch und fand in einsamen Stunden am Klavier die beste Gesellschaft.

Graf Wilamowitz und Konsul Richarz auf dessen Kai in Bagdad
Phot.: Schölvinck.
Konsul Richarz’ Hof.

Regelmäßig Ende Mai, bei Beginn der großen Hitze, pflegte Richarz seine Winterwohnung zu verlassen und auf „Sommerfrische“ zu ziehen. Der Umzug war nicht weit, bedeutete aber doch in seinem Leben einen jährlich wiederkehrenden wichtigen Abschnitt: Er begab sich einfach zwei Treppen tiefer in sein „Särdab“, einen Kühlraum, in den kein Sonnenstrahl drang. Hier unter der Erde verbrachte er den ganzen Sommer, und wer an den kleinen Luken des Särdab vorüber kam, konnte am hellichten Tage die himmlischen Akkorde von Beethovens Mondscheinsonate aus der Kellertiefe herauftönen hören.

Bei dem Herrn des Hauses traf ich auch meinen prächtigen Freund von der deutschen Westfront Rittmeister Schölvinck, den Adjutanten des Herzogs. An der gemeinsamen Frühstückstafel auf der Veranda des Konsuls in der regenfrischen Morgenluft gab es so ein behagliches Plaudern; im Mittelpunkt der Unterhaltung standen natürlich der vor einer Woche gemeldete Fall von Kut-el-Amara und seine voraussichtlichen Folgen.

Später am Tage sah ich auch meinen lieben Reisekameraden Graf Wilamowitz wieder, der von seinem 800-Kilometerritt von Aleppo her mancherlei zu erzählen wußte. Und nachdem ich den Abend wieder in Konsul Richarz’ Salon verbracht hatte, fuhr ich im Auto des Herzogs nach Hause. Im Licht der blendenden Scheinwerfer hatten Bagdads enge Straßen ein phantastisches Aussehen; die gelben Lehmhäuser mit ihren kleinen, festen Straßentüren und die feierlichen Palmen, deren Federn über die Hofmauern blickten, glichen den Kulissen einer Bühne. Auf den noch nassen Straßen lungerten herrenlose Hunde herum, die den Rädern des Autos nur zögernd und unter grimmigem Knurren ihren angewärmten Schlafplatz preisgaben.

Bagdad.
Blick nach Südost. In der Ferne der Tigris.

[S. 117]

Man hatte mir mittlerweile eine andere Wohnung zugewiesen. Das Haus, in das mich am Abend zuvor der Zufall geführt hatte, besaß ein Dr. Endrucks vom deutschen Etappenwesen in Mesopotamien. Er war seit fünf Jahren hier ansässig im Dienst der Bagdadbahn. Jetzt empfing mich ein großer Saal im Gebäude des Oberkommandos der 6. Armee. Seine ganze Einrichtung bestand aus einem Stuhl, einem Tisch, einer Badewanne und dem Feldbett; aber unter der Veranda floß der Tigris vorüber, und was diesem Raum seine Weihe gab, war das Andenken an den Feldmarschall, meinen großen Freund von der Goltz, der hier gewohnt hatte.

[S. 118]

Moscheekuppel in Bagdad.

Zehntes Kapitel.
Bagdad einst und jetzt.

D er eigentliche Begründer der Abbassiden-Herrschaft war Abu Dschafar Abdallah al-Mansur. Er bestieg im Jahre 754 den Thron der Kalifen, der Nachfolger Mohammeds, und erwarb sich einen der berühmtesten Namen in der mohammedanischen Welt. Sein Reich war größer als das römische in seiner Glanzperiode; es erstreckte sich von Chorassan, Kandahar und dem Indus bis Aden, Algier und Kleinasien. Während die Omaijaden, die erste mohammedanische Kalifendynastie, ihre Residenz in Damaskus hatten, verlegten die Abbassiden sie nach Babylonien. Während seiner ersten Regierungsjahre wohnte Mansur in Haschimija bei Kufa; zur Verherrlichung seines Namens aber beschloß er eine neue Hauptstadt zu gründen und wählte einen günstig gelegenen Punkt am rechten Ufer des Tigris. Dort lag ein kleiner, schon seit der babylonischen Zeit bekannter Ort, genannt Bagdad.

Im Frühjahr 762 begann die neue Kalifenstadt aus der Wüste emporzuwachsen. Prachtvolle Paläste und Moscheen, Regierungsgebäude [S. 119] und Festungswerke wurden errichtet, die Kanäle, die den Tigris mit dem Euphrat verbanden, wurden verbessert und Brücken über sie angelegt. Kaufleute, Handwerker und Kolonisten strömten herzu, zahllose Ziegelhäuser wurden gebaut, und bereits vier Jahre später war Bagdad eine Weltstadt, die größte in diesem Teil Asiens, und noch heute ist sie eine der bedeutendsten Städte im größten Sultanat des Islam. Im Jahre 768 war die Stadtmauer fertig. Die Hauptmasse der neuen Schöpfung lag auf dem rechten Ufer. Aber der Kalif ließ auch das linke Ufer bebauen, wohin sich heute der Schwerpunkt des heiligen Bagdad verlegt hat. Dort residierte sein Sohn und Nachfolger Mahdi.

Von der neuen Hauptstadt aus, die er Dar-es-Salaam, Stadt des Heils, oder Mansurije, Mansurs Stadt, nannte, leitete der Kalif mit eiserner Hand sein unermeßliches Reich. Er brachte Ordnung in die innere Verwaltung und erstickte grausam alle Aufruhrversuche. Für sich war er sparsam, aber für Bagdad opferte er unerhörte Reichtümer.

Dachterrasse beim Suk el-Gasl.

Den Beinamen al-Mansur (Almansor), der Siegreiche, trug er mit Recht. Er regierte mit rücksichtsloser Kraft und regierte selbst, nicht durch andere. Keiner seiner Nachfolger hat ihn an Herrschergaben übertroffen. Seinem Sohn gab er einmal den Rat: „Schlafe nicht; dein Vater hat auch nicht geschlafen, seit er das Kalifat errang. So oft auch der Schlaf seine Augen beschwerte, ist sein Geist doch wach geblieben.“ Er war von größter Mäßigkeit, nicht zum wenigsten in [S. 120] seinem Verhältnis zu Frauen; Wein trank er nie, und er duldete am Hof weder Gesang noch Musik, da beides zur Liederlichkeit verführe. Er konnte wie ein wildes Tier gegen Aufrührer und verdächtige Personen rasen, war aber mild und freundlich zu Kindern und Sklaven. Er wird als ein großer, magerer Mann geschildert von hellbronzebrauner Gesichtsfarbe mit dünnem Bart und gilt als der größte arabische Redner. Die jährlichen Wallfahrten nach Mekka leitete er gern selbst, und auf solch einer Fahrt starb er, mehr als sechzig Jahre alt, am 7. Oktober 775 etwa eine Wegstunde von der heiligen Stadt entfernt, der Heimat seines Geschlechts; in ihrer Nähe liegt er auch begraben. Aber Bagdad ist das vornehmste Denkmal, das er sich errichtet hat.

Junge Türkin in Bagdad.

Mansurs Enkel Harun er-Raschid (der Gerechte) regierte dreiundzwanzig Jahre (786–809) und führte die Dynastie der Abbassiden auf die Höhe ihrer Macht. Das Reich blühte, doch mehr dank der weisen Regierung des Großvaters, als dem eigenen Verdienst des Enkels. Als er 803 die persische Familie der Barmekiden, deren Macht er fürchtete, hatte ermorden lassen, fühlte er sich in Bagdad nicht mehr sicher und verlegte seine Residenz nach Rakka am Euphrat. Gemeinsame Interessen in Spanien und dem babylonischen Reich brachten [S. 122] ihn mit Karl dem Großen in Verbindung. So drang sein Ruhm auch nach Europa. Noch heute strahlt sein Name in seltenem Glanz, denn er war ein Beschützer der Kunst und der Wissenschaft, und Sagen und Legenden, vor allem die Märchen aus Tausendundeiner Nacht sichern ihm die Unsterblichkeit.

Brücke über den Tigris.

Harun er-Raschids Sohn Mamun mußte Babylonien zurückerobern, da es durch Bürgerkriege verloren gegangen war, und residierte seitdem wieder in Bagdad. Sein Nachfolger und Bruder Mutasim (833–842) aber scheute die Nähe der aufrührerischen Perser und gründete als neue Residenz Samarra, das wir später besuchen werden. Er war es, der zur Niederwerfung von Aufständen türkische Söldnerscharen warb, die von da an zu immer mächtigerem Einfluß gelangten. Erst der Kalif Mutadid kehrte 891 wieder nach Bagdad zurück, das dann bis zum Untergang des Kalifats die Hauptstadt blieb.

Der Verfall des mächtigen Kalifenreichs begann schon in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Am 17. Januar 1258 wurde Bagdad von den Mongolen unter Dschingis-Chans Enkel Hulagu erobert, geplündert und niedergebrannt, dann aber wieder aufgebaut und zum Sitz eines Statthalters erhoben. Die Gräber der Abbassiden hatte Hulagu zerstören lassen, und auch ein anderes kostbares Kleinod, der Mantel des Propheten Mohammed, ging in diesen Kämpfen verloren.

Nach mehr als halbtausendjährigem Bestand war so die Macht des Kalifats vernichtet, und Bagdad war und blieb seitdem eine Provinzstadt. Später wurde es Residenz der Il-chaner, die das Mongolenreich für den Großchan verwalteten. Im Jahre 1401 stand der furchtbare Timur-Lenk, Tamerlan, vor seinen Toren; er nahm die Stadt im Sturm, plünderte und vernichtete alles außer den Moscheen, ließ die Bevölkerung niedermetzeln und baute Siegespyramiden aus 90000 Menschenschädeln.

Dann folgte eine Zeit wechselnder Kämpfe zwischen Tataren und Türken. Im Jahre 1534 nahm Sultan Suleiman die Stadt ohne Schwertstreich. 1623 wurde sie vom Schah von Persien, Abbas dem Großen, zurückerobert. Erst nach mehreren erfolglosen Vorstößen setzten sich die Türken in Bagdad wieder fest; 1638 belagerte Sultan Murad IV. an der Spitze eines gewaltigen Heeres die Stadt und erstürmte sie trotz [S. 124] ungeheurer Verluste. Er ließ alle Perser töten und das Tor zumauern, durch das er als Sieger seinen Einzug gehalten hatte.

Straße im Christenviertel von Bagdad.

Im Jahre 1732 lag Nadir Schah, der Eroberer Indiens, acht Monate lang vergebens vor Bagdad, das der tapfere Ahmed Pascha hartnäckig verteidigte. Dann wurde es mehrmals von Wahhabiten und Muntefik-Arabern bedroht und genoß erst seit 1800 eine Zeit ziemlicher Ruhe, die jedoch öfters durch Pest, Überschwemmungen, Beduinenangriffe, Hungersnöte und Mißwirtschaft aller Art gestört wurde. Im Jahre 1837 berechnete man die Einwohnerzahl auf nur 40000. Midhat Pascha, der in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Generalgouverneur war, brachte Ordnung in die Verwaltung und führte Bagdad zu neuer Blüte.

Dunkler Basartunnel.

Da trat im Jahre 1917 zum erstenmal ein Volk des Okzidents auf den Schauplatz. Bagdad wurde von den Engländern erobert. Es gibt zwar naive Leute, die versichern, nunmehr werde die Furie des Krieges nie mehr über Mansurs Stadt dahinbrausen und Bagdad erst jetzt und für alle Zeiten mit Recht seinen Ehrennamen Dar-es-Salaam, Stadt des Heils, des Friedens, führen. Aber ihre Stimmen sind wie Spreu vor dem Wind. Wenn der nächste Weltkrieg über die Erde stürmt, sind die Gräber dieser Propheten von heute vielleicht längst vergessen, und niemand fragt mehr nach ihrem Glauben. Englands Absicht, über Südpersien hinweg seine Verbindung mit Indien zu befestigen, [S. 125] kann nicht verwirklicht werden ohne einen neuen Kampf auf Leben und Tod mit Deutschland und der Türkei, deren Ziele durch die Bagdadbahn festgelegt sind. —

Was ich im vorigen Kapitel erzählte, war mein zweiter Einzug in die Stadt der Kalifen, die ehemals als Haupt eines mächtigen Reiches, als Wiege der Märchen aus Tausendundeiner Nacht so weltberühmt war und heute als Ziel deutschen Unternehmungsgeistes, als Knotenpunkt der Bagdadbahn nicht weniger in aller Munde ist. Dreißig lange Jahre vorher hatte ich ihr meinen ersten flüchtigen Besuch abgestattet. Wer hätte damals ahnen können, daß ich drei Jahrzehnte später zurückkehren würde zu einer Zeit, in der die Welt vom Steppenbrand des größten aller Kriege heimgesucht wurde! Damals war ich durch Persien von Buschehr aus mit dem großen englischen Fahrzeug „Assyria“ nach Basra und von dort mit dem Flußdampfer „Medschidije“ über Korna, Esras Grab, Amara, Kut-el-Amara, Ktesiphon und Seleucia nach Bagdad gekommen.

Am Abend des 4. Junis 1886 war die „Medschidije“ vor dem Zollgebäude vor Anker gegangen. Vom schmucken Haus des französischen Konsulats hatte die Trikolore geweht. Bei Sonnenaufgang war ich ans Land gerudert, und der alte englische Kaufmann Hilpern mit seiner ehrwürdigen Gattin — oder war ich damals nur so jung? — hatte mich mit ausgesuchter Gastfreundschaft aufgenommen. Drei nach indischer Art möblierte Zimmer standen mir zur Verfügung, und sein türkischer Sekretär Vabib Schika führte mich umher, so daß ich trotz der mörderischen Hitze und der verödeten und staubigen Straßen während des Ramasan alle Sehenswürdigkeiten Bagdads gründlich betrachten konnte. Wo mögen die Freunde von damals jetzt sein? Wahrscheinlich tot. Aber auf den Kreuzen des christlichen Friedhofs suchte ich ihre Namen vergeblich.

Jetzt wanderte in Bagdads Straßen ein neues Geschlecht, eine neue Generation. Die Kinder, die ich damals an den Ufern des Tigris spielen sah, standen jetzt in der Blüte ihrer Jahre, und wer damals die Mittagshöhe des Lebens erreicht hatte, beugte sich jetzt unter der Bürde des Alters.

Am Ufer des Tigris.
Ein Meheile fährt am Ufer entlang. In der Ferne das englische Konsulat.

Auch die Stadt hatte manche Veränderungen erfahren. Eigentlich war alles neu; denn auch die besseren Häuser hier halten sich selten mehr als fünfzig Jahre, da das Ziegelbrennen primitiv und schlecht geschieht. [S. 127] Im Winter setzen Regen, im Frühsommer Überschwemmungen des Tigris den Gebäuden arg zu. An Bauwerken, die mir vor dreißig Jahren bemerkenswert erschienen waren, standen noch das Minarett Suk-el-Gasl, Sobeïds Grab, eine alte Karawanserei im Basar und das Missionshaus der französischen Väter. Unter den neuen am Ufer des Flusses fielen jetzt vor allen die Gebäude auf, die zur Bagdadbahn gehörten; dann das neue englische Konsulat, das schönste Bauwerk der Stadt, das offenbar dazu ausersehen ist, einen mächtigen Eindruck auf die umwohnenden Araber und die nach Kerbela und Nedschef wallfahrenden Perser zu machen. Die alte Schiffbrücke war noch ganz wie früher. Aber die Wasserräder waren aus der Nähe der Stadt verschwunden und durch Motore ersetzt, die in ihre asiatische Umgebung gar nicht hineinpaßten.

Am linken Tigrisufer.

Der Hauptteil Bagdads liegt auf dem linken Tigrisufer. Die vornehmsten Häuser, darunter alle Konsulate, stehen unmittelbar am Wasser; unter ihren langen, offenen Veranden flutet der lautlos dahingleitende Strom. Nur das englische Konsulat ist durch einen schmalen Hof von seinem Kai und seiner Landungstreppe getrennt. Seit der Bau der Bagdadbahn begann, wuchsen auch am rechten Ufer Neubauten empor, und wahrscheinlich wird sich der Schwerpunkt Bagdads in Zukunft dorthin verschieben. Der Strom durchflutet die Stadt von Nordwesten nach Südosten, das rechte Ufer hat daher während der heißesten Stunden des Tages [S. 128] Schatten, während die Veranden des linken Ufers fast immer in praller Sonne liegen.

Wenn abends die wagerechten Strahlen der untergehenden Sonne das Gewirr von Bagdads grauen Häusern purpurn färben, und die Stämme der Palmen unter dem Gewölbe der Blattkronen feuerrot leuchten, scheint das wie ein Abglanz all der Herrlichkeit, die einst Mansurs Stadt umgab; man lebt aufs neue in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht, denkt der wunderbaren Reisen des Seefahrers Sindbad und der Lieder, die die Dichter zu ihrer Ehre sangen, und glaubt das alte Bagdad zu seinen Füßen zu sehen, das Herz des weiten Kalifenreiches, dem Karawanen von Osten und Westen zuströmten und dessen Gassen Harun er-Raschid verkleidet mit seinem Wesir Dschafar durchwanderte, um den Reden des Volks zu lauschen und seine Wünsche zu erforschen. Aber dann geht die Sonne unter, der Glanz verlischt, Hausdächer, Kuppeln und Minarette erhalten wieder ihren gleichmäßigen schmutzigen Farbenton, und die Kronen der Palmen ballen sich zu dunklen Wolken über der Stadt zusammen. Das ist die Gegenwart — dies Häuflein Steine ist der dürftige Rest, der noch von der Stadt der Märchen übrigblieb! Man mag im Staub nach Spuren des Alten suchen, nach vergessenen Erinnerungen an die Zeit der Kalifen — vergebens! Nichts als Zerstörung! Eingeborene sammeln und verkaufen Antiquitäten, aber zu erzählen wissen sie nichts mehr. Man wartet geradezu darauf, daß irgendetwas eintrete, was an die Vergangenheit erinnert — vergebens! Bagdad liegt öde da in schläfrigem Traum am Ufer des Tigris. Was man hört sind nur die Mächte der Zerstörung, die niemals müde werden, Menschenwerk zu vernichten.

Auch die Menschen selbst tragen zum Verderben bei. In Bagdad gibt es nur noch wenig zu zerstören, aber selbst dies wenige ist dem Untergang verfallen. Die türkischen Gouverneure scheinen von unersättlichem Bedürfnis nach Stadtregulierungen besessen zu sein. Durch die alten Städte Babyloniens werden breite, gerade Straßen gezogen, die alles, was im Wege steht, dem Boden gleich machen. So auch in Bagdad. Mit welchem Eifer wurden die Häuser niedergerissen, als für die nach Halil Pascha genannte Straße Platz geschafft wurde! Es war lebensgefährlich, in die Nähe zu kommen, und mächtige Wolken Kalkstaub [S. 129] verkündeten schon aus der Ferne die häßliche Zerstörung. Wenn man wenigstens neue Häuser an Stelle der alten gebaut hätte! Aber damit hatte man keine Eile. Wie die neuen Straßen in Aleppo und Mosul sah auch diese aus: als hätte ein Erdbeben ihr Bahn gebrochen. Es war gewiß nicht viel damit verloren, und besonders die Straße Halil Paschas hatte des Ortsverkehrs wegen ihre Berechtigung. Aber die engen Straßen sind einer der charakteristischsten Züge Bagdads; sie sind absichtlich wie schmale Korridore angelegt, nicht aus einem Bedürfnis des engeren Zusammenwohnens, sondern um die Sonne auszuschließen und Gänge zu schaffen, wo der Schatten bleibt und die kühle Luft nicht durch jeden Windzug wieder vertrieben wird. Diese Bauart hat natürlich auch den Nachteil, daß der Regen im Winter und das Überschwemmungswasser im Frühjahr schwer trocknen und einen furchtbaren Morast verursachen.

Die Hauptstraße von Bagdad mit Halil Paschas Haus (links).
Enge Gasse im Christenviertel.

Der sonst so kluge Midhat Pascha ließ die alte Stadtmauer aus der Zeit der Kalifen, eines der vornehmsten Denkmäler Bagdads, niederreißen, weil eine moderne Stadt in ihrer Entwicklung durch eine Mauer gehindert werde. Als ob neue Stadtteile nicht, wie in Jerusalem, außerhalb angelegt werden könnten! Von altersher war diese alte Mauer der beste Schutz gegen Überschwemmungen; seitdem sie beseitigt ist, liegen [S. 131] mehrere Teile der Stadt offen da. Im Winter 1914 wurde Bagdad von einer ganz unerwarteten Überschwemmung heimgesucht, denn der Strom steigt sonst nur im Frühjahr; der Stadtteil Bab-esch-Scheik stand metertief unter Wasser, ganze Straßen fielen in Trümmer und lagen verlassen da, darunter die Straße, die nach Abd-el-Kaders stattlicher Grabmoschee führt, und man fuhr durch die Stadt auf Kähnen, wie in Venedig. Diesmal hatte die Überschwemmung zwar die Stadt selbst verschont, aber die Felder nordöstlich davon in einen uferlosen See verwandelt und dadurch die Heerstraße über Bakuba nach Chanikin und Persien abgeschnitten, so daß man die Truppennachschübe auf Fähren und Flößen, Booten und Guffas über die weite Strecke seichten und sumpfigen Wassers bringen mußte. Von Bagdads Stadtmauer sind heute nur noch unbedeutende Fragmente übrig, darunter die festen Türme an den alten Toren Bab-esch-Schergi, dem Osttor, Bab-el-Gherbi, dem Westtor, Bab-el-Bastani, dem Mitteltor, und Bab-el-Talesm, dem Talismantor, das von einem der alten Abbassiden-Kalifen zu Anfang des 13. Jahrhunderts stammt.

Bagdad hat sechs christliche Kirchen: die chaldäische — die vornehmste und zugleich Kathedrale —, die syrische, die lateinische, die jakobitische, die armenisch-katholische und die armenisch-orthodoxe.

Phot.: Schölvinck.
Bab-el-Talesm, eines der alten Stadttore von Bagdad.

[S. 132]

Die Kathedrale führt den Namen „Die sieben Schmerzen“ oder „ Mater dolorosa “. Der Gottesdienst wird in chaldäischer, nicht in lateinischer Sprache abgehalten. Die Gemeinde muß ziemlich vermögend sein, denn der Priester, der mich herumführte, berichtete, der Bau der Kirche, der 1898 vollendet wurde, habe 16000 türkische Pfund gekostet; für eine Kathedrale ist das nicht viel, wohl aber für eine kleine Gemeinde in dem abgelegenen Bagdad. Ein Prachtbau konnte dafür nicht geschaffen werden; sowohl innen wie außen ist die Kathedrale einfach und anspruchslos. Die alte chaldäische Kirche aus dem Jahr 1843, die ich 1886 besuchte, ist jetzt eine Schule. Beide sind durch einen kleinen, mit Ziegeln gepflasterten Hof getrennt. Von außen fallen sie ebensowenig auf wie die übrigen Kirchen; sie liegen alle in dem am dichtesten bebauten Stadtteil, wo die Straßen so eng wie Korridore sind.

Nadjiba und Mina, 10jährige chaldäische Mädchen.

Die chaldäische Gemeinde zählt etwa 7000 Personen und zerfällt in zwei Parteien; die eine nennt sich nach Bagdad, die andere nach dem Dorf Tell-keif bei Mosul. Die Tell-keif-Partei hat der Bagdad-Partei Fehde angesagt und will sich der Herrschaft in der Gemeinde bemächtigen. Als der chaldäische Bischof auf seinem Recht bestand, verklagte sie den achtzigjährigen harmlosen Greis beim Patriarchen in Mosul, er wolle Bagdad der Machtsphäre des Patriarchen entziehen und ein unabhängiges Patriarchat gründen. Der Streit ging noch immer weiter, als wenn [S. 133] man an dem Weltkrieg noch nicht genug hätte! Wie überall im Orient gewinnt man wenig Achtung vor dem Christentum, das den Kindern dieses Landes geboten wird. Der Bischof wohnte in einem ganz unansehnlichen Hause. Dort sollten, wie man mir sagte, englische Offiziere vom Majorsgrad an aufwärts eine Freistatt während der ersten Tage ihrer Gefangenschaft finden. —

Der syrische Erzbischof von Bagdad.

Der syrische Erzbischof von Bagdad, Athanase Georges Dallal, ist ein vornehmer, würdiger Prälat. Sein Aussehen erinnert an die syrischen Könige auf den alten Reliefs: gerade, kräftige Nase und dichter, rabenschwarzer Bart. Er trägt einen dunklen Mantel mit Sammetkragen, den eine kleine Kette am Halse zusammenhält. An dieser hängt das Kreuz, das seine hohe Würde bezeichnet. Seine Kopfbedeckung gleicht einem umgekehrten Zylinderhut; die der griechischen Geistlichen ist ebenso, nur fehlt hier die obere Krempe. Er wohnt in einem sauberen Hause [S. 135] ortsüblichen Stils, dessen kleinen gepflasterten Hof offene Galerien umgeben. Die Zimmer sind groß, kühl und gut möbliert mit orientalischen Sofas und Teppichen, schönen Kronleuchtern und zahlreichen Porträts verstorbener Erzbischöfe.

Heskije, 60jähriger Rabbiner in Bagdad.
Mesko, 60jährige Chaldäerin aus Tell-keif.

Hochwürden hatten die Güte, mir selbst die Kirche der „Unbefleckten Empfängnis“ zu zeigen. Sie ist in halb arabischem Stil vor einundfünfzig Jahren erbaut und hat drei niedrige Wölbungen, die auf acht Säulen ruhen. Neben dem Hauptaltar im Chor steht zu beiden Seiten je ein kleinerer. Dazu kommen mehrere Gebetsnischen. Der schönste Besitz ist ein holzgeschnitztes Tor, eine Gabe aus Indien aus dem Jahre 1863. Das ganze Gebäude hat sehr unter Feuchtigkeit gelitten, besonders durch eine ungewöhnlich starke Überschwemmung vor achtzehn Jahren, und man will es jetzt einer gründlichen Ausbesserung unterwerfen, eine Arbeit, die wohl auf 15000 Franken zu stehen kommt. Der Grund ist aufgeweicht, die Säulen haben sich nach auswärts geneigt, und die Seitengewölbe zeigen breite Risse. Die Innenseiten der Mauern waren mit Alabasterplatten belegt, die dem übrigen weniger haltbaren Baumaterial einigermaßen Schutz boten. [S. 136] Aber auch der Alabaster verwittert, trotzdem er mit Ölfarbe gestrichen ist. Die alten Assyrier verstanden die Kunst des Bauens besser.

Auf dem Altar lag das alte Evangelium in arabischer Sprache, aber in syrischer Schrift, damit die ismaelitischen Araber es nicht lesen können — ein höchst merkwürdiger Grund. Als Verkehrssprache ist das Syrische fast verschwunden; nur in einigen Dörfern bei Mosul soll es sich noch erhalten haben.

Früher war der Erzbischof von Mosul auch Bischof von Bagdad. Vor sechzig Jahren aber wurde in Bagdad ein eigenes Erzbistum errichtet, das dem syrischen Patriarchen in Antiochia, dessen Residenz jedoch Beirut ist, untersteht. Dieser gebietet also den Erzbischöfen von Aleppo, Mosul, Damaskus und Bagdad, sowie denen von Homs und Hama, Diarbekr, Tripolis, Ägypten und Urfa. Die syrische katholische Kirche Bagdads zählt 250 Familien mit höchstens 2000, nach anderen Angaben 1250 Personen. In Amara besteht eine kleine syrische Gemeinde von 70 oder 75 Personen, und in Schar und Basra leben etwa 100 syrische Familien. Die unierte syrische Kirche zählt 60000 Anhänger, die nichtunierte 400000; von letzteren wohnt die eine Hälfte in der Türkei, die andere in Malabar in Indien. Vor fünfhundert und mehr Jahren hatte die syrische Kirche mehrere Millionen Anhänger.

Die jetzt ausgewiesenen französischen Karmeliterpatres in Bagdad haben eine Pfarrei mit Schule und Waisenhaus. Zu ihrer Gemeinde gehören auch zwanzig Dominikanerschwestern, von denen vierzehn Französinnen, die übrigen arabischer Abstammung sind. Auch in Amara, Basra und Mohammera haben die Karmeliter kleine Gemeinden und einige Schwestern. Das Irrenhaus in Amara wurde von ihnen errichtet. Die verschiedenen Orden haben den vorderen Orient unter sich verteilt. Den Karmelitern ist das ganze Gebiet zwischen Bagdad und dem Persischen Golf zugewiesen, während die Franziskaner ganz Palästina sowie Charput und Aleppo übernommen haben. In Mosul residieren die Dominikaner, in Urfa und Diarbekr die Kapuziner, in Damaskus die Lazaristen und in Beirut Jesuiten.

Das prächtige Haus der Karmeliterväter mit seinem kühlen Bogengang um einen gepflasterten, länglichen Hof herum haben die Türken in eine Schule umgewandelt. Als ich vor mehr als dreißig Jahren als [S. 137] frischgebackner Student dieses Haus besuchte, nahm mich ein alter, weißbärtiger Pater so freundlich auf, daß ich mich noch heute seiner lustigen Versuche erinnere, einige schwedische Sätze zu radebrechen. Diesmal wohnte ich in der Karmeliterkirche einem Hochamt bei, das mein Freund von der Euphratfahrt, der katholische Priester, vor deutschen Soldaten und Offizieren und syrischen Frauen und Mädchen hielt. Die leichten, von der Stirn bis auf die Füße reichenden, meist hellroten oder hellblauen Schleier, die schwarzen Augen, dunkeln Flechten und roten Lippen der Töchter des Orients boten einen prächtigen künstlerischen Gegensatz zu den braungebrannten feldgrauen deutschen Kriegern, die das in Kreuzform gebaute, von Orgeltönen durchbrauste Gotteshaus bis auf den letzten Platz füllten.

Habuba, Chaldäerin aus Tell-keif.

Das Kloster der Dominikanerschwestern ist ein ungewöhnlich gediegen gebauter Komplex von Höfen, Säulengängen, Altanen, Terrassen und Veranden. Mitten auf einem der Höfe wächst eine herrliche Dattelpalme, umgeben von Maulbeerbäumen und anderen Gewächsen. Das Kloster wurde 1880 gegründet, während die Mission der Karmeliterväter in Bagdad schon ein paar hundert Jahre alt ist. Von den zwanzig Schwestern waren vier bereits vor dem Krieg „ Soeurs de charité “ im bürgerlichen Krankenhaus, elf taten Dienst in Militärlazaretten, und fünf nahmen [S. 138] sich der Erziehungsanstalten des Klosters an, der „ Ecole arabe “, der „ Ecole professionelle “ und des Waisenhauses. Hier werden nur Mädchen unterrichtet; in der Gewerbeschule lernen sie nähen, klöppeln, sticken und weben. Einige der wenigen deutschen Damen in Bagdad lassen ihre Kleider bei ihnen machen; es war rührend, sie bei der Arbeit zu sehen. Vor dem Krieg lernten nicht weniger als fünfunddreißig junge arabische Damen in der Schule der Schwestern Klavierspielen. Vater- und mutterlose Mädchen, alle arm wie Kirchenmäuse, wohnen im Kloster, wo sie alles bekommen, was sie bedürfen. Zur Zeit waren es einundfünfzig, und die Einkünfte waren auf eine unbedeutende Summe herabgesunken. Einigen Verdienst brachte nur etwas Näharbeit für europäische Damen. Aber unter der Hut der Erzieherinnen wachsen und gedeihen sie, und die Schwestern tun, was sie können, um sie an rechtschaffene christliche Jünglinge zu verheiraten, die Gelegenheit gehabt haben, die Mädchen kennen zu lernen. Auch Verlobung und Hochzeit werden im Kloster gefeiert. Zuweilen aber kehrt auch das junge Paar nach einiger Zeit zurück, um Hilfe zu erbitten.

Phot.: Schölvinck.
Der Herzog, Rittmeister Schölvinck und der Verfasser im Gespräch mit französischen Dominikanerinnen.
Die goldenen Kuppeln und Minarette von Kasimen.
Haupteingang zur Grabmoschee in Kasimen.

Zu den Sehenswürdigkeiten Bagdads gehört auch die kleine Stadt Kasimen auf dem rechten Tigrisufer mit einer von den Schiiten sorgsam [S. 141] gepflegten Grabmoschee für Imam Musa-el-Kasim (gestorben 801 n. Chr.) und seinen Enkel. Der persische Pilgerverkehr dorthin ist so zahlreich, daß Midhat Pascha auf der zwischen üppigen Palmenhainen hinführenden Landstraße eine Pferdebahn anlegen ließ, deren zweistöckige, sehr abgenutzte Wagen gepfropft voll waren. Auch Kasimen hat seine Basare, Karawansereien und Kasernen. Die Grabmoschee selbst konnte ich aber nur von einem Dache aus sehen und durch das Eingangstor einen flüchtigen Blick in den Tempelhof werfen, dessen Innenfassade mit moderner Fayence farbenprächtig ausgelegt war. Auf dem Rückweg besuchte ich Sitte Sobeïd, ein Mausoleum, das Harun-er-Raschid seiner Lieblingsgemahlin Sobeïd errichtete. Das ursprüngliche Grabmal wurde im Jahre 1051 zerstört, und der jetzige Bau mit seinem pyramidenförmigen Turm zeigt zwar den Stil des 11. Jahrhunderts, ist aber kaum hundert Jahre alt. Zahlreiche neue Gräber mit einfachen Steinplatten umgeben ihn, und in seiner Nähe steht unter Palmen die kleine schöne Grabmoschee Scheik Ma’ruf-el-Kaschi.

Grabmoschee der Sobeïd.

Die Angaben über die Bevölkerungszahl Bagdads schwanken zwischen 120 und 300000. Europäer, die lange in Bagdad gewohnt, und fremde Besucher, die es nach allen Richtungen durchwandert und von hochgelegenen Aussichtspunkten aus sein Häusermeer betrachtet haben, sind der Überzeugung, daß die Zahl 120000 der Wirklichkeit am nächsten kommt. Einen brauchbaren Anhaltspunkt für die Berechnung ergibt der Verkehr in den Basaren der verschiedenen Städte; die von Damaskus z. B., das etwa 300000 Einwohner hat, sind viel weitläufiger und besuchter. Der syrische Erzbischof von Bagdad berechnet die Zahl der Bewohner auf 230000 : 150000 Mohammedaner in zweiunddreißig verschiedenen Sekten [S. 142] mit etwa hundert Moscheen, von denen nur ein Drittel Kuppel und Minarett hat, 60–80000 Juden, die fünfzig Synagogen haben und neun Zehntel des Handels beherrschen (nach europäischen Angaben höchstens 45000), 7000 Chaldäer, 2000 Syrier, je 4–500 armenisch-katholische und armenisch-orthodoxe, etliche römische Katholiken, und dazu die wenigen Kurden, die nur von Zeit zu Zeit die Stadt besuchen. Im Jahre 1900 berechnete Max von Oppenheim die Einwohnerzahl auf 200000, davon 150000 Mohammedaner (einschließlich 90000 Schiiten), 10000 Christen und 40000 Juden.

Als ich Bagdad vor dreißig Jahren besuchte, wohnten nur wenige Europäer dort. Vor Ausbruch des Weltkrieges zählte man deren mehrere Hundert. Neue Kaufhäuser und Banken waren seitdem entstanden, besonders hatte die Bagdadbahn viele Deutsche herbeigezogen, und während meines jetzigen Aufenthaltes hatten die Aufgaben des Krieges zahlreiche Europäer, darunter viele Deutsche, Träger berühmter Namen, und mehrere meiner Landsleute in deutschen Diensten nach Bagdad geführt. Einige, die zu meinem nächsten Freundeskreis gehörten, nannte ich bereits. Bei Dr. Herle sah ich den hervorragenden Arzt Professor Reich, der auf der Rückreise von Persien am Flecktyphus erkrankt war; er schien dem Tode nahe, überwand jedoch die Krisis und konnte Anfang Juni nach Deutschland heimkehren. Die archäologische Forschung war glänzend vertreten durch die Professoren Andrae und Jordan, die Leiter der Ausgrabungen in Assur, und durch Professor Sarre, der gemeinsam mit Dr. Herzfeld das Geheimnis von Samarra bloßlegte. Beiden Ruinenstädten sind spätere Kapitel meines Buches gewidmet. Die Archäologen Dr. Lührs und Bachmann waren dienstlich an der Irakfront beschäftigt.

Wie Deutschland in allen großen Städten Vorderasiens überaus tüchtige Konsuln besitzt, so auch in Bagdad, wo Dr. Hesses vielseitige Kenntnisse auch für die Kriegführung von größtem Nutzen waren. Früher war der englische Generalkonsul der mächtigste Ausländer hier; er unterstand dem Gesandten in Konstantinopel, war aber auch als politischer Agent und Resident der indischen Regierung tätig. Eine Eskorte von Sepoys und ein eigenes Schiff bezeichneten nachdrücklich seine Machtstellung. Jetzt waren die englischen, französischen und russischen Konsuln verschwunden, nur die von Österreich, Amerika und Persien noch auf dem [S. 143] Posten. Dem persischen Konsul machten die Pilger seiner Heimat viel zu schaffen, die lebenden und noch mehr die toten, die in Decken gehüllt auf Mauleseln nach Kerbela überführt werden mußten.

Kasimen.

Im Stabe des Herzogs traf ich Rittmeister Tschirner wieder, dem ich an der Ostfront bei Suwalki begegnet war. Stabschef war Major von Köppen. In einem Krankenhause lag in bedenklichem Zustande der deutsche Schriftsteller Armin T. Wegner, bekannt durch seine Bücher „Zwischen zwei Städten“, „Gedichte in Prosa“ und andere. Der deutsche Arzt Dr. Schacht führte Schölvinck und mich an sein Schmerzenslager, wo wir eine unvergeßliche Stunde verbrachten.

Mit einer gewaltigen Karawane von Mauleseln und persischen Dienern kam von Teheran der dortige deutsche Gesandte Dr. Vassel und mietete für sich und sein Gefolge ein Stück vor der Stadt ein Haus. Hier wohnte auch Wilamowitz als deutscher Militärattaché in Persien. Als ich meinen Reisekameraden das letzte Mal sah, hatte er hohes Fieber, war aber nicht dazu zu bewegen, das Bett aufzusuchen. Er war gerade Major geworden, und nach Dr. Vassels Abreise war er deutscher Chargé d’affaires . Er hoffte, den siegreichen türkischen Truppen nach Persien folgen und endlich der erstickenden Hitze entfliehen zu können. Seine Krankheit aber verschlimmerte sich plötzlich, und er starb Mitte Juli, eine trauernde Witwe, [S. 144] geborene Freifrau von Fock, und eine kleine Tochter hinterlassend, die jetzt in Stockholm wohnen.

Straße in Bagdad.

An Direktor Wurst hatte die Deutsche Bank in Bagdad einen vortrefflichen Vertreter, dessen Arbeitslast sich ungeheuer vermehren wird, wenn die Bagdadbahn einmal fertig ist. Herr Brown, Chef eines großen deutschen Handelshauses, hatte acht Jahre lang an der Piratenküste des Persischen Golfs unter wenig bekannten Araberstämmen gelebt; durch Handelsverbindungen, die er mit ihnen und den Beduinen in Mesopotamien anknüpfte, besaß er einen großen Einfluß auf diese Völker. Er erzählte mir von dem mächtigen Araberhauptmann Ibn Reschid südlich von Hille, der mit einer Streitmacht von 30000 Mann der türkischen Sache treu ergeben ist, und von andern Stämmen weiter unten am Golf, die auf ihren Kriegszügen die vornehmsten Frauen in schimmernder Pracht auf Dromedaren voranreiten lassen, um den Mut der Kämpfer anzufeuern. Bei Brown wohnte der junge Diplomat Herr Dickhoff von der Deutschen Gesandtschaft in Teheran. Herzog Adolf Friedrich mit Gefolge, Graf Wilamowitz und ich waren oft in Browns Haus zu Gaste, besonders an Mondscheinabenden, wenn man ohne Lampe auf der Dachterrasse sitzen und den Anblick des silberblanken Stroms und der seltsam beleuchteten Palmen genießen konnte.

[S. 145]

Kaiplatz in Bagdad.

Elftes Kapitel.
Sommertage in „Dar-es-Salaam“.

B agdads Sehenswürdigkeiten, d. h. das, was 1258 von den Horden Hulagus und hundertfünfzig Jahre später von Tamerlan verschont wurde, lassen sich an einem Tage besichtigen. Und doch — wie gern verweilt man ein paar Wochen hier, um den unverfälschten Orient und das farbensatte Straßenleben zu genießen. Die Stadt hat eigentlich nur eine Straße, die diesen Namen verdient. Hier kann man sogar Droschke fahren, wenn man nicht gerade in einem unentwirrbaren Knäuel von Karawanentieren, Reitern und Wagen stecken bleibt. Sie setzt die Straße Halil Paschas nach Nordwesten fort und läuft parallel dem Tigris durch die ganze Stadt, durch die vornehmste Pulsader des Basars und weiter am Kopf der Pontonbrücke vorüber auf dem linken Ufer nach der Zitadelle Kala, einem mauerumschlossenen Block von Zivil- und Militärgebäuden, Serail, Konak und Kaserne.

Auf dieser Straße wogt ein bunter Karneval der Rassen — Semiten, Mongolen, Arier, selbst Neger —, der verschiedensten Religionen, Geschlechter und Stände. An den Ecken sitzen die Armen, die übrigens während [S. 146] des Krieges weit minder zahlreich waren, als man erwarten sollte. Auf weißen Mauleseln oder kostbaren arabischen Stuten reiten die Standesherren. Mit unbewußter Majestät, die geborenen Aristokraten Vorderasiens, tragen die echten Araber, die Wüstenbeduinen, ihre weißen, flatternden Kopftücher unter den Stirnreifen und ihre weiten, bis zu den Füßen reichenden Mäntel. Juden überall, in orientalischen Trachten und leicht erkennbar an ihren ausgeprägten Zügen. Dunkelblau gekleidete Araberinnen verstecken die Glut ihrer Augen hinter undurchdringlichen Schleiern. Die türkischen Damen gehen gewöhnlich schwarz gekleidet, oft in Seide, und lassen ebenfalls keinen Schimmer ihrer Gesichtszüge sehen. Die Christinnen Bagdads: Syrierinnen, Chaldäerinnen, Armenierinnen, tragen helle, leichte Gewänder, die wie zusammengefallene Ballonhüllen ihre Formen verbergen, ihre schmucken Gesichter aber den Augen der Männer freigeben. Auch die Trachten der Jüdinnen gleichen denen der Mohammedanerinnen, nur der Schleier verrät sofort die Rasse, ein kleines schwarzes, goldgerändertes Sonnendach, das von der Stirne wagerecht vorspringt oder schwach abfällt und das Gesicht nicht verbirgt, sondern nur beschattet.

In der Hauptstraße von Bagdad.
Die Hauptstraße Bagdads.

Überall malerische Bilder und Gruppen! Sieh nur dort die arabische Mutter, die ihr kleines Kind auf der rechten Schulter trägt und ihren [S. 148] Buben an der linken Hand führt; oder hier die in dunkelblaue Schleier gehüllten Mädchen, die zum Strand hinab eilen, um in schönen Lehmkrügen oder Kupferkannen Wasser zu holen. Auch im Innern der Stadt trifft man sie, wenn man an den kleinen Wasserbehältern unter den schützenden Ziegelwölbungen stehen bleibt; hier lassen sie sich abends nieder, treffen ihre Nachbarinnen, plaudern und tragen die wildesten Basargerüchte weiter.

Von der Hauptstraße führen mehrere kleine Quergassen oder schmale Gänge zwischen den Häusern zum Tigrisufer hinab, wo Boote und Guffas ihre Landungsplätze haben. Dorthin wandern barfuß auch die Sakkas, die Wasserträger; in schwarzen, weichen, tropfenden Ziegenfellsäcken tragen sie Wasser in die Haushaltungen und zu den durstigen Wanderern in den Basaren, oder sie sprengen damit die trockenen Straßen. Der Sack hängt auf der rechten Seite, mit der rechten Hand halten sie ihn zu, während die linke eine kleine, bis zum Rand gefüllte Holzschale darreicht. Besondere Geschicklichkeit gehört dazu, den leeren Sack zu füllen; ein an doppeltem Riemen befestigter Ledereimer wird in den Fluß hinabgelassen, ohne daß der Mann sich bückt, dann mit einer eleganten Bewegung herausgehoben und in die offene Mündung des Sacks hinein entleert.

Sakka (Wasserträger).
Phot.: Schölvinck.
Frauen mit Wasserkrügen.

An einzelnen Stellen lassen Häuser oder Gärten einen schmalen Uferstreifen frei. Hierhin kommen die Wasserträger, die ihre großen Säcke aus Ochsenhaut paarweise von Eseln tragen lassen können. Hier füllen die Frauen ihre Krüge, waschen Kleider oder Kinder; die Schleier [S. 150] sind zurückgeschlagen, die weiten rockähnlichen Hosen bis übers Knie heraufgezogen, und barfuß gehts ein Stück in das seichte Wasser hinein. Dann lassen sie sich in Gruppen am Strande nieder, um zu schwatzen, und kehren schließlich in ihre Häuser zurück, anmutig ihre Krüge bald auf den Schultern, bald auf dem Kopf balancierend.

Knaben, Jünglinge und erwachsene Männer benutzen denselben Platz zum Baden. Schwimmen können sie alle, sie sind ja an dem gewaltigen Strom geboren, von ihm abhängig, mit ihm vertraut. Geschmeidig wie Katzen klettern sie am Kai hinauf, springen wieder ins Wasser, schwimmen umher, tauchen und ringen mit der Strömung, schreien und lachen. Es ist ein Summen wie im Bienenkorb, ein Spritzen und Plantschen, als zöge eine Schar Delphine vorüber. Ohne Gefahr ist solch ein Bad nicht; aus dem Persischen Golf gehen ab und zu Haifische tigrisaufwärts bis nach Bagdad, ja sogar bis Samarra.

Mariem, 15jähriges chaldäisches Mädchen aus Alkosch.
Phot.: Schölvinck.
Badestrand in Bagdad.

Doch zurück in das Gewimmel der Straßen, unter die vornehmen Kaufleute und die Hausierer, die Süßigkeiten, Brot oder Früchte feilbieten, die Beamten in halbeuropäischer schwarzer Kleidung mit rotem [S. 152] Fes, die Syrier, die oft eine europäische Jacke über weißen orientalischen Hemden tragen, die feierlichen Priester in weißen Turbanen und weiten Mänteln, die Pilger, die Beduinen und die anatolischen Soldaten, die auf dem Wege zur Front sind, zum Irak unterhalb Kut-el-Amara oder nach Persien. Während meines Aufenthaltes in Bagdad zogen eines Tages die Truppen ein, die ich einen Monat vorher bei ihrem Aufbruch am Dschirdschib gesehen hatte. Einen langen Weg durch trockene Wüstengegenden hatten sie hinter sich, trotzdem waren sie in bester Verfassung, glänzten von Schweiß und Sonnenbrand und sangen munter zu ihrer Musik. Ihr schweres Gepäck, bestehend aus Gewehr und Ranzen, Spaten, Zeltbahn und anderem mehr, schien sie nicht zu drücken. Sie sahen munter aus, und ihre Schritte hallten taktfest wider. Sie marschierten in einer Staubwolke, aber über ihren weichen Schirmmützen wiegten die Palmen ihre Blattkronen.

Häuser mit Erkern.
Eine enge Gasse, die von der Hauptstraße zum Tigris führt.
Links ein Belem und eine Guffa.
Die Basar-Ecke Ras-el-Karijeh.

Die vornehmen Privathäuser Bagdads sind alle nach demselben Muster gebaut, mögen sie nun Arabern oder Christen gehören. Ich besuchte einige von ihnen. Äußerlich sind sie sehr unansehnlich. Man bemerkt sie kaum von der engen Gasse her, die von grauen, nichtssagenden Mauern eingefaßt ist. Das Haupttor ist klein, aber meist von geschmackvoll behauenen Steinen umrahmt. Durch einen engen, tunnelähnlich gewölbten Gang gelangt man in einen viereckigen, stets mit Ziegeln gepflasterten Hof, wohin kein Blick von der Außenwelt dringt. Hier wachsen Apfelsinen- und [S. 155] Aprikosenbäume, oft findet man auch ein mit Steinen eingefaßtes Wasserbecken. Vom Hof führt eine steinerne Außentreppe zur Veranda oder Galerie hinauf, die um das ganze Haus läuft. Gäste werden im Eivan oder Ivan empfangen, einer Art Nische auf gleicher Fläche mit dem Hof. Hier herrscht immer Schatten, und man wird auf weichen, roten Sofas und Diwans mit Zigaretten, Kaffee und Eislimonade bewirtet. Im ersten Stockwerk hat die arabische Familie ihr Staatszimmer mit bunter Mosaikdecke, Spiegelglasveranda und teppichbelegtem Boden — persischer Stil und indische Möbel. Im Sommer schlafen auch die Eingeborenen auf dem Dach mit oder ohne Mückennetz. Zu einem vollständigen Haus gehören ein oder mehrere Särdab, die unterirdischen Gelasse, die während der warmen Tageszeit als Wohnräume oder auch als Vorratskeller dienen. An der Decke hängen allerhand Dinge, die den Ratten eine leckere Schnabelweide bieten würden, und an Ratten ist in Bagdad kein Mangel.

In der Hauptstraße des Basars hatte der Syrier Antony Samhiry im Erdgeschoß eines kleinen, einfachen Hauses seinen Geschäftsraum. Hier münden auch ein paar andere Gassen. Der lebhafte Knotenpunkt heißt Ras-el-Karijeh. Bei Samhiry saß ich lange Stunden und sah das bunte Leben vorüberziehen, bald langsam träumend im Takt des Spaziergängers, bald eilig und stoßend, wenn es Geschäften nachging. Eselkarawanen tragen in Weidenkörben oder auf Saumsätteln Gemüse und alle möglichen Waren, die für die tausend kleinen, offenen Kaufläden bestimmt sind. Soldaten und türkische Offiziere in feldgrauer Uniform gehen vorüber, Priester der verschiedenen christlichen Kirchen in langen schwarzen Talaren und sonderbar hohen Kopfbedeckungen, Arbeiter und Träger, ebenholzschwarze Neger, persische Pilger auf dem Weg nach den heiligen Stätten Kerbela, Nedschef oder Kasimen. Manchmal eilt eine Krankenschwester vorbei in ihrer großen, weißen Kappe mit dem Zeichen des Roten Kreuzes. Laute Rufe ertönen: ein Kutscher verlangt für seine Droschke oder seinen Kerbelawagen freien Weg; er bringt Reisende, die in einer der Karawansereien des Basars Unterkunft suchen. Zuweilen werden auch verwundete oder kranke Soldaten auf Bahren nach einem der vielen Lazarette getragen; ja, es vergeht kein Tag, an dem man nicht einem Toten auf dem Weg zum Begräbnisplatz begegnet. Als Leichenwagen dienen oft die wenigen [S. 156] Droschken der Stadt, und der fremde Ankömmling wird deshalb vor ihrer Benutzung gewarnt.

Wohin will die malerische Reiterschar, die da in langsamem Trab durch den Basar die Brücke herauskommt? Jedenfalls nach dem schiitischen Heiligtum Kasimen auf dem rechten Tigrisufer, denn es sind Perser. Voran reitet auf einem großen, weißen Maulesel ein vornehmer Alter. Sattel- und Zaumzeug ist mit Silberplatten belegt, die Decke von rotem Sammet. Ihn begleiten ein junger Mann, wahrscheinlich sein Sohn, und zahlreiche Diener mit der charakteristischen Locke am Ohr und der großen, runden Filzmütze auf dem Kopf. Zuletzt kommen Maulesel und Pferde mit dem Gepäck; die Tscharwadare thronen hoch auf den Bergen von Kisten und Säcken, Ledertaschen und Matten. Die Zahl der persischen Kaufleute in den Basaren ist auffallend groß. Ein lebhafter Handel mit ihrer Heimat geht über Bagdad; die englische Einfuhr aus Indien ist am größten. Wolle, Getreide und Datteln sind die wichtigsten Ausfuhrartikel.

Hof einer Karawanserei in Bagdad.

Der auf dem linken Ufer gelegene Stadtteil, in dem auch die Ortsbehörden ihren Sitz haben, ist dreimal so groß wie der auf dem rechten Ufer. Voraussichtlich wird, wie schon erwähnt, die Bagdadbahn dereinst den Schwerpunkt auf das Westufer zurückverlegen, wo sich ehemals die [S. 157] Prachtgebäude der Kalifen erhoben. Dann wird sich der unternehmungslustige deutsche Handel Mesopotamien und weite Gebiete Arabiens dienstbar machen. Daß Bagdad zurzeit in englischen Händen ist, spielt dabei keine Rolle. Das eiserne Band der neuen Bahn wird auch das türkische Reich fest zusammenschweißen. Im Weltreich der Kalifen ging die bedeutendste Handelsstraße nach Indien und China über Bagdad und den Persischen Golf; sie verfiel mit dem Untergang des Kalifats, wird aber von der Bagdadbahn wieder aufgenommen werden. Auch die Basare, die jetzt während des Krieges ein kümmerliches Leben fristen, werden dann aufblühen wie nie zuvor.

Inneres des Han el-Ortme.

An den größten Basarstraßen liegen die Hans oder Karawansereien; durch kleine Tore und dunkle Gänge gelangt man auf ihre Höfe. Hier stehen die Pferde und Maulesel der Fuhrleute an Lehmständer angebunden; eine offene Galerie führt in die Gastzimmer. Die vornehmste Karawanserei heißt Han el-Ortme; sie stammt wahrscheinlich noch aus der Zeit der Kalifen und ist eine gewaltige Halle mit gewölbtem Dach; die Pilaster und Ziegelmauern sind aus dauerhafterem Material, als man heute herzustellen vermag. Im Innern geht eine freistehende Holztreppe zu einer offenen Galerie hinauf; hier sind in dunklen Kammern die Kontore der Kaufleute. Eine Treppe höher kommt man auf das Dach, von dessen kleinen, flachen Erhebungen sich eine herrliche Aussicht auf die Stadt darbietet: gerade unter uns die Basare oder vielmehr ihre Dächer aus Stangen und Pfählen, Strohmatten oder Platten, und [S. 158] ringsum das völlig flache, graue Gewirr der Häuser. Nur hier und da reckt eine Moschee ihre schöne Kuppel und ihre schlanken Minarette empor. Dort liegt der Haïdar-khane mit seiner schimmernden, grünen Kuppel, die geschmackvolle „Korallenmoschee“ Dschami Merdschan und Suk-el-Gasl, das mächtige, alte Minarett, der einzige Rest einer Moschee, die Anfang des 13. Jahrhunderts vom Kalifen Mustansir errichtet wurde. Vor dreißig Jahren schon habe ich sie abgezeichnet; jetzt machte ich von ihr ein paar photographische Aufnahmen.

Vom Dach des Han-el-Ortme aus gesehen ist Bagdad eine schöne Stadt. Die grünen Palmengürtel und -gruppen innerhalb der Lehmmauern, die grün und blau schimmernden Kuppeln und die blinkenden Windungen des Stromes heben sich scharf von der grauen Fläche ab. Nur ein schwaches Echo des lärmvollen Lebens unten in den Gassen dringt herauf, und völlig sicher ist man hier vor den Düften, die den Aufenthalt in den überdachten Basaren nicht eben verschönern.

Im Stadtteil der Tänzerinnen sind die Gassen so eng, daß man mit ausgestreckten Armen beide Häuserzeilen berühren kann. Hier herrschen Lärm und Trunkenheit, leichtfertige Burschen und wilde Gesellen streifen hier umher, aber das Auge des Gesetzes in Gestalt der Gendarmen wacht. In den Türen locken bunt und leicht gekleidete Mädchen mit Hals- und Armbändern und Ohrringen aus blinkendem Metall.

Aussicht vom Dach des Han el-Ortme.
Kurdische Tänzerin in Bagdad.

Auch Bagdad besitzt ein Ghetto und zwar ein recht geräumiges; denn die Juden sind hier sehr zahlreich. In den größeren Straßen [S. 159] haben die Häuser zwei, manchmal drei Stockwerke. Das Charakteristischste daran sind die auf Balken ruhenden vorspringenden Erker, hinter deren eisenvergitterten Fenstern die Töchter Israels, oft schön wie die Nacht, mit halboffenen, schweren Augenlidern und müden Blicken das Leben [S. 160] auf der Straße beobachten. Die Läden und Basarstände schützt man gegen Sonne und Regen durch kleine viereckige Holzdächer, die durch schräggestellte Stangen gehalten werden. Diese Läden sind elende Löcher, und hinter dem Krämer, der mit gekreuzten Beinen unter seinen Waren auf dem Ladentisch sitzt, gähnt ein abschreckendes Dunkel. Noch anspruchslosere Handelsleute, die keinen festen Stand haben, lassen sich einfach an den Häusermauern nieder und bieten aus großen Körben Aprikosen, Pfirsiche, Gurken, Brot und Süßigkeiten feil. Auch Frauen beteiligen sich am Handel; sie kauern in faltenreiche Schleier gehüllt am Boden, der kleine schwarze, goldgeränderte Gitterlappen ist heraufgezogen und gibt ihre Gesichtszüge frei.

„Airan bos, Airan bos!“ klingt es ab und zu von der nächsten Straßenecke her in gellendem Ton. „Airan“ heißt auf Türkisch die gegorene, mit Wasser vermischte Milch; „bos“ bedeutet Eis. Auf einem Holzgestell steht ein großes Gefäß mit dem erquickenden Trank, in dem klare Eisstückchen schwimmen. Für den Bruchteil eines Piasters bekommt man einen Becher voll.

Treppe und Galerie des Han el-Ortme.

Das Gedränge in den Straßen des Ghettos ist unheimlich, und man darf nicht empfindlich sein, wenn ein mit einem querliegenden Holzkohlensack beladener Esel dahergetrippelt kommt, oder zerlumpte Kinder in bloßem schmutzigen Hemd sich mit den Ellenbogen den Weg bahnen. Jeder, der nach Bagdad kommt, besucht wenigstens die Hauptstraße des Ghettos, Chaldäer und Syrier, Araber und Armenier, Perser und [S. 161] Türken, Sudanesen, Neger aus Sansibar und dem Herzen von Afrika, und sogar englische Soldaten und Offiziere, die ihre überflüssigen Effekten verkaufen, nachdem sie erfahren haben, wie knapp die Transportmittel auf dem bevorstehenden Weg nach Konia und Angora sind.

Gasse im Judenviertel.

Aber die Juden herrschen bei weitem vor. Es riecht geradezu nach Judentum, und es riecht schlecht, obgleich es hier luftiger ist, als in den Basaren der Mohammedaner, wo die üblen Dünste durch die Dächer festgehalten werden und das Tageslicht nur durch Löcher hereindringt. Die Hauptstraße des Ghettos ist nicht überdacht, sondern unter freiem Himmel, nur Erker und die kleinen Schutzdächer dämpfen das Licht. Der Schmutz ist furchtbar, und wenn die Sakkas mit ihren Ledersäcken sprengen, watet man durch Schlamm. Aller Abfall aus den Häusern fliegt einfach auf den Fußsteig, und die Verwandten der Schakale, die gelben Hunde, wühlen darin herum.

Die Hauptstraße im Ghetto von Bagdad.
Jüdische Zigarettenwicklerin in Bagdad.

Mit meinem syrischen Führer besuchte ich ein einfaches jüdisches Haus in einer Nebenstraße. Der kleine viereckige Hof, tagsüber der Aufenthaltsort der Hausbewohner, war, wie gewöhnlich, mit quadratischen Ziegelplatten gepflastert, wie man sie etwa in Babylon findet. An der [S. 163] Mauer war ein Brunnen, aus dem man das Wasser mit Hilfe eines Ledereimers herausholte. Links vom Eingang führten wenige Treppenstufen in ein mit zerfetzten Matten und etlichen Schemeln möbliertes Loch, dessen Gitterfenster aus eine kleine offene Halle, den Eivan, hinausgingen. Im übrigen hatte das Haus nur eine Wohnung, deren dunkle Kammern mehrere Familien beherbergten. Die Juden sind arm und drängen sich stets auf möglichst engen Raum zusammen. Nur Frauen und Kinder waren daheim. Die Frauen tragen nichts weiter als ein Zwischending zwischen Kleid und Nachthemd. Die Kinder waren niemals mit Wasser, Seife oder Kamm in Berührung gekommen, und ihre Gesichter und Arme zeigten die Riesennarben der widerwärtigen Bagdadgeschwüre; diese rühren von einer giftigen Fliege her, deren Stich eine jahrelang offene Wunde hervorruft und eine entstellende, unvertilgbare Narbe zurückläßt. Auch ein paar alte Weiber saßen da, grauenhaft anzusehen. Ihre [S. 164] Finger wühlten in dem wirren Haar auf der Jagd nach Ungeziefer, das ihnen keine Ruhe ließ.

Auch dieses einfache Haus hatte einen „Särdab“, einen unterirdischen Raum, wohin man flüchtet, wenn die große Hitze kommt, ein widerliches, schmutziges Loch, eine Heimstätte für Skorpione und Tausendfüßler. Dort stand ein Lehmkrug mit kühlem Wasser, und voll Gastfreundschaft bot man mir einen Trunk. Aber ich lehnte dankend ab und eilte ans Licht und auf die Straße hinaus, wo die Luft doch noch etwas besser war, als in diesen furchtbaren Wohnlöchern der armen Juden.

Wasserholeplatz.

Die architektonisch so anziehende Ghettostraße mit ihrem bunten Verkehr wollte ich nicht verlassen, ohne sie, wenn auch nur flüchtig, skizziert zu haben. Das war jedoch nicht so leicht zu machen. Die Häuser standen zwar still, aber alles andere war in steter Bewegung und konnte nur hastig in Umrissen angedeutet werden. Am unbequemsten war das Gewühl, das ich selbst verursachte. Alles blieb stehen und drängte sich heran, um zu sehen, was ich vorhabe. Freundliche Krämer boten mir einen Schemel an, um mir freie Aussicht über die Köpfe der Menge zu verschaffen; sie versahen mich mit Limonade und Zigaretten und hielten nach Möglichkeit die Zudringlichen fern. Vergebens! Die [S. 165] Verkehrsstockung wurde so stark, daß ich bald die Aufmerksamkeit der Revierpolizei erregte.

Ein Schutzmann bahnte sich plötzlich den Weg durchs Gedränge und fragte mich in barschem Ton, was ich hier zu zeichnen habe; ich müsse doch wissen, daß es während des Krieges streng verboten sei, im Hauptquartier zu zeichnen und zu photographieren. Da ich ruhig fortarbeitete, fragte er weiter, ob ich mich auf die Bekanntschaft mit einem hervorragenden türkischen Offizier berufen könne. Ich nannte Mesrur Bei. Diesen Namen habe er niemals gehört, erklärte der Mann des Gesetzes. Ich antwortete, er müsse doch den Kommandanten von Bagdad kennen, und die Polizei müsse obendrein wissen, daß ich mich schon seit einigen Wochen in der Stadt aufhalte. Darauf entschuldigte sich der Mann, aber da ich nicht in seinem Bezirk wohne, ersuchte er mich höflich, mit auf die nächste Polizeiwache zu kommen.

Ich beendete meine Arbeit und folgte ihm. Die Wache war eine kleine, offene Veranda an einer Straßenecke. Dort unterwarf mich ein Polizeioffizier einem eingehenden Verhör. Alles wurde notiert. Dann erhielt ich meine Freiheit ohne Bürgen — aber nur für die Nacht.

Habibe, 70jährige Jüdin in Bagdad.

Am nächsten Morgen wurde ich von zwei Gendarmerieoffizieren abgeholt und vor den Polizeimeister selbst geführt. Er war sehr höflich, bot mir Kaffee und Zigaretten an, ging meine Papiere genau durch und verglich ihren Inhalt mit dem Polizeirapport vom Tage vorher. Er merkte glücklicherweise nicht, daß ich mit der ausgelassensten Heiterkeit [S. 166] kämpfte — ich, der Freund Halil Paschas, in demselben Basar verhaftet, in dem englische Offiziere und Soldaten in größter Freiheit umherstreiften! Ein starkes Stück, aber das Abenteuer war zu lustig, als daß ich es durch einen ernsthaften Protest hätte stören sollen.

Schließlich aber machte ich einen Vorschlag, der sogleich Klarheit in die dunkle Sache bringen müsse: wir sollten uns zu Mesrur Bei begeben, dessen Amtsräume im selben Hause lagen. Das leuchtete dem Polizeigewaltigen ein. Zwei Gendarmen und ein Offizier begleiteten uns. So traten wir in das Zimmer des Kommandanten.

Von Untergebenen und Besuchern umringt, saß Mesrur Bei an seinem Schreibtisch. Als er mich so plötzlich als Gefangenen vor seinem Richterstuhl sah, brach er zunächst in schallendes Gelächter aus. Als er sich dann erholt hatte, rief er: „Was, Sie arretiert? Dann bitte ich darum, Ihnen sofort wieder die Freiheit schenken zu dürfen.“ Eine vornehme Gebärde gab meiner Eskorte das Zeichen, zu verschwinden, und als sie abzog, grüßte ich höflich zum Abschied. Die türkischen Gendarmen hatten mir ja Gelegenheit gegeben zu sehen, daß sie ihre Instruktion genau befolgten.

Mesrur Bei.
Munteha, 15jähriges Beduinenmädchen vom Stamme der Mufarrid.

Will man im Orient sein Skizzenbuch mit Volkstypen bereichern, so bieten nur die Frauen fast unüberwindliche Schwierigkeiten. Der freundlichen Vermittlung der französischen Dominikanerschwestern verdanke ich es, wenn ich gleichwohl eine Anzahl charakteristischer Frauenbilder darbieten kann. Jede saß eine Stunde für ihr Porträt und [S. 168] erhielt als Lohn einen blanken Medschidije; die Schwestern riefen dazu besonders Arme ins Kloster, für die vier Mark ein kleines Vermögen bedeuteten.

Phot.: Schölvinck.
Unser alter Barbier.

Einige Schwestern und mehrere ihrer jungen Schützlinge wohnten den Sitzungen mit gespannter Aufmerksamkeit bei, und eines der Mädchen fächelte mir mit Palmenblättern Kühlung zu, was in einem Zimmer mit etwa 38 Grad Tagestemperatur sehr willkommen war. So zeichnete ich eine leicht verschleierte junge Türkin, die sich träumend ans Fenster lehnt ( Bild S. 120 ), Habuba, eine sechsundzwanzigjährige Chaldäerin aus Tell-keif, die ihre Stirn mit Silbermünzen und ihre Brust mit bunten Ketten geschmückt hatte ( Bild S. 137 ), und ihre Landsmännin, die fünfzehnjährige Mariem aus Alkosch. Ferner Jüdinnen verschiedenen Lebensalters. Auch von den Schützlingen des Klosters mußten einige Modell sitzen. Selbst eine mohammedanische Araberin, die fünfzehnjährige Munteha vom Stamm Mufarridj aus Sobeïd, ließ sich nach vielen Wenn und Aber dazu bewegen, ihren Schleier zurückzuschlagen und ihre von der Wüstensonne gebräunten Züge und die schwarzen, brennenden Augen zu zeigen. Am rechten Nasenflügel trug sie einen silbernen Ring, und Ringe vom selben Metall schmückten ihre Handgelenke. Sie kam in Begleitung einer Schwester und einer Freundin, der achtzehnjährigen Bahije aus Hille, die ich mit dem charakteristischen Wasserkrug porträtierte ( Bild S. 223 ).

[S. 169]

Unter meinen männlichen Modellen war das ergötzlichste ein alter mohammedanischer Barbier, der in dem Herzog Adolf Friedrich und seinen Freunden getreue Kunden besaß.

Die Bevölkerung von Bagdad ist im Gegensatz zu den Einwohnern von Aleppo z. B. bekannt wegen ihrer Ruhe und ihrer freundlich-friedlichen Gesinnung gegen die Europäer. Ein Fremder wird in Bagdad nie belästigt, wenn er einsam durch die engen Gassen streift; nicht einmal die Armen sind zudringlich wie sonst in den Städten des Orients. Das erklärt sich zum Teil aus dem Haß, der zwischen Sunniten und Schiiten herrscht und die Abneigung gegen die Christen weit übersteigt. In rein schiitischen Städten wie Mesched-Hussein oder Kerbela, Mesched-Ali, Nedschef oder Kasimen dagegen sind die Europäer keineswegs sicher.

Türkische Schaluppe an Konsul Richarz’ Kai.

Wer das Volksleben Bagdads genauer studieren will, muß sich natürlich längere Zeit und vor allem im Frieden dort aufhalten. Nur dann hat er Gelegenheit, einer der prächtigen, mit Tänzerinnen und Saitenspiel gefeierten orientalischen Hochzeiten beizuwohnen, an denen auch Christen teilnehmen, oder ein jüdisches Begräbnis bei nächtlichem Fackelschein zu sehen. Und wenn er zufällig zur Zeit einer Mondfinsternis dort weilt, kann er erleben, wie abergläubische Leute durch Trommelwirbel, Klirren mit Kasserollen und anderen Spektakel den [S. 170] „Mondhund“ zu verjagen suchen. Der Durchreisende hört von all dem nur erzählen.

Nach meiner Rückkehr von Babylon, von dem spätere Kapitel meines Buches berichten werden, folgte ich der liebenswürdigen Einladung des Herzogs und des Konsuls Richarz und zog in des letzteren Haus. Schölvinck und ich teilten uns in ein geräumiges Zimmer in dem unsre Kisten, Kleider und übrigen Habseligkeiten eine angenehme Unordnung schufen, gegen die Gustav, der prächtige Diener des Rittmeisters, einen vergeblichen Kampf führte. Nach dem Frühstück pflegte ich in den Labyrinthen der Stadt zu verschwinden, das Mittagessen ersetzte ich meist im Basar durch Früchte und Brot. Nach 4 Uhr versammelten wir uns zum gemeinschaftlichen Tee. Daran schloß sich oft eine Bootfahrt auf dem Tigris, um nach der Hitze des Tages etwas aufzuatmen. Solch eine Abendfahrt sei hier beschrieben.

Uferpartie in Bagdad.

Namo, das Faktotum des Konsuls, ein Syrier mit Fes, erhält den Befehl, ein Belem oder Ruderboot zu beschaffen. Er verschwindet auf der Halil Pascha-Straße, und noch ehe wir die Treppe des Kais hinabgestiegen sind, kommt er mit dem gemieteten Boot angerudert. Der Herzog nimmt am Steuer Platz. Über unsern Köpfen hängt an zwei Stangen ein aufgespanntes Sonnendach.

Kaffeehaus am linken Ende der Tigrisbrücke von Bagdad.

[S. 172]

Die beiden Ruderer legen los. Wir wollen stromabwärts auf das rechte Ufer hinüber, zum Hause der deutschen Marinesoldaten. Die Wasserfläche wimmelt von Fahrzeugen aller Art. Hier fährt ein Belem mit munteren syrischen Mädchen, dort einer mit deutschen und türkischen Offizieren, die dienstlich unterwegs sind. Eben kreuzt vor uns ein Boot mit französischen Dominikanerschwestern, die nach schwerer Tagesarbeit bei den Kranken nach Hause zurückkehren. Ein Meheile wird quer über den Strom gerudert; das Spiegelbild seines hohen Mastes zittert auf der Wasserfläche.

Ein Wasserwerk am Ufer.

Nun sind wir drüben und fahren an den Terrassen des rechten Ufers entlang. Welche Reihe amüsanter Bilder! Guffas und Belems werden von Ruderern an langen Seilen bugsiert. Überall geschäftige Tätigkeit; Kinder und Pferde werden gewaschen, Tische und Kleider gereinigt. Und diese lustige Pracht der weißen, grünen, gelben, hellroten und hellblauen Häuser mit schattigen Veranden vor dem Hintergrund des tiefen Grüns der Palmen!

Bald werden die Häuser seltener, die Gärten zahlreicher und größer. Lautlos treiben wir im Schatten der Dattelbäume stromabwärts; die Schiffer ruhen an ihren Rudern. Das Stöhnen einer Dampfmaschine, die Wasser in einen Kanal pumpt, unterbricht die Stille. Daneben ist ein Paternosterwerk mit altehrwürdigem Pferdegöpelbetrieb im Gang, [S. 173] sogar die primitive Einrichtung mit den auf- und abgehenden Ledersäcken, die gellend ihr melancholisches Lied singen, findet sich auch hier noch. Die Wasserwerke am Tigris sind aber fester gebaut als die am Euphrat, sie ruhen gewöhnlich auf runden Ziegelmauern, die den Schiffern sehr hinderlich sind, wenn sie vom Ufer aus ihre Fahrzeuge stromaufwärts ziehen.

Wir haben es uns auf den Polstern der Bänke bequem gemacht. Kein Windhauch regt sich. Der Zigarettenrauch steigt in blauen Ringen empor und steht wie ein Nebelstreif hinter dem vorwärts gleitenden Boot in der Luft. Palmen breiten ihre friedlichen Blätter über den Strom. Man gerät ins Träumen. Wenn es doch so weiter ginge bis tief in die Nacht! Selbst der hier überall und stündlich drohende Flecktyphus hat seine Schrecken verloren.

Vor uns biegt nun der Strom nach rechts ab; weiter abwärts windet er sich nach Seleucia, Ktesiphon, Kut-el-Amara, mitten hinein in das Lager der Feinde. Dort stehen die Engländer. Wie wäre es, wenn wir die Fahrt bis zu ihnen fortsetzten? Wie weit wurden wir wohl mit heiler Haut kommen? Wir wären kein übler Fang für sie.

Hartun Kirijakes, 18jährige Chaldäerin aus Sannat.

Lieber doch umkehren! Unsere Belemtschis springen ans Land und bugsieren unser Boot stromaufwärts. Noch einmal zieht das reizvolle [S. 174] Uferbild mit seinen Palmen, Wasserwerken und Villen vorüber. An einer offenen Strandstelle badet jetzt eine Kompagnie türkischer Soldaten, und weiter oben holen farbige englische Gefangene Wasser.

Die Sonne geht unter und ergießt ihr rötestes Gold über den Strom. Schon nähern wir uns der Schiffbrücke, aus deren unsicheren Planken Bagdads Söhne und Töchter von einem Ufer zum andern lustwandeln. Eine kleine Flottille von Meheiles ist am Brückenkopf vertäut, sie hat ihre Ladung noch nicht gelöscht. Ein Knäuel enger Gassen mündet hier; es sind die Zufahrtsstraßen zu den Basaren des rechten Ufers. Überall der gleiche lebhafte Verkehr! An einer kleinen Landungsbrücke liegen mehrere Guffas; ihre Besitzer warten geduldig auf zahlungsfähige Kunden.

Das rechte Ende der Brücke.

Kuppeln, Minarette und Masten bilden herrliche Schattenrisse auf dem Hintergrund des noch hellen Horizontes. Aber die Dämmerung ist kurz im Orient. In einer Stunde schläft Bagdad schon, aber noch sind die Balkone aller Kaffeehäuser voll von Gästen, nicht zum wenigsten von persischen Pilgern und Soldaten. Sie trinken Tee oder Kaffee, rauchen Zigaretten oder Nargileh, genießen ihren „Keif“, ihre Siesta, nehmen das Leben in echt orientalischer Ruhe und achten kaum auf das Brausen des Weltkriegs, der doch so nahe herantobt.

[S. 175]

Zwischen den Pontons hindurch wenden wir zum linken Ufer hinüber, um die Brücke dort noch einmal zu kreuzen und uns dann vom Strom nach dem Kai des Konsuls treiben zu lassen. Fast könnte man sich hier nach Venedig träumen. Ruderer stehen auf den Bänken ihrer Boote und stoßen ihr Fahrzeug mit Hilfe der Balken vorspringender Balkone stromaufwärts. An den Mündungen der kleinen Gassen schießen die Fahrzeuge hin und her. Öllampen werden angezündet, und hier und da strahlt schon in den Häusern ein Licht.

Manusche, Armenierin aus Diarbekr, 23 Jahre alt.

Am Ziel angelangt, lassen wir uns in Korbstühle auf dem Kai nieder. Das Leben am Ufer ist jetzt zur Ruhe gekommen, die Nacht hält ihren Einzug in die Stadt. Mitten auf dem Strom leuchten nebeneinander zwei winzige Lämpchen; sie scheinen direkt auf der Wasserfläche zu schwimmen. Frauen, die eines Mannes Liebe gewinnen oder ihre Ehe mit Kindern gesegnet sehen wollen, setzen solche Lichter auf Brettchen und übergeben sie der Strömung. Dann beobachten sie gespannt, wohin ihr Lichtchen treibt und wie lange es auf den Wellen brennt. Langsam schwimmen die beiden Lichtpünktchen den Strom hinab. Allmählich trennen sie sich von einander. Das eine wird von [S. 176] rascheren Wirbeln erfaßt und scheint den Vorsprung zu gewinnen; aber plötzlich wird es kleiner, flammt noch einmal auf und erlischt. Arme Beterin! Nun geht sie heim mit sinkender Hoffnung. Das andere Licht setzt seine Fahrt noch eine Weile ruhig fort und verschwindet schließlich auch.

Auf der höchsten Dachterrasse wird der Tisch zum Abendbrot gedeckt. Die große Petroleumlampe in seiner Nähe lockt ganze Schwärme fliegender Insekten an. Noch immer ist es unerträglich heiß; schlimmer als die 37 Grad, die das Thermometer zeigt, ist die dicke, feuchte Luft, die so still ist, daß man das Licht ohne Glocke brennen lassen könnte. Manchmal weht ein Lüftchen, aber so schwach, daß man es nur an den Bewegungen des Tabakrauches merkt. Man trinkt in einem fort von dem gekühlten, kohlensäurehaltigen Wasser, das wenigstens einen Augenblick lang erquickt.

Mai, August und September gelten als die schlimmsten Monate in Bagdad; besonders der Mai ist furchtbar infolge der schweren, drückenden, feuchten, unbeweglichen Luft.

Im Juni und Juli steigt das Thermometer zwar höher, zuweilen bis zu 50 Grad Celsius. Aber diese Hitze ist trocken und wird von erfrischenden Winden gemildert. Die höchste Gradzahl, die ich im Mai erlebte, war 42 Grad Celsius. Im August begibt sich alles, was dazu in der Lage ist, Eingeborene wie Europäer, nach Gärten und Palmenhainen unterhalb Bagdads und wohnt in luftigen Zelten am Ufer des Tigris. Wer in der Stadt arbeitet, läßt sich des Morgens nach Bagdad hinaufrudern und fährt am Abend nach den Zelten zurück. Diese Sommerfrische dauert bis Anfang November. Dann ist die Hitze vorüber, und der regnerische, oft ziemlich kalte Winter zieht ein. Der Winter 1915/16 brachte Bagdad sogar mehrere tüchtige Schneefälle.

Daß bei solchem Klima die gesundheitlichen Verhältnisse Bagdads nicht sonderlich günstig sind, läßt sich denken. Die gewöhnlichen Krankheiten sind Ruhr, Dysenterie, Cholera, Typhus, Flecktyphus und Malaria, dazu eine Reihe zum Teil neu entdeckter tropischer Fieber und ein eigentümliches Herzleiden, über das sich die Ärzte noch nicht im klaren waren. —

Strand in Bagdad.
Schlafplätze auf den Dachterrassen von Bagdad.

[S. 179]

Statt sich an die Hitze zu gewöhnen, wird der Europäer, wie mir versichert wurde, mit jedem Jahr dafür empfindlicher. Den ersten Sommer erträgt er leicht; er erinnert sich der abschreckenden Beschreibungen der infernalischen Glut, sieht ihrem Herannahen mit einigem Bangen entgegen und ist erstaunt, daß er dies Fegefeuer so leicht übersteht. Der zweite Sommer macht schon empfindlicher und reizbarer, im dritten wird man schlaff und willenlos, und der vierte ist eine Qual. Dehnt sich der Aufenthalt länger aus, so wird man wohl schließlich Orientale; die Beduinen schützen nur Kopf und Hals durch ein leichtes Tuch vor den brennenden Sonnenstrahlen und können hundert und mehr Kilometer zurücklegen ohne andere Nahrung als eine Handvoll Datteln und etwas Wasser aus dem mitgeführten Lehmkrug. Der Europäer überspringt am besten einen Sommer und zieht sich in seine Heimat, nach dem Libanon oder dem Himalaja zurück.

Türkische Köche im Lazarett des englischen Konsulats.

Die Stunde wirklichen Behagens schlägt erst, wenn man sein Bett auf dem Dache aufsucht. Eilig wirft man die Kleider ab und kriecht vorsichtig unter das Mückennetz, dessen Kanten sorgfältig unter die Matratze gestopft werden. Im Mai bringt aber selbst die Nacht nicht immer Linderung. Man liegt da und krümmt sich wie in einem Dampfbad. Man schläft splitternackt, aber unerreichbar den Mücken und Moskitos, die das Netz umsummen, und sieht die ewigen Sterne zu seinen Häupten blitzen. Eine Weile liegt man wach und lauscht den Stimmen der Nacht. In [S. 180] einem Nachbargrundstück unterhält sich ein Mann mit seiner Frau; vom Tigris her klingen taktfeste Ruderschläge eines späten Bootes, sie kommen näher, gehen vorüber und verstummen in der Ferne. Ab und zu hört man die Flügelschläge eines Nachtvogels oder die melodischen Phantasien einer Nachtigall. Die Schwalben schlafen in ihren Nestern; in den heißesten Stunden des Tages pflegen sich etwa fünfzig in den Zweigen eines großen Maulbeerbaumes auf unserem Hof im Schatten niederzulassen, um am Abend wieder auszufliegen. Wenn sie von der Hitze ermattet ganz still sitzen, sind sie ein wunderhübsches japanisches Gemälde. Jetzt beginnt ein Hund zu bellen, andere erwidern, und plötzlich geht ein Geheul wie eine Woge über die Stadt und weckt ein Echo am andern Ufer. Dann läßt es nach, hört ebenso plötzlich auf, und Stille breitet sich wieder über Bagdad. Keine Turmuhr verkündet hier den Gang der Stunden, die Kirchenglocken fehlen ja. Aus der Ferne tönt nur hin und wieder das schallende Gelächter der Schakale herüber.

[S. 181]

Gräber bei Sobeïds Mausoleum.

Zwölftes Kapitel.
Zwei Deutsche: von der Goltz und Moltke.

A m Tag nach meiner Ankunft in Bagdad besuchte ich mit dem Herzog das Grab des Feldmarschalls. Es lag am Tigrisufer in einem runden Vorsprung der Erosionsterrasse, den eine niedrige Brustwehr aus Ziegelsteinen einfaßte, nur wenige Schritt unterhalb des Hauses, von dem aus der alte Krieger die Operationen der 6. Armee geleitet und wo er seine Tage beschlossen hatte.

Der Tote ruhte zwei Meter tief unter der Erde in einem Zinksarg. Kein Kreuz, kein Denkstein, keine Kränze zierten die Stätte; nicht einmal Gras hatte man auf dem Hügel gesät — nichts als grauer Staub der Straße. Der einzige sichtbare Schmuck waren einige englische 15 Zentimeter-Granaten.

Sollte diese spartanische Einfachheit sagen: Ganz Bagdad ist sein Grabdenkmal? Nein, der Tote hatte hier keine bleibende Rast. Einige Tage später wurde das Grab zur Nachtzeit geöffnet, der Sarg herausgenommen, über den Tigris geschafft und mit der Bahn nach Samarra und weiterhin zu Wagen bis Ras-el-Ain befördert. Von da ging die [S. 182] Fahrt nach Konstantinopel und Therapia, wo auf dem schönen Hügel oberhalb der Sommerresidenz der Deutschen Gesandtschaft ein neues Grab bereitet war. Das türkische Generalkommando hatte den Wunsch ausgesprochen, seinen alten Lehrer in der Kriegskunst behalten zu dürfen. Und diese seine neue Grabstätte hat eine zweifache Bedeutung: Sie ist eine Erinnerung an die Vergangenheit und eine Warnung für die Zukunft, denn sie blickt auf den nördlichen Teil des Bosporus und das Schwarze Meer, eine Wasserstraße, die für russische Kriegsschiffe verschlossen ist und verschlossen bleiben wird.

Phot.: E. Bieber, Berlin.
Generalfeldmarschall von der Goltz.

An jenem schmucklosen Grab, das die irdischen Überreste des Feldmarschalls nur vorübergehend barg, hatte gleich nach dem Siege von Kut-el-Amara eine um so eindrucksvollere Feier stattgefunden, bei der Refik Bei, der Chef des Etappenwesens der 6. Armee, die folgenden schönen Worte sprach:

„Ruhmreicher Märtyrer, großer Marschall! An dem Tag, da dein sterblicher Teil in die osmanische Erde und dein unvergängliches Andenken in die osmanischen Herzen gesenkt wurden, da sprach mit vor Rührung zitternder Stimme dein Generalstabschef Oberst Kiasim Bei, zu deinem Haupte stehend und dein hohes Bild vor Augen, diese Worte: deine siegreiche Armee, die dort unten mit dem Feinde kämpft, wird binnen kurzem Kut-el-Amara einnehmen und den Lorbeerkranz des Siegs dir um die Stirn flechten. Ruhmreicher Heerführer! Möge die glückliche [S. 183] Botschaft zu deinem Ohr dringen: deine Armee hat den verheißenen Sieg erfochten, Kut-el-Amara eingenommen und 5 Generale, 500 Offiziere und 13000 englische Soldaten zu Gefangenen gemacht. Deine Armee hat das an Zahl überlegene feindliche Heer gezwungen, vor ihren Bajonetten zu fliehen. Das osmanische Heer, das du liebtest, wie dein eigenes Leben, wird mit Hilfe des Allmächtigen den Feind aus ganz Mesopotamien vertreiben. Unsterblicher Lehrmeister des osmanischen Heeres! Wir geloben an deinem Grab, daß deine Armee darnach streben wird, deine Seele mit neuen Siegesbotschaften zu erfreuen. Ruhe sanft, geliebter großer Heerführer!“

Als dann der Sarg jenseits des Bosporus angelangt und bei Therapia beigesetzt war, wurde auch in Berlin eine Trauerfeier für von der Goltz veranstaltet. Sie fand am 18. Juni 1916 in einem der großen Säle des Reichstagsgebäudes statt. Der Saal war mit Flaggen und Palmen geschmückt. Hinter dem Rednerpult standen Büsten des Kaisers, des alten Moltke und des Toten selbst. Mehrere Redner ergriffen das Wort, alles Zivilisten. Als der letzte geendet hatte, erhob sich — ganz unprogrammäßig — Generaloberst Hellmuth von Moltke — schritt zum Rednerpult und widmete seinem alten Kameraden folgende tiefempfundenen Abschiedsworte:

„Hochverehrte Anwesende! Das Bild des Mannes, zu dessen Gedächtnisfeier wir uns hier versammelt haben, ist in einer so ausführlichen, glänzenden und wahrheitsgetreuen Weise geschildert worden, daß Sie es von mir nicht als Vermessenheit ansehen wollen, wenn ich Sie bitte, mir zu einem ganz kurzen Worte ein geneigtes Ohr zu schenken. Es sind zwei Gründe, die mich dazu bewegen, zu Ihnen zu sprechen: erstens meine langjährigen persönlichen, kameradschaftlichen, ich darf wohl sagen, freundschaftlichen Beziehungen, die mich mit dem Verstorbenen verbunden haben, und zweitens die Empfindung, daß an dem Grabe eines Soldaten auch aus soldatischem Munde ein Wort für ihn erklingen muß; denn Soldat war er doch in erster Linie. Ich war ein junger Offizier, wie ich von der Kriegsakademie zum Generalstab kommandiert wurde und mit dem damaligen Major von der Goltz in Beziehungen trat. Er hatte die reichen Erfahrungen, die er im Verlauf des Feldzugs 1870/71 bei der Armee des Prinzen Friedrich Karl [S. 184] gesammelt hatte, bereits schriftstellerisch verwertet zum Segen der Armee, und wir sahen schon mit einer gewissen scheuen Ehrfurcht zu ihm auf. Diese Ehrfurcht wich aber bald einer aufrichtigen Verehrung und Hingebung. Wie rasch lernten wir den Mann kennen, der uns nicht als Vorgesetzter, sondern als Kamerad entgegentrat, in dem Bestreben: wir alle wollen dasselbe, wir alle wollen arbeiten für die Armee und für unser Land. Ich glaube, wenn auf irgend jemand der lateinische Spruch: ‚ Homo sum, nihil humani mihi alienum esse puto ‘ zutrifft, so war es der Verstorbene. Seine hervorragenden menschlichen Eigenschaften, seine Herzensgüte, gewannen ihm die Herzen aller, die mit ihm in Berührung traten. Diese kameradschaftlichen Empfindungen sind allen denjenigen geblieben, die das Glück gehabt haben, mit ihm in persönliche Beziehungen zu treten. Bei mir haben sie angedauert bis an sein Ende, und sie sind ausgeklungen in einem Briefwechsel, der erst kurze Zeit vor dem Tode des Feldmarschalls seinen Abschluß gefunden hat. Meine hochverehrten Herrschaften, ich darf das nicht wiederholen, was hier gesagt worden ist. Sie wissen ja den Lebensgang des Verstorbenen, Sie wissen, daß er als junger Offizier bereits nach der Türkei ging, daß er dort zwölf Jahre lang dem Sultan gedient hat, und daß er damals den Grundstein gelegt hat zu den freundschaftlichen Beziehungen, die heute das Osmanische Reich und das Deutsche Reich in gemeinsamen Kriegsunternehmungen vereinigt. Sie wissen, daß er, von dort zurückgekehrt, die Geschäfte als Generalinspekteur der Pioniere übernahm, und alle diejenigen, die damals mit ihm gearbeitet haben, bewahren ihm noch heute ein Andenken, denn auch diese ihm fremde Materie wußte er nach kurzer Zeit entsprechend zu beherrschen. Dann kam seine schönste Zeit, als er von Sr. Majestät zum Kommandierenden General des 1. Armeekorps berufen wurde. Wie freute sich sein Herz, da war er in seinem Element, unermüdlich im Zusammenleben mit der Truppe, die höchsten Anforderungen an sich selbst stellend. Keine Mühen scheuend, lebte er mit seinen Soldaten zusammen, als Vater, Freund und Kamerad. Er mußte dann die Stellung eines Generalinspekteurs übernehmen, die ihm die Truppen in die Ferne rückte, und erst nach Eröffnung des jetzigen Feldzugs, als ihm das Generalgouvernement von Belgien übertragen wurde, trat er wieder in aktive Tätigkeit. Ich habe damals Gelegenheit [S. 185] gehabt, des öfteren mit ihm zusammenzutreffen. Wenn ich nach Brüssel kam — während der Belagerung von Antwerpen — man traf ihn selten zu Hause; stets hieß es: ‚Der Feldmarschall ist draußen an der Front.‘ Es hielt ihn nicht an dem Schreibtisch, er mußte hinaus, und diejenigen, die mit ihm waren, erzählten, mit welch unbeschreiblicher Tapferkeit und Todesverachtung er mitten im Gefecht stand in den Reihen seiner Soldaten, als wenn er sich auf dem Exerzierplatze befände, und wenn er abends zurückkam, besprach er die Ereignisse des Tags, wie man ein Manöver bespricht, mit vollständiger Ruhe und Objektivität, und mancher von denen, die mit ihm im Schützengraben waren, kehrte nicht mehr zurück; der Feldmarschall selbst ward auch verwundet. Aber wenn er auch mit unermüdlicher Treue und Aufopferung durch seinen scharfen Verstand es wohl verstanden hat, die zerrütteten Teile des okkupierten Landes zunächst wieder in geordnete Verhältnisse zu bringen, so war doch sein Herz nicht bei der Sache, er war Soldat, und ich glaube, er ist nicht ungern von seinem schwierigen und undankbaren Posten zurückgetreten, als er dann auf Wunsch des Sultans von dort als oberstes Bindeglied zwischen der osmanischen und deutschen Armee nach der Türkei berufen wurde. Er erlebte den gewaltigen Kampf unserer Bundesgenossen auf Gallipoli, er sah die Früchte seiner jahrelangen Tätigkeit greifbar vor sich, und dann kam der Augenblick, da er selbst das Kommando übernehmen mußte und hinauszog nach Bagdad, um den Kampf gegen die Engländer aufzunehmen. Als er in Bagdad eintraf, fand er die Engländer in starker Stellung bei Kut-el-Amara. Seine Aufgabe war, sie zurückzuschlagen. Mit wie schwierigen Verhältnissen, mit welch schlechten Zufahrtstraßen, mit einer wie großen Entfernung mußte er rechnen, bis überhaupt Verstärkungen herangeführt werden konnten. Meine verehrten Herrschaften, es wiederholt sich in der Geschichte öfters, daß Heldentum und Tragik nebeneinander stehen. So war es auch hier. So, wie es Moses einstmals zwar vergönnt war, einen Blick in das Gelobte Land zu tun, nicht aber es zu betreten, so war es auch dem Generalfeldmarschall nicht vergönnt, den letzten Kampf seiner Armee zu erleben, aber sein scharfer Blick hat wohl den Ausblick in das Gelobte Land getan, denn sicher hat er den Sieg von Kut-el-Amara vorausgesehen.“

„Meine verehrten Herrschaften, ich habe dem Bild des Feldmarschalls [S. 186] nur noch eine persönliche Note hinzufügen können. Ich habe es getan, weil ich glaube, daß ich in diesem Falle wohl im Namen der Armee und namens des Generalstabs sprechen darf, dem wir beide lange Jahre angehört haben. Ich will nicht sprechen von dem tiefen Schmerz, der auch mich ergriffen hat, als die Kunde von dem tragischen Ende des Feldmarschalls eintraf, und ich möchte nicht, daß dieser Tag vorübergeht, ohne daß wir an diesem Tag ein Lorbeerblatt auf die Bahre gelegt haben.“

Als Moltke geendet, stieg er vom Rednerpult herab, drückte der Freifrau von der Goltz die Hand und kehrte auf seinen Platz neben Generaloberst von Kluck zurück. Da reckte er sich plötzlich, führte die Hand zum Herzen, sank zusammen und war binnen wenigen Minuten eine Leiche. Die Tragik, in der ihm noch soeben das Schicksal seines Freundes von der Goltz erschienen war, daß er wie Moses das Gelobte Land — den Sieg — nur aus der Ferne schauen durfte, hatte ihn selbst getroffen.

Und diese traurig-wunderbare Fügung war nicht die einzige bei diesem erschütternden Vorfall. Sobald die Erkrankung des Feldmarschalls in Berlin bekannt geworden, hatte man zwei Schwestern zu seiner Pflege nach Bagdad geschickt. In Konstantinopel erreichte sie die Nachricht von seinem Tode, darauf kehrten sie zurück. Beide waren bei der Trauerfeier in Berlin zugegen, als Moltke jene letzte Rede hielt, und erwiesen nun ihm den letzten Liebesdienst, der seinem Freunde versagt geblieben war. Und ich selbst — war ich nicht der Bote eines Toten an einen Toten geworden? Moltkes Brief, den er mir zum Geleit auf diese meine Reise mitgegeben hatte, fand seinen Empfänger im Grabe; aber es sollte mir auch nicht mehr vergönnt sein, ihn der Hand seines Absenders zurückzustellen. Bei meiner Rückkehr nach Berlin blieb mir die traurige Pflicht, ihn der Witwe des von mir so hochverehrten Mannes zu übergeben.

Merkwürdig war auch, daß Gräfin Moltke mir bereits im Februar 1916 anvertraut hatte, sie fürchte, daß ihr Mann noch vor Ende des Weltkriegs heimgehen werde. In einem Traumgesicht hatte sie ihn bereits auf der Bahre liegen sehen, von Palmen und Kandelabern umgeben in demselben Zimmer, wo der Sarg des Feldmarschalls Moltke [S. 187] vor fünfundzwanzig Jahren gestanden hatte. Sie war daher auf das Schlimmste vorbereitet, als sie in den Saal des Reichstagsgebäudes zur Leiche ihres Gatten geführt wurde, und ertrug ihren Schmerz mit bewundernswerter Fassung.

Phot.: August Scherl.
Generaloberst Hellmuth von Moltke.

[S. 188]

Tags darauf stand denn auch der mächtige, schwere Eichensarg mit den großen silbernen Handgriffen dort, wo der Feldmarschall aufgebahrt worden war. Sechs hohe Kandelaber, jeder mit sechzehn Lichten, brannten in einem Wald von Palmen. Thorwaldsens Christus streckte segnend seine Hände über das Haupt des entschlummerten Kriegers, und dem Toten gegenüber stand eine Büste des Oheims. Offiziere trugen den Sarg hinaus nach dem Invalidenfriedhof.

Hellmuth von Moltke war einer der tüchtigsten und edelsten Männer des jungen Deutschlands und einer der vornehmsten Charaktere, die ich kennen gelernt habe. In seiner Nähe verspürte man die Macht und zugleich die große Bescheidenheit der überlegenen Persönlichkeit. Er war einer der wärmsten Patrioten Deutschlands, was viel besagen will in einer Zeit, in der das ganze Volk alles für das Vaterland opfert. Dabei war er ein frommer Christ und starb wohlvorbereitet in dem Augenblick, als er den Kranz auf das Grab des Kameraden niederlegte.

Seine hervorragendsten Eigenschaften waren unerschütterliche Ruhe und ein Ernst, der auch nicht einem flüchtigen Scherz Raum gab. Er war niemals heftig, und harte Worte hörte man von ihm nie. Tadel und Herabsetzung Abwesender waren ihm fremd. Jeder liebte und bewunderte ihn, und wer Gelegenheit gehabt hat, viele Stäbe an den verschiedenen Frontstellen zu besuchen, der weiß, daß über Moltke in der Armee nur ein Urteil herrschte. Er war wortkarg wie sein Onkel, aber was er sagte, war klar und tief, und mit wenigen Sätzen wußte er Fragen zu beantworten, die andern lange zu schaffen machten. Als ihn im zweiten Kriegsjahr ein amerikanischer Zeitungsmann über die Stimmung Deutschlands gegen Amerika aushorchen wollte, antwortete er kurz und bestimmt: „Wir sind in der Lage eines Mannes, den drei Straßenräuber überfielen. Er verteidigt sich tapfer und schlägt einem nach dem andern die Waffen aus der Hand. Hinter den dreien aber steht ein vierter, der ihnen immer wieder neue Waffen in die Hände drückt. Dieser Vierte ist Amerika, das den Kampf von Jahr zu Jahr verlängert.“

Mit Recht wurden an Moltkes Bahre folgende Worte gesprochen: „So hat er sein Werk als einer der intimsten Mitarbeiter an der Seite seines geliebten kaiserlichen Herrn geleistet. Seine Lebenstat war, das deutsche Heer auf den gewaltigsten und größten Krieg, den die Geschichte [S. 189] kennt, vorzubereiten, und wir können an Generaloberst von Moltke nicht denken, ohne uns des 4. Augusts 1914 zu erinnern, des Tags, da er, ein Lächeln auf den Lippen, sagen konnte, nicht eine einzige Frage sei an den Großen Generalstab zurückgekommen. Die unerhörte Maschinerie arbeitete mit unerschütterlicher Ordnung.

„So lenkte er das deutsche Schwert. So bereitete er den Aufmarsch der deutschen Armeen und den herrlichen Siegeszug vor, und daher denken wir bei seinem Namen an die wundervollen, überwältigenden, unvergeßlichen Tage, als in dieser schwersten Zeit der Mut, die Siegesgewißheit und das Vertrauen des ganzen deutschen Volkes so herrlich erstarkten. Ja, für dieses Volk arbeitete er, und diese Tage krönten sein stilles, geduldiges Arbeiten. Für dieses Ziel dachte und strebte er. Dazu lenkte und erzog er uns, und die deutschen Feldherrn, Generale und Offiziere, die an seiner Seite arbeiteten, denken mit tiefster Dankbarkeit an das Große und Herrliche, was Moltke für sie gewesen ist.“

Selten oder nie sind wärmere und edlere Worte aufrichtiger Trauer einer Feder entflossen als die, welche der Kaiser an die Gräfin nach dem Tode ihres Gemahls richtete. So spricht nur der, der weiß, daß er einen Freund verloren hat, auf dessen Treue er zu jeder Stunde felsenfest bauen konnte. Ich zweifle nicht, daß die Zukunft Moltke in die erste Reihe der germanischen Gestalten des Weltkriegs stellen wird.

In seiner Denkrede auf von der Goltz erinnerte Moltke an den Mut des Feldmarschalls und seine Todesverachtung, von der auch ich in meinem Buche „Ein Volk in Waffen“ bewundernd gesprochen habe. Als ich damals von der Goltz mein Buch sandte, antwortete er mir am 11. Juni 1915 aus Konstantinopel:

„Ihre Bemerkung, die mich betrifft, hat mich tief gerührt und in der Tat den geheimen Wunsch getroffen, den ich im Herzen trug. Wer der Vollendung seines 72. Lebensjahres nahesteht, wie ich, und eine 52jährige aktive Dienstzeit, die sich jetzt noch um ein Jahr verlängert, sowie drei große Kriege hinter sich hat, kann sich, wie Sie mit Recht bemerken, kaum einen schöneren Abschluß denken als den Sie erwähnen, aber das Schicksal hat ihn mir bisher verweigert; ich konnte es nur bis zu einem leichten Streifschuß unter dem linken Auge bringen. Das [S. 190] Geschoß, ganz in der Nähe aus einem englischen Schützengraben abgefeuert, als ich übers Feld in den unsrigen gehen wollte, meinte es ehrlich, es hatte aber den Fehler, einen Zoll zu weit nach rechts zu fliegen, worüber ich ihm eigentlich böse bin.

„Nun hat es aber doch wohl so kommen sollen, und Allah, mein alter Beschützer, verfolgte noch einen Zweck dabei. Er wollte mir die Gelegenheit geben, mich an der Wiedererhebung der Türkei, an der ich in früherer Zeit 13 Jahre lang emsig mitgearbeitet habe, zu erfreuen. Was die türkischen Truppen heute leisten, ist zugleich die beste Antwort auf die häßlichen Angriffe gegen meine Person, die in ganz ungerechtfertigter Weise nach dem unglücklichen Balkankriege in bezug auf meine ältere hiesige Tätigkeit gegen mich und meine Kameraden gerichtet wurden. Die Unterlegenheit in jenem Krieg erklärt sich durch ganz besondere Umstände, der tüchtige Kern aber, der im türkischen Volke steckt, kann sich heute, wo es von einer energischen und wohlgesinnten Regierung geleitet wird, kräftig entwickeln und gute Früchte tragen, die in den Kämpfen an den Dardanellen sich gezeigt und die Welt, aber nicht die alten Freunde des Landes überrascht haben. — — — Am endlichen Siege unserer guten Sache zweifeln wir alle nicht; wir könnten immer noch ein paar Feinde mehr vertragen. Ich beispielsweise erwarte solche zurzeit leider vergeblich mit meiner Armee an der stark bewehrten Küste des Schwarzen Meeres ....“

Anfang April 1916 war von der Goltz auf einem der Tigrisdampfer nach Bagdad zurückgekehrt. Derselbe Dampfer brachte auch kranke Soldaten flußaufwärts, darunter viele, die an Flecktyphus darniederlagen; die unterwegs starben, wurden den trüben Wellen des Tigris übergeben. Die Kranken lagen auf Deck, und der Feldmarschall ging während der Fahrt von einem zum andern, an alle aufmunternde Worte richtend. Es wimmelte von Ungeziefer, aber er achtete nicht der Gefahr, der er sich aussetzte. Und diesmal kam er in ihr um; auch er erlag der mörderischen Krankheit und starb in wenigen Tagen.

Seinen Wunsch, den echten Soldatentod zu sterben, hat ihm das neidische Schicksal nicht erfüllt.

[S. 191]

Phot.: Schölvinck.
Englische Gefangene.

Dreizehntes Kapitel.
Kut-el-Amara.

W ie ich schon erwähnte, hatte ich in meiner Jugend einmal Kut-el-Amara besucht, das damals noch eine junge Stadt, aber ein wichtiger Handelsplatz für die arabischen Wollhändler der Umgegend war. Seither ist es bedeutend gewachsen, und heute hat es obendrein einen historischen Namen: es bezeichnet einen der schönsten Siege der Türken und eine der größten Niederlagen der Engländer während des Weltkrieges.

Gleich zu Kriegsbeginn hatten die Engländer Basra besetzt. Der Wali von Bagdad, Dschavid Pascha, hatte nur zusammengeraffte Araber zur Verfügung, mit denen nichts auszurichten war. Ein tapferer Offizier in Bagdad, Ali Askari Bei, gab jedoch die Hoffnung auf Wiedereroberung der Stadt nicht auf. Die Kriegsleitung in Konstantinopel versprach, ihm reguläre Truppen zur Unterstützung zu schicken; aber er antwortete, er könne sich ohne sie behelfen. Tatsächlich gelang es ihm, mehrere Araberstämme aufzubieten und die „Muschtehids“, die hohe Priesterschaft von Kerbela, für sein Unternehmen zu gewinnen.

[S. 192]

Mit einem bunt zusammengewürfelten Heer von wie es hieß 20000 Mann, so gut wie ohne Artillerie, zog er gegen Basra. Einige junge Deutsche nahmen an diesem abenteuerlichen Zuge teil, die Herren Lührs, Schadow und Müller; der zuletzt genannte führte Material mit sich, um im Schatt-el-Arab Minen zu legen. Auch ein Österreicher namens Back war dabei.

Als Ali Askari Bei mit seinen Scharen das Dorf Schaïbe bei Basra erreicht hatte, wurde er von den Engländern angegriffen und völlig geschlagen, außerdem noch im Rücken von einigen Araberstämmen überfallen, deren Mut wuchs, als sie sahen, daß es den Türken schlecht ging. Der tapfere, aber etwas unvorsichtige Befehlshaber wurde verwundet und in einen Wagen geschafft und beging Selbstmord. Der Rückzug seiner Truppen vollzog sich in weniger guter Ordnung, als der Xenophons; sie wurden zersprengt, und nur ein Teil erreichte Amara.

Der Deutschen und ihres österreichischen Kameraden warteten auf der Flucht traurige Schicksale. Auf ihrer Wanderung tigrisaufwärts fielen sie feindlichen Arabern in die Hände und wurden bis auf die Haut ausgeplündert. Dann gelang es ihnen, sich bis zu Fasil Pascha durchzuschlagen, der sie vom Tode rettete und mit allem Nötigen versah, und endlich erreichten sie Bagdad, wo ich später zwei dieser unverwüstlichen Männer traf.

Petros Ibn Chamis, 16jähr. Chaldäer aus Sannat.

[S. 193]

Auf ihrem Rückzug versuchten die türkischen Scharen vergebens, sich in Amara und Kut-el-Amara zu halten. Sie mußten sich bis nach Sulman Pak zurückziehen, das auf dem linken Tigrisufer in der Nähe von Ktesiphon, gerade gegenüber den Ruinen von Seleucia, liegt. Die Engländer rückten nach und kamen im Sommer 1915 bis Sulman Pak; hier entschlossen sie sich jedoch, sich gegenüber den Türken einzugraben. Diese hatten mittlerweile Verstärkungen erhalten; Halil Pascha war von Aserbeidschan an der kaukasischen Front her mit einer Division zu ihnen gestoßen. Mitte November griff der neue Befehlshaber Nureddin Bei die englischen Stellungen an. Anfangs hatte er auch Erfolg; der Widerstand war aber doch zu stark, und er dachte schon daran, die Offensive aufzugeben, als Halil durch einen kräftigen Flankenangriff von Norden her die Lage rettete. Die Engländer räumten ihre Gräben und zogen sich in neue, stark geschützte Stellungen bei Kut-el-Amara zurück. Nureddin Bei folgte und griff von neuem an, wurde aber mit großen Verlusten zurückgeschlagen.

Da kam Feldmarschall von der Goltz, der zum Chef der 6. Armee ernannt war, in Bagdad an und fuhr ohne Aufenthalt nach Kut-el-Amara weiter. Er sah sogleich, daß eine Fortsetzung der Angriffe zwecklos war, weil die Türken nicht genügend Artillerie besaßen. So begann auch hier der Stellungskrieg.

Inzwischen erhielten auch die Engländer Verstärkungen. Eine neue Armee marschierte zum Entsatz nach Kut-el-Amara tigrisaufwärts. Hier war jetzt Halil Pascha Oberbefehlshaber, da man Nureddin Bei wegen eines Dienstversehens zurückgerufen hatte. Ein Teil der Truppen Halils ging den Engländern entgegen, und beim Wadi Kelal kam es Anfang Januar 1916 zum Kampf. Der Ausgang veranlaßte den Feldmarschall zum Rückzug in die Stellung bei Fellahije, die sich im Norden auf ein Sumpfgebiet stützte. Verschiedene Angriffe der Engländer gegen sie scheiterten an der gut geleiteten Verteidigung.

Mitte Februar machte der Feind deshalb einen Versuch, auf dem rechten Tigrisufer vorwärtszukommen. Eine neue türkische Division, die jedoch drei Bataillone an die persische Front hatte abgeben müssen, wurde nun über den Tigris geschafft, um in einer Stellung bei Simsir die Engländer aufzuhalten. Diese griffen vom 8. bis 11. März zweimal [S. 194] an, und die Lage der Türken wäre mehr als kritisch geworden, hätte nicht Halil rechtzeitig die Gefahr bemerkt und alle verfügbaren Truppen nachgeschickt. Eine Division, gegen 4000 Mann, wurde in einer einzigen Nacht auf Fähren und Booten über den Tigris gesetzt. Die Deutschen rühmten dieses Unternehmen als besonders gut ausgeführt. Die Schnelligkeit, mit der Halil seine überraschenden Bewegungen ausführte, brach die Angriffskraft der Engländer und zwang sie, ihren Vormarsch auf dem rechten Flußufer ganz aufzugeben.

Ein Belem mit zwei französischen Schwestern.

Im April unternahmen nun die englischen Truppen unaufhörliche Angriffe auf die Stellung bei Fellahije. Lange ohne Erfolg, und ihre Verluste waren groß. Schließlich aber räumten die Türken ihre vordere Stellung, die von der auf beiden Flußufern aufgestellten englischen Artillerie flankiert wurde. Die Engländer bemerkten die Bewegung erst einen Tag später und verschwendeten noch 20000 Geschosse auf die leeren Schützengräben. Dann aber gingen sie zum Sturm über und drangen bis zur hinteren Linie vor, die von der Goltz inzwischen hatte anlegen lassen. Hier wurden sie mit mörderischem Feuer empfangen, und nach großen Verlusten gaben sie auch diesen Vormarsch auf. Der britische Befehlshaber hätte ganz leicht seine Absicht erreichen können, wenn er, statt immer an der Front anzugreifen, am Kanal Schatt-el-Hai entlang, durch den der Tigris einen Teil seines Wassers an den Euphrat abgibt, vorgerückt wäre und die [S. 195] Fellahijestellung umfaßt hätte. Nach Ansicht der Verteidiger beging die englische Armeeleitung unbegreifliche Mißgriffe. Schon damals hätte sie durch einen kühnen Handstreich Bagdad nehmen können. In der Nacht vom 21. zum 22. November hatten die englischen Truppen obendrein den Dijala überschritten, und ihre Vorposten waren nur 12 Kilometer von der Stadt der Kalifen entfernt, die Nureddin Bei mit einer Handvoll Leute besetzt hielt. Mehrere Tage standen die feindlichen Heere einander gegenüber. Die Ausfälle der Besatzung wurden zurückgeschlagen, und die Engländer rückten schon bedrohlich vor. Da warf sich Halil im rechten Augenblick auf sie und schlug sie aufs Haupt. So wurde die Stadt für diesmal gerettet.

Drei vornehme Priester auf dem Kai des englischen Konsulats.

Bagdads Bürger befanden sich in den entscheidenden Tagen in größter Aufregung; jeden Augenblick konnten ja feindliche Truppen einrücken. Die Europäer hatten ihre Wertsachen eingepackt, und Wagen standen bereit, sie nach Aleppo zu schaffen. Mit Halils Erscheinen war die Gefahr gebannt, man atmete wieder auf und blieb.

Bald darauf, Anfang Dezember, wurde General Townshend mit ungefähr anderthalb englischen Divisionen in Kut-el-Amara eingeschlossen. [S. 196] Das lähmte auch die übrigen Unternehmungen der Engländer auf den Kriegsschauplätzen. Verstärkungen wurden tropfenweise zu Entsatzversuchen eingesetzt, die von den Türken sämtlich blutig abgewiesen wurden. Schließlich, am 29. April 1916, mußte Townshend die Waffen strecken. Dabei fielen außer dem Oberbefehlshaber 5 Generale, gegen 500 Regiments- und Kompagnieoffiziere, sowie 13200 Unteroffiziere und Mannschaften, darunter 4500 Engländer, in die Hände der Türken.

Townshend durfte seinen Säbel behalten und wurde sofort nach Bagdad geschafft, wo man ihn, wie alle übrigen Offiziere, mit der größten Achtung und Gastfreundschaft behandelte. Von den englischen Offizieren waren drei vor dem Krieg bedeutende Kaufleute in Bagdad gewesen. Bei Kriegsausbruch hatte man sie als Gefangene nach Aleppo gebracht; ihr Ehrenwort, an Feindseligkeiten gegen die Türkei nicht teilzunehmen, verschaffte ihnen aber die Erlaubnis zur Heimreise. Nun waren sie zum zweitenmal gefangen, und man hielt sie von den übrigen getrennt. Es hieß, wenn sie vor ein Kriegsgericht gestellt würden, sei ihr Schicksal besiegelt.

Am Abend des 7. Mais gaben die in Bagdad sich aufhaltenden deutschen Offiziere im Garten des deutschen Konsulats Halil Pascha und etwa zwanzig türkischen Offizieren ein Fest zu Ehren des Sieges von Kut-el-Amara. In den Gängen brannten Fackeln und Pechpfannen und unter den Palmen zahllose bunte Laternen. Herzog Adolf Friedrich feierte in packender Rede den Sultan und Halil Pascha und gedachte dabei auch des toten Feldmarschalls und seiner hohen Verdienste. In seiner weichen schönen Muttersprache dankte Halil mit kernigen Worten.

Halil Pascha, der nach von der Goltz’ Tode und in seinem Geiste die Operationen gegen Kut-el-Amara leitete und jetzt der Nachfolger des Feldmarschalls als Chef der 6. Armee war, wohnte an der vornehmsten Straße Bagdads in einem einfachen Ziegelhaus, das ein kleiner Hof umgab. Im jugendlichen Alter von dreiunddreißig Jahren hatte er diese hohe Würde errungen und einen Ruhm, der seinen Namen in der ganzen Welt bekannt gemacht hat. Halil Pascha ist ein großer, schlanker Mann von ebenmäßigem Körperbau, schönen, sympathischen Gesichtszügen und hellem, offenem Blick. Er trägt sich äußerst einfach, die ihn trefflich kleidende türkische Offiziersmütze aus Lammfell mit stolzer Siegesgewißheit [S. 198] keck zurückgeschoben; kein Abzeichen verrät seinen hohen Rang; auf der Straße konnte man ihn für einen gewöhnlichen Leutnant halten.

Alter christlicher Araber in Bagdad.

Als ich ihn zum Fall von Kut-el-Amara beglückwünschte, machte er nicht viel Wesens von dem Erfolg, den er und seine Truppen erstritten hatten. Von dem britischen Befehlshaber General Townshend sprach er mit bescheidener Zurückhaltung, wunderte sich aber immer wieder über die Kapitulation, da die Engländer ungefähr fünfmal so stark gewesen waren, wie die Türken.

Gerade als mir Halil Pascha in vortrefflichem Französisch von den letzten Tagen der Festung erzählte, wurde unsere Unterhaltung durch die hohe Priesterschaft Bagdads unterbrochen, die in vollem Ornat dem Feldherrn ihre Aufwartung machte und um die Erlaubnis bat, die neugebaute Hauptstraße nach ihm zu benennen. Sie läuft parallel mit dem Ufer des Stroms und erleichtert die Verbindung zwischen dem oberen und unteren Teile der Stadt. Zahlreiche am Wege stehende Häuser wurden rücksichtslos niedergerissen, und man hatte es damit so eilig, daß ihren Besitzern oft nur wenige Tage Frist blieb, ein neues Unterkommen zu suchen. Denn diese Straße hatte zugleich auch eine symbolische Bedeutung: sie ging quer durch das Grundstück des englischen Konsulats, das vor dem Kriege niemand hätte antasten dürfen; jetzt waren keine Engländer mehr da, die Einspruch hätten erheben können.

Zwei Tage nach dem vorhin erwähnten Siegesfest stand ich mit dem Herzog und Schölvinck aus der hochgewölbten, kühlen Veranda des englischen Konsulats und erwartete die Ankunft des ersten Trupps englischer Gefangenen. Ein französischer Arzt und mehrere französische Dominikanerschwestern waren ebenfalls zugegen; auch sie waren Gefangene der Türken, hatten aber in Bagdad bleiben dürfen unter der Bedingung, daß sie in den mehr als dreißig Krankenhäusern, die alle überfüllt waren, Dienst taten. Es hieß, 6 bis 7000 Plätze seien belegt, meist mit Typhus und Ruhr.

Während wir uns mit den französischen Schwestern und dem Arzt unterhielten, kam der Raddampfer „Hamidije“ mit zwei Booten, die zu beiden Seiten an ihm festgemacht waren, langsam und majestätisch den Strom herauf. Aus dem oberen Deck des „Hamidije“ saßen englische Offiziere in Korbstühlen und auf Bänken, und in den beiden Booten weiße und farbige Unteroffiziere.

Ankunft der „Hamidije“.

[S. 200]

Nun wurde das Schiff am Kai festgemacht und die Landungsbrücke ausgeworfen. Türkische Offiziere gingen an Bord. Am Ufer wartete der Stadtkommandant, der stellvertretende Chef des XIII. Armeekorps in Bagdad, Oberst Mesrur Bei. Zuerst kamen die fünf Generale an Land, und der Kommandant begrüßte seine „Gäste“. Einer von ihnen war krank und stützte sich auf einen Stock und auf die Schulter eines Adjutanten. Im Schatten einiger Bäume wurden Stühle für sie aufgestellt, und Mesrur Bei unterhielt sich mit ihnen höflich in französischer Sprache.

Dann kamen die Obersten und Oberstleutnants an die Reihe, die Majore, Hauptleute und Leutnants. Alle dem Rang nach geordnet und aufgestellt, um sofort in ihre Quartiere geführt zu werden.

Mit welchen Gefühlen mochten die Engländer, die früher in Bagdad gewesen waren, das prachtvolle Konsulat wiedersehen, das sich als ein Symbol der englischen Macht im Orient prunkvoll vor ihnen erhob, und auf dessen Turm früher die Flagge des größten Weltreichs geweht hatte. Nun flatterte an demselben Mast der Rote Halbmond. Von Mohammedanern besiegt, als deren Herren sie sich immer gefühlt hatten, betraten sie jetzt nicht mehr eigenen Boden, und kein Vertreter Großbritanniens hieß sie willkommen. Sie waren nicht mehr wie so oft Gäste, sondern Gefangene der Türken. Aber keine Miene, keine Bewegung verriet ihre Gedanken. Mit der unerschütterlichen Ruhe und der stolzen Haltung, die ihrer Rasse eigentümlich ist, sahen sie den Dingen entgegen, die da kommen sollten.

Die Generale fuhren in Droschken nach ihren neuen Wohnungen, und ihre Ordonnanzen schafften ihr Gepäck auf Lastwagen fort. Als ich mit Mesrur Bei die Front der Majore entlang schritt, hörte ich plötzlich meinen Namen rufen und erkannte Major Rybot, mit dem ich im Jahre 1906 oft in Simla zusammen gewesen war. Nachdem wir uns die Hand gedrückt, bat auch Mesrur Bei, dem Major vorgestellt zu werden; er ließ ihn aus der Reihe treten und lud uns ein, ihm in eine Laube zu folgen, wo Tische mit Erfrischungen bereitstanden. In ungezwungenster Unterhaltung über Irak und Mesopotamien, über den Verlauf des Weltkrieges und nicht zum wenigsten über unsre gemeinsamen Erinnerungen an Indien verging uns hier eine inhaltreiche Stunde.

Die Landung der englischen Gefangenen von Kut-el-Amara in Bagdad.

[S. 202]

Major Rybot und Mesrur Bei.

Die englischen Offiziere wurden von den Türken mit der größten Rücksicht und Höflichkeit behandelt und genossen eine Freiheit, die geradezu überraschend war. Denn gerade damals standen die Russen in der Gegend von Kasr-i-Schirin, kaum 170 Kilometer von Bagdad entfernt, und es wäre für die Gefangenen nichts leichter gewesen, als verkleidet zu fliehen und ihren russischen Verbündeten wichtige Nachrichten über die Lage Bagdads zu bringen. Mehrmals erzählte man auch von solchen Entweichungen, doch weiß ich nicht, ob die Gerüchte der Wahrheit entsprachen. Sicher ist, daß man täglich englischen Offizieren begegnete, die sich in den Basaren völlig frei bewegten. Als ich zwei Tage nach Ankunft der Gefangenen dem amerikanischen Konsul Mr. Brissel einen Besuch abstattete und wir uns gerade über China unterhielten, erschienen vier englische Offiziere ohne jede türkische Bewachung. Sie zeigten noch immer die gleiche Würde und ruhige Miene, als ob nichts geschehen und Kut-el-Amara nur eine bedeutungslose Episode sei. Und doch hatte dieser Schlag die von den Engländern beabsichtigte Verschmelzung der russischen und englischen Fronten vorläufig gänzlich durchkreuzt. Einstweilen ist der Feldzug im Irak verloren, mochten sie denken; aber sie ließen nichts davon merken. Mir gegenüber, dessen fester Standpunkt in diesem Kriege genügend bekannt war, zeigten sie eine offene Ritterlichkeit [S. 203] und meinten, jeder freie Mann habe das Recht seiner politischen Überzeugung.

Am Abend desselben Tages hatte ich einige schwedische Freunde und den deutschen Arzt Dr. Schacht, der als Gatte einer Landsmännin von mir das Schwedische ohne fremden Beiklang spricht, zu einem Abendbrot im Garten des Hotels „Tigris“ geladen. Als wir eben bei Kaffee und Zigaretten saßen, trat eilig der Adjutant Halil Paschas heran und bat mich, nach der Residenz hinüber zu kommen, wo der Pascha gerade ein Abschiedsessen für seinen vornehmsten Gefangenen, den General Townshend, gab. Ich entschuldigte mich bei meinen Freunden für kurze Zeit und folgte ihm. Dieses historische Gastmahl, das Sieger und Besiegten, Verteidiger und Bezwinger von Kut-el-Amara am selben Tisch vereinte, mochte ich nicht versäumen; außerdem kannte ich General Townshend von Simla her, wo er der Stabschef Lord Kitcheners war; dort war ich oft mit ihm zusammen, als ich beim Oberstkommandierenden der englischen Armee wohnte.

Höhere englische Offiziere unter den Gefangenen von Kut-el-Amara.

Wenige Schritte brachten uns zur Residenz, die damals noch gerade gegenüber lag; später wurde sie in das Haus des Hauptquartiers verlegt, wo der Feldmarschall gewohnt hatte. In seiner freundschaftlichen Hast widerfuhr dem Adjutanten in der Vorhalle ein Renkontre mit einer [S. 204] orientalischen Porzellanvase, die schmetternd auf dem Steinboden in tausend Stücke zerschellte und mich vor der offenen Tür des Speisesaals mit überflüssigem Knalleffekt anmeldete.

Am Tisch präsidierte Halil Pascha. Ihm gegenüber saß General Townshend, neben ihm der Stabschef und der Adjutant des englischen Oberbefehlshabers, hohe, kräftige Gestalten. Die übrigen Gäste waren türkische Offiziere und sonst nur Zivilisten, unter ihnen der Bürgermeister von Bagdad mit schwarzem Bart und Brille, schwarzem Gehrock und rotem Fes.

Phot.: Schölvinck.
Indische Soldaten.
Phot.: Schölvinck.
Farbige Engländer.

Nachdem ich Halil und seine Gäste begrüßt hatte, wurde ich eingeladen, an Townshends Seite Platz zu nehmen. „Erinnern Sie sich noch unseres Zusammentreffens in Simla?“ rief er mir entgegen. „Hier sehen Sie mich nun als Besiegten!“ Wir sprachen von Kitchener, von den indischen Zedern und Mangobäumen und den schneebedeckten Bergen des Himalaja oberhalb Simlas. Townshend trug sein Geschick mit Gleichmut. Die Stimmung an der Tafel war sogar heiter; es war ein wirkliches Verbrüderungsfest, und der Champagner floß in Strömen. [S. 206] Halil Pascha füllte sein Glas und toastete auf seinen Ehrengast, dem er eine glückliche Zukunft wünschte, und der Engländer dankte für die Gastfreundschaft, die er in Bagdad erfahren hatte. Nach diesem feierlichen Schlußakt des Gastmahls fuhr Townshend in Halil Paschas Automobil nach Hause. Am andern Tag sollte er nach Konstantinopel weiterreisen, wo ihm auf einer der Prinzeninseln eine Villa angewiesen war.

Die folgenden Tage über kamen unaufhörlich neue Schiffe mit Gefangenen von Kut-el-Amara. Die größere Masse aber marschierte zu Fuß heran und wurde in einem Lager auf dem rechten Flußufer untergebracht. Die Eisenbahn beförderte sie später nach Samarra, und von dort marschierten sie nach Ras-el-Ain. In elenden Schuppen und kleinen weißen Zelten lagen da Tausende von Sikhs, Gurkhas, Patanen und andern Repräsentanten des unglücklichen, unterdrückten indischen Volkes. Ausgemergelt, mager und hungrig wehklagten sie laut über ihr Schicksal. Schon in Kut-el-Amara hatte man sie auf schmale Rationen gesetzt, Maulesel- und Pferdefleisch war ein Leckerbissen gewesen. Satt wurden sie auch jetzt nicht von dem Essen, das sie sich, in verschiedenen Gruppen nach Nationen, Religionen und Kasten geteilt, an ihren kleinen Feuern bereiteten. Ich konnte sie nur mit der Hoffnung trösten, daß in Konia, Angora und andern Teilen Kleinasiens, wohin sie geschafft werden sollten, besser für sie gesorgt würde, als hier auf dem Durchmarsch auch beim besten Willen möglich war. Unter den englischen Soldaten waren, wie gewöhnlich, brillante Typen. General Townshend schien übrigens bei seinen Truppen beliebter zu sein als bei seinen Offizieren.

Rund zwei Drittel der Gefangenen von Kut-el-Amara waren indische Truppen, 9000 Mann! Ein Tropfen im Meer, verglichen mit den Massen farbiger Menschen, die England in Europa, Asien und Afrika auf die Schlachtbank geführt hat, um der deutschen Kultur ein Ende zu bereiten. Man kann sich denken, mit welchem Ingrimm sich diese unschuldigen Opfer nun von ihrer Heimat abgeschnitten sahen! Als sie zu Schiff nach Basra gebracht wurden, wußten sie weder weshalb, noch gegen wen sie in dem fremden Lande kämpfen sollten. Einige wagten vor Furcht auf meine Fragen gar nicht zu antworten. Andere meinten, sie hätten nichts von einer Bedrohung Indiens gemerkt. Einer [S. 208] von ihnen berief sich auf die Versicherungen englischer Offiziere, daß Deutschland der Feind der gesamten Menschheit sei. Nach dem Fall von Kut-el-Amara behaupteten die englischen Zeitungen, mehr als 4000 Mann hätten dort überhaupt nicht gestanden. Die Farbigen waren also keine Menschen, lediglich Kanonenfutter, und brauchten in der englischen Presse nicht als Verlust gebucht zu werden!

Die Moschee Abdel Kader in Bagdad.

Unter den indischen Truppen befanden sich mehrere mohammedanische Regimenter. Es war zweifellos ein Wagestück, sie gegen Bagdad zu führen, das im ganzen mohammedanischen Indien als eine der vornehmsten Städte der Welt gilt. In Bagdad steht auch eine Moschee, ein Heiligengrab, Abdel Kader genannt, das die Nachfolger des Propheten in Hindostan in großen Ehren halten. Ich besuchte dieses Heiligtum und erhielt von seinem Nakib oder Oberpriester, Abdurrahman Gilani, einem dicken, behäbigen achtzigjährigen Greise, Aufschluß über die Bedeutung des Platzes. Seine Würde, erzählte er mir, sei erblich, und die sechs Priester, die ihn bei meinem Besuch umgaben, seien seine Brüder. Er hatte zwölf Söhne, alle verheiratet und Väter vieler Kinder. Sie waren Sunniten von arabischer Abstammung und Seïden oder Abkömmlinge des Propheten, also Glieder in der Kette einer priesterlichen Dynastie und, wie die Moschee selbst, mächtig reich. Denn die indischen Pilger kommen nach Abdel Kader nicht mit leeren Händen. Außerdem machte der älteste Sohn, der zukünftige Nakib, jährlich Reisen zu den indischen Mohammedanern, um Gaben für die Grabmoschee und ihre Priester zu sammeln. Die Moschee umgaben zahlreiche Häuser mit Unterkunftsräumen für die indischen Pilger; jetzt waren sie alle dem Roten Halbmond überlassen. Als Ende November 1915 die Engländer über den Dijala gingen und gegen Bagdad vorrückten, sollen zwei mohammedanische Regimenter gemeutert haben, da sie die Stadt, die Abdel Kaders Grab einschloß, nicht angreifen wollten. Dieses Ereignis scheint den englischen Rückzug beschleunigt zu haben.

*
* *

Siegesstimmung erfüllte Bagdad, als ich dort weilte. Jetzt, da ich dies schreibe, kaum ein Jahr später, erklingen wieder Jubelrufe in der Kalifenstadt, aber nicht mehr der Osmanen, sondern der Briten.

[S. 209]

Das englische Ansehen im Orient hatte durch den Fall von Kut-el-Amara einen schweren Stoß erlitten. Was sollten die Völker Indiens und Ägyptens, was Araber, Perser und Afghanen von einer europäischen Großmacht denken, die nicht einmal Asiaten standhalten konnte? Also galt es, jedes Opfer zu bringen, um den Schimpf jener Niederlage wieder abzuwaschen. Es ging um Englands Ehre und Ansehen im Orient, um die Zukunft der britischen Herrschaft auf asiatischem Boden.

Anfang des Jahres 1917 meldete der Telegraph wiederholt, daß die Engländer durch das Irak wieder mit bedeutenden Kräften vordrängen, und am 25. Februar brachten alle Zeitungen der Welt ein Telegramm aus Konstantinopel, Kut-el-Amara sei von ihnen wiedererobert.

Am 6. März hatte englische Kavallerie Ktesiphon passiert und stand 6 englische Meilen südöstlich vom Nebenfluß Dijala. Offenbar ging der englische Oberbefehlshaber auf nichts Geringeres aus, als auf die Eroberung Bagdads. Schon am 11. März kam auch aus London die lakonische Mitteilung, Bagdad ist gefallen. Ihr folgte eine amtliche Meldung, in der es hieß:

„Unsern Truppen, die den Fluß Dijala entlang mit dem Feinde Fühlung hielten, gelang es trotz Mondscheins in der Nacht zum 8. ds. Mts., überraschend den Dijala zu überschreiten und sich auf dem rechten Ufer dieses Flusses festzusetzen. Nachdem über den Tigris, unterhalb seines Zusammenflusses mit dem Dijala, eine Brücke geschlagen war, setzte eine starke englische Abteilung auf das rechte Ufer hinüber und stieß mit dem Feind ungefähr 9 Kilometer südwestlich von Bagdad zusammen. Die Türken wurden aus ihrer Stellung in eine zweite, 3 Kilometer dahinter gelegene, gedrängt und am 9. auch aus dieser vertrieben. Unsere Truppen lagerten auf dem gewonnenen Gelände. Der Vorstoß wurde am 10. März trotz furchtbaren orkanartigen Sandsturms zu Ende geführt und die Türken bis 5 Kilometer vor Bagdad zurückgeworfen. — Soeben telegraphiert nun der Oberbefehlshaber in Mesopotamien, daß Bagdad am 11. März frühmorgens von den englischen Truppen genommen wurde.“

Ohne Zweifel war die Expedition von General Maude gut vorbereitet; die Engländer wollten den Völkern des Orients zeigen, daß sie den Türken nicht nachständen. Die Londoner Presse schwelgte in [S. 210] ungeheurem Jubel, als könne der Ausgang des Weltkrieges nun nicht länger zweifelhaft sein: „Der Sieg vernichtet den deutschen Traum Berlin-Bagdad und macht Deutschlands hochfliegenden Plänen im Orient ein Ende. Dieses Ereignis hat die größte Seifenblase des Pangermanismus zum Platzen gebracht und eine an den Grenzen des indischen Reiches beständig drohende Gefahr entfernt.“

Weder Deutschland noch die Türkei haben jemals Absichten auf Indien gehabt. Welche Gefahr diesem am ersten droht, darüber könnte General Kuropatkin, der Erbe von Skobelews Invasionsplan, merkwürdige Dinge erzählen. Außerdem wird das Schicksal der Türkei oder auch nur Mesopotamiens nicht in Bagdad entschieden, sondern allein an der Westfront.

Aber die Freude der Engländer ist nur zu verständlich. Der Krieg ruiniert sie, und sie brauchten eine Ermunterung. Bagdad, Dar-es-Salaam, das Heim des Friedens, war bisher die einzige Stadt, die sie während des Weltkrieges erobern konnten, abgesehen von einigen kaum verteidigten afrikanischen Nestern. Die Zukunft wird zeigen, wie lange sie sich in der Residenz Mansurs werden halten können.

[S. 211]

Unsere beiden Gendarmen (rechts).

Vierzehntes Kapitel.
Meine Fahrt nach Babylon.

A m 15. Mai wurde ich bei Tagesanbruch geweckt, kleidete mich in aller Eile an und eilte zum Kai hinunter, wo bereits ein Belem auf Herzog Adolf Friedrich, Rittmeister Schölvinck und mich wartete.

Unser Reiseziel war Babylon. Die deutschen Ordonnanzen des Herzogs, sein Kammerdiener und sein Koch, beide Neger aus Togo, dessen Gouverneur der Herzog bei Kriegsausbruch war, sowie mein arabischer „Silberdiener“, wie Schölvinck Sale nannte, waren mit dem Gepäck vorausgefahren. Wir hätten den ganzen Weg im Kerbelawagen zurücklegen können, zogen es aber vor, die Feldbahn nach Risvanije zu benutzen und von dort aus auf dem Euphrat zu fahren.

Es war ein herrlicher Morgen. Die Luft war lau, am Himmel segelte nur hier und da ein Wölkchen. Wie ein Ball weißglühenden Eisens stieg die Sonne empor, von den Gebetsrufern der Minarette begrüßt, und vergoldete die Balkone und Palmen auf dem rechten Ufer.

[S. 212]

Das Boot landete an dem Kai, wo die Feldbahn beginnt. Eine Draisine stand bereit, und bald rollten wir durch die stille Wüste, als eben die Eidechsen, Heuschrecken, Käfer und andere Insekten ihr Tagewerk begannen. Heute ging es schneller als das vorige Mal: in drei Stunden waren wir am Ziel.

Mein alter Schahtur lag noch an seinem Platz. Doch brauchten wir ihn nicht. Der Herzog hatte die große Fähre „Emden“ instand setzen lassen, und sie hatte sich, seitdem ich in ihrer Gesellschaft den Euphrat hinabgefahren war, sehr angenehm verändert. Mittschiffs erhob sich ein Deck mit Bänken, Tischen und Feldstühlen; darüber war auf senkrechten Stangen ein Zeltdach gespannt. An den Seiten stand unser Gepäck aufgeschichtet, und hinten residierte der schwarze Koch mit seinem Petroleumofen und seinen Proviantkisten. Die Besatzung bestand aus acht Arabern und einer Eskorte von zwei bis an die Zähne bewaffneten Gendarmen. Der Flußweg bis Babylon galt nicht für sicher, besonders in diesen unruhigen Zeiten, die jetzt auch in der Provinz Irak herrschten. Auch der Herzog hatte als geschickter Jäger und Schütze seine und seiner Soldaten Waffen in Bereitschaft.

Die Fähre stieß vom Land und wurde sogleich von der gewaltigen Strömung fortgeführt. Wir saßen auf bequemen Stühlen unter dem Sonnendach mit freier Aussicht flußabwärts, zogen unsere Jacken aus, zündeten die Zigaretten an und genossen die Fahrt in vollen Zügen. In Gedanken aber war ich den ganzen Tag in meinem lieben, alten Heim zu Stockholm, wo mein ehrwürdiger Vater heute sein neunzigstes Lebensjahr vollendete.

Schon vor 12 Uhr betrug die Temperatur im Schatten 36 Grad. Die Hitze wurde aber etwas gemildert durch den Nordwind, der uns zuweilen nach dem rechten Ufer hinübertrieb und uns zwang, die Fähre ziehen zu lassen. Doch ließ er bald nach, und es gab eine herrliche Fahrt an Jublatije und den weiten Weizenfeldern von M’Gessab vorüber.

Die Fähre „Emden“.
Die beiden Neger des Herzogs, rechts Sale.

Auf dem rechten Ufer erhebt sich die Grabkapelle El-Fasl, und von vereinzelten Palmen geschmückt liegt im Sonnenbrand das Dorf El-Batsch. Am Uferrand knarren die üblichen Wasserwerke mit ihren unermüdlichen Ledersäcken. Auf der Steppe zu beiden Seiten hüten die Nomaden ihre Schafe und Ziegen; hier und da hat ein wandernder [S. 215] Stamm seine schwarzen, immer gleich malerischen Zelte aufgeschlagen. Bei dem Dorf Nahrlatefije auf dem linken Ufer weiden zahlreiche Pferde, Esel und Zebuochsen. Bei El-chidr-lias ruht ein Heiliger unter einer weißen, von Palmen beschatteten Grabkuppel. In dieser Gegend zeigen sich am Ufer seichte Seen, die Chor genannt werden. Zuweilen sieht man Fischereigeräte derselben Art, wie an den Ufern des Tarim in Ost-Turkestan.

Um 1 Uhr zeigt das Thermometer 37 Grad, und der Wind hat aufgehört. Das Flußwasser hat eine Temperatur von 24,1 Grad. Der Himmel ist türkisblau und völlig klar, nur eine einzige kleine Wolke schwebt über der Wüste, über der die Luft wie Dampf über einer bratenden Pfanne zittert.

Zu Beginn der Fahrt machte der Euphrat scharfe Windungen. Jetzt geht er geradeaus und ist zuweilen nach Südosten offen wie eine Meeresbucht. Bäume und Palmen werden selten, das Land ist kahl und flach. Aber häufig zeigen sich die prismatischen Strohdächer der Lehmhütten, in denen Nomaden und Bauern wohnen.

Gegen Abend wird es herrlich, trotzdem wir noch um 5 Uhr über 36 Grad haben. Aber die Sonne ist etwas bedeckt, und ein leichter Nordwind beschleunigt unsere Fahrt nach Südsüdosten.

Wir hielten uns in der Mitte des Stroms, der hier gegen 800 Meter breit und 5–6 Meter tief ist. Da erschien nicht weit vor uns das Dorf Soba, und wir sahen etwa zehn Araber am Ufer stehen. Sie waren mit Gewehren bewaffnet, und als wir uns näherten, nahmen sie eine drohende Haltung ein; einige hockten in Schußstellung und brachten auf einer kleinen Brustwehr ihre Gewehre in Anschlag, andere standen schußbereit da und forderten uns in befehlendem Tone auf zu landen.

Der eine von unseren beiden Gendarmen legte eilig sein Gewehr über die Reling, und der Herzog lud kaltblütig seine Büchse. Die Lage war etwas kritisch, und wir warteten natürlich mit einiger Spannung, wer wohl zuerst schießen werde. Unterdes trieb die Fähre mit der Strömung ruhig weiter; wir waren schon den kriegerischen Arabern gerade gegenüber, ohne daß etwas geschah, und entfernten uns schon wieder langsam von ihnen. Da gaben sie plötzlich ihre drohende Haltung [S. 216] auf, bildeten eine Gruppe und unterhielten sich lebhaft. Einer von ihnen, wahrscheinlich der Führer, rief uns, wohl um ihr Benehmen zu entschuldigen, zu: „Wir wußten nicht, daß ihr Deutsche an Bord hattet.“ Jedenfalls hatten sie uns, wie unsere Begleiter meinten, für Kaufleute gehalten, die mit Waren stromabwärts reisten und, wenn sie sich hätten einschüchtern lassen zu landen, in aller Ruhe geplündert worden wären.

So nahm unser kleines Abenteuer einen harmlosen Verlauf, und wir fuhren weiter, saßen wieder behaglich unter unserm Zeltdach, tranken Rotwein mit Wasser aus irdenen, in feuchte Tücher gehüllten Töpfen und freuten uns der eigenartigen Landschaft, die so flach ist wie ein zugefrorener See, und in die nur Zelte, Palmen und weidende Tiere einige Abwechslung bringen. Die Posthalterei Matardas sah aus der Ferne wie eine Festung aus, in der Nähe schrumpfte sie zur Unbedeutendheit zusammen.

Phot.: Schölvinck.
Der Herzog an Bord.

Hinter der Insel Dschenabijin wird der Strom von leichten Vegetationsgürteln eingefaßt. Links überwiegen Laubbäume, rechts Palmen, dazwischen erscheinen Gehöfte, Dörfer und Äcker; die Gegend ist wieder belebter, und die Wüste verschwindet. Um ½6 Uhr haben wir nur 34,8 Grad Wärme, und man fühlt sich schon behaglicher.

Museyib.
(Linkes Ufer.)
Neugierige am Landungsplatz.

[S. 219]

Der Strom wird schmäler, und vor uns liegt auf beiden Ufern die Stadt Museyib. Die Häuser tragen wie in Bagdad Galerien, Balkone und Erker; doch ist am Ufer ein Fußsteig freigelassen, auf dem viele Araber umhergehen.

Die Fähre steuerte nach dem linken Ufer hinüber. Aber als wir anlegen wollten, rieten uns die Leute am Strande, nach rechts hinüberzufahren, wo die Behörden ihren Sitz hätten. Man merkte ihnen an, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war; in mehreren langen, schmalen Booten wurden fünfzehn verwundete türkische Soldaten über den Strom nach einem Krankenhaus gerudert.

Auf dem rechten Ufer lagerten türkische Truppen, und bald standen wir vor dem großen, malerischen Haus, in dessen erstem Geschoß der Mutessarrif oder Gouverneur von Museyib sein Amtszimmer hatte. Im Erdgeschoß befand sich ein Café, gedrängt voll von Türken und Arabern, und es wimmelte von Turbanen, Fessen und arabischen Kopftüchern. Ein Derwisch ohne Kopfbedeckung, aber mit einem aufrechtstehenden Haarbüschel, in der Hand eine Art Karnevalspritsche, erheiterte seine Zuhörerschar durch Possen.

Sogleich sammelten sich Neugierige um uns. Die Gendarmen, die am Tor Wache hielten, zeigten uns den Weg die halsbrecherische Treppe hinauf. Man führte uns durch ein mit Teppichen belegtes, verfallenes Zimmer auf eine große Veranda mit prächtiger Aussicht auf den Strom. Hier saß der Mutessarrif, umgeben von Offizieren und Zivilisten, auf einem großen Sofa bei der Arbeit.

Der Gouverneur grüßte uns höflich und bot uns seine Dienste an. Die Unruhe in Museyib war durch einen Aufruhr in Kerbela verursacht worden, von dem wir bereits in Bagdad allerhand hatten munkeln hören. Leicht war es auch hier nicht, Genaueres darüber zu erfahren. Angeblich hatten die Schiiten in Kerbela die türkische Garnison angegriffen und mehrere Offiziere erschossen, worauf die Türken die Stadt metertief unter Wasser setzten. Die Araber der Gegend hatten die Unordnung benutzt, um die Grabmoschee Imam Husseins zu plündern, die außerordentlich reich an Schätzen und kostbaren Geschenken ist. Die Truppen, die wir am Flußufer gesehen, hatten sich wegen der Überschwemmung zurückziehen müssen. Doch schien der Aufruhr inzwischen niedergeschlagen zu sein; wir hörten auch später nichts mehr davon.

[S. 220]

Bis zum Dorf Sedde, versicherte uns der Gouverneur, seien wir völlig sicher. Aber unterhalb dieses Punktes müßten wir auf der Hut sein, denn zwei hier hausende Araberstämme, Beni Hassan und El-Fethla, lägen miteinander im Kriege. Der Ingenieur Nahat Bei in Sedde, an den er uns einige Zeilen mitgab, würde uns weitere Aufklärung geben.

Es war 6 Uhr, und die Sonne ging gerade unter, als unsere „Emden“ wieder vom Ufer abstieß. Ein neuer Lotse fuhr mit, der das Fahrwasser besser kannte, als die Besatzung aus Risvanije. Die Dämmerung sank hernieder. Die Einzelheiten an den Ufern verschwammen und flossen zu dunklen Umrissen zusammen. Der Wind hatte ganz aufgehört; ½8 Uhr zeigte das Thermometer nur 27 Grad.

Bald umgab uns völlige Dunkelheit. Vor uns ertönte ein zunehmendes Brausen wie von einem Wasserfall. Der Lotse erklärte, das sei die Strömung unter der Brücke von Sedde. Hier sei ein gefährlicher Strudel. Sobald das Brausen ganz nahe kam, mußten einige Leute unserer Besatzung ans Land springen, um an einem Seil die Fähre zu bremsen, falls sie in den Strudel hineingeriet. Doch glitten wir ganz ruhig nach der Brücke hin, die sechs kleine Wölbungen und eine breitere siebente für Segelboote hat, und während wir Nahat Bei unsern Empfehlungsbrief sandten, wurde die „Emden“ durch die Brücke bugsiert und vertäut.

Bei der Brücke von Sedde teilt sich der Strom in zwei Betten, links das alte des Schatt-el-Hille, rechts das neue des Hindije. Die ganze Wassermasse hat eine Neigung nach rechts und würde das alte Bett völlig aufgeben, wenn nicht Dämme einen Teil des Wassers zwängen, nach dem Schatt-el-Hille hinüberzugehen. Oberhalb Sedde hat ein anderer Arm sich vom Flusse abgezweigt, der Husseinije-Kanal, der südwestlich nach Kerbela geht.

Von Nahat Bei, der sich in größerer Gesellschaft einfand, erfuhr ich, der Hauptstrom habe bei höchstem Wasserstand 3000 Kubikmeter, der Hille-Arm aber nur 90. Der letztere sei bei Beginn 30, der erstere 300 Meter breit.

Landschaft auf dem rechten Euphratufer.

Leider konnte ich mir, da es Nacht war, von diesem interessanten Punkt keinen klaren Begriff machen. Sir William Willcocks, der im Dienst der türkischen Regierung die Messungs- und Untersuchungsarbeiten [S. 222] zur regelrechten Bewässerung des untern Mesopotamiens übernommen hatte, erklärte 1909, schon die ersten Arbeiten müßten 1200000 Hektar Land bewässern und einen Ertrag von 1000000 Tonnen Weizen und 100000 Tonnen Baumwolle bringen. Im Jahre 1912 sagte er, das Wichtigste seien die Dämme bei Feludscha und Hindije (Sedde), sowie die Trockenlegung von überschwemmtem Gebiet und die damit zusammenhängende Kanalisierung. Das Land gegen Überschwemmung zu schützen und das Wasser möglichst vom Schlamm zu reinigen, seien schwierige, doch keineswegs unüberwindliche Aufgaben. Euphrat und Tigris führen zur Hochwasserzeit fünfmal soviel Schlamm mit sich wie der Nil. Infolge der jährlichen Überschwemmungen häufen sich die Ablagerungen an den Ufern. Der Vegetationsgürtel mit seinen Abfällen und seinen Wurzeln trägt ebenfalls dazu bei, die Uferstreifen zu erhöhen, so daß die Wasserfläche bei Hochwasser höher liegt als die angrenzende Steppe. Der Uferdamm wird auch von Zeit zu Zeit durchbrochen, so bei Sedde, wo die Hauptmasse des Euphrat sich in den Hindije-Arm hineinzwängt. So hat der Strom im Lauf der Jahrtausende mehrfach sein Bett geändert; die modernen Ausgrabungen können das hier und da im Einzelnen nachweisen.

Schatt-el-Hille.

[S. 223]

Der Hindije-Arm geht fast geradeaus nach Süden bis Kufa in der Nähe von Nedschef oder Mesched-Ali, dem vornehmsten Wallfahrtsort der Schiiten nächst Kerbela oder Mesched-Hussein. Dann biegt der Strom nach Südosten ab, nimmt wohl den Überschuß auf, der vom Schatt-el-Hille kommen kann, und vereint sich mit dem Tigris — nicht wie früher während eines halben Jahrtausends bei Korna, sondern bei Garmet Ali in der Nähe von Basra.

Bahije, 18jährige Araberin aus Hille.

Sehr anfechtbar scheint mir Willcocks, wenn er (im „Geographical Journal“ 1910 und 1912) drei von den Flüssen Edens in Kanälen und Armen des Euphrat wiederfinden will. Nur an dem vierten, dem „Frat“ der Genesis, kann er nicht rütteln. Auch ist es keineswegs so sicher, daß der im Altertum bekannte Pallakopas der jetzige Hindije-Arm sei, denn jener begann weit unterhalb Babylons, während dieser von Sedde ausgeht. Strabo sagt freilich nach Aristobulus, Alexander der Große sei flußaufwärts gefahren, als er die Kanäle bei Babylon untersuchte, aber nach Arrian ruderte er zur Mündung des Pallakopas euphratabwärts. Der Name wird auch Pallakotta geschrieben, auf babylonisch Pallakut. Nach Eduard Meyer lebt dieser Name fort in Fellûga (Felludscha).

Alexanders Fahrt fand kurz vor seinem Tode statt, und ihre Schilderung bei Arrian ist von großem Interesse. In gedrängter Kürze enthält [S. 224] sie eine vortreffliche Beschreibung vom Euphrat und dem Verhältnis des Hauptstroms zu den Kanälen. Außerdem zeigt sie auch den Scharfsinn Alexanders im hellsten Licht:

„Während die Dreiruderer für Alexander gebaut und der Hafen bei Babylon ausgegraben wurden, machte er eine Fahrt von Babylon aus den Euphrat hinunter nach dem Flusse Pallakopas. Dieser ist von Babylon ungefähr 800 Stadien (20 Stunden) entfernt und kein aus Quellen entspringender Fluß, sondern ein vom Euphrat auf der Westseite abgeleiteter Kanal. Der Euphrat, der vom armenischen Gebirge herabkommt, fließt nämlich zur Winterszeit, wenn er wenig Wasser hat, in seinem Bett. Bei Frühlingsanfang aber und namentlich gegen die Sommersonnenwende schwillt er an und ergießt sich über seine Ufer hinweg in die Fluren Assyriens. Denn dann vermehrt die Schneeschmelze in den armenischen Gebirgen seine Wassermasse bedeutend, und da er ein flaches Bett und einen hohen Lauf hat, so überschwemmt er das Land, wenn man ihm nicht einen Ablauf verschafft und ihn durch den Pallakopas in die Teiche und Sümpfe leitet, die von diesem Kanal aus beginnen und bis an die Grenzen des Araberlandes reichen ... Nach der Schneeschmelze, ungefähr zur Zeit des Niedergangs der Plejaden, hat der Euphrat einen niedrigen Wasserstand, gibt aber nichtsdestoweniger den größten Teil seines Wassers durch den Pallakopas an die Sümpfe ab. Wenn man nun nicht wieder den Pallakopas abdämmte, so daß das Wasser, in die Ufer zurückgedrängt, in seinem Bett bliebe, würde sich der Euphrat unfehlbar in den Pallakopas ergießen und Assyrien nicht mehr bewässern.“

Arrian berichtet dann noch, wie leicht man das Euphratwasser in den Pallakopas-Arm hineinleiten konnte, während der Statthalter von Babylonien große Mühe hatte, die zwischen zahllosen Schlammablagerungen geöffnete Mündung wieder zu verstopfen. 10000 Assyrer fanden dabei volle Beschäftigung. „Berichte hiervon bestimmten Alexander, etwas zum Nutzen des assyrischen Landes zu tun. Deshalb beschloß er, da, wo sich der Lauf des Euphrat dem Pallakopas zuwendet, den Ausfluß fest zu verstopfen. Als er aber ungefähr 30 Stadien weiterging, zeigte sich Felsengrund, von dem man annehmen mußte, daß er, durchstochen und mit dem alten Kanal des Pallakopas in Verbindung [S. 226] gebracht, einerseits das Wasser dank der Festigkeit des Erdreichs nicht durchsickern, andererseits seine Zurückdrängung zur bestimmten Jahreszeit leicht bewerkstelligen lassen würde. Deshalb befuhr er den Pallakopas und ruderte auf ihm in die Sümpfe hinab bis zum Lande der Araber. Als er hier einen schöngelegenen Punkt sah, baute und befestigte er dort eine Stadt und besiedelte sie mit einer Anzahl griechischer Söldlinge, die sich teils freiwillig anboten, teils durch Alter oder Verstümmelung nicht mehr dienstfähig waren.“

Rast am Ufer des Schatt-el-Hille.

Alexander war sehr vergnügt, fügt Arrian hinzu, denn die Prophezeiung der Chaldäer von einem Unglück, das ihm in Babylonien zustoßen werde, war nicht eingetroffen. Als er aber auf der Rückfahrt seinen Dreiruderer mit eigener Hand durch die Sümpfe lenkte, entführte ihm ein heftiger Windstoß seine Kopfbedeckung und die darumgewundene Stirnbinde. Diese blieb im Schilf auf einem der alten assyrischen Königsgräber hängen — schon ein bedenkliches Vorzeichen. Einer seiner Begleiter stürzte sich ins Wasser und holte schwimmend die Binde des Königs zurück; damit sie nicht naß wurde, wand er sie um seinen eigenen Kopf. Alexander schenkte ihm dafür zur Belohnung ein Talent, befahl aber zugleich, ihn zu köpfen, denn wer sein Königsdiadem getragen, müsse sterben. Nach andern Gewährsmännern blieb der Schwimmer am Leben und war niemand anders als Seleucus. Der Vorfall wurde von vielen dahin gedeutet, daß Alexander am Schlusse seiner Laufbahn stehe und Seleucus sein Nachfolger sein werde, was ja auch in gewissem Sinne zutraf. —

Doch zurück in die Gegenwart! Um 10 Uhr waren wir wieder an Bord und fuhren auf dem alten Euphrat weiter. Der Schatt-el-Hille läuft hier so gerade wie ein Kanal und ist nur etwa 170 Meter breit. Selten sah man Menschen oder Feuer an den Ufern. Die Stille wurde nur ab und zu von Hundegebell unterbrochen oder vom Klatschen der Ruder, wenn wir einem Ufer zu nahe kamen. Die Stimmung war zauberhaft, in herrlichem Mondschein glitten wir dahin.

Palmenwald auf dem rechten Ufer des Schatt-el-Hille.

Als wir um 5 Uhr erwachten, waren die Ufer des Schatt-el-Hille mit zahlreichen Palmen geschmückt, die ihre dunkelgrünen Federn im Wasser spiegelten. Die Fähre bewegt sich nur langsam vorwärts, denn dieser Arm des Euphrat hat geringe Strömung. Eine feierliche [S. 228] Stimmung weht uns aus den dunkeln Säulenhallen der Palmen entgegen. Ihre Wurzeln saugen ja ihre Kraft aus den Gräbern Babylons, und eine Fülle großer Erinnerungen aus Tausenden von Jahren strömt auf uns ein. In ehrfürchtigem Schweigen fahren wir ihnen entgegen.

Auf dem linken Ufer erhebt sich jetzt über die Palmen hinweg eine scharf abgegrenzte plateauförmige Anhöhe. Das ist Babil, ein Name, der noch heute von den Arabern gebraucht wird, ein Name, der 5 bis 6000 Jahre alt ist. Wohl ist die Anhöhe nur ein Haufen Trümmer, unter denen der Sommerpalast Nebukadnezars ausgegraben ist. Aber doch steht sie da wie eine Klippe im Meer, über dessen Fläche verheerende Stürme dahingegangen sind.

Noch eine schwache Biegung, und in einem Wald von Palmen zeigen sich die graugelben Lehmhäuser des Dorfes Kweiresch. Die Landschaft ist herrlich und übertrifft alles, was der Euphrat bisher an reizvollen Uferbildern geboten hat. Auch hier knarren die Wasserräder ihre einförmigen Melodien. Graue Büffel nehmen ihr Morgenbad im Moor am Ufer und wühlen sich in den Schlamm hinein, bis nur Nase und Hörnerspitzen über dem Wasser zu sehen sind.

Nahe bei Kweiresch erheben sich runde Schutthaufen — hier beginnt das Trümmerfeld des alten Babylon.

Phot.: Deutsche Orient-Gesellschaft.
Das Expeditionshaus der Deutschen in Babylon.

[S. 229]

Aus dem dichten Grün tritt ein ungewöhnlich großes, gutgebautes Haus hervor mit zwei Stockwerken. Wachen stehen vor dem Tor. In seiner Nähe landen wir, und an grauen Gartenmauern vorüber führt uns ein Weg hinauf. Zwei Herren in weißer europäischer Kleidung eilen uns entgegen und heißen uns herzlichst willkommen. Der eine von ihnen, ein älterer Mann mit energischen Zügen, mustert uns mit durchdringenden Blicken unter buschigen Augenbrauen. Sein Name ist weltberühmt. Es ist Professor Robert Koldewey, der gelehrte deutsche Assyriologe. Seit zwölf Jahren ist er hier am Werke, die alten Burgen und Paläste von Babylon auszugraben und diese alte Welt aus ihrem langen Schlummer zu wecken. Unterstützt von einem wechselnden Stab junger Archäologen hat er sich wie kein anderer in diese Vergangenheit hineingearbeitet, und Babylon ist die große Liebe seines Lebens geworden. Sein Begleiter ist der Assistent Dr. Buddensieg. Beide Herren tragen nicht wie wir Tropenhelme, sondern schwarze Schaffellmützen, und der Professor mit seinem dichten, graugesprenkelten Bart gleicht so den Gestalten, die man auf den assyrischen Reliefs abgebildet findet.

Hofinneres des Deutschen Hauses.

Es mag überraschen, daß die deutschen Gelehrten während des Weltkriegs auf ihrem Posten geblieben sind. Aber von Gefahren sind sie ja stets umgeben. Ihre Nachbarn, die Araber, sind nichts weniger als zuverlässig, und nicht selten schwirren Gewehrkugeln durch die Fenster oder pfeifen diesen Männern der Wissenschaft um die Ohren, wenn sie draußen auf dem Felde arbeiten. Der Krieg im Irak hatte die Stellung der Deutschen natürlich noch unsicherer gemacht, [S. 230] besonders seitdem die Engländer ihre Operationen gegen Bagdad begonnen hatten.

Aber gerade der Gefahren wegen, die den Früchten der deutschen Arbeit und den großen Sammlungen drohten, ist Koldewey geblieben, obgleich die Ausgrabungen einstweilen nicht fortgesetzt werden. Nur einmal mußten er und Buddensieg Babylon verlassen, als die britische Armee den Dijala überschritt und nur einige Kilometer von Bagdad entfernt stand. Um der Gefangenschaft zu entgehen, flüchteten sie nach Aleppo. Sie kehrten jedoch bald zurück und fanden ihr Haus geplündert, aber nicht von den Engländern, sondern von den benachbarten Arabern. Diese hatten alles mitgenommen, was für sie von Wert war, Proviant, Geschirr, Porzellan, Kochgefäße, Tischzeug und anderes. Der Verlust, den die Deutsche Orient-Gesellschaft dadurch erlitt, betrug etwa 6000 Mark. Aber Koldewey nahm die Sache mit Humor und erzählte mir lachend, die Araberfrauen in Kweiresch stolzierten jetzt in nagelneuen weißen Kleidern umher, die aus deutschen — Bett- und Tischtüchern geschneidert seien. Die kostbaren Sammlungen, mit denen die Araber nichts anzufangen wissen, hatten die Diebe unberührt gelassen.

Koldewey führte uns im Schatten der Palmen nach dem deutschen Expeditionshaus, dessen starkes Tor für den Fall einer Belagerung mit Riegeln, Balken und Eisenstangen verrammelt werden kann wie in einer Festung. Es geht nach Norden; einen andern Eingang gibt es nicht. Man gelangt zunächst in einen kurzen Korridor, an dessen Seiten die Wachräume liegen; von hier aus führen Treppen nach dem Haus der Gäste, wo auch wir einquartiert werden. Von einer zweistöckigen Galerie gelangt man in die Zimmer. Alle Fenster haben Gitternetze von feinstem Stahldraht, um Fliegen und Mücken fernzuhalten. Gegen Sandfliegen und Moskitos bieten sie freilich keinen Schutz. Aber diese schlimmsten Plagegeister der Gegend beginnen ihre Tätigkeit erst abends, wenn man nicht zu Hause ist. Den Boden bedecken Strohmatten; die übrige Einrichtung besteht aus einem gewaltigen Topf mit frischem Wasser und einem kleineren mit Trinkwasser. Eine dritte Treppe geht auf das Dach; hier steht eine Reihe primitiv gezimmerter Betten, die wir jedoch nicht benutzten, da wir unsere eigenen mitgebracht hatten.

Phot.: Schölvinck.
Blick vom Haus der deutschen Archäologen auf die Ruinenhügel von Babylon.

[S. 232]

Von dem mit einer Brustwehr versehenen Dach hat man über die Kronen der größten Palmen hinweg eine großartige Aussicht. Im Süden und Südsüdwesten breitet sich in unmittelbarer Nähe, in Gärten gebettet, das Dorf Kweiresch aus. Im Nordnordosten erhebt sich in einer Entfernung von 2½ Kilometer der Hügel Babil, im Osten ganz nahe der Hügel Kasr, und im Südsüdosten, 1400 Meter entfernt, der Hügel Amran. Zwischen Kasr und Amran, ja, man kann sagen, zwischen Babil und einem Punkt 1 Kilometer südlich von Amran ist das ganze Gelände voller Ruinen, die sich auch 4 Kilometer nach Osten erstrecken, wenn man alles mitrechnet, was innerhalb der alten Stadtmauer liegt. Zwischen dem deutschen Hause und dem Ausgrabungsfeld läuft die breite Landstraße nach Hille.

Auf dem rechten Ufer des Schatt-el-Hille sieht man die kleinen Araberdörfer Anane und Sindschar mit ihren Gärten und vor allem zahllose Palmen, die zu einem einzigen Beet üppigen Grüns verschmelzen. Durch die Mitte zieht der Fluß einen blitzenden, schwachgebogenen Strich, und im Osten breitet sich in der Ferne die große Wüste, die am Tage so glühend heiß ist, daß nur Araber barfuß über ihren Lehm und Sand gehen können.

Wir steigen wieder hinab nach dem Gewölbe, wo die Gendarmen sich aufhalten, und betreten den ersten Hof, wo einige Reitpferde stehen und Diener ihre Arbeit verrichten. Dort liegen Schienen und Schwellen für eine Feldbahn, die unter normalen Verhältnissen die Verbindung zwischen dem Trümmerfeld und der Station herstellt und während der Grabungen Schutt fortschafft.

Ein gewölbter Gang, an den Küche und Dienerzimmer stoßen, führt in den innern Hof. Unter einem vorspringenden Dach linker Hand stehen Hunderte von Kisten aufgetürmt, alle voll von Altertümern, die nach Deutschland geschickt werden sollen. Ringsumher liegen mächtige Fragmente von steinernen Menschengestalten, mit Keilschrift bedeckte Steinplatten, Töpfe, Terrakottalampen, Ziegel und anderes, was noch nicht eingepackt ist.

Den Hof verbindet eine Treppe mit den Arbeitsräumen der Archäologen. Auch hier eine Galerie mit auf Säulen ruhender Decke. An den Seiten stehen Regale und Tische mit kleinen Terrakottafiguren, Öllampen, irdenen Gefäßen, Schalen mit und ohne Ornamentik, Fayencestücke [S. 233] mit Gefäßscherben, kleine Pyramiden, Zylinder und Scheiben aus gebranntem Lehm mit Keilschrift, Knochenwirbel von Menschen und Tieren, quadratische Ziegelsteine mit königlichen Stempeln in verschiedener Form und unzähliges andere. Es ist ein vollständiges Museum, das uns einen Begriff gibt von dem hohen Stand der alten babylonischen Kultur.

Professor Koldewey führt uns dann nach der nächsten Höhe, nach Kasr, wo Nebukadnezars Palast und Tempel standen. Durch einen langsam ansteigenden Hohlweg zwischen Hügeln und Haufen von Schutt, Sand, Staub und Ziegelsteinen gelangen wir bald auf den welligen Gipfel, vorüber an einem gigantischen Basaltlöwen, der von hohem Sockel aus die Verwüstung überblickt. An der Straße der Prozessionen bleiben wir stehen.

Um uns herum die schlafende Stadt, die die Forschung unserer Zeit zu neuem Leben ruft. Von seinen Vorgängern nennt Koldewey: Rich, der im Jahre 1811 eine Reise nach Babylon unternahm, Layard (1850), den Verfasser des Buches „Ninive und Babylon“, Oppert (1852–54) und Rassam (1878–79). So verdienstlich und bahnbrechend die Arbeiten der englischen und französischen Archäologen auch sind, so können sie sich doch an systematischer Genauigkeit und Gründlichkeit nicht mit den deutschen Ausgrabungen messen, die auf Veranlassung der Deutschen Orient-Gesellschaft am 26. März 1899 an der Ostseite von Kasr, nördlich vom Ischtartor, begannen. Koldewey hatte den Platz schon 1887 und 1897 besucht und dabei Stücke emaillierter Ziegelreliefs gesammelt, die der Anlaß zu dem Entschluß wurden, die Hauptstadt des babylonischen Weltreichs auszugraben.

Man arbeitete das Jahr über täglich mit bis zu 250 Arbeitern, die 3–5 Piaster Tagelohn erhielten. Sie drangen auf breiter Front in die Tiefe; Schutt und Erde wurden auf Feldbahnen fortgeschafft. Ziegelmauern kamen zum Vorschein und wurden bloßgelegt. Die Arbeit war ungeheuer schwer, da die Fundstücke mit einer 12, zuweilen 24 Meter tiefen Schicht von Schutt und Bruchstücken überdeckt waren und die Festungsmauern 17–22 Meter dick sind. Als nach fünfzehnjähriger Arbeit die Ausgrabungen durch den Weltkrieg unterbrochen wurden, hatten die deutschen Forscher, wie sie versicherten, erst die Hälfte ihrer Aufgabe gelöst.

[S. 234]

Der Turm zu Babel.

Fünfzehntes Kapitel.
Bibel und Babel.

D ie Funde der deutschen Archäologen lassen erkennen, daß Babylon schon vor fünf Jahrtausenden bewohnt war. Die ältesten ausgegrabenen Ruinen stammen aus der Zeit der ersten babylonischen Könige, etwa 2500 Jahre v. Chr. Seitdem ist der Stadtplan mit seinen Straßen und Häuserblöcken nur geringfügig verändert worden. In der Zeit, da die assyrischen Könige auch über Babylon herrschten, stellten sie den berühmten Tempel Esagila wieder her, der noch heute die gepflasterten Fußböden Assarhaddons und Sardanapals zeigt. Sanherib pflasterte einige Teile der Prozessionsstraße des Gottes Marduk, und auf der Kasrhöhe entdeckte man Spuren von Sargons, Sardanapals und Nabopolassars Tätigkeit. Unter Nebukadnezar begann der Neubau der ganzen Stadt und ihrer Tempel Emach, Esagila, Etemenanki. Damals wurde die steinerne Brücke über den Euphrat gebaut, wurden Kanäle angelegt, Burgen und Paläste errichtet. Auch die gewaltigen Mauermassen des Ischtartors erhoben sich in der Form, in der wir sie jetzt noch sehen.

Aus Naboned, der ebenfalls seinen Namen als Bauherr verewigt hat, folgte das Zeitalter der persischen Könige (538–331), in dem das Stadtbild gewisse Änderungen erfuhr und die Gestalt annahm, die von Herodot und Ktesias der Nachwelt geschildert wurde. Alexander von Mazedonien (331–323) wollte Babylon zu seinem alten Glanz erheben, [S. 235] doch starb er, bevor er sein Vorhaben ausführen konnte. Die griechische Epoche fällt zwischen die Jahre 331 und 139. Mit ihr begann der Verfall. Von den monumentalen Gebäuden wurden Ziegel für Profanbauten geplündert. Ebenso im parthischen Zeitalter (139 v. Chr.–226 n. Chr.). Die Sassaniden beschleunigten den Untergang, und nur die südliche Höhe Amran blieb noch bis ins arabische Zeitalter 1200 n. Chr. bewohnt. Schon 115 n. Chr. fand der römische Kaiser Trajan die Stadt in Trümmern. Doch waren noch später kleine jüdische und christliche Gemeinden vorhanden, bis im zehnten oder elften Jahrhundert etwa 10 Kilometer südlicher Hille am Euphrat entstand und für seine neuen Häuser Ziegel aus Babylons alten Burgen, Mauern und Palästen forderte. Im Gegensatz zu Ninive, über dessen Trümmer Xenophon und die Zehntausend zogen, ohne zu wissen, was sie bedeuteten, ist Babylon wohl niemals ganz vergessen gewesen.

Welch eigenen, mächtigen Klang haben nicht all diese alten Namen in unseren Ohren! Unsern Vorfahren, nur einige Geschlechter zurück, klangen sie meist noch wie vage Begriffe, wie ein phantastisches Gewebe von Sagen und Legenden. Jedem aber, der in der Schule oder daheim die Bibel las, waren sie vertraut. Das ganze hebräische Altertum ist mit Babylonien und Assyrien aufs engste verknüpft. Wir erinnern uns alle aus unserer Kindheit der wunderbaren Welt, die ihre Lebenskraft aus den Zwillingsflüssen schöpfte, denen Sirach das Buch vom Bunde des höchsten Gottes vergleicht, wenn er von dem Gesetz spricht, „daraus die Weisheit geflossen ist wie das Wasser Pison und wie das Wasser Tigris, wenn es übergehet im Lenz; daraus der Verstand geflossen ist wie der Euphrat, wenn er groß ist, und wie der Jordan in der Ernte.“

Nun steigt seit weniger als einem Jahrhundert diese alte Welt aufs neue aus der Erde herauf und bestätigt in Keilschrift auf gebranntem Lehm die Wahrheit der Bibelworte. Der südbabylonische Fundort El-Mugejir, der 1849 von Sir Henry Rawlinson entdeckt wurde, ist nichts anderes als Abrahams Heimat, die Stadt Ur, die im ersten Buch Moses erwähnt wird, wo es von Abraham und seinen Verwandten heißt, daß sie von Ur in Chaldäa zusammen ins Land Kanaan zogen. Im zweiten Buch der Könige wird erzählt, daß „in König [S. 236] Hiskias 14. Jahre Sanherib heraufzog, der König von Assyrien, wider alle festen Städte Judas und sie einnahm. Da sandte Hiskia, der König Judas, zum Könige von Assyrien gen Lachis und ließ ihm sagen: Ich habe mich versündiget, kehre um von mir; was du mir auflegest, will ich tragen. Da legte der König von Assyrien auf Hiskia, dem König Judas, dreihundert Zentner Silber und dreißig Zentner Gold.“ In Sanheribs Palast in Ninive fand man ein in Stein gehauenes Bild des Königs vor seinem Zelt mit einer Unterschrift, die in allem Wesentlichen die Darstellung der Bibel von seinem Streit mit dem König von Juda bestätigt. Was aber die Keilschrift nicht verrät, das sind die goldenen Worte, die der König an den Gedemütigten richtete: „Meinst du, es genügten Flausen allein, um Rat zu schaffen und die Macht zum Kriegführen zu haben?“ In seinem berühmten Buch „Babel und Bibel“ (1903) beweist Professor Delitzsch die Zuverlässigkeit der biblischen Urkunden, und der Geschichtsforscher Eduard Meyer sagt in seiner „Geschichte des Altertums“ (1903): „Für die Zeit von 745 an kommen die vollständig authentischen, aber sehr dürftigen und abgerissenen Angaben im Alten Testament als ein wertvolles Plus zu den griechischen Quellen.“

Niemals habe ich die Bücher des Alten Testaments mit größerer Aufmerksamkeit und wärmerem Interesse gelesen, als in den Tagen, da ich die Ruinen von Babel, Assur und Ninive besuchte. Erzählungen, die früher wie Sagen und Märchen klangen, werden hier zur Wirklichkeit. Könige, deren Namen man bisher nur flüchtig kannte, Tiglat-Pileser, Salmanassar, Sanherib, Nebukadnezar, ziehen nicht länger wie ein Zug von Gespenstern vorüber, sondern nehmen leibhaftige Gestalt an. Einen ähnlichen Eindruck von lebendiger Wirklichkeit hat man vielleicht schon vor den babylonischen und assyrischen Altertümern des Britischen Museums erhalten, vor der gewaltigen Statue des Assurnasirpal mit den vornehmen Herrscherzügen und dem langen, geflochtenen assyrischen Bart, oder vor dem Relief Assurbanipals, des Sardanapal der Griechen; oder wenn man im Königlichen Museum zu Berlin das charakteristische Profil des babylonischen Königs Mardukpaliddin bewunderte, des Merodach-Baladan der Bibel, der auf einem Grenzstein aus dem Jahre 714 einem seiner Vertrauensleute die Statthalterschaft [S. 237] über bestimmte Provinzen verleiht, oder angesichts des prächtigen, im Jahre 670 in Dolerit ausgeführten Reliefs von Assarhaddon von Assyrien, wie er in königlicher Pracht dasteht und zwei Riemen in der Hand hält, an die die gefangenen Könige von Äthiopien und Tyrus gebunden sind.

Aber das Museum einer modernen Stadt wirkt doch weit schwächer als das Land selbst, über dessen endlose Flächen die alten großen Könige geherrscht, unvergleichlich schwächer als die Palastgemächer und Thronsäle, wo sie Recht gesprochen und Vasallen und Gesandte empfangen haben. Hier wohnten sie. Der Strom, in dessen langsam fließendem Wasser Schlösser und Tempel ihre kubischen Formen spiegelten — so meisterhaft von Koldewey und Andrae rekonstruiert, so prachtvoll, aber unwahrscheinlich wiedererweckt von Layard und Gustave Doré — hat ehemals ihre Fahrzeuge getragen, und den Horizont, dessen Kreis so gleichmäßig ist wie der des Meeres und jetzt ein Land verbrannter Steppen und glühend heißer Wüsten umschließt — nicht ein Paradies von Oasen und Gärten, dicht wie die Flecke eines Pantherfells —, diesen Horizont hat auch ihr Blick umfaßt, wenn sie bei Sonnenuntergang auf den Zinnen ihrer Paläste wandelten. Welchen Klang gewinnen erst hier die Worte Daniels über Nebukadnezar: „Als der König einmal auf dem Dache der Königsburg zu Babel ging, hob er an und sprach: Siehe, das ist die große Babel, die ich erbauet habe zum königlichen Hause durch meine große Macht, zu Ehren meiner Herrlichkeit.“

Bereits im zehnten Kapitel der Genesis begegnen uns die uralten Namen Babel und Ninive, Assyrien, Akkad und Sinear, von denen die beiden letzten die Landstriche zwischen dem untern Tigris und dem Euphrat bezeichnen. Dort steht von Nimrod, der anfing, „ein gewaltiger Herr zu sein auf Erden, und war ein gewaltiger Jäger vor dem Herrn“, daß „der Anfang seines Reichs war Babel, Erech, Akkad und Chalne im Lande Sinear. Von dem Lande ist darnach gekommen der Assur und baute Ninive ...“ Und im elften Kapitel wird der Turm zu Babel erwähnt, „des Spitze bis an den Himmel reicht“, und die Stadt, die den Namen Babel erhielt, weil „der Herr daselbst verwirret hatte aller Länder Sprache, und sie zerstreuet von dannen in alle Länder“.

[S. 238]

In der Bibel ist Babel teils der Hauptsitz der das auserwählte Volk Gottes befehdenden Weltmacht, teils auch eine Geißel in Gottes Hand bei Bestrafung der ungehorsamen Israeliten. Die Verdammungsworte der Propheten donnern wie schwere Hammerschläge sowohl gegen Babel, wie gegen Juda. So sagt Jesaja: „Also soll Babel, das schönste unter den Königreichen, die herrliche Pracht der Chaldäer, umgekehret werden von Gott wie Sodom und Gomorra, daß man hinfort nicht mehr da wohne, noch jemand da bleibe für und für, daß auch die Araber keine Hütten daselbst machen, und die Hirten keine Hürden da aufschlagen, sondern Wüstentiere werden sich da lagern, und ihre Häuser voll Eulen sein; und Strauße werden da wohnen, und Feldmäuse werden da hüpfen, und wilde Hunde in ihren Palästen heulen und Schakale in den luftigen Schlössern. Und ihre Zeit wird bald kommen, und ihre Tage werden nicht säumen.“ Die aus der Knechtschaft Befreiten aber sollen über Babel singen: „Wie ists mit dem Dränger so gar aus, und der Zins hat ein Ende! ... Auch freuen sich die Tannen über dir und die Zedern auf dem Libanon und sagen: ‚Weil du liegst, kommt niemand herauf, der uns abhaue‘ ... Und ich will über sie kommen, spricht der Herr Zebaoth, und zu Babel ausrotten ihr Gedächtnis, ihre Übriggebliebenen, Kind und Kindeskind, spricht der Herr; und will Babel machen zum Erbe der Igel und zum Wassersumpf, und will sie mit einem Besen des Verderbens kehren, spricht der Herr Zebaoth ... Babel ist gefallen, sie ist gefallen und alle Bilder ihrer Götter sind zu Boden geschlagen.“

In seiner Weissagung gegen die Assyrer und seiner Erzählung von Sanheribs Fall sagt Jesaja: „Er soll nicht kommen in diese Stadt (Jerusalem) und soll auch keinen Pfeil dahin schießen und mit keinem Schild davor kommen und soll keinen Wall um sie schütten, sondern des Weges, den er gekommen ist, soll er wieder heimkehren ... Da brach der König von Assyrien, Sanherib auf, zog weg und kehrte wieder heim zu Ninive.“ — Als Merodach-Baladan, der König von Babel, an Hiskia Gesandte mit Briefen und Geschenken schickte, zeigte dieser ihm alle seine Schätze und Besitztümer. Da kam der Prophet Jesaja und fragte den König, woher die Männer kämen. Dieser antwortete: „Sie kommen von ferne zu mir, nämlich von Babel.“ Da sprach Jesaja: [S. 240] „Siehe, es kommt die Zeit, da alles, was in deinem Haus ist und was deine Väter gesammelt haben bis auf diesen Tag, wird gen Babel gebracht werden, daß nichts bleiben wird, spricht der Herr. Dazu werden sie deine Kinder, die von dir kommen werden und die du zeugen wirst, nehmen, daß sie müssen Kämmerer sein am Hofe des Königs zu Babel.“ — Und schließlich sagt Jesaja über die Erniedrigung des stolzen Babel: „Herunter, Jungfrau, du Tochter Babel, setze dich in den Staub! setze dich auf die Erde; denn die Tochter der Chaldäer hat keinen Stuhl mehr. Man wird dich nicht mehr nennen: ‚Du Zarte und Üppige‘ ... Setze dich in das Stille, gehe in die Finsternis, du Tochter der Chaldäer, denn du sollst nicht mehr heißen ‚Herrin über Königreiche‘.“

Die Mauermassen des Ischtartors.

Nach Sanheribs Zug geriet das Reich Juda in Verfall und wurde eine Beute des ägyptischen Königs. Als dieser, Pharao Necho, im Jahre 605 den Krieg gegen Nebukadnezar begann, wurde er bei Karkemisch (jetzt Dscherablus) aufs Haupt geschlagen, und das Schicksal der Juden verschlimmerte sich; sie wurden in die babylonische Gefangenschaft geführt. Davon spricht der Prophet Jeremias immer und immer wieder in derben, kraftvollen Worten, und davon singt der Psalmist in seinem wehmütigen Lied: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten. Unsere Harfen hingen wir an die Weiden, die daselbst sind; denn dort hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserem Heulen fröhlich sein: Singt uns ein Lied von Zion. Wie sollten wir des Herrn Lied singen in fremden Landen? ... Du verstörte Tochter Babel, wohl dem, der dir vergilt, wie du es getan hast! Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und zerschmettert sie an dem Stein.“

Und Jeremias sagt zu den Weggeschleppten: „In das Land Zion, da sie von Herzen gern wieder hin wären, sollen sie nicht wieder kommen.“ — „Darum, so spricht der Herr Zebaoth, weil ihr denn meine Worte nicht hören wollt, siehe, so will ich ausschicken und kommen lassen alle Völker gegen Mitternacht, spricht der Herr, auch meinen Knecht Nebukadnezar, den König zu Babel, und will sie bringen über dies Land und über die, so darin wohnen, und über alle diese Völker, so umherliegen, und will sie verbannen und verstören und zum Spott und zur ewigen Wüste machen. Und will herausnehmen allen frohen [S. 241] Gesang, die Stimme der Mühle und das Licht der Lampe, daß dies ganze Land wüst und zerstöret liegen soll. Und sollen diese Völker dem Könige zu Babel dienen siebzig Jahre. Wenn aber die siebzig Jahre um sind, will ich den König zu Babel heimsuchen um dies Volk, spricht der Herr, um ihre Missetat, dazu das Land der Chaldäer, und will es zur ewigen Wüste machen. — Darum so gehorchet nicht euren Propheten, Weissagern, Traumdeutern, Tagewählern und Zauberern, die euch sagen: Ihr werdet nicht dienen müssen dem König zu Babel. Denn sie weissagen euch falsch, auf daß sie euch fern aus eurem Lande bringen und ich euch ausstoße und ihr umkommt.“

Jeremias ermahnt die Fortziehenden, sich des Weges zu erinnern, den sie gegangen sind: „Richte dir Denkmale auf, setze dir Zeichen und richte dein Herz auf die gebahnte Straße, darauf du gewandelt hast; kehre wieder, Jungfrau Israel, kehre dich wieder zu diesen deinen Städten ... Gedenket des Herrn im fernen Lande und lasset euch Jerusalem im Herzen sein!“

Die siebzig Jahre gingen zu Ende, 605–536. Da befahl König Cyrus von Persien den Gefangenen, heimzureisen und für das Haus des Herrn die Gefäße mitzunehmen, die Nebukadnezar aus der heiligen Stadt fortgeführt hatte. Sie wanderten in zerstreuten Haufen aus, ihr erster Führer war Serubbabel. Im siebenten Regierungsjahr Artasastas zog Esra von Babel nach Jerusalem, und mit ihm die Priester, Leviten, Sänger, Türhüter und Tempeldiener. —

Wie buchstäblich haben sich die Voraussagen der Propheten von der Zerstörung der großen Stadt erfüllt! Die Wüste ringsum wirkt weniger öde als diese Schutthaufen und diese trostlosen, kahlen Mauern. Denn von der Wüste erwartet man nichts, die Ruinen aber sprechen von vergangener Größe und erloschenem Glanz. Die gewaltigen Mauermassen des hohen Ischtartors stehen nackt, nachdem das Feuer die Dächer und Paneele aus Zedernholz vernichtet hat. Nicht einmal Beduinen errichten hier ihre Zelte, nur Schakale sah ich sogar am Tage aus ihren Schlupfwinkeln hervorschleichen. Welch erschütternde Wahrheit also verkünden die an Jesaja erinnernden Worte des Propheten Jeremias: „Darum sollen Wüstentiere und wilde Hunde darin wohnen und die jungen Strauße und es soll nimmermehr bewohnet werden und [S. 242] niemand darin hausen für und für. Gleich wie Gott Sodom und Gomorra samt ihren Nachbarn umgekehrt hat, spricht der Herr, daß niemand darin wohne, noch ein Mensch darin hause ... Und Babel soll zum Steinhaufen und zur Wohnung der Schakale werden, zum Wunder und zum Anpfeifen ... Die Mauern der großen Babel sollen untergraben, und ihre hohen Tore mit Feuer angesteckt werden, daß der Heiden Arbeit verloren sei, und verbrannt werde, was die Völker mit Mühe erbauet haben.“

Der weitaus größte Teil der von den deutschen Archäologen ausgegrabenen Ruinen stammt aus Nebukadnezars Zeit. Der Sohn des Gründers des babylonischen und chaldäischen Reiches, Nebukadnezar, regierte dreiundvierzig Jahre (604–561) und war einer der größten und glücklichsten Könige des Altertums. Er erweiterte die Grenzen des Landes und verlieh der Stadt Babylon unerreichten Glanz. Historische Keilschrifturkunden aus seiner Zeit sind äußerst selten, dagegen gibt es zahlreiche Bauurkunden, oft mit Gebeten an Marduk, sowie zahllose Stempel auf Ziegelsteinen.

Auch in der Bibel begegnen wir seinem Namen öfter als dem irgendeines andern Königs von Assyrien und Babylonien, da er es war, der so verhängnisvoll in die Geschichte Israels eingriff, indem er die Blüte des jüdischen Volkes in das Land der Gefangenschaft schleppte. Schon als Thronerbe eroberte er Jerusalem, und 586, als er auch alle Festungen in Juda eingenommen hatte, zerstörte er die Stadt zum zweiten Male. „Und Zedekia ward abtrünnig vom König zu Babel,“ heißt es im zweiten Buch der Könige. „Da kam Nebukadnezar, der König zu Babel, mit aller seiner Macht wider Jerusalem; und sie lagerten sich dawider und bauten Bollwerke darum her.“ Jerusalem erlag der Hungersnot. „Da brach man in die Stadt; und alle Kriegsmänner flohen bei Nacht auf dem Weg durch das Tor zwischen den zwei Mauern.“ Im zweiten Buch der Chronik wird erzählt, wie Nebukadnezar gegen Jojakim in Jerusalem heraufzog „und band ihn mit Ketten, daß er ihn gen Babel führte. Auch brachte Nebukadnezar etliche Gefäße des Hauses des Herrn gen Babel und tat sie in seinen Tempel zu Babel.“ Daniel, einer von den jungen Edlen, die in die Gefangenschaft geschleppt wurden, berichtet von Nebukadnezars Götzendienst und der Verehrung, die er [S. 243] trotzdem der Macht des höchsten Gottes erwies, von den Träumen des Königs von den vier Weltreichen und dem abgehauenen Baum, von den drei Männern im brennenden Ofen und ihrer wunderbaren Rettung.

Hesekiel bietet eine prächtige Schilderung von Nebukadnezars Belagerung von Tyrus, der Stadt, „die Kronen verteilt, deren Kaufleute Fürsten sind und deren Krämer die herrlichsten auf Erden sind“, der Stadt, die „Silber anhäuft wie Staub und Gold wie Dreck auf den Straßen“. „Siehe, ich will über Tyrus kommen lassen Nebukadnezar, den König zu Babel, von Mitternacht her, der ein König aller Könige ist, mit Rossen, Wagen, Reitern und mit großem Haufen Volks.“ Um Tyrus wurde eine Belagerungsmauer gezogen, ein Wall aufgeschüttet und ein Schilddach gegen die Stadtmauer errichtet. Sturmböcke berannten die Mauern, und mit andern Kriegswerkzeugen wurden die Türme der Stadt umgerissen. Der König rückte mit so viel Pferden an, daß der von ihnen aufgewirbelte Staub die Stadt einhüllte und vom donnernden Lärm der Reiter, Räder und Wagen die Mauern erzitterten.

Wunderlich klingen in diesen Tagen, wo ein anderes Weltreich über dem Meer in seinem Lebensnerv bedroht wird, die Worte des Propheten, wenn er Tyrus, dieses weitberühmte Bollwerk des Phöniziers, „das da liegt vorn am Meer und mit vielen Inseln der Völker Handel treibt,“ mit einem gescheiterten Schiff vergleicht. „Dein Segel war von gestickter, köstlicher Leinwand aus Ägypten, daß es dein Panier wäre ... Alle Schiffe im Meer und ihre Schiffsleute fand man bei dir, die hatten ihren Handel in dir. Die aus Persien, Lydien und Libyen waren dein Kriegsvolk, die ihre Schilde und Helme in dir aufhingen, und haben dich so schön geschmückt ... Tharsis hat mit dir seinen Handel gehabt und allerlei Ware, Silber, Eisen, Zinn und Blei auf deine Märkte gebracht ... Also bist du sehr reich und prächtig geworden mitten im Meer. Deine Ruderer haben dich auf große Wasser geführt; aber ein Ostwind wird dich mitten auf dem Meer zerbrechen ... Auch die Anfurten werden erbeben vor dem Geschrei deiner Schiffsherren, und alle, die an den Rudern ziehen, samt den Schiffsknechten und Meistern werden aus ihren Schiffen ans Land treten und laut über dich schreien, bitterlich klagen und werden Staub auf ihre Häupter werfen und sich in der [S. 244] Asche wälzen ... Es werden auch ihre Kinder über dich wehklagen: ‚Ach, wer ist jemals auf dem Meer so still geworden wie du, Tyrus‘ ... Du warst ohne Tadel in deinem Tun von dem Tage an, da du geschaffen wurdest, bis sich deine Missetat gefunden hat. Denn du bist inwendig voll Frevel geworden vor deiner großen Hantierung und hast dich versündigt. Darum will ich dich entheiligen von dem Berge Gottes und will dich ausgebreiteten Cherub aus den feurigen Steinen verstoßen.“

Nach dem dreizehnten Jahr gab aber Nebukadnezar die Belagerung auf und schloß 576 mit Ithobaal von Tyrus ein Bündnis. Hesekiel berichtet in seinem 29. Kapitel, daß er sich dafür in Ägypten entschädigte.

Auch in den apokryphischen Büchern begegnet uns oft der Name des großen Königs, der das Buch Judith eröffnet: „Nebukadnezar, der König von Assyrien, regierte in der großen Stadt Ninive ...“ „Da die Länder im Westen sich weigerten, seinen Befehlen zu gehorchen, schickte er nach seinem Oberfeldherrn Holofernes, der in seinem Reiche der nächste war nach ihm selbst, und sagte zu ihm: ‚So spricht der große König, der Herr der ganzen Welt, du sollst von hier ausziehen und mit dir Mannschaft nehmen, die auf seine Stärke vertraut, an Fußvolk bis zu 120000 Mann und eine Menge Pferde mit ihren Reitern, 12000, und du sollst wider alle Reiche im Westen ziehen, deswegen, weil sie meinem Befehl nicht gehorcht haben.‘“

Natürlich ist diese Schilderung gewaltig übertrieben. Die Babylonier bildeten keine Massenheere und konnten keine bilden. Aber die Wirklichkeit war gewiß imposant. Die verschiedenen Abteilungen, teils Truppen, die aus kriegerischen Stämmen innerhalb und außerhalb des großen Reiches geworben waren, teils Bogenschützen zu Pferde, eine Spezialität des Orients, wurden von Assurs Fürsten und Feldherrn geführt. Für den Train wurden Kamele, Esel und Maulesel benutzt, „und eine zahllose Schar von Schafen, Rindern und Ziegen für ihren Unterhalt und Getreide in Menge für jeden Mann und viel Gold und Silber aus des Königs Kammer mitgeführt.“

Und Holofernes brach vor dem König Nebukadnezar von Ninive auf „mit den Wagen und Reitern seines Heeres ..., überschritt den [S. 245] Euphrat und verließ damit Mesopotamien und nahm die Gebiete Ciliciens ein.“ Man braucht keine große Phantasie zu haben, um sich ein Bild zu machen von dem Zug dieser bunten Scharen über die öden Flächen am Fuße des persischen Zagros und des armenischen Taurus. Langsam windet sich der Zug von Wasserlauf zu Wasserlauf. Er hat keine Ähnlichkeit mit einer modernen Marschkolonne, die Ordnung ist im Gegenteil ganz „zerstreut“. Die babylonischen Krieger marschierten nicht in Verbänden, wie später Mazedonier und Römer; sie gingen in losen Scharen; die Herren hatten, gleich den Griechen, ihre Sklaven bei sich, die ihnen die Waffen trugen. Aber der Staub, der von der Menge aufstieg, war nicht minder dicht und zog wie ein weißgrauer Schleier über die Ebene hin. Die Streitwagen rasselten, die Rosse stampften, auf schnellfüßigen arabischen Pferden sprengten die Bogenschützen einher, die Pfeilköcher auf dem Rücken, und die Waffen und die prachtvoll mit Gold und Silber geschmückten Wagen der Männer von Assur blitzten in der Sonne. Unter Lärm und Gesang bewegten sich die Scharen und die unübersehbaren Herden Schlachtvieh vorwärts und zertrampelten das Gras der Steppe. Über die Landgebiete Japhets zog Holofernes „nach Damaskus zur Zeit der Weizenernte“ und weiter bis in die Nähe von Bethulia in Judäa, wo er nach der Sage durch sein eigenes Schwert fiel, das Judiths Hand führte.

Das Buch Baruch erzählt unter anderm von dem Schreiben, das die Juden in Babylonien aufsetzten und mit Geld an ihre Stammverwandten in Palästina schickten. Mochten sich auch die Gefangenen unter den Weidenbäumen am Flusse Babel nicht sonderlich wohlfühlen, der Ton ihres Briefes verrät jedenfalls, daß sie Furcht vor der königlichen Zensur hatten: „Siehe, wir senden euch Geld, dafür kauft Brandopfer und Sündopfer, Weihrauch und Speiseopfer und opfert es auf dem Altar des Herrn, unsers Gottes. Und bittet für das Leben Nebukadnezars, des Königs zu Babel, und das Leben Belsazars, seines Sohnes, daß ihre Tage auf Erden seien, solange die Tage des Himmels währen. So wird der Herr uns genug und gute Tage schaffen, und wir werden leben unter dem Schatten Nebukadnezars, des Königs zu Babel, und unter dem Schatten Belsazars, und ihnen dienen lange Zeit und Gnade vor ihnen finden.“

[S. 246]

Von der Göttersage der Babylonier sei hier nur gesagt, daß sie unter dem Schutz vieler übernatürlichen Mächte zu stehen glaubten. Von ihren Göttern finden wir ein paar in der Bibel wieder: Bel und Merodach oder Marduk. Ischtar war eine Göttin; die hohen Tore ihres Tempels stehen noch heute. Ihre im Tempel aufgestellten Bildsäulen waren vergoldet und mit Edelsteinen und kostbaren Gewändern geschmückt. Als Sadrak, Mesak und Abed-Nego sich weigerten, „niederzufallen und das goldene Bild anzubeten, das König Nebukadnezar hatte setzen lassen“, wurden sie in den feurigen Ofen geworfen, und als Daniel an seinem heimischen Gottesdienst festhielt, warf man ihn in die Löwengrube. Zu den apokryphen Büchern gehört der Brief, den Jeremias „denen schickte, die vom König der Babylonier in die Gefangenschaft geschleppt werden sollten“, und in dem er auf ganz prächtige Art sie vor den Götzen aus Gold und Holz warnt, die „sich nicht gegen Rost und Würmer schützen können, trotzdem sie in purpurne Kleider gehüllt sind“. — „Sie zünden ihre Lampen an, sogar mehr als für sich selbst, und doch können die Götzen nicht einen einzigen von ihnen sehen. Ihre Gesichter sind geschwärzt vom Rauch in den Tempeln, Fledermäuse, Schwalben und andre Vögel kommen geflogen und setzen sich auf ihre Leiber und Köpfe, ja sogar Katzen kommen und setzen sich auf sie.“ Die Opfer werden den Priestern überwiesen, deren Frauen das Opferfleisch einsalzen. In den Tempeln „sitzen die Priester mit zerrissenen Kleidern und mit geschorenem Haar und Bart und entblößen die Köpfe und heulen und rufen vor ihren Götzen, wie manche beim Leichenschmaus tun.“ Die Götzen können keinen König in einem Land einsetzen, „sie sind wie die Krähen, die zwischen Himmel und Erde fliegen, sie sind wie Vogelscheuchen auf einem Gurkenfeld.“

Im Anhang zum Buche Daniel, der mit den wohlbekannten Worten beginnt: „Es war ein Mann zu Babylon mit Namen Jojakim, der hatte ein Weib, die hieß Susanna“, befindet sich die gelungene Erzählung, wie Daniel die Priester Bels ertappte und ihren Götzen und seinen Tempel verhöhnte. „Es war auch ein großer Drache daselbst, den sie zu Babel anbeteten.“ Wir werden ihm noch begegnen, denn er spielt in der babylonischen Kunst eine Rolle.

[S. 247]

Phot.: Koldewey.
Der „Sirrusch“, der „Drache von Babylon“ oder die gehende Schlange.

Sechzehntes Kapitel.
Die Ruinen Babylons.

W as bisher von dem babylonischen Trümmerfeld auf dem linken, östlichen Euphratufer ausgegraben werden konnte, bildet ein Dreieck, dessen Spitzen nach Norden, Osten und Süden gerichtet sind, und dessen Westseite sich an den Euphrat lehnt. Seine Nordspitze umschließt den Hügel Babil, die Südspitze den Hügel Amran; die Mitte der Westseite am Euphrat bildet der Hügel Kasr. Jenseits, auf dem rechten Euphratufer, ist noch kein Spatenstich geschehen, doch wird sich dort ein ähnliches Geländedreieck voller Ruinen finden, wenn Herodot damit Recht hat, daß Babylon quadratisch angelegt gewesen sei und der Euphrat die Stadt mitten durchschnitten habe.

Dieses gewissermaßen auf der Südspitze stehende Quadrat war von der äußeren Stadtmauer umschlossen, deren Länge die alten Geschichtschreiber Herodot und Ktesias auf 86 bzw. 65 Kilometer angeben; in Wirklichkeit betrug sie nur etwa 18 Kilometer. Die durch Ausgrabungen [S. 248] freigelegte Nordostseite mißt 4,4 Kilometer; die Südostseite jedenfalls ebensoviel. Gleichwohl war Babylon die größte Stadt des antiken Orients, auch Ninive nicht ausgenommen, das zu Herodots Zeiten schon vom Erdboden verschwunden war.

Richtiger sind die Angaben der griechischen Schriftsteller über die sonstige Anlage der Mauer, die eine dreifache Befestigung darstellte: zuerst eine 7 Meter dicke Mauer aus Lehmziegeln; 12 Meter vor und parallel mit ihr eine 7,80 Meter dicke Mauer aus gebrannten Ziegeln, und vor dieser noch eine Grabenmauer von 3,30 Meter Dicke. Vor letzterer lag jedenfalls der Graben mit seiner Kontereskarpe. Die Ziegel der Grabenmauer messen 33 Zentimeter im Quadrat — das übliche Ziegelmaß in Babylonien — und tragen den Stempel Nebukadnezars. Die 12 Meter breite Gasse zwischen den beiden ersten Mauern war, jedenfalls bis zur Krone der Ziegelmauer, mit Erdreich ausgefüllt. Dies ist der Fahrdamm, der auf die klassischen Schriftsteller einen so tiefen Eindruck machte, weil er so breit war, daß ein Viergespann darauf umwenden konnte. Diese Breite der Mauerkrone war militärisch von größtem Vorteil; sie ermöglichte schnellste Truppenbewegung bei Verteidigung der Festung. In Abständen von ungefähr 50 Metern wurden beide Mauern von 330 Türmen überragt. Die Höhe dieses gewaltigen Festungspanzers ist unbekannt, da ja nur seine Fundamente und oft nicht einmal diese erhalten sind; nach Herodot betrug sie 200, nach Strabo nur 50 Ellen.

Nebukadnezar war es, der die Stadt in eine Festung verwandelte. In einer seiner Inschriften spricht er von dieser Mauer, von dem gewaltigen Graben davor und von den aus Zedernholz gefertigten, mit Kupfer überzogenen Türflügeln in den Mauertoren. Später verlor Babylon den Festungscharakter; in der parthischen Zeit benutzte man die Mauer als Grabgewölbe, wie aufgefundene Sarkophage beweisen.

Professor Koldewey beim Vortrag auf den Ruinen Babylons.

Inmitten dieses, durch die beiden Seiten der alten Stadtmauer und den Euphrat bezeichneten Dreiecks liegt nun eine Welt von Erd- und Schutthaufen, von Mauer- und Burgresten, die meinem Reisekameraden und mir ein rätselhaftes Durcheinander geblieben wäre, hätte uns nicht Professor Koldewey mit unermüdlicher Ausdauer, unter seiner schwarzen Lammfellmütze des glühenden Sonnenbrandes nicht achtend, [S. 250] drei Tage lang umhergeführt und Licht in dieses Dunkel der Gräben und Schächte gebracht. Unter seinem Zauberstab erwachte uns Babylon zu neuem Leben. Die Steine erhielten Sprache, die breite Straße der Prozessionen bevölkerte sich mit Babyloniern. Er wußte Episoden aus den alten Schriften, z. B. Daniels Besuch am Hofe Nebukadnezars, einzuflechten, als wenn er selbst zugegen gewesen wäre, und so lebendig, packend und anschaulich, daß man den großen König in seiner majestätischen Pracht vor sich zu sehen glaubte. — Die großen, flachen Ziegelsteine, von der Sonne so erhitzt, daß man sie nicht anfassen kann, liegen ja noch genau so da wie vor 2500 Jahren, als Nebukadnezar und Daniel darüber wandelten. Keines Menschen Blick ist seit jener Zeit auf diese Inschriften gefallen, die nach so langem Schweigen heute unmittelbar zum Forscher reden, und nichts erscheint mir begreiflicher als die inbrünstige Ehrfurcht, mit der ein Mann der Wissenschaft wie Professor Koldewey jedes neue Geschichtsblatt dieser Art, das er mit Spaten oder Brechstange dem Erdboden entringt, zur Hand nimmt.

Was ich von diesem dreitägigen Vortrag Koldeweys, dem fesselndsten, den ich je in meinem Leben hörte, behalten habe und aus den Schriften der deutschen Archäologen, besonders aus seinem eigenen klassischen Werke „Das wiedererstehende Babylon“ ergänzen durfte, sei hier in einigen Umrissen wiedergegeben.

Wie schon erwähnt, stammt der weitaus größte Teil der bisher ausgegrabenen Ruinen aus Nebukadnezars Zeit. Seinen Namen nennen Millionen Ziegelstempel, die sich vor allem in den Ruinen des Hügels Kasr gefunden haben. Denn hier erhob sich sein Königspalast, den er während seiner ganzen Regierungszeit erweiterte und verschönerte.

Blick auf das Ischtartor (von Norden).

Von der Nordostecke des Kasr-Hügels aus legte er für den Gott Marduk die Prachtstraße der Prozessionen an, die durch das Ischtartor nach Süden bis zu Marduks Tempel Esagila führte. Sie war in der Mitte mit quadratischen Kalksteinplatten von 1,05 Meter Seitenlänge, rechts und links davon mit Brecciaplatten von 0,66 Meter Seitenlänge gepflastert. Der Kalkstein wurde jedenfalls von Hit und Ana auf Kähnen herangeführt. Jede Platte trägt an der Seite die Inschrift: „Nebukadnezar, König von Babylon, Sohn Nabopolassars, Königs von Babylon, bin ich. Die Babelstraße habe ich für die Prozession des großen Herrn [S. 252] Marduk mit Schadu-(Gebirgs-)Steinplatten gepflastert. Marduk, Herr, schenke ewiges Leben!“ Die Oberflächen der Steine sind glatt und blank; viele weiche Sandalen und nackte Fußsohlen sind darüber hingegangen. Die Unterlage der Pflasterung war eine Asphaltschicht, die, soweit die Steine fehlen, jahraus jahrein der glühenden Sonne ausgesetzt ist, ohne an Härte einzubüßen; mit ihr hat man vor zweieinhalb Jahrtausenden den Ziegelbelag darunter vergossen.

Die Straße der Prozessionen liegt 12,5 Meter über dem Nullpunkt, dem mittleren Niveau des Grundwassers, und steigt zum Ischtartore sanft an; man hat von ihr aus einen herrlichen Überblick über das ganze Trümmerfeld. Zu Nebukadnezars Zeit aber war sie rechts und links durch hohe, 7 Meter dicke, von Türmen überragte Festungsmauern geschlossen, die mit prachtvollen Löwen aus Emaille geschmückt waren. Scherben davon hat man zusammenfügen können. Es waren im ganzen 120 solcher Relieflöwen, jeder 2 Meter lang, meist gelb auf blauem Grund. Vor Beginn der deutschen Ausgrabungen kannte man keine Plastik aus der Regierungszeit des großen Königs; jetzt hat man den ganzen Schmelzvorgang dieser Emaille ergründet. Die Ziegel wurden in Formen gegossen, und jeder trug einen kleinen Teil des Reliefbildes, das sich mosaikartig zusammensetzte. Die Festungsmauer war aus Ziegeln erbaut; über jeder Ziegelschicht lag eine dünne Schicht Asphalt und darauf eine ebenso dünne Schicht Lehm. Bei jeder fünften Schicht ersetzte den Lehm eine Matte aus geflochtenem Schilf; diese ist mit der Zeit verrottet, hat aber Abdrücke in dem Asphalt hinterlassen; man sieht deutlich, wie die Schilfstengel durch Klopfen gespalten und wie Bänder zusammengeflochten sind. Matten dieser Art werden noch heute von den Beduinen angefertigt.

Über dem Schutt erhebt die Fassade des Ischtartores ihre 12 Meter hohen, gigantischen Mauerblöcke. Sie ist die größte und interessanteste Ruine Babyloniens, ja ganz Mesopotamiens und bestand aus zwei dicht hintereinander liegenden Torgebäuden. Ihre Architektur ist vornehm einfach, sie zeigt nur wage- und senkrechte Linien. Wie der Überbau dieser ungeheuer starken Mauerpfeiler ausgesehen hat, weiß man nicht. Die Torhöfe hatte Nebukadnezar, wie eine Inschrift sagt, mit „gewaltigen Stierkolossen aus Bronze und den mächtigen Schlangenbildern“ [S. 253] auf Sockeln schmücken lassen, und die Wände des Baues waren mit Reliefbildern von Stieren und Drachen (Sirrusch) bedeckt. 152 von den wahrscheinlich 575 Reliefs sind ausgegraben. Sie stehen in Reihen übereinander, jede Tierart stets für sich.

Stiere und Drachen des Ischtartors.

Man staunt über die künstlerische Vollendung dieser Tiergestalten. Nur eine hochentwickelte Kunstauffassung konnte eine Form wie die des weitberühmten „Drachen von Babel“ oder der „gehenden Schlange“ erfinden. Das Schuppenkleid, die Bauchringe des Körpers, der Kopf mit der gespaltenen Zunge und die beiden gerade emporstehenden Hörner, von denen in der genauen Profilstellung des Reliefs nur eines sichtbar ist, sind, wie Koldewey ausführt, offenbar der in Arabien häufigen Hornviper nachgebildet. Die Beine sind die einer hochläufigen Katzenart, die Hinterfüße aber mit ihren mächtigen Klauen und großen Hornplatten sind einem starken Raubvogel entlehnt. Das Auffallendste ist, daß das Tier zugleich Schuppen und Haare hat. „Diese gleichzeitige Ausstattung mit Schuppen und Haaren,“ sagt Koldewey, „sowie die starke Differenzierung der Vorder- und Hinterextremitäten ist sehr charakteristisch für die vorweltlichen Dinosaurier; auch die Kleinheit des Kopfes im [S. 254] Verhältnis zum Gesamtkörper, die Haltung und die übermäßige Länge des Halses entspricht durchaus dem Habitus jener ausgestorbenen Eidechsenart. Es weht ein förmlich selbstschöpferischer Geist in diesem uralten Kunstgebilde, das an Einheitlichkeit des physiologischen Gedankens alle übrigen Phantasietiere weit übertrifft. Wenn nur die Vorderbeine nicht so bestimmt ausgeprägten Katzencharakter trügen, so könnte ein solches Tier gelebt haben. Die Hinterfüße sind auch bei lebenden Eidechsen denen der Vogelfüße oft sehr ähnlich.“

Dieser Drache, der auf den Kunstgebilden jener Zeit, auf Siegeln, Grenzsteinen usw., häufig wiederkehrt, war den Göttern Marduk und Nabo heilig. Der erstere war zu Nebukadnezars Zeit Gegenstand außerordentlicher Verehrung; ihm gehörte der größte Tempel Babylons, Esagila, ihm weihte Nebukadnezar auch die Prozessionsstraße und selbst das Ischtartor, das Haupttor von Babylon, das mit dem Tier der Göttin Ischtar (Astarte), dem Löwen, geschmückt ist, einem in der babylonischen Kunst aller Zeiten sehr beliebten Motiv. Der Stier galt als das heilige Tier des Wettergottes Ramman.

Die Prozessionsstraße, der Hauptverkehrsweg der Stadt und eine der großartigsten Straßen, die es auf Erden gegeben hat, erstreckte sich nach Süden über Dämme, Kanäle und einen später gebildeten Arm des Euphrat fort und führte östlich um Etemenanki, den Turm von Babel, herum zum Tempel Esagila. Auch in der südlichen Fortsetzung sind noch die schweren Kalksteinplatten Nebukadnezars vorhanden, auf denen Daniel und Darius wandelten und auf die der Schein der Erdpechfackeln fiel, die neben Alexanders des Großen Wagen hergetragen wurden. Noch weiter südlich scheinen sie in griechischer und parthischer Zeit zu Kugeln für Wurfmaschinen, die damaligen Kanonen, verarbeitet worden zu sein. Die größten haben einen Durchmesser von 27,5 Zentimeter. Die Steinplatten im Süden tragen dieselbe Inschrift wie die auf Kasr; einige nennen aber auch Sanheribs Namen (705–681 v. Chr.), der ebenfalls die Stadt verschönte, sie aber dann völlig zerstörte und in Ninive residierte. Nebukadnezar sagt davon nichts; er nennt nur seinen Vater Nabopolassar. Die Inschrift eines Ziegelsteins, der aber nicht in seiner ursprünglichen Lage gefunden wurde, sagt von der Prozessionsstraße: „Nebukadnezar, König von Babylon, der Ausstatter von Esagila [S. 255] und Esida, der Sohn Nabopolassars, des Königs von Babylon. Die Straße Babylons, die Prozessionsstraßen Nabos und Marduks, meiner Herren, die Nabopolassar, der König von Babylon, der Vater, mein Erzeuger, mit Asphalt und gebrannten Ziegeln glänzend gemacht hat als Weg: ich, der Weise, der Beter, der ihre Herrlichkeit fürchtet, füllte über dem Asphalt und den gebrannten Ziegeln eine mächtige Auffüllung aus glänzendem Staub, befestigte ihr Inneres mit Asphalt und gebrannten Ziegeln wie eine hochgelegene Straße. Nabo und Marduk, bei eurem frohen Wandeln in diesen Straßen — Wohltaten für mich mögen ruhen auf euren Lippen, ein Leben ferner Tage, Wohlbefinden des Leibes. Vor euch will ich auf ihnen (?) wandeln (?). Ich möchte alt werden für ewig.“

Durchschreitet man das Ischtartor nach Süden, so liegt zur Linken der Tempel der Ninmach, der „großen Mutter“. Seine Mauern waren mit Toren und Türmen versehen und mit weißem Putz bedeckt, so daß sie wie Marmorwände aussahen. Durch Portal und Vorhalle gelangt man auf den offenen Tempelhof und von da in die Gemächer selbst. Der ganze Bau war stark wie eine Festung, die von den Priestern verteidigt werden konnte. In den Vorraum hatte auch das profane Volk Zutritt. In einem Nebenraum fand sich Sardanapals Gründungszylinder, auf dem man unter anderem liest: „Zu eben jener Zeit ließ ich Emach, den Tempel der Göttin Ninmach in Babel, neu machen.“

Über die Verwendung der verschiedenen Räume und den Kult des Gotteshauses ist wenig bekannt. Gewisse Eigenschaften sind allen vier vollständigen Tempeln Babylons gemeinsam; sie haben eine Turmfront, eine Vorhalle, einen Hof und eine Zella mit einem Postament in einer flachen Wandnische. Einige Seitengemächer dienten jedenfalls zur Aufbewahrung kultlicher Gegenstände, andere zum Aufenthalt der Tempeldiener und Pförtner. Lange, schmale Gänge zeigen wahrscheinlich die Plätze an, wo Treppen auf das flache Dach hinaufführten.

In den Ruinen dieses Tempels fanden sich Massen von Terrakottabildern, die Hausgötzen gewesen zu sein scheinen. Sie sind nur 12 Zentimeter hoch, stellen meist eine stehende Frau dar mit auf babylonische Art gefalteten Händen und geben einen Begriff von den großen Götterbildern Babylons, von denen Herodot erzählt.

[S. 256]

In diesem Tempel der Ninmach hat, wie Koldewey in seiner Schrift „Die Tempel von Babylon und Borsippa“ (Leipzig 1911) annimmt, Alexander der Große seine täglichen Opfer dargebracht, auch während seiner letzten Krankheit, und die Erinnerung an ihn wird angesichts dieser Trümmer lebendig.

Ein alter römischer Geschichtschreiber namens Quintus Curtius Rufus, von dem man nicht weiß, wann er lebte, hat in einem umfangreichen Werke die Taten des Mazedonierkönigs in fast romanhafter Form geschildert. Im ersten Kapitel seines fünften Buches beschreibt er auch seinen prunkvollen Einzug in Babylon. An der Spitze seines Heeres fuhr Alexander in einem von der Leibwache umgebenen Wagen. Die Triumphstraße war mit Kränzen und Blumen geschmückt, an den Straßenrändern brannte duftender Weihrauch auf silbernen Altären. Die Geschenke, mit denen man den Sieger empfing, waren Vieh und Pferde, Löwen und Leoparden in Käfigen. Hymnen singende Magier und chaldäische Sterndeuter schritten im Zuge einher. Ihnen folgten Musikanten und zuletzt babylonische Reiter.

Alexander war, wie alle, die Babylon zum erstenmal sahen, entzückt von seiner Schönheit, und er verweilte hier länger als in irgendeiner anderen Stadt. Aber kein Ort erwies sich als verderblicher für die militärische Disziplin; der Historiker malt in drastischen Zügen das leichtfertige, sittenlose Leben, das in Babylon geführt wurde. Die neue Hauptstadt wurde das Capua der alten mazedonischen Armee, und auch der König selbst fand hier wenige Monate nach seinem Einzug einen allzufrühen plötzlichen Tod.

Der griechische Schriftsteller Arrianus berichtet darüber Folgendes: Bei dem Günstling Medius wurde ein Trinkgelage abgehalten, zu dem auch Alexander eine Einladung angenommen hatte. Man trank und scherzte, und nach dem Fest badete der König und ging zur Ruhe. Auf einer Bahre ließ er sich zum Opfer tragen, das er keinen Tag versäumte. Seinen Generalen gab er Befehle für eine neue kriegerische Unternehmung; einige Truppen sollten die Landstraße einschlagen, andere südwärts auf dem Euphrat befördert werden; in fünf Tagen sollten mehrere Generale ihn auf den Triremen begleiten. „Vom Tempel ließ er sich auf seiner Bahre zum Ufer hinabbringen, ging an Bord eines [S. 257] Fahrzeugs und fuhr über den Strom nach dem Park, wo er wieder badete und dann ausruhte.“

Phot.: Koldewey.
Die beiden östlichen Pfeiler des Ischtartors.

Am folgenden Tag opferte er wieder, aber von da ab lag er in ununterbrochenem Fieber. Trotzdem erteilte er tags darauf Nearchus [S. 258] und den übrigen Hauptleuten seine Befehle zum Abmarsch. Am Abend des nächsten Tages stand es bereits schlecht mit ihm. Trotzdem erschien er noch zwei Tage zum Opfer im Tempel. Beim nächsten Morgengrauen aber entbot er die Generale in die Vorhalle, während die übrigen Befehlshaber an den Toren warten mußten. Er hatte sich aus dem Park in die Königsburg tragen lassen; und als die Generale an sein Lager traten, erkannte er sie wohl, vermochte aber nicht mehr zu sprechen. In der Nacht wurde das Fieber bösartig. Dieser Zustand hielt zwei Tage an.

Nun verlangten die Soldaten nach ihrem König, um ihn noch einmal am Leben zu sehen, da schon Gerüchte umgingen, sein Tod werde von der Leibwache verheimlicht. Die Truppen zogen an seinem Lager vorüber. Der König konnte noch mühsam den Kopf heben, aber nicht mehr sprechen; er betrachtete die Vorüberziehenden und reichte jedem die Hand. Einige seiner Vertrauten verbrachten die Nacht im Serapistempel, um den Gott zu fragen, ob es ratsam und für Alexander besser sei, ihn in den Tempel zu bringen, um bei inbrünstigem Gebet seine Genesung abzuwarten; der Gott antwortete, es werde für den König besser sein, wenn er bleibe, wo er sei. „Kurz darauf war Alexander tot, als ob dies für ihn jetzt das Beste gewesen sei.“

Quintus Curtius erzählt den Hergang etwas anders. Der König habe noch in den letzten Tagen seines Lebens Gesandte der griechischen Republiken empfangen, die ihm goldene Kronen überreichten, und seine Truppen und Galeeren gemustert. Dem Nearchus und den Kapitänen habe er ein glänzendes Gastmahl gegeben und dann am Trinkgelage bei Medius teilgenommen. Sechs Tage später seien seine Kräfte fast erschöpft gewesen, und die vor Kummer weinenden Soldaten hätten Zutritt zu seinem Krankenzimmer erhalten. Als Alexander sie sah, habe er geäußert: „Wo werdet ihr, wenn ich fort bin, einen solcher Männer würdigen König finden?“ Er sei aufrecht sitzen geblieben, bis der letzte Mann der Armee vorübergegangen. Dann sei er, als hätte er dem Leben seinen letzten Tribut entrichtet, ermattet auf sein Lager zurückgesunken. Seinen Siegelring habe er vom Finger gezogen und ihn dem Perdiccas übergeben mit der Bitte, seine Leiche nach der Oase des Jupiter Ammon überführen zu lassen. Als einer fragte, wem er das Reich anvertraue, habe er geantwortet: „Dem Würdigsten.“

[S. 259]

Voller Schrecken standen die Babylonier auf ihren Hausdächern und den Mauern. Die Nacht kam und vermehrte die Unsicherheit. Niemand wagte Licht anzuzünden. Die Stadt lag in tiefem Dunkel. Herumstreifende Haufen begegneten einander auf den Straßen, sich mißtrauisch betrachtend. Sechs Tage stritten die Vertrauten des Königs, wer die Macht übernehmen solle. Darüber vergaß man den Toten, dessen sterbliche Hülle jedoch trotz der starken Hitze (Alexander schied aus dem Leben am 13. Juni 323) keine Veränderung erlitten hatte. Schließlich wurde die Leiche von Ägyptern und Chaldäern einbalsamiert und in einen goldenen Sarg gelegt, der mit wohlriechenden Spezereien gefüllt war; das königliche Diadem schmückte seine Stirn. Erst am folgenden Tag brachte Ptolemäus den König der Mazedonier in feierlicher Prozession die endlos lange Straße von Babylon nach Memphis und schließlich nach Alexandria, wo zur Erinnerung an ihn ein prachtvoller Tempel gebaut wurde. Noch im dritten Jahrhundert n. Chr. war der Ort bekannt, geriet aber später völlig in Vergessenheit. —

Rechts vor dem südlichen Ausgang des Ischtartors, gegenüber dem Tempel der Ninmach, ist die Ostfront der von Koldewey so genannten Südburg, der eigentlichen Akropolis von Babylon, die sich an der Stelle erhob, wo die älteste Stadtanlage war, das eigentliche Babilu oder Babilani, die „Pforte der Götter“. Assarhaddon und Nabopolassar sprechen von Babylon und Esagila als von zwei getrennten Plätzen; erst später wurden sie zu einem Großbabylon vereinigt. Dieser gewaltige Gebäudekomplex wurde von Nabopolassar gegründet, von Nebukadnezar aber so durchgreifenden Veränderungen unterworfen, daß man von einem einheitlichen Werk seiner Hand sprechen kann.

Durch ein von Wachtlokalen rechts und links flankiertes Tor betreten wir den Osthof der Südburg. An seiner Nord- und Ostseite liegen Beamtenwohnungen, von denen jede oder auch je zwei zusammen einen Hof haben. An der Südseite befinden sich die eigentlichen Amtsräume, und dahinter wieder Wohnungen; auch in jeder Wohnung ist der südlichste Raum der größte und behaglichste, da er, durch Mauern geschützt und nur von Norden her zugänglich, fast den ganzen Tag im tiefsten Schatten lag. Hierzulande dauert ja der Sommer von Mitte März bis Mitte November, und die heiße Tageszeit von 9 Uhr [S. 260] morgens bis 9 Uhr abends. Professor Koldewey hat bis zu 49,5 Grad Celsius gemessen. Nur im Januar stellt sich etwas Frost ein. Die jährlichen Niederschläge betragen 7 Zentimeter gegen 64 in Norddeutschland. Die ganze Bauart ging also auf Schatten und Kühle hinaus; Fenster hatten die Wohnungen nicht. Gearbeitet wurde durchweg im Freien, auf den Höfen, geschlafen auf den Dächern. Wohnungen von mehreren Stockwerken, von denen Herodot spricht, ließen sich bisher nicht nachweisen. Die Wände waren mit Gipsputz bedeckt; ein Säulenstumpf und ein Kapitäl von feinem weißen Kalkstein verraten das Vorhandensein alter Säulengänge. Die Torwände waren wieder mit Relieflöwen geschmückt, wenigstens hat man Bruchstücke solcher Emaillen auf allen Höfen der Südburg gefunden.

Phot.: Koldewey.
Zylinderförmige Bauurkunde Sardanapals für Nimitti-Bel, die innere Stadtmauer Babylons.

Der Mittelhof der Südburg hat noch mehr und größere Räume, die zweifellos öffentlichen Geschäften dienten. Hier hatten gewissermaßen die Ministerien ihre Amts- und Wohnräume, hier wurde Gericht gehalten und in Kanzleistuben das Urteil ausgefertigt. Die stattlichen Amtszimmer liegen wieder nach Süden; ihre Bedeutung ergibt sich auch daraus, daß sie direkten Zugang zu den entsprechenden Gebäuden des nächsten und größten Hofes haben, den die eigentliche Residenz der babylonischen Könige umschloß.

Dieser Haupthof ist 55 Meter breit und 60 Meter lang; er wurde zuletzt mit Lehmziegeln gepflastert und diente in der Sassanidenzeit als Begräbnisplatz; man fand hier zahlreiche trog- und pantoffelförmige Sarkophage. An der Südseite dieses Hofes liegt der größte Raum des ganzen Palastes, der Thronsaal der babylonischen Könige. Er ist 17 Meter breit und 52 Meter lang; der Weiße Saal im Berliner Schloß [S. 261] mißt nur 16 × 32 Meter. Die Mauern der Breitseiten sind 6 Meter dick. Die Haupttür, zu deren Seiten sich kleinere Eingänge öffnen, geht auf den Hof hinaus. Ihr gegenüber zeigt die innere Südwand eine Nische; hier stand jedenfalls der Königsthron. Die Außenwand nach dem Hofe zu war mit prächtigen Fayenceornamenten auf dunkelblauem Grund bedeckt; gelbe Säulen mit hellblauen Kapitälen waren durch Palmettenranken miteinander verbunden.

In diesen Thronsaal ließ Belsazar, der letzte König von Babylonien, bei festlichem Mahl in trunkenem Übermut die goldenen und silbernen Gefäße bringen, die sein Vater Nebukadnezar aus dem Tempel von Jerusalem geraubt hatte. Aus ihnen sollten die Gäste trinken. Aber während sie tranken und ihre Götter lobten, gingen hervor Finger wie einer Menschenhand, die schrieben gegenüber dem Leuchter auf die getünchte Wand des Königssaals. Und der König ward gewahr der Hand, die da schrieb, und entsetzte sich. Vergebens bat er Chaldäer und Sterndeuter, die Schrift zu lesen; niemand kannte sie. Nur Daniel vermochte sie zu deuten: Mene mene tekel upharsin, d. h. „Gott hat dein Königreich gezählet und vollendet. Man hat dich in einer Wage gewogen und zu leicht befunden. Dein Königreich ist zerteilet und den Medern und Persern gegeben.“ In derselben Nacht ward der Chaldäer König Belsazar getötet. — Deutsche Gelehrte (Hoffmann und Nöldecke) haben übrigens die unglückverheißenden Worte viel einfacher erklärt, und da wenigstens die ersten drei Worte Münzwerte bezeichnen, vermutet Koldewey, daß einer der anwesenden Perser ganz unschuldig mit Kohle an der Wand seine Forderungen ausgerechnet, der bereits von schlimmen Ahnungen gefolterte König aber daraus neuen Argwohn gegen seine Umgebung geschöpft habe.

Von besonderem Interesse ist der sogenannte Gewölbebau in der Nordostecke der Südburg; ein breiter Gang führt vom Mittelhof dorthin. Unter allen Gebäuden der Stadt, ja des Landes, nimmt er eine Ausnahmestellung ein. Er besteht aus vierzehn langen, gleichgroßen Kammern, die, rechts und links je sieben, auf einen gemeinsamen Korridor hinausgehen und von einer starken Mauer umgeben waren. Südlich und westlich lagen weitere Kammern, und in einer derselben findet sich ein Brunnen, wie er in Babylon und in der antiken Welt sonst [S. 262] überhaupt nicht vorkommt. Er besteht aus einem quadratischen Schacht in der Mitte und zwei länglichen zu beiden Seiten und enthielt jedenfalls ein Wasserschöpfwerk, ein Paternosterwerk oder einen Dolab, ähnlich denen, die ich in den Kapiteln über meine Fahrt auf dem Euphrat beschrieben habe.

Diese Kammern sind die einzigen kellerartigen Räume, die in Babylon vorkommen; sie waren mit Tonnengewölben überdacht und außerdem aus Hausteinen errichtet, wie die Steinreste beweisen. Solcher Haustein findet sich außerdem nur noch an der Nordmauer des Kasr. Die gesamte Literatur über Babylon einschließlich der Keilinschriften kennt aber nur zwei Gebäude, an denen Haustein zur Verwendung kam: die Nordmauer des Kasr und — die sogenannten „hängenden Gärten der Semiramis“, die griechische Dichter besungen haben und von denen die alten Historiker Diodor, Strabo, Flavius Josephus und Quintus Curtius Rufus soviel zu erzählen wissen. Daraus zieht Koldewey den Schluß, daß der Gewölbebau mit diesen „hängenden Gärten“, die einfach auf Dachterrassen angelegt waren, identisch ist, während man sie bisher auf dem Hügel Babil suchen zu müssen geglaubt hat. Den Namen der sagenhaften assyrischen Königin Semiramis hat jedenfalls nur die Phantasie der alten Historiker mit diesen Gärten in Verbindung gebracht. Schon Diodor, der Semiramis als die eigentliche Erbauerin Babylons rühmt, nennt die Gärten ein Werk eines späteren assyrischen Königs, der eine Perserin zur Frau hatte. Da diese in der Ebene Mesopotamiens die Gebirge ihrer Heimat vermißte, habe der König durch diese Anlage den Charakter des persischen Landes nachahmen wollen. —

Der Basaltlöwe in Babylon.
(Links zwischen ausgegrabenen Ruinen das Grundwasser.)

Im Norden des Kasr liegt die „Hauptburg“, die bei Beginn der deutschen Ausgrabungen unter einer 8–12 Meter dicken Erd- und Schuttschicht begraben war. Auch diesen Palast hat Nebukadnezar errichtet und aus vortrefflichen steinharten, hellgelben Ziegeln erbauen lassen. Er war noch reicher ausgeschmückt als die Südburg; an seinen Fronten schimmerten große Reliefs in blauer Fayence; der Boden war mit Platten aus weißem und buntem Sandstein belegt, jeder Stein verzeichnete an der Seite den Namen des Bauherrn. Die Dachbalken waren aus Zedern- und Zypressenholz. Hier hatten Nebukadnezar und sein Nachfolger unermeßliche Kunstschätze zum „Staunen der Menschheit“ [S. 264] gesammelt; wertvolle Proben davon wurden ausgegraben. Den Eingang bewachten wie in den assyrischen Palästen gewaltige Basaltlöwen, wie aus Bruchstücken hervorgeht, die die deutschen Archäologen gefunden haben. An der Nordostecke stand bereits bei Ankunft der Deutschen der schon erwähnte, aus der Zeit Nebukadnezars stammende gewaltige Basaltlöwe, der von seinem Sockel aus die Gegend beherrscht, eine nur grob ausgeführte Plastik ohne feinere Detailkunst. Seine Seiten zeigen zahlreiche Spuren von Flintenkugeln und Steinwürfen. Die Arme des unter dem Löwen liegenden Mannes sind ebenfalls abgeschlagen — ein Zerstörungswerk der Beduinen, die in dem Löwen einen „Dschin“, einen bösen Geist der Wüste, erblicken. Einige Gelehrte sehen in dieser Gruppe eine allegorische Darstellung von Babyloniens Sieg über Ägypten, andere wollen Daniel in der Löwengrube darin erkennen, ein Gedanke, der aber nach Koldewey der babylonischen Kunst fremd ist. Zu den merkwürdigsten Funden auf dem Hügel Kasr gehört eine in neubabylonischer Schrift gefertigte Kopie der berühmten Keilinschrift von Behistun, worin König Darius Hystaspes (521–485) in persischer, susischer und babylonischer Sprache eine ausführliche Geschichte seiner Regierung und der von ihm niedergeschlagenen Empörungen in fast allen Provinzen seines Reiches hinterlassen hat.

In der Südostecke des Kasr fand man die ältesten Ziegelstempel Nebukadnezars. Es gibt verschiedene Arten. Bei einigen wurden die Stempel aus Holz geschnitzt, in Formsand abgedrückt und in dieser Form in Bronze gegossen. Sie sagen fast immer dasselbe: „Nebukadnezar, der König von Babylon, der Pfleger von Esagila und Esida, der Sohn Nabopolassars, des Königs von Babylon.“

Die Ziegel wurden in viereckige Holzrahmen gepreßt, die auf geflochtenen Rohrmatten lagen; meist sind die Abdrücke der letzteren auf der einen Flächenseite noch sichtbar. Dann brannte man sie in Ziegelöfen, ohne Zweifel derselben Art, wie sie noch heute außerhalb Bagdads in Gebrauch sind. Verbrecher in solche Öfen zu werfen, gehörte zu den neupersischen Exekutionsmitteln, die auch Nebukadnezar nicht fremd waren, wie Daniel berichtet.

Phot.: Koldewey.
Ausschachtung des Grabens westlich der Südburg.

Einige Stempel haben acht Zeilen. Von ihnen fanden sich 412 Stück. Von anderen Stempeln gibt es Millionen. Niemals wohl hat [S. 266] ein König in solchem Umfang für seine Unsterblichkeit gesorgt wie Nebukadnezar; fast jeder dieser steinharten Ziegel nennt seinen Namen, und sie waren in solcher Menge da, daß in späteren Zeiten ganze Städte daraus errichtet werden konnten. Die einfachen Häuser in Kweiresch sind zum größten Teil aus solchen Ziegeln vom Palast der entschlafenen Großkönige erbaut.

Hier und da finden sich in den Mauern auch Steine mit größeren Inschriften. Eine derselben, die Koldewey in einer Hofmauer der Südburg entdeckte, berichtet ausführlich von dem Bau dieses Palastes. „Nebukadnezar, König von Babylon, Sohn Nabopolassars, des Königs von Babylon, bin ich,“ so lauten die sechs Zeilen Keilschrift in dem üblichen, pomphaften Stil dieser Urkunden. „Den Palast, die Wohnung meines Königtums aus der Erde Babylons, die in Babylon ist, baute ich. Mächtige Zedern vom Gebirge Libanon, dem glänzenden Wald, brachte ich, und zu seiner Bedachung legte ich sie. Marduk, der barmherzige Gott, der mein Gebet erhört: Das Haus, das ich gebaut, an seiner Behaglichkeit möge er sich sättigen! Das Kisu, das ich errichtet, seinen Verfall möge er erneuern. Darin, in Babylon möge alt werden mein Wandel. Meine Nachkommenschaft möge in Ewigkeit die Schwarzköpfe beherrschen.“

Sein Gebet zum Gotte Marduk wurde nicht erhört, sein Reich zerfiel schon unter seinem Nachfolger, und diese Trümmer auf dem Kasrhügel sind die noch immer gewaltigen Reste der großen Babel, die König Nebukadnezar sechs Jahrhunderte v. Chr. zum königlichen Haus erbaut hatte, „durch seine große Macht, zu Ehren seiner Herrlichkeit“. Ehe er aber, auf der Zinne der Palastmauer wandelnd, diese stolzen Worte ausgesprochen hatte, ertönte eine Stimme vom Himmel: „Dir König Nebukadnezar wird gesagt: dein Königreich soll dir genommen werden, und man wird dich von den Leuten verstoßen, und sollst bei den Tieren, so auf dem Felde gehen, bleiben; Gras wird man dich essen lassen wie Ochsen, bis daß über dir sieben Zeiten um sind, auf daß du erkennst, daß der Höchste Gewalt hat über der Menschen Königreiche und sie gibt, wem er will.“

Den westlichen Teil der Südburg nennt Koldewey auf Grund einer Inschrift Nebukadnezars den Palast Nabopolassars. Er ist der älteste [S. 267] der auf dem Kasr gefundenen Überreste, während die ältesten Baudenkmäler ganz Babylons aus Hammurabis Zeit (um 2200 v. Chr.) stammen.

Nordöstlich von Kasr liegt der Hügel Homera, östlich das griechische Theater, und südlich der weltberühmte Turm von Babel, dessen Spitze nach dem 11. Kapitel der Genesis bis an den Himmel reichte. Etemenanki war sein alter Name. Er stand im „eherntorigen Heiligtum des Zeus Belus“, das noch zu Herodots Zeiten erhalten war und zwei Stadien im Geviert gemessen haben soll. „In der Mitte des Heiligtums,“ berichtet dieser Geschichtschreiber, „erhebt sich ein fester Turm, ein Stadium lang und ein Stadium breit. Auf diesem Turm steht ein zweiter, auf diesem ein dritter und so fort bis zu acht Türmen. Auf die Zinne führt eine Treppe, die um alle diese Türme außen herumgeht. Ungefähr auf ihrer Mitte ist ein Absatz mit Bänken, wo die Hinaufsteigenden sich niedersetzen und ausruhen. Auf dem letzten Turm aber steht ein großer Tempel, und darin ein geräumiges, wohlbereitetes Bett mit einem vergoldeten Tisch davor. Kein Standbild schmückt den Tempel, und nachts bleibt niemand dort außer einem eingeborenen Weib, das der Gott gerade auserwählt hat; so versichern wenigstens die Chaldäer, die Priester dieses Gottes. Sie sagen auch, der Gott selbst besuche den Tempel und ruhe auf dessen Lagerstätte; das scheint mir aber nicht glaublich.“

Ein späterer griechischer Geschichtschreiber, Diodorus aus Sizilien, gibt zwar keine Beschreibung des Turmes selbst, berichtet aber, daß er, wie allgemein versichert werde, außerordentlich hoch gewesen sei, und daß „die Chaldäer dort ihre Beobachtungen anstellten, da sie von einem so hohen Bau aus aufs genaueste den Auf- und Niedergang der Gestirne beobachten konnten. Das Ganze war kunstvoll und mit großen Kosten aus Ziegeln und Erdpech zusammengefügt. Oben an der Treppe standen drei goldene Bildsäulen, die des Zeus, der Hera und der Rhea. Die des Zeus, der stehend und schreitend dargestellt war, maß 40 Fuß in der Höhe und war tausend babylonische Talente schwer. Rhea saß auf einem goldenen Stuhl. Ihre Bildsäule war ebenso schwer wie die des Zeus. Neben ihren Knien standen zwei Löwen, und neben diesen silberne Schlangen von außerordentlicher Größe, jede wog 30 Talente. [S. 268] Hera war stehend dargestellt; in der Rechten hielt sie eine Schlange am Kopf, in der Linken ein mit Edelsteinen besetztes Zepter. Ihr Bild wog 800 Talente.“

Der Historiker Strabo, geboren im Jahr 63 v. Chr., kennt auch das Heiligtum des Zeus Belus, er aber nennt es eine vierseitige Pyramide aus gebrannten Ziegelsteinen, ein Stadium im Quadrat und ein Stadium hoch. Xerxes habe es zerstört, Alexander es wieder aufbauen wollen; dieser sei aber vorher gestorben, nachdem er erst in zweimonatiger Arbeit durch zehntausend Mann den Schutt habe wegräumen lassen.

Die Inschriften der Bauherren selbst schließlich rühmen nur die Höhe des Bauwerks. Nabopolassar, der auf Befehl des Gottes Marduk mit Wiederherstellung des vorher eingestürzten Turms begonnen haben will, versichert, seine Spitze habe „himmelan“ streben sollen, und sein Sohn Nebukadnezar verkündet der Nachwelt: „Etemenankis Spitze aufzusetzen, daß mit dem Himmel sie wetteifere, legte ich Hand an.“

Und was ist von diesem, zu einer Mythe gewordenen Wunderbau der Alten Welt noch übrig? So wenig, daß es fast rätselhaft erscheint, wie die Forschung seinen Standort hat ermitteln und die kümmerlichen Reste nach den dürftigen Angaben der Historiker hat identifizieren können! Nicht einmal ein Hügel ist mehr zu sehen, nur ein Durcheinander von Erderhöhungen, die hier und da mit Ziegelsteinscherben bedeckt sind, zwischen denen etliche genügsame Wüstenpflanzen ihre Stengel und Blätter trotzig der unbarmherzig strahlenden Sonne entgegenstrecken. Wo sich ehemals die dicken Mauern des Turms erhoben, findet man einen ebenso breiten Graben mit kristallklarem, grünem Wasser, ein verführerisch einladendes Quellbecken. Menschen späterer Zeiten haben die unerhörten Ziegelmassen geraubt, die Mauern Fuß für Fuß abgetragen und schließlich dem Erdboden gleichgemacht. Aber nicht einmal damit hat man sich begnügt, sondern die Plünderung sogar bis zu den Grundmauern fortgesetzt, bis der Spiegel des Grundwassers ihr halt gebot. Steinharte, gebrannte Ziegel waren wertvolle Seltenheiten, deren Herstellung Mühe und Kosten erforderte. Die letzten Plünderer waren Leute aus Hille, Kweiresch und andern Dörfern der Umgegend. Auf dem Grund des Grabens findet sich vielleicht noch diese oder jene Ziegelschicht, aber die deutschen Archäologen haben bisher noch nicht weiter [S. 270] nachforschen können. Das Wasser ist salzhaltig und ungesund. Algen und andere Pflanzen gedeihen darin, und über seinem stillen Spiegel, der mit dem Wasserstand des Euphrat steigt und fällt, heben die Frösche ihre Köpfe, um abends ihre Liebeslieder anzustimmen. In den heißesten Tagesstunden sind sie schläfrig und stumm; nur ab und zu hört man ein leise brodelndes Quaken. In majestätischer Ruhe liegt jetzt dieser Platz, auf dem ehemals die Babylonier lärmende Tempelfeste feierten; die lautlose Stille legt sich fast beklemmend auf die Brust. Auf dem Abhang eines nahen Hügels erhebt ein mohammedanisches Heiligengrab seine kleinen weißgelben Kuppeln.

Zeichnung von Koldewey.
Rekonstruktion der Umgebung des Turms von Babel (unvollendet dargestellt), von Esagila, der Kaimauer Naboneds und der Brücke über den Euphrat.

Nur den Fundamentgrundriß des babylonischen Turms hat die Wissenschaft bisher feststellen können; er bildet ein Viereck von 90 Metern Seitenlänge, und von Südsüdosten führte eine mächtige Freitreppe zum ersten Absatz empor. Auch den Grundriß des Peribolus, der den Turm umgebenden Ringmauer mit ihren zahlreichen monumentalen Gebäuden, die jedenfalls als Priester- und Pilgerwohnungen dienten, hat man aufgedeckt. Wie der Turm selbst aussah, weiß man aber noch nicht. Die Schilderung Herodots ist unklar. Wahrscheinlich war er eine „Zikkurrat“, d. h. einer von den im alten Mesopotamien verbreiteten massigen Türmen, um deren Außenwand herum ein langsam ansteigender Weg zur Spitze hinaufführte. Professor Koldewey hofft, die Lösung des Rätsels bei Ausgrabung der am besten erhaltenen Zikkurrat von Borsippa oder Birs Nimrud zu finden, die 20 Kilometer südlich von Babylon liegt. —

Die Gegend östlich von Etemenanki führt den arabischen Namen Merkes, d. h. das Lager. Hier stand ein großer Teil der Bürgerhäuser Babylons. Die Grabungen ergaben, daß das Grundwasser jetzt höher steht als im Altertum. In der 2–3 Meter tiefen obersten Schicht finden sich spärliche Ruinen aus parthischer Zeit. Die darunterliegende, 4 Meter tiefe Schicht enthält Überreste aus der Glanzperiode der neubabylonischen Könige und reicht bis in die persische und griechische Zeit. Die Häuser lagen dicht zusammengedrängt an engen Straßen, denn die Bevölkerung war zahlreich. Die Mauern sind solid aus Lehmziegeln errichtet. Auch der Boden besteht aus Ziegeln, und Rundbrunnen sind allgemein. In der nächsttieferen Schicht finden sich nur wenige Wohnhäuser. [S. 271] In der darauffolgenden Kulturschicht, die Keilschrifttafeln aus der Zeit 1300–1400 v. Chr. barg, sind sie wieder häufiger. 1 Meter unter dem Nullpunkt enthält die unterste Schicht Urkunden der ersten babylonischen Könige (2250 v. Chr.), d. h. aus einer Zeit, auf die der Patriarch Abraham zurückblicken konnte, als er von Ur und Haran aus ins gelobte Land zog. Die Straßen der Stadt waren gerade, schnitten sich fast rechtwinklig und waren, im Gegensatz zur Prozessionsstraße, meist ungepflastert. Die kleineren Tempel lagen mitten in den Straßenlabyrinthen, wie das noch heute in den Städten des Orients üblich ist. Hier und da gab es auch offene Plätze und kleine Märkte.

Phot.: Koldewey.
Trogförmiger Sarg aus Merkes, einem Stadtteil Babylons.

Der Stadtteil Merkes umschließt auch viele Gräber aus den verschiedensten Zeiten. In den ältesten, tiefsten Kulturschichten, die Hammurabi und seinen Nachfolgern angehören, wurden die Leichen unmittelbar der Erde anvertraut, höchstens in Strohdecken gehüllt oder mit Ziegelsteinen umgeben. Sie lagen lang ausgestreckt und anscheinend dort, wo sie bei Lebzeiten ihre Wohnung hatten. Bis 3 Meter über dem Nullpunkt fanden sich Gräber, deren Leichname in hockender Stellung in lange, topfähnliche Gefäße mit rundem Deckel eingeschlossen waren. In der nächsten Schicht folgen kurze und hohe, ebenfalls mit [S. 272] Deckeln versehene Lehmsärge aus der Zeit Nebukadnezars und seiner nächsten Vorgänger; hier sind die Leichname so stark zusammengedrückt und gekrümmt, daß die Kniee bis an das Kinn hinaufreichen. Die 4–7 Meter über Null liegende Schicht enthält trogförmige Särge, die auch zu kurz sind, um die Toten ausstrecken zu können. Die oberste Schicht zeigt griechisch-parthische Gräber mit Ziegelsarkophagen, in denen die Toten in Holzsärgen lagen. Gewöhnlich gab man den Verstorbenen Schmuck mit ins Grab, selten Waffen.

Phot.: Schölvinck.
Die Ausgrabungen von Esagila.

Weiter nach Süden führen uns die Hügel von Amran zu einem gewaltigen Schacht, dessen senkrechte Lehmwände noch die rundlichen Spateneindrücke zeigen. Hier wurden Gräber bloßgelegt, in denen teilweise noch Skelette liegen. Auf einem dieser Hügel erhob sich der Marduktempel Esagila. Die Zella an der Nordseite seines Hofes ist wahrscheinlich die, in der die Generale Alexanders den Gott Ea, der in griechischer Zeit mit Serapis identifiziert wurde, um Rat fragten, ob sich der König zu seiner Genesung hierher tragen lassen solle.

In unmittelbarer Nähe dieses Tempels begann die Euphratbrücke, [S. 273] von der sieben aus Ziegel gebaute Strompfeiler ausgegraben sind. Nach den Angaben Herodots, Diodors und anderer Historiker soll die Brücke ans Hausteinen gebaut gewesen sein; jedenfalls ist sie die älteste bekannte Steinbrücke der Erde.

Östlich von Amran liegt der Tempel eines unbekannten Gottes, und noch weiter östlich der Ninibtempel Epatutila, bei dem zahlreiche Terrakottabilder, männliche Figuren, Reiter auf Pferden und anderes, gefunden wurden.

Ebenso gründlich wie bei dem Turm von Babel hat die Zerstörung an dem Punkte gehaust, der durch die Jahrtausende den alten Namen Babil behalten hat, dem Ruinenhügel im äußersten Norden des Ausgrabungsgeländes. Er ist ein Viereck von 250 Meter Seitenlänge und jetzt ein Durcheinander von Erdmauern und tiefen Schächten. Erst glaubt man, hier seien Zimmer und Gänge ausgegraben, erfährt dann aber, daß man, genau so wie beim Turm von Babel, nur gleichsam den Gipsabdruck eines verschwundenen Stadtteils vor sich hat. Schon im Altertum füllte man, wenn die Häuser verfallen waren, das Innere der Ruinen mit Erde und Schutt aus, um festen Grund für neue Gebäude zu gewinnen. So wuchsen die Städte im wörtlichen Sinne in die Höhe und bildeten sich schichtweise die „Tells“ des Orients; ganz Babylon ist solch ein Tell. Als dann die oberen Schichten zerfielen, die Neubauten aufhörten, der Hügel Babil als Steinbruch diente und man bis zu den Ruinen der vorhistorischen Zeit in die Tiefe grub, wurden nur die Mauerziegel fortgenommen; die Erdausfüllung aber schonte man sorgfältig, damit die Ziegelschächte nicht einstürzten. Was also heute Schächte und Gräben sind, waren ehemals die Mauern, die festen Erdblöcke dagegen die leeren Räume — eine Architektur, die für Uneingeweihte nicht leicht verständlich ist.

Nach Koldewey diente Babel bereits im Altertum, vielleicht schon in der römischen, sicher aber in der parthischen Zeit als Steinbruch. Dann durfte diese Stätte längere Zeit in Frieden ruhen. Um 1890 aber begann eine neue Plünderung, als der Launen des Euphrat wegen der Damm bei Sedde errichtet wurde, um den Strom zu hindern, ganz und gar sein altes Bett aufzugeben. Den türkischen Archäologen Halil Bei und Bedri Bei kommt das Verdienst zu, dieser Verwüstung Einhalt getan zu haben.

[S. 274]

Nur den einen Vorteil hat der Ziegelraub gehabt, daß die deutschen Archäologen ohne langwierige und kostspielige Grabungen sich eine klare Vorstellung von den verschwundenen Gebäuden machen konnten. Auf dem Gipfel von Babil stand ehemals ein Palast mit zahlreichen Räumen verschiedener Größe. Ihren Boden deckten Sandsteinplatten mit der Inschrift: „Nebukadnezars, des Königs von Babylon, des Sohnes von Nabopolassar, Königs von Babylon, Palast.“ Auch alle Ziegelsteine tragen Nebukadnezars Stempel, woraus Koldewey schließt, daß Babil eines der Schlösser dieses Königs gewesen ist. Dr. Buddensieg, der hier unser kundiger Führer war, vermutet, Nebukadnezar habe hier seine Sommerresidenz gehabt. Kühler wird es hier, 2½ Kilometer vom Kasr entfernt, schwerlich gewesen sein. Aber wahrscheinlich war Babil von schattigen Parken und breiten Kanälen umgeben, die der dicht bebauten, in der Sonne bratenden Stadt fehlten.

In dem Hügel Babil fand man Bruchstücke eines Kalkmörtelestrichs, der zu verraten scheint, daß gewisse Teile des Palastes von persischen Königen oder Alexander dem Großen und seinem Nachfolger erneuert wurden. Auch hat sich eine in Stein gehauene Urkunde erhalten, die von H. Winckler übersetzt wurde und nach Koldewey von dem Palast auf Babil handelt: „An der Ziegelsteinmauer gegen Norden trieb mich das Herz, einen Palast zum Schutze Babylons zu bauen, einen Palast wie den Palast Babylons aus Erdpech und Ziegelsteinen erbaute ich darin. 60 Ellen baute ich eine ‚Appa danna‘ gegen Sippar hin; ich machte einen ‚Nabalu‘ und legte sein Fundament in die Brust der Unterwelt an die Oberfläche der Grundwasser in Erdpech und Ziegelsteinen. Ich erhöhte seine Spitze und verband ihn mit dem Palast, mit Erdpech und Ziegelsteinen machte ich ihn wie ein Waldgebirge hoch. Gewaltige Zedernstämme legte ich zur Bedachung darüber. Türflügel aus Zedernholz mit einem Überzug aus Kupfer, Schwellen und Angeln, aus Bronze gefertigt, errichtete ich in seinen Toren. Jenes Gebäude nannte ich ‚Nebukadnezar möge leben, es möge alt werden der Ausstatter von Esagila‘, mit Namen.“

Das Schönste von Babil aber war gewiß und ist noch die Fernsicht von der Höhe, besonders am Abend, kurz vor Sonnenuntergang. Bei Windstille ist die Luft ungewöhnlich klar und durchsichtig. Im [S. 275] Osten treten die Überreste der Mauern und Kanäle hervor und heben sich scharf beleuchtet vom dämmerigen Horizont ab. Im Westen stehen auch die unscheinbarsten Hügel wie schwarze Silhouetten da. Im Süden sieht man mit Hilfe eines Fernrohrs deutlich den Turm von Borsippa oder Birs Nimrud. Über den dichten, Dörfer und Häuser völlig verdeckenden Palmenhainen an den Ufern des Euphrat ragt im Südsüdosten ein schlankes Minarett von Hille empor. In dieser Himmelsrichtung liegen auch die Hauptruinen von Babylon, die Hügel Kasr und Amran, die äußere und innere Mauer der Stadt, alles brandgelb beleuchtet, wo die Sonnenstrahlen hintreffen; aber ins Violette übergehend, wo Schatten sich ausbreitet. Im Norden aber zieht sich ein feines, helles Band durch die leblose Wüste: es ist die Straße, die uns bald nach Bagdad zurückführen soll; ihre erste Station, Mahawil, zeigt die Umrisse ihres Hans oder Gasthauses über dem Horizont.

[S. 276]

Phot.: Koldewey.
Stier-Relief.

Siebzehntes Kapitel.
Eine deutsche Studierstube am Euphrat.

D ie Gelehrten sind sich darüber einig, daß die 5000 Jahre, die wir geschichtlich überblicken können, in dem Klima Mesopotamiens keine Veränderung mit sich gebracht haben. Auch ich habe in meinem Buche „Zu Land nach Indien“ der Frage nach den postglazialen Klimaveränderungen Vorderasiens einige Kapitel gewidmet und auf Grund des Feldzugs Alexanders des Großen an der Küste von Beludschistan nachzuweisen versucht, daß die historische Zeit zu kurz ist, um merkbare Veränderungen zu bewirken. Dreiviertel der Armee des Mazedonierkönigs kam auf jenem Zug durch Hitze und Wassermangel um. Städte wie Babylon und Birs Nimrud waren damals Oasen in derselben öden Wüste, die heute ihre Ruinen umgibt, und wenn Xenophon von fünf Tagemärschen des Cyrus „durch Arabien, den Euphrat zur Rechten“ berichtet: „Hier war der Boden eine Heide, eben wie das Meer und voller Wermut. Büsche oder Schilfpflanzen waren alle wohlriechend [S. 277] wie Spezereien, doch war kein Baum zu sehen“ — so könnten diese Zeilen ebenso gut heute geschrieben sein.

Auch die alte Architektur bestätigt, daß man im Altertum mit denselben Wärmegraden rechnete wie heute. Sie ging nur darauf aus, kühle Räume zu schaffen. Die Sonne konnte durch keine Fenster dringen, überall starrten ihr meterdicke Mauern entgegen; die Türen öffneten sich auf schattige Höfe, und Kanäle mit fließendem Wasser und Palmenhaine boten Erquickung.

Auch das anbaufähige Gebiet am Euphrat und Tigris war damals nicht größer als heute. Nur verstand man mehr von der Wüste zu erobern und in fruchtbares Land zu verwandeln. Das zeigen die Überreste der Kanäle. Aber weite Strecken konnten , wie Eduard Meyer hervorhebt, damals so wenig bewässert werden wie heute und mußten Steppe bleiben, in denen nur Beduinen hausten. Westlich und südlich vom Euphrat begann auch zu jener Zeit sogleich die syrisch-arabische Wüste. Das Kulturland war daher stark begrenzt und an Umfang geringer als das Ägyptens. Deshalb lagen auch die alten Städte nahe beieinander in einem Gebiet, das nur fünfzig Meilen lang und zehn breit ist. Unterhalb, zwischen Kut-el-Amara und Korna, hat man gar keine Ruinen gefunden, denn der Tigris floß damals durch den Arm, den wir jetzt mit dem Namen Schatt-el-Hai bezeichnen. Das ganze Delta hat im Laufe der Jahrtausende große hydrographische Veränderungen erfahren, und die menschliche Kultur besaß kein Mittel, gegen diese Naturkräfte anzukämpfen; sie konnte ihnen höchstens folgen.

Mesopotamien, die „Insel“ zwischen Euphrat und Tigris, war demnach als Kern eines Weltreichs, dessen Herrscher mit verhältnismäßig großen Heeren gegen ein so entferntes Land wie Juda Krieg führten, sehr klein, und es zeugt von starkem Unternehmungsgeist mit hochentwickeltem Organisationsvermögen, daß man die Schwierigkeiten des Geländes, der Verpflegung, der Beschaffung von Trinkwasser und der Aufrechterhaltung der rückwärtigen Verbindungen damals schon so gut zu überwinden verstand, wie in dem heutigen Kriege.

Phot.: Schölvinck.
Der Verfasser zeichnet das Ischtartor.

Während meines Aufenthaltes in Babylon stieg das Thermometer gegen Mittag auf 40, am Nachmittag auf über 42 Grad im Schatten. Wenn die Sonne im Zenit stand, war es kaum möglich, sich draußen [S. 278] aufzuhalten und in den Ruinen umherzuklettern, so schlaff fühlte man sich; man war dankbar selbst für jeden glühendheißen Luftzug, der die durchnäßten Kleider durchdrang, und wenn ich mich um diese Stunde zum Zeichnen niedersetzte, wurde mir bald schwarz vor den Augen; ich mußte schleunigst mein Zimmer aufsuchen, um die Kleider vom Leibe zu zerren und ein Bad zu nehmen in Wasser, das, wenn es über Nacht in Lehmkrügen gestanden hatte, in einer Kühle von bestenfalls 25 Grad gehalten werden konnte. Wenn wir uns dann im gemeinschaftlichen Speisesaal versammelten, dessen Fenster und Türen Mückennetze schlossen, war man nicht viel mobiler als die Laubfrösche, die dort stumpfsinnig in den Aquarien hockten. Zum Essen fehlte jeder Reiz, um so stärker war das Bedürfnis zu trinken, Wasser aus porösen Lehmkrügen mit einem Schluck Rotwein oder Himbeersaft. Professor Koldewey hielt es zwar für besser, während der heißen Tagesstunden so wenig wie möglich zu trinken; ich dagegen huldigte dem Grundsatz: Trinke, wenn du durstig bist! Denn sonst trocknet die Haut ein, und man fällt um vor Mattigkeit, wie ich das im Jahre 1895 in der Wüste Taklamakan am eigenen Leibe erfahren habe. Natürlich sind die Ausdünstungsorgane dabei in ununterbrochener Tätigkeit, und solch ein Monate lang anhaltendes Schwitzbad muß, wie Dr. Buddensieg beobachtet hat, sehr ermattend wirken und die Arbeitskraft vermindern. Nach dem Mittagessen blieb einem nichts anderes übrig, als sich, aller Kleidung bar, [S. 279] hinzulegen und sich einer schlaffen Betäubung zu überlassen, die man nicht Schlaf nennen konnte und die durch keine noch so spannende Lektüre zu überwinden war.

Man lebte erst richtig auf, wenn wir uns am Abend in bequemen Stühlen auf der Dachterrasse lagerten, bei strahlendem Mondschein in kühlender Abendluft des Tages Last und Hitze überwanden und froh waren, wenn die Wärme auf etwas über dreißig Grad gesunken war. Dann beschloß Professor Koldewey seine am Tage begonnene Vorlesung über diese ruhmreiche Stätte, die er so liebt, und über die langen Jahre unerschöpflicher Arbeit, die ihn zum Ehrenbürger Babylons gemacht haben. Wenn ich dann mein Bett aufsuchte, lag ich meist noch lange wach. Leise ging eine nächtliche Brise durch die Kronen der Palmen, und die Schatten des vom Monde weiß beleuchteten Mückennetzes flatterten wie im Elfentanz. Es war wie ein Märchen, und ich glaubte in einem Sarkophag von durchsichtigem Alabaster zu liegen und den Flügelschlag der Jahrhunderte über der alten Königsstadt rauschen zu hören. Die Fülle historischer Erinnerungen, die Koldeweys Vortrag hervorgezaubert hatte, mischte sich unter die Bilder des Traumes; Löwe, Stier und Drache wurden lebendig und wandelten einher mit den fünfzehn gelben Katzen, die im Hause der deutschen Archäologen allenthalben herumsprangen. Sie waren die Lieblinge Koldeweys, der sie nicht entbehren konnte, und zeichneten sich alle dadurch aus, daß die Spitze ihres Schwanzes zu einer kleinen Öse geflochten war, was ebenso vornehm wirkte, wie der Knoten am Schwanz des Drachen von Babel.

Schon in Aleppo hatte mir ein Besucher der Ruinen Babylons versichert, die größte dortige Sehenswürdigkeit sei Professor Koldewey selbst, und diesem Urteil mußte ich zustimmen. Denn der schon bejahrte Gelehrte mit seinem noch immer jugendlichen Wesen, mit seinem tiefen wissenschaftlichen Ernst und seinem behaglichen Humor, die er als unser Dolmetscher am Hofe Assarhaddons, Sardanapals, Nabopolassars und vor allem Nebukadnezars in anregendstem Wechsel anzuwenden wußte, hatte in der ganzen Art, wie er die Dinge sah und wie er selbst lebte, etwas so Charakteristisches, daß ich von seiner Persönlichkeit einen der stärksten Eindrücke mitnahm, den nur ein Mensch auf den andern ausüben kann.

[S. 280]

Ebenso unvergeßlich wird mir das Arbeitszimmer des Gelehrten sein, das zu betreten eine Auszeichnung bedeutete, die nur wenigen Fremden zuteil wurde. Es hatte etwas von einer Eremitenklause, in der sich Staub und Tabaksrauch aus den vier Fuß langen Pfeifen seines Besitzers einträchtig vermischten. Die Fenster waren sorgfältig geschlossen, das eine mit einem Stück Stoff, das andere mit weißem und schwarzem Papier verhängt; wenn man aus diesem mystischen Dunkel wieder ins Helle trat, war man wie geblendet. Alle Ecken und Winkel hingen voller Spinnengewebe, denn die fleißigen Spinnerinnen in ihrer löblichen Arbeit zu stören, hätte der Hausherr nicht übers Herz gebracht. Jedenfalls paßte das Altertümliche dieses Raumes ganz stilgerecht zu dem Ruinenfeld ringsum.

Die Tische bedeckte eine phantastische Sammlung unzähliger Gegenstände. Da waren Federn, Messer und Dolche, Papiere in allen Formaten und Tinte in verschiedenen Farben, Thermometer und alte Briefe, ein Spirituskocher und eine Maultrommel, auf der der große Forscher eine lustige Melodie spielte, Altertümer aller Art, besonders mit Keilschrift bedeckte Zylinder, die noch der Entzifferung harrten. Dann Bücher, Karten und Pläne des Trümmerfeldes, Photographien von Palästen und Tempeln, Kaffeetassen, Gläser und Teller, Toilettesachen und modern arabisches Allerlei. Ein kleines Gestell trug einen Propeller, der, mit Petroleum geheizt, Zugwind hervorbrachte, und daneben lagen zwei Geigen; denn Professor Koldewey studierte Musik, um das musikalische Vermögen der Babylonier beurteilen zu können. Ja, er studierte so ziemlich jede menschliche Wissenschaft, die irgendwie zu der alten babylonischen Kultur in Beziehung stand. In seiner Bibliothek entdeckte man Handbücher der Chirurgie und Anatomie, die er dazu brauchte, um die Darstellung menschlicher Körper in den Plastiken der Babylonier mit der Wirklichkeit vergleichen, ihr Kunstverständnis und ihre Beobachtungsgabe prüfen zu können. Und dickleibige Werke der Zoologie und Paläontologie dienten ihm zur Bestimmung der Tierformen, die sich in Babylon abgebildet finden. Er zeigte mir in seinem eigenen Buche über das wiedererstehende Babylon das Bild eines Drachenfußes verglichen mit dem eines Raubvogels: die Ähnlichkeit zwischen beiden ist in der Tat schlagend und verrät eine bewundernswerte Naturtreue. Dabei [S. 282] hielt mir der gelehrte Eremit einen kleinen Vortrag über diesen Sirrusch, das Fabeltier, dessen Relief wir am Tor des Ischtartempels gesehen hatten; das Wesentliche davon habe ich schon im vorigen Kapitel wiedergegeben.

Phot.: Schölvinck.
Auf der Galerie des deutschen Expeditionshauses.
Von rechts nach links: Dr. Buddensieg, der Herzog, Professor Koldewey, der Verfasser.

Neben zahlreichen unentbehrlichen Werken über Architektur, Ornamentik und Kunstgeschichte standen sogar astronomische Handbücher, denn die Babylonier waren in der Sternkunde sehr erfahren. Und der Fachwerke über Koldeweys eigene Wissenschaft, die er selbst in so hohem Grade gefördert hat, war kein Ende. Den größten Teil seines einsamen Eremitenlebens verbrachte aber Koldewey nicht in dieser seiner Klause, sondern draußen unter den Ruinen, in der unmittelbaren Gesellschaft der alten Babylonier. Die Wogen des Weltkrieges hatten seine Einsamkeit bis dahin nur ein einziges Mal erreicht. Jetzt hörte er kaum noch das Echo der fernen Schlachten. Im März 1917 aber mußte er Babylon zum zweiten Male verlassen, noch rechtzeitig, ehe Bagdad von den Engländern erobert wurde.

Damit ist die Inventaraufnahme dieser deutschen Studierstube am Ufer des Euphrat noch nicht abgeschlossen. Ein Regal in einer dunklen Ecke war angefüllt mit photographischen Apparaten, Blechbüchsen, Pappkasten mit photographischen Platten und Filmkapseln. Hier stand ein Stoß Mappen mit Zeichnungen von Gebäuden und Mauern, dort lehnten sich Reißbretter und Winkel malerisch an Pantoffel und Schnürstiefel, die auf dem Wege zur Vernichtung verschieden weit vorgeschritten waren. Teppiche waren früher einmal in Gebrauch, jetzt standen sie zusammengerollt in einer Ecke. Mehrere gewaltige, eisenbeschlagene Kisten enthielten die größte Kostbarkeit des Hauses: Manuskripte und Tagebücher, Photographien und Pläne. Falls unvorhergesehene Ereignisse zu schneller Flucht zwingen sollten, stand alles bereit, was in erster Linie mitgenommen werden mußte.

Gewiß hatte keine ordnende Hand das Zimmer Koldeweys berührt, seit die arabischen Plünderer darin aufgeräumt hatten. Inmitten des Wirrwarrs stand das Bett, ebenso verstaubt wie alles andre. Hier hatte der Gelehrte drei Monate lang an Fieber darniedergelegen; jetzt war er Rekonvaleszent. Einen Arzt brauchte er nicht! Er hatte ja seine medizinischen Handbücher, und kein Arzt in der ganzen Welt kannte [S. 283] Babylons Klima so gründlich wie er, und keiner sicherlich war mit den Gebrechen seines Körpers vertrauter als er selbst. Ihm war diese Atmosphäre, die ihn umgab, ein Lebensbedürfnis, und in dieser Einsamkeit fühlte er sich unendlich wohl. Er hätte ja ebenso gut nach Hause reisen und andern die Bewachung der Ruinen überlassen können. Aber nein, er wollte nirgends anders als eben in Babylon wohnen!

So lebte und arbeitete der berühmte Forscher, und seine systematischen Ausgrabungen hatten nun eins der alten Gebäude nach dem andern ans Tageslicht gebracht. Wenn aber endlich die Grabungen abgeschlossen sind, und die Gelehrten ihrer Wege ziehen, dann bricht das letzte Stadium der Zerstörung an. Dann beginnt aufs neue der Ziegelraub, dann suchen die beutegierigen Araber wieder nach verborgenen Schätzen, dann nagt wieder die Verwitterung an den Ruinen, und Wind und Wetter treiben hier wieder ihr Spiel. Dann schlagen die Wogen des Wüstenmeers zum letzten Male über Babylon zusammen, und neue Jahrtausende ziehen über die öden Hügel.

[S. 284]

Kerbelawagen.

Achtzehntes Kapitel.
Samarra, die Hauptstadt des Kalifen Mutawakkil.

F ast übersättigt mit Eindrücken überwältigender Art verließ ich am Abend des 18. Mais Babylon. Ein vierspänniger Kerbelawagen, die Postkutsche zwischen Bagdad und Hille, die besonders von persischen Pilgern nach Kerbela und Nedschef benutzt wird, brachte uns, den Herzog, Rittmeister Schölvinck und mich, in zehnstündiger nächtlicher Fahrt nach Bagdad zurück.

Diese Fahrt auf den mit Mänteln und Kissen notdürftig gepolsterten Holzbänken des hochrädrigen Marterkastens, dessen Federung auf ein volles Haus mit Sack und Pack berechnet war, mit uns dreien aber Ball spielte, wird uns wohl allen unvergeßlich sein. Wir saßen im Zickzack, um Raum für die Beine zu haben, und wechselten von Zeit zu Zeit unsere Plätze, um nicht immer auf derselben Stelle gestoßen und geschunden zu werden. An Unterhaltung war nicht zu denken, denn [S. 285] bei dem erbitterten Gerassel des trockenen Holzwagens, dem klappernden Getrappel der Pferdehufe auf dem ebenso trocknen wie harten Wege, der lange Strecken glatt wie Asphalt, dann wieder durch Reste von Kanaldämmen kaum fahrbar war, konnte man sich höchstens durch lautes Schreien verständigen. Nur Freund Schölvinck brachte es fertig, in diesem betäubenden Lärm regelrecht einzunicken, bis plötzlich sein großer Tropenhelm rasselnd vom Kopfe rutschte und er zu der beiden Zuschauer Belustigung jäh aus dem Schlaf aufschreckte. Dazu die unendliche Einsamkeit und die todbleiche Beleuchtung, als der Mond am Himmel stand. Beim Aufgang war er, infolge der durch Dunst und Staub getrübten Atmosphäre, dunkelgelbrot, fast hagebuttenfarbig, und zeigte eine merkwürdige elliptische Form, deren Längsachse dem Horizont parallel lief. Als er dann langsam emporstieg, brannte sein Licht immer klarer und beleuchtete schließlich wie ein Scheinwerfer die Kulissen des Weges: hier und da einen dürren Hügel, einen alten Kanaldamm vielleicht noch aus der Kalifenzeit, die graue Steppe und ab und zu einige Reisende, die mit Pferden, Eseln oder einer stolz einherschreitenden Kamelkarawane aus der Mondscheindämmerung auftauchten und wie Schatten vorüberzogen.

Rittmeister Schölvinck.

Gegen ½4 Uhr zeigte sich endlich ein schwaches Leuchten am östlichen Horizont und ward allmählich heller. Als wir eben über die [S. 286] Brücke von Cher fuhren, sprühte der Horizont in Blitzen, und die Ebene loderte empor wie in einem Steppenbrand. Alles ringsum bekam Farbe, und die Strahlen der siegreich aufgehenden Sonne spielten auf den vergoldeten Kuppeln und Gebetstürmen von Kasimen. Die Grabmoschee stand in der weiten Wüste wie ein Märchenschloß aus schimmerndem Gold, und im satten Grün ihrer Palmen lag wieder die Stadt der Kalifen vor uns.

Bagdad prangte in vollem Flaggenschmuck, als wir ankamen. Der türkische Kriegsminister Enver Pascha wurde erwartet. Er kam wie ein Wirbelwind, von Kanonendonner begrüßt, und fuhr sogleich nach Kut-el-Amara weiter. Dann reiste er nach Chanikin und war am 25. Mai wieder in Bagdad, wo ich ihm im alten Hause des Feldmarschalls von der Goltz, das jetzt von seinem Nachfolger Halil Pascha bewohnt wurde, einen Besuch abstattete. Bald darauf reiste er mit seinem Stabschef, dem General Bronsart von Schellendorf, nach Samarra.

Auch meine Tage in Bagdad waren gezählt. Mein nächstes Reiseziel war Mosul mit den Ruinen von Ninive, und mit gewohnter Liebenswürdigkeit forderte mich der Herzog auf, mich seiner Karawane anzuschließen, die den gleichen Weg nehmen sollte. Da alles, was Fuhrwerk und Pferd hieß, militärisch beschlagnahmt war, erleichterte mir dieser glückliche Umstand meine Weiterreise ungemein.

Am 1. Juni brachen wir auf. Ein Belem setzte uns über den Tigris, und am Bahnhof verabschiedeten wir uns von den zahlreichen deutschen, türkischen und schwedischen Freunden, die sich dort versammelt hatten, von General Gleich und den Majoren Kiesling und Molière, von Dr. Hesse und Konsul Richarz, der am nächsten Tag auf „Sommerfrische“ in sein Särdab hinunterzuziehen gedachte. Dann brachte uns ein Salonwagen zunächst nach Kasimen, wo Halil Pascha, der neue Wali und der syrische Erzbischof von Bagdad den Herzog noch einmal begrüßten, und abends um 10 Uhr langten wir in Samarra an. Soweit war die Bagdadbahn fertig, als der Ausbruch des Krieges ihren Weiterbau unterbrach. Hier wurden unsre Pferde, Maulesel und Wagen ausgeladen, dazu das gewaltige Gepäck, und auf dem Hofe des Stationsgebäudes der Abendbrottisch gedeckt, um den wir uns zu fünf Mann versammelten: Herzog Adolf Friedrich, Rittmeister Schölvinck, Rittmeister [S. 288] Busse, der ehemalige Adjutant des Feldmarschalls, Konsul Schünemann aus Täbris und ich. Auf dem Dach des Bahnhofsgebäudes standen unsere Betten, und über Nacht wehte ein so herrlicher Nordwind, daß das Mückennetz überflüssig war und man zum Laken sogar noch einen Mantel brauchte. Auch über Tag hatten wir nicht über allzu große Hitze zu klagen gehabt und uns bei 33 Grad am Nachmittag wie in Mitteleuropa zur Sommerszeit gefühlt.

Der neue Wali von Bagdad. Der Herzog spricht mit Halil Pascha.
Phot.: Schölvinck.
Indisches Gefangenenzelt.

Am andern Morgen ordnete sich die Hauptabteilung der Karawane und brach unter Konsul Schünemanns Leitung, begleitet von den Ordonnanzen des Herzogs und meinem treuen Sale, direkt nach Tekrit auf. Wir übrigen wollten den Tag zur Besichtigung der alten Kalifenstadt Samarra verwenden, deren Ruinen auf dem linken Tigrisufer liegen.

Um 7 Uhr fuhren wir zum Strom hinunter und hielten an einem von einer Mauer umgebenen Hof, wo eine starke Abteilung englischer Gefangenen aus Kut-el-Amara lagerte; sie waren wie wir mit der Bahn von Bagdad gekommen, sammelten sich hier in dem ersten Gefangenendepot und sollten nun den langen Weg über Mosul und Nesibin nach Ras-el-Ain zu Fuß marschieren, um dann wieder mit der Bahn nach Konia und andern Städten Kleinasiens befördert zu werden.

Phot.: Schölvinck.
Englische Gefangene.

Aus der Schar der englischen Offiziere, die sich am Eingang aufhielt, trat uns ein katholischer irischer Priester entgegen, den ich schon bei den Dominikanerschwestern in Bagdad getroffen hatte, ein älterer vornehmer Mann mit kurzgeschorenem, weißem Haar; er hatte eine angenehme, mitteilsame Art und betrachtete den Ernst seiner Lage mit stoischer Ruhe und sogar mit Humor. Über die Behandlung und Verpflegung seitens der Türken hatte er nicht im geringsten zu klagen, und daß diese ihren Gefangenen keinen erstklassigen Rückzug gewähren konnten, sah er vollkommen ein. Daß viele seiner Leidensgefährten auf dem Marsch von Kut-el-Amara nach Bagdad gestorben waren, schrieb er vor allem dem Mangel zu, der während der Belagerung geherrscht hatte. Aber er fürchtete sehr, daß manche englische Soldaten, die bereits kränkelten, der Anstrengung des Marsches bis Ras-el-Ain nicht gewachsen sein würden. Je zwei mußten ihr Gepäck auf einem Esel verteilen; dieses mußte daher auf das Allernotwendigste beschränkt werden.

Die meisten Offiziere lagen auf Decken und Mänteln am Boden, einige saßen auf kleinen Lederkoffern und rauchten Pfeife. Dieser las in einem Buche, jener schlief, das Taschentuch über das Gesicht gebreitet; ein dritter nähte sich einen Knopf an seinen Khakirock, während sich sein Kamerad das Rasiermesser schliff. Die in unserer Nähe lauschten unserm Gespräch mit dem Priester. Einer von ihnen war Arzt und sorgte für die Kranken, die unter einem provisorischen Schutzdach ruhten. Auf dem Hof saßen die indischen Diener der Ordonnanzen der Engländer um ein kleines Feuer herum, brieten Fische oder kochten Tee und Eier für ihre Herren. An der Mauer lagen indische Unteroffiziere in malerischen Gruppen.

Bei flüchtigem Zusehen hätte man glauben können, alle diese Männer könnten sich nicht mehr auf den Beinen halten; in Wirklichkeit waren sie, mit wenigen Ausnahmen, in bester Verfassung. Sie hatten nur eben nichts anderes zu tun, als sich hinzulegen und in den Himmel zu sehen. Besonders die Engländer waren kräftige, abgehärtete Männer mit wettergebräunten Gesichtern. Sie trugen ihr Geschick mit Gleichmut [S. 291] und sogen an ihren Pfeifen mit einer Ruhe, als ob sie zur Sommerfrische in Schottland wären.

Und doch waren jetzt Indiens stolze Herren keinen Deut mehr wert als ihre 300 Millionen Sklaven! Wer Indien kennt, kennt auch die Kluft, die dort zwischen Europäern und Weißen besteht. Durch seine Macht, seine Organisation, sein militärisches System („Militarismus“), seine überlegenen Waffen und sein herrisches Auftreten, nicht durch seine Intelligenz, hat England das große Indien zu unterjochen vermocht, hält es noch heute dessen Völker wie in einem Schraubstock. Der Engländer befiehlt, der Inder hat nur zu gehorchen; über 400 Millionen Mark jährlich müssen die Landeskinder für eine Armee zahlen, in der sie selbst niemals eine höhere Stelle bekleiden können und die nur zu ihrer Unterjochung da ist. Der frühere amerikanische Präsidentschaftskandidat Bryan hatte nur zu recht, als er kürzlich schrieb: „Verglichen mit dem Despotismus, der in Indien herrscht, ist der russische Zarismus ein Kinderspiel!“

Hier unter den Gefangenen waren sie nun alle gleich, und der eine konnte nicht mehr auf Kosten des andern üppig leben. Das erweckte in mir kein Mitleid. Ich beklagte aber die traurige Rolle, die der Christ jetzt in den Augen der Andersgläubigen spielte. Die Inder, mochten sie nun Hindus, Brahmanen, Buddhisten oder Mohammedaner sein, waren Zeugen der Erniedrigung ihrer früheren Herren, und soweit sie Mohammedaner waren, freuten sie sich wohl gar im Stillen, nicht mehr christlichen, sondern mohammedanischen Offizieren gehorchen zu müssen. Bei den Dardanellen und bei Kut-el-Amara waren die hochfahrenden Engländer von den Türken aufs Haupt geschlagen worden, und jetzt erfuhren sie von diesem Volk, dem sie während des Krieges stets mit Verachtung und Hohn begegnet waren, als Gefangene eine gute und rücksichtsvolle Behandlung! Hier waltete eine göttliche Nemesis, und es ist nun an den Engländern, daraus die nötige Lehre zu ziehen, die sie hoffentlich nicht mißverstehen werden. Auch die späteren Ereignisse in Mesopotamien haben an dem, was einmal geschehen ist, nichts ändern können. —

Am Ufer des Tigris lag eine endlose Reihe von Keleks. Das sind die berühmten Flöße, die aus einem Holzgerippe bestehen, das von einigen [S. 292] hundert mit Luft gefüllten Ziegenfellen getragen wird. Sie dienen als Frachtschiffe auf der Strecke von Mosul oder noch weiter flußaufwärts bis Samarra, von wo die Ladung mit der Eisenbahn nach Bagdad geht. In Samarra werden die Flöße auseinandergenommen, die Felle geöffnet und das zusammengepackte Material zu neuer Verwendung nach Mosul zurückbefördert.

Phot.: Schölvinck.
Ein schattiges Gewölbe.

Auf uns wartete eine Guffa, die uns trotz des hohen Wellenganges halbwegs trocken am andern Ufer absetzte. Dort begann dann unsere Wanderung durch die Ruinen des alten Samarra, arabische Häuser mit schönen Einzelheiten, bis zu der gewaltigen Burg, in deren schattigen Gewölben wir vor der immer heißer brennenden Sonne Schutz fanden. Mittlerweile sandte uns der Platzkommandant einige Pferde, die uns zu der großen Moschee und dem mächtigen Turm ihres Minaretts brachten. Sein wendeltreppenartiger Aufgang war an mehreren Stellen eingestürzt, was die arabischen Pferdeburschen nicht hinderte, wie Katzen darauf herumzuklettern.

Phot.: Schölvinck.
In den Ruinen von Samarra.

Die Zeit erlaubte uns nicht, dieser merkwürdigen alten Kalifenhauptstadt, die dank der Laune eines Herrschers gleichsam über Nacht emporwuchs, nach kaum fünfzig Jahren aber schon wieder verlassen wurde und verfiel, mehr als eine flüchtige Besichtigung zu widmen. Ich beschränke mich daher auf einige Andeutungen über die kurzlebige Geschichte der Stadt und verweise im übrigen auf die [S. 294] Schriften [1] der beiden deutschen Archäologen Professor Sarre und Dr. Herzfeld, die auf diesem Ruinenfeld mit so ausgezeichnetem Erfolge tätig gewesen sind.

[1] „Archäologische Reise im Euphrat- und Tigrisgebiet“ von F. Sarre und E. Herzfeld. Berlin, 1911. — „Erster vorläufiger Bericht über die Ausgrabungen von Samarra“ von Ernst Herzfeld. Mit einem Vorwort von Friedrich Sarre. Berlin, 1912. — „Mitteilung über die Arbeiten der zweiten Kampagne von Samarra“ von Ernst Herzfeld, und: „Die Kleinfunde von Samarra und ihre Ergebnisse für das islamische Kunstgewerbe des 9. Jahrhunderts“ von Friedrich Sarre; beide in: „Der Islam“, herausgegeben von C. H. Becker, Band V, Heft 2–3. Straßburg 1914.

Als Harun er-Raschids Sohn, der Kalif al-Mutasimbillah, infolge der Zwistigkeiten zwischen seiner türkischen und asiatischen Leibwache und der arabischen Bevölkerung sich in Bagdad nicht mehr sicher fühlte, beschloß er im Jahre 836 n. Chr. eine andere Hauptstadt zu gründen. Dazu wählte er einen Platz 130 Kilometer nördlicher am linken Ufer des Tigris, wo vordem nur unbedeutende Dörfer und einige christliche Klöster gestanden hatten. Schon zwei Jahre später bezog er seine neue Residenz und nannte sie Surra man ra’a („Wer sie sieht, der freut sich“). Hier starb er im Jahre 842.

Unter seinem Sohn und Nachfolger, Harun al-Wathik (842–847), wuchs Samarra zu einer Weltstadt heran, die aus allen Teilen des unermeßlichen Reiches, das sich von China bis nach Marokko erstreckte, Bürger und Kaufleute in Massen anlockte. Der eigentliche Erbauer Samarras ist aber Mutasims zweiter Sohn, Dschafar al-Mutawakkil (847–861). Zwei Drittel des bisher freigelegten Trümmerfeldes, das sich in 2 Kilometer Breite 33 Kilometer weit den Tigris entlang erstreckt und die größte Ruinenstätte der Erde ist, stammen aus seiner Zeit. Das ganze bebaute Gebiet Samarras, von dem nur einige Hauptteile ausgegraben sind, umfaßte etwa 200 Quadratkilometer! Die Ringbahn von Berlin schließt nur 90 ein! Die von Mutawakkil erbauten Paläste kosteten 204 Millionen Dirhem (Franken). Auch die große Moschee, das riesige Schloß Balkuwara im Süden des Gebietes und die sogenannte Nordstadt oder al-Mutawakkilije sind sein Werk.

Die große Moschee wurde von 846–852 gebaut und kostete 15 Millionen Dirhem. Die Mauern und Teile der Türwölbungen im [S. 295] Mihrab, in der Gebetsnische, stehen noch heute. Das Ganze war ein Mauerviereck mit vier großen Hallen. In der Mitte des mit Ziegeln gepflasterten Hofes befand sich ein Springbrunnen in Form eines Monolithbeckens von vier Meter Durchmesser, der „die Tasse des Pharao“ hieß. Zahlreiche runde und achteckige Marmorsäulen, Kapitelle und Basen in Glockenform, Scherben von Glas und Gold in Mosaik, Freskomalereien, Stuckornamente, Holzschnitzereien, Öllampen, künstlerisch geformte Fenster und andre Überreste zeugen von der Pracht dieses Tempels. Malwije, das Minarett der Moschee, das sich auf einem Sockel von 32 Meter Seitenlänge erhebt, ist gewissermaßen ein Abkömmling des Turmes von Babel. Die ganze Grundfläche der Moschee betrug 250000 Quadratmeter; wenn der Kalif mit seinem Hofstaat hier seine Freitagsgebete verrichtete, konnten hunderttausend Andächtige bequem darin Platz finden!

Phot.: Schölvinck.
Die große Moschee in Samarra.

Der Palast des Kalifen umfaßte nicht weniger als 175 Hektar; 71 davon gehören zum Garten am Tigrisufer, der Pavillons, Hallen und große Wasserbecken umfaßte. Etwa 300 Arbeiter haben hier allein sieben Monate lang gegraben und 14000 Quadratmeter bloßgelegt; 32000 Kubikmeter Schutt wurden auf einer Feldbahn fortgeschafft. Große Teile des Palastgebietes ließen sich ohne völlige Ausgrabung bestimmen.

Phot.: Schölvinck.
Linkes Tigrisufer bei Samarra.

[S. 297]

Die Privathäuser Samarras waren aus ungebrannten Lehmziegeln und einstöckig, hatten aber bis zu fünfzig Zimmer. Vornehme Gemächer waren geschmackvoll ausgestattet mit orientalischen Gipsornamenten, bei denen Herzfeld drei verschiedene Stilarten unterscheidet: die koptische, die irakische und die nordmesopotamische.

Kurde Selman Petto, 80 Jahre alt.

Bei dem Dorf Dur am Nordende von Samarra steht noch ein etwa ums Jahr 1000 erbautes, viertürmiges Mausoleum des Mohammed el-Duri, des ältesten Sohnes Musa al-Kasims. Al-Aschik ist der Name einer Burg und eines Mausoleums am rechten Tigrisufer, die nach Mutawakkils Zeit entstanden sind.

[S. 298]

Die Kleinfunde aus Samarra, von denen Professor Sarre eine vorläufige Beschreibung gegeben hat, umfassen glasierte und unglasierte, bemalte und ornamentierte, ostasiatische und einheimische Keramik, Wand-, Glas- und Holzmalerei, Papyri, Teppiche, einige Gegenstände aus Metall und Münzen.

Der Kalif Mutawakkil fiel Ende 861 von der Hand seines Sohnes Mutasir, unter dessen Regierung die Auflösung des Reiches begann. Während der letzten zweiundzwanzig Jahre Samarras herrschten hier fünf Kalifen unter blutigen Fehden. Eine Provinz nach der andern fiel ab, und die türkischen Prätorianer wuchsen den Kalifen über den Kopf. Der letzte Kalif in Samarra verließ die Stadt im Jahre 883, zog erst ins südliche Irak und 891 nach Bagdad.

Samarra bestand also nur 45 Jahre (838–883) und verfiel dann schnell. Heute ist es eine kleine schiitische Stadt mit 2000 Einwohnern, einem türkischen Kaimakam, aber ohne Garnison.

Eine Forschungsreise, die Sarre und Herzfeld 1907/08 in Syrien und Mesopotamien unternahmen, gab Veranlassung zu den deutschen Ausgrabungen, die 1911 und 1912 stattfanden. Im Zusammenhang damit nahm der Hauptmann Ludloff vom Generalstab eine Karte des ganzen Gebiets im Maßstab 1 : 25000 auf. Die Ergebnisse der Ausgrabungen und der topographischen Arbeiten bestätigen in allen Punkten die Glaubwürdigkeit der arabischen Geschichtsschreiber Tabari und Baladhuri und die Genauigkeit der Schilderungen des Geographen Jakubi. Die Gottesdienste und Feste, Palastrevolutionen und Volksaufstände, die Triumphzüge und Hinrichtungen, Mordszenen und Begräbnisse, kurz alles, was die alten Chroniken berichten, kann nun wieder, wie Herzfeld sagt, auf seinen wirklichen Schauplatz verlegt werden.

Das heutige Samarra ist eines der großen schiitischen Wallfahrtsorte wie Nedschef, Kerbela, Kasimen und Meschhed in Persien, die alle den Europäern unzugänglich sind. Die schiitische Sekte entstand aus dem dritthalbjahrhundertlangen Streit der omaijadischen und abbassidischen Kalifen mit den Aliden, die direkt vom Propheten herstammen, ist also fast ebenso alt wie der Islam. Der Schiitismus ist die herrschende Religion in Persien und hat als Gegensatz zum arabischen Element politische Bedeutung. Alljährlich unternehmen etwa hunderttausend seiner [S. 299] Bekenner eine Pilgerfahrt nach den zwei Wallfahrtsstätten Samarras. Die eine ist das Mausoleum, unter dessen goldener Kuppel der zehnte und elfte Imam ruhen neben Alis Schwester, Gemahlin und Mutter. Dieses Heiligtum stammt aus neuerer Zeit. Die Kuppel wurde erst 1908 vollendet. Ihre Goldbekleidung, die schon aus weiter Ferne wie eine kleine Sonne leuchtet, ist, wie eine Inschrift über dem Tor verrät, ein Geschenk des Schahs Nasreddin von Persien und hat 30000 türkische Pfund, also über eine halbe Million Mark, gekostet.

Das andere Heiligtum mit einer blauen Fayencekuppel ist eine unterirdische Krypta, in der der zwölfte Imam, der Mahdi, der „Herrscher der Zeit“, der Messias der Schiiten, im Alter von vier Jahren verschwand. Sie wurde vom Kalifen Nasir im Jahre 1210 gebaut. Andere Teile des Heiligengrabs stammen aber aus neuerer Zeit.

Wir ritten auch in die kleine Stadt hinein, um uns wenigstens eine Vorstellung von der Lage der beiden Heiligtümer zu verschaffen und sie von außen zu betrachten. Man bewachte uns dabei scharf, damit wir nicht etwa das verbotene Gebiet betraten. Wir konnten daher nur von der Schwelle aus einen Blick in den Hof des Mausoleums werfen und kehrten dann durch die ärmlichen Basare und das Stadttor, das in einer hohen, von einer indischen Prinzessin zum Schutz gegen raubgierige Beduinen errichteten Mauer liegt, zu unserm Lager am Bahnhofsgebäude zurück.

[S. 300]

Phot.: Schölvinck.
Aufbruch aus Samarra.

Neunzehntes Kapitel.
Die Karawane des Herzogs.

A m andern Morgen verließen wir schon vor Sonnenaufgang Samarra, um baldmöglichst Tekrit zu erreichen, wo der größte Teil der Karawane des Herzogs auf uns wartete. Von den neun Wagen der Kolonne waren vier bei uns, zwei Droschken, ein Jaile und ein Kerbelawagen. Die beiden letzteren waren trotz ihrer Gebrechlichkeit mit Gepäck so schwer befrachtet, daß ich ihnen keine lange Laufbahn prophezeite. Doch ging bis Tekrit noch alles gut ab, denn die Straße dorthin war so eben, als wäre sie asphaltiert, obgleich man von einer wirklichen Straße eigentlich gar nichts sah; der gelbgraue, dürre und harte Alluviallehm des Bodens erlaubte zu fahren wie man wollte. So waren hier einst die Heere des Altertums vorgerückt. Jetzt ging die türkische Etappenstraße hier durch. Aber nur wer von Bagdad nach Mosul wollte, kam dieses Weges; in umgekehrter Richtung benutzte man besser eines der Tigrisflöße bis Samarra.

[S. 301]

Den ganzen Tag über war der Tigris oder doch sein dunkler Vegetationsgürtel in Sehweite. Schaf-, Ziegen- und Rinderherden weideten auf der Steppe; hin und wieder kam ein Bauer mit einem Esel daher; sonst bildeten nur Steppenhühner (Keklik auf Türkisch) und Heuschrecken die Staffage. In ungeheuern Massen pickten die ersteren zu beiden Seiten der Straße, in mächtigen Wolken flogen sie auf, wenn unsre Wagen sich nahten, waren aber sonst wenig scheu. Was sie fraßen und wovon auch die Herden der Nomaden lebten, war nicht recht einzusehen, denn das kurze Steppengras war von der Sonne völlig gedörrt und obendrein von Heuschrecken verdorben. Auch bei diesen war Schmalhans Küchenmeister; mit um so größerer Gier warfen sie sich auf den Pferdemist, und wo sie gar den Kadaver eines Zugtiers fanden, fraßen sie sich buchstäblich zu Tode. Die gefallenen Tiere sah man nicht vor lauter Heuschrecken, und die Kadaver umgab jedesmal ein Wall toter oder sterbender Fresser, die mit aufgeschwollenen Körpern dalagen und die Luft noch mehr verpesteten. Auch wir selbst konnten uns während der Fahrt der widerwärtigen Insekten kaum erwehren, klatschend flogen sie uns gegen Gesicht und Hände, und als wir nördlich von der Ruine Dur, wo unser Weg wieder unmittelbar an das Stromufer heranführte, die Pferde tränkten und ein Bad nahmen, wimmelte selbst das Wasser von diesen widerwärtigen Insekten; ganz wie auf dem Euphrat hatten sich auch hier ungeheure Massen verflogen, und unwiderstehlich riß der Strom sie mit sich, um irgendwo ihre Gebeine in seine neuen Ablagerungen einzubetten. —

Unsere beiden Droschken sollten den Gepäckwagen vorausfahren; die Kutscher aber hatten etwas von räuberischen Überfällen munkeln hören und offenbar vereinbart, sich gegenseitig nicht aus dem Gesicht zu verlieren, so daß wir alle zusammen an dem Gasthof in Tekrit vorfuhren, wo die übrige Reisegesellschaft bereits gestern ausgespannt hatte. Außerdem waren noch Oberarzt Professor Reich und Major Reit, beide auf dem Wege nach Deutschland, seit gestern hier eingekehrt.

Tekrit mit seinen engen, gewundenen Straßen, anspruchslosen Stein- und Lehmhütten und langen grauen Mauern liegt wie Hit auf einem Hügel, gesichert gegen alle Überschwemmungen. Mehrere Kaffeehäuser am Tigrisufer bieten eine prächtige Aussicht auf den Strom. Eines dieser [S. 302] Kavekhanes beherbergte englische Offiziere, die wegen Übermüdung oder Krankheit ausruhen mußten. Auch mein alter Freund Rybot war darunter, und Herzog Adolf Friedrich, Professor Reich und ich unterhielten uns einige Zeit mit den Gefangenen. Ihre Gefaßtheit im Unglück war bewundernswert; von Erregung über die Kriegsereignisse merkte man ihnen nichts an. Als ich daran erinnerte, daß der Herzog Gouverneur von Togo gewesen sei, das englische Truppen besetzt hätten, während er an der Westfront stand, meinten sie lächelnd, Togo werde natürlich wie alle Kolonien bei Friedensschluß zurückgegeben; die englische Presse, die allerdings eine andre Sprache führe, habe darüber glücklicherweise nicht zu bestimmen. Das vornehm zurückhaltende Wesen dieser Angelsachsen stand in so wohltuendem Gegensatz zu dem Ton englischer Zeitungen und so mancher Bankettreden englischer Staatsmänner, daß man sie kaum für Angehörige desselben Volkes hätte halten mögen.

Phot.: Schölvinck.
Ein Teil unserer Kolonne.

Mittlerweie hatte sich auf den zwei engen Höfen, die unsern Troß beherbergten, das malerisch bunte Durcheinander einer Karawanserei entwickelt. Unser wertvollstes Gepäck war in einem stockfinstern Loch geborgen, vor dem Schölvincks Diener Gustav Wache hielt, während die Ordonnanz des Herzogs und sein afrikanischer Diener Schmitt unter Konsul Schünemanns Oberaufsicht die Kutscher und Burschen befehligten. [S. 303] Der schwarze Koch aus Togo wirtschaftete eifrig an seinen Töpfen, während sich sein Landsmann mit Gläsern und Tellern, Messern und Gabeln zwischen arabischen Stallknechten und Hufschmieden hindurchschlängelte, die unsere Pferde fütterten oder beschlugen. Auf der Terrasse an der einen Hofseite saßen etliche Perser, Filzmützen auf dem Kopfe und gewundene Locken an den Ohren, um einen glühenden Mangal herum und stopften mit einer Feuerzange Holzkohlen in den Samowar, aus dem unsere Teegläser gefüllt wurden. Ein Tekriter Bäcker kam mit einem Sack voll Brot hereingestürmt, und Frauen brachten in Holzkummen Milch und Joghurt. Die Flammen unserer Tischlampe und des Lagerfeuers, an dem für uns und die Mannschaft das Abendessen bereitet wurde, warfen unruhige Schatten in das so schon lebendige Bild, und wir freuten uns, beizeiten auf dem Stalldach, wo unsere Betten standen, dem Lärm dieses Feldlagerlebens entrückt zu sein.

Phot.: Schölvinck.
Ein schwieriger Abhang.

Um 3 Uhr morgens, als das Dunkel der Nacht noch auf der Steppe lag, erwachte die Unruhe des Abends bereits wieder. Deutsche und Türken, Araber und Tataren drängten sich durcheinander, um die Karawane zum zeitigen Aufbruch fertig zu machen. Deichseln knarrten, Geschirre rasselten, Pferde und Maulesel wieherten in der frischen Morgenluft. Während wir frühstückten, wurden die Packwagen beladen, Kisten [S. 304] und Kasten mit Riemen festgemacht, und sowie ein Wagen fertig war, fuhr er auf die Straße hinaus. Dort ordnete sich die Kolonne.

Diesmal nahm ich im Automobil des Herzogs Platz. Am Steuer saß derselbe Chauffeur Laube, der uns bei meinem Besuch an der Westfront von Bapaume nach Metz begleitet hatte. Die Straße — wie meist in Asien eine Menge parallel laufender Fußwege — war so glatt, daß man bequem 40 Kilometer in der Stunde fahren konnte. Schwierigkeiten machten nur hin und wieder einige höchstens 10 Meter tiefe Wadis durch die Steilheit ihrer Abhänge. Die Landschaft war ziemlich die gleiche wie am Tage vorher. Nur war die Steppe dichter mit einem Rasen bedeckt, den die Heuschrecken verschmähen; diese fanden sich daher nur bei Tierkadavern. Um so häufiger waren die Steppenhühner, die dicht vor unserm heransausenden Auto in Wolken aufstiegen, mit ihren kurzen pfeifenden Flügelschlägen uns umschwirrten und sich bald wieder niederfallen ließen. Wenn wir anhielten, hörten wir das Gackern der Hennen, die um ihre Küchlein bangten. Mit sicherer Hand erlegte der Herzog neunzehn Hühner, die eine willkommene Abwechslung unserer Speisenkarte waren, uns aber auch in den Verdacht der Straßenräuberei brachten. Denn eben als der Herzog schoß, kam eine unbeladene Kamelkarawane des Weges; sogleich begannen auch deren Leute zu schießen, um uns zu zeigen, daß sie nicht unbewaffnet seien. Als sie dann sahen, daß wir friedliche Europäer waren, kamen sie herangeritten und grüßten „Marhabba“. Auch graue Antilopen mit weißem Bug zeigten sich in kleinen Herden; aber ihnen war nicht beizukommen; ehe man sich zum Schuß fertig machen konnte, waren sie verschwunden.

Begegnung mit einer großen Kamelkarawane.
Phot.: Schölvinck.
Beduinen am Tigris.

In zweieinhalb Stunden erreichten wir den Ort Charnine am Fuße einiger Hügel. Hier machten wir für heute halt, um unsere Begleitung zu erwarten. Der neuen Karawanserei auf einer steilen Anhöhe, wo gerade eine mit Getreide beladene Rinderkarawane einzog und ein „Seraiban“, ein Aufseher, mit vier Wachtposten sich einquartiert hatte, statteten wir nur einen Besuch ab. Für unsere Tagesruhe wählten wir den alten Han, eine malerische Ruine mit bedenklich brüchigen Gewölben und Mauern. In seinem Außenschatten ließen wir uns nieder, brieten die heutige Jagdbeute und vertrieben uns die Zeit mit Unterhaltung, Lektüre, Rauchen und Streifereien in die Umgebung. Im Laufe des [S. 307] Nachmittags kam Professor Reich in seinem aus Bagdad stammenden, gelb angestrichenen Deckwagen, der wie eine Postkutsche aus der Zeit Napoleons aussah, umsomehr als an seiner Rückseite ein großes N prangte. Einige Stunden später fanden sich auch Schölvinck und Busse ein und dann die ganze Kolonne. Auf dem hohen Ufer eines 10 Meter breiten und 3 Meter tiefen abgeschnürten Tigrisarmes, der von allen Seiten durch frisch sprudelnde Quellen gespeist wurde und reich an Fischen, Schildkröten und Fröschen war, fuhren die Wagen zu einem reizenden Lager auf. Ringsum wimmelte es von Steppenhühnern. Als wir uns nach einem erfrischenden Bad beim flackernden Feuer versammelten, umsummten Myriaden Insekten die Lichter auf unsern Tischen. Auch eine große häßliche Tarantel kletterte auf einen unserer Zeltstühle und mußte ihre Kühnheit mit dem Tode büßen. Die Mannschaft tötete noch vier dieser giftigen Riesenspinnen. Im übrigen dokterten wir lange an einem Pferd und einem Maulesel herum, mit denen es nach den Anstrengungen des Tages zu Ende ging.

Araber vom Albu Segar-Stamm.

Am andern Morgen zogen wir in nordwestlicher Richtung weiter, der Herzog und Busse zu Pferde, Schölvinck und ich im Auto. Rechts erhob sich die Bergkette des Dschebel Makhul, links dehnte sich die lautlose, jetzt fast völlig einsame Steppe. Da erschien am Nordrand des Horizonts eine Reihe schwarzer Punkte, etwa dreihundert Kamele, die unbelastet südwärts wanderten. Während in Zentralasien die Karawanen in langen Reihen hintereinander marschieren, läßt man sie in Mesopotamien gewöhnlich neben der Straße in breiter Herde über die Steppe gehen, damit sie nicht andere Karawanen behindern. Wir hielten und [S. 308] machten einige photographische Aufnahmen von den ruhig und würdig vorbeischreitenden Tieren, die unser Auto ganz ohne Scheu mit offenbarem Interesse betrachteten. Die Besitzer der Karawane, wohlhabende Kaufleute, kamen auf grauen Stuten hinterher geritten.

Als wir eine kurze Strecke weiter gefahren waren, wurde eine unzählige Masse solcher schwarzen Punkte vor uns sichtbar. Bald hatten wir sie eingeholt. Diesmal war es ein ganzer Araberstamm namens Albu Segar, der in der Umgebung von Mosul neue Weideplätze aufsuchte. Ein graubärtiger Alter berichtete uns, das heutige Ziel sei ein niedriger Hügel rechts der Straße, und da wir den Unsern weit voraus waren, schlossen wir uns den Nomaden an, um eine Lagerung großen Stils mitzumachen.

Phot.: Schölvinck.
Das alte und das neue Transportmittel: Kamel und Automobil.

Hier wie in Tibet bestimmen Weide, Wasser und Jahreszeiten die Wanderungen der Nomaden. Jetzt trieb die große Hitze die Albu Segar-Araber nordwärts; im Herbst wanderten sie wieder den Tigris hinunter. Wo sich ergiebige Weide fand, machten sie einen oder mehrere Tage Rast oder unternahmen wohl auch einen Abstecher westlich in die Steppe hinein.

Ein prächtiges Bild, wie die Herrscher der Wüste durch ihr angestammtes Reich zogen, das sie nur mit wilden Tieren teilten und in dem sie jede Quelle und jeden Weideplatz seit den Tagen ihrer Urväter kannten. Kamele, Pferde und Esel trugen ihre bewegliche Habe, Männer [S. 309] und Knaben, teils beritten, trieben die Lasttiere an. Auf hohen gelben oder weißen Dromedaren ritten die vornehmen Frauen; sie saßen tiefverschleiert in einer Art Vogelbauer, das durch Vorhänge geschlossen werden konnte, jetzt aber geöffnet war; einige hatten ihre kleinen Kinder bei sich. Andere Frauen ritten nach Männerart auf Pferden. Die armen Leute mußten zu Fuß gehen. Gewaltige Schafherden überschwemmten in mehreren Abteilungen die Steppe.

Bald war der Vortrupp an einer salzhaltigen Quelle angelangt. Nun wurden schwarzbraune Zeltbahnen auf dem Boden ausgebreitet, Stangen darunter aufgerichtet, die Zeltbahnen durch Seile gespannt und diese an Pflöcken befestigt. Wände aus Schilfmatten trennten die Räume für Frauen und Küche ab. Die Räume der Männer wurden schnell mit Teppichen und abgenutzten Kissen ausgestattet.

Araber vom Albu Segar-Stamm.

Wir hatten für uns und das Automobil um Unterschlupf während der heißen Tagesstunden gebeten. Der Wagen verschwand unter dem äußersten rechten Flügel eines großen Zeltes, und wir verbrachten hier den ganzen Tag. Wir beobachteten die Araber, und sie nicht minder neugierig uns. Europäer und Autos waren ihnen nichts Neues, aber beide zusammen in einem Zelt als Gäste hatten sie noch nicht erlebt. Erst waren sie scheu und zurückhaltend, allmählich aber brach das Eis. Einige besonders schöne Gestalten mit blitzenden Augen, aristokratisch geschwungenen [S. 310] Nasen und schwarzen Bärten in der kleidsamen Tracht ihrer weißen Tücher (Keffije), deren Zipfel über Schultern und Rücken herabhingen und auf dem Scheitel durch zwei dicke, runde Ringe aus schwarzer oder brauner Ziegenwolle (Aggal) festgehalten wurden, versetzten sogleich meinen Zeichenstift in Unruhe. Es war aber schwer, sie zum Modellstehen zu bewegen, und erst als ich unsern Gendarm vor ihren Augen porträtiert hatte, ohne daß dieser dabei einen Schaden erlitt, und jedem einen halben Medschidije versprach, ließen sie sich dazu herbei. Bald lockte der Klang des Silbers auch Leute aus den Nachbarzelten heran, und alle Furcht vor den moralischen Folgen der Prozedur schien gewichen. Die großen, starken Menschen waren wie die Kinder und schämten sich weder ihres Geizes noch ihres Mangels an Mut. Eine der Frauen zu zeichnen, war dagegen unmöglich. Nicht als ob diese sich geweigert hätten, aber die Männer duldeten das nicht. Der Häuptling des Zeltes erklärte mir, auch für unser ganzes Gold und Silder werde keine Frau des Stammes der Schande des Porträtiertwerdens preisgegeben.

Der hungrige Araberjunge.

Als Dank für die Gastfreundschaft, die die Araber uns gewährten, kauften wir für 7 Medschidije zwei Schafe und ein Lamm und luden die ganze Gesellschaft in ihrem eigenen Zelt zu Gaste. Die Schafe wurden geschlachtet, abgezogen, in der Küche in zwei großen Töpfen gekocht und auf großen Metallplatten das Fleischgericht hereingebracht. In zwei dichten Gruppen knieten die Männer zum Mahle nieder und schlangen mit heißer Gier herunter, was sie erwischen konnten; die abgenagten [S. 311] Knochen zerschlugen sie auf dem Rücken ihrer Messer, um auch das Mark zu genießen. Für uns wurde eine besondere Portion nicht sonderlich schmackhaft in Fett gebräunt. In einiger Entfernung sah ein bleicher magerer Junge mit fieberhafter Aufmerksamkeit der Fütterung zu. Er sei krank, behaupteten die Männer, und dürfe nicht essen; ich reichte ihm ein großes Stück, seine Augen glänzten, seine Zähne blitzten, und in wenigen Augenblicken war seine Beute verschwunden. Seine Krankheit war wohl nur Hunger gewesen. Aus andern Zelten stellten sich noch mehrere Gäste ein, jeder erhielt seinen Anteil, und es blieb sogar noch Fleisch übrig, das zu späterer Verwendung wieder in die Küche geschafft wurde. Sehr befriedigt erhoben sich unsere arabischen Freunde von diesem ungewöhnlichen Festschmaus. Unser Silber hatten sie in der Tasche, das Fleisch der ihnen abgekauften Schafe selbst aufgegessen, und die Felle bekamen sie noch dazu geschenkt — ein feines Geschäft! Dafür bewirteten sie uns mit Airan, saurer Milch, und dünnem Gerstenbrot, das auf einem Kasserollendeckel gebacken war. Den Schluß machte Kaffee, der bitter war wie Chinin.

Einer unserer Gäste im Araberzelt.

Merkwürdigerweise war die Hitze im Zelt gar nicht drückend. Es wehte schwacher Nordwind, aber er kam doch direkt aus der in der Sonne glühenden Steppe, und die Zeltbahnen waren mit so weiten Stichen zusammengenäht, daß die Sonne auf dem Boden allerhand Lichtstreifen zog. Auch mußte die dunkelbraune oder eher schwarze Farbe die Wärme anziehen. Und doch ist in diesen heißen Gegenden kein Schatten wohltuender als der im Zelt der Araber. In den Löchern [S. 312] der Hans oder den unterirdischen Särdab ist der Schatten dichter und die Zahl der Wärmegrade etwas niedriger, aber die eingeschlossene, unbewegte Luft sehr drückend. Die schwarzen Zelte dagegen sind nach allen Seiten hin offen, die Luft kann beständig wechseln, kein frischer Hauch geht verloren, und Licht und freie Aussicht nach allen Seiten geben dazu ein Gefühl der Freiheit, das man in geschlossenen Räumen sehr entbehrt.

Als der Abend dämmerte, meldeten uns die Araber, daß Wagen und Reiter auf der Steppe in Sicht seien. Es waren unsere Leute. Wir verabschiedeten uns also von unseren arabischen Wirten oder vielmehr Gästen, stießen wieder zu unserer Karawane und begaben uns zur Quelle Bilalidsch, wo diesmal unser Nachtlager sein sollte.

Phot.: Schölvinck.
Ein Rad ist los.

Die Karawane hatte einen neuen Unfall erlebt: einer unserer Perser war, jedenfalls im Schlaf, von einem Wagen gestürzt und überfahren worden. Jetzt lag er in einer Droschke, und ein Kamerad pflegte ihn. Gebrochen hatte er nichts, wie sich bei näherer Untersuchung zeigte, aber das Erlebnis hatte ihn doch mächtig angegriffen.

Nach kurzer Nachtruhe waren wir früh um 4 Uhr wieder auf den Beinen. Heute mußten der Herzog, Schölvinck, Busse und ich zu vieren mit dem Auto vorlieb nehmen, da der Weg nach Assur für die Gepäckwagen sehr beschwerlich war, und alle Pferde gebraucht wurden. Er [S. 313] führte über die an sich unbedeutenden Hügel, die den Dschebel Hamrin mit dem Dschebel Makhul verbinden; aber sie sind von Wasser und Wind zu verfitzten Labyrinthen verarbeitet. Bald boten tiefe Rinnen mit steilen Rändern lästige Hindernisse, bald war die Straße so schmal, daß das Auto kaum vorwärts kam, bald lag sie voller Blöcke oder war durch Erdrücken gesperrt. Unser tapferes Auto überwand aber alle Schwierigkeiten und konnte schließlich über ebenerem Gelände in beschleunigter Fahrt dem Tigrisstrom und der alten Königstadt Assur zueilen.

Unsere Reisegenossen aber kamen nicht so glücklich durch. Als wir nach Besichtigung der Ruinen von Assur ausruhten, langte des Herzogs Ordonnanz Gustav mit der Nachricht an, ein Jaile sei auf dem schwierigen Wege umgestürzt und zerbrochen und habe dem Kutscher, einem alten Manne aus Bagdad, den Oberschenkel zerschmettert. Sofort schickten wir das Auto, um den Verunglückten zu holen. Konsul Schünemann und Wachtmeister Schmitt hatten ihn so gut wie möglich geschient, und wir ließen ihm alle Pflege angedeihen. Der Alte weinte über sein Mißgeschick, war aber mit einigen Zigaretten schnell getröstet. Als dann am Abend unter Gepolter und Hallo die übrige Kolonne mit ihren schwitzenden Gäulen und schwer bepackten Wagen, die auch noch die Last des verunglückten Jaile hatten übernehmen müssen, angekommen war, übergaben wir unsere beiden Patienten dem Bahnhofsvorsteher und ließen einen von der Mannschaft bei ihnen, um sie nach einigen Ruhetagen auf einem Kelek nach Bagdad zu bringen.

Diese kleinen Mißgeschicke waren aber nur ein Vorspiel dessen, was auf dem Wege von Assur nach Mosul unser wartete.

[S. 314]

Phot.: Schölvinck.
Assur.

Zwanzigstes Kapitel.
Die Königsstadt Assur.

I n Assur ging es uns nicht so gut wie in Babylon, wo uns der beste aller Führer zur Seite war. Hier mußten wir uns damit begnügen, aufs Geratewohl über Schutthügel und Fundamente von Palastmauern zu wandern, in der glühenden Sonnenhitze die tiefen Suchgräben und Schächte zu durchklettern, die das Ruinenfeld rechtwinklig durchqueren, und hier und da im Schatten einer Marmorplatte oder eines unterirdischen Gewölbes auszuruhen. Wir fanden auch den großen, zerschlagenen Steinsarkophag, den die deutschen Archäologen mit unendlicher Geduld wieder zusammengefügt haben. Die Ausgrabungen begannen mit Erlaubnis der türkischen Regierung und unter Leitung der Deutschen Orient-Gesellschaft im September 1903 und wurden bis zum Ausbruch des Weltkriegs fortgesetzt. Ihre Ergebnisse gliedern sich in fünf Gruppen: A ) Baudenkmäler aus assyrischer Zeit; B ) Einzelfunde aus assyrischer Zeit; C ) Denkmäler aus parthischer Zeit; D ) Verschiedenes; [S. 315] E ) Die Inschriften von Assur. Bisher sind vier Foliobände der Gruppe A erschienen; daraus kann man sich eine Vorstellung von dem Umfang eines Werkes machen, das nur die Schilderung einer einzigen Stadt enthält. Aber diese Schilderung muß in Zukunft die Ruinen ersetzen, denn diese sind, wie mir Professor Andrae schon in Bagdad sagte, durch die Ausgrabungen zerstört worden. Ohne letztere hätte jedoch die wissenschaftliche Forschung niemals die Stadt erobern können, die dem assyrischen Reich seinen Namen gegeben hat.

Nach meiner Heimkehr versuchte ich, in die Folianten von Professor Andraes grundlegendem Werk „Der Anu-Adad-Tempel in Assur“ (Leipzig, 1909) einzudringen. Assyrische Tempelbauten waren vordem wenig bekannt, und man ersehnte seit langem die Gelegenheit, über die sargonischen, also jungassyrischen Tempel in Chorsabad (etwa 720 v. Chr.) hinaus ältere Denkmäler dieser Art zu erforschen, um Material zum Vergleich mit den besser bekannten babylonischen und den umstrittenen salomonischen Tempelbauten zu gewinnen. Der Anu-Adad-Tempel am Nordtor der Stadt Assur zwischen dem Palast Assurnasirpals im Osten und dem „neuen Palast“ Tukulti-Ninibs im Westen erfüllte diesen Wunsch.

Anu und Adad sind zwei Götter, Anu der Himmelsgott und Gottvater, Adad „sein tapferer Sohn“, der Gott des Blitzes und des Wetters. Die Ruinen ihres Tempels zeigen zwei typisch assyrische Heiligtümer; das ältere wurde Ende des 12. Jahrhunderts von Assurrisisi begonnen und von Tiglat-Pileser I. vollendet; das jüngere baute Salmanassar auf den geschleiften Mauern des alten in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts.

Beide Tempel bezeichnen zwei verschiedene Bauperioden, die in Einzelheiten sehr voneinander abwichen, im Hauptplan aber miteinander übereinstimmten: die eigentlichen Tempelräume lagen jedesmal zwischen zwei mächtigen Türmen (Zikkuraten) nebeneinander, ihre Tore gingen nach Südosten, und davor war ein Hof, den allerhand Seitengebäude umgaben.

Von dem älteren Tempel ist nur der Unterbau erhalten, bis zu fünf Meter hohe, dicke Mauerteile aus steinharten Ziegeln von gelbem Lehm. Sie stehen auf felsigem Grund, der durch Erdfüllung geebnet worden ist. Die Reste genügen, um den Grundriß mit größter Sicherheit [S. 316] zu bestimmen. Rätselhaft ist nur der Überbau mit den Toren und Türen. Auch Inschriften des Erbauers fand man an Ort und Stelle; eine von ihnen lautet: „Assurrisisi, Priester des Gottes Assur, Sohn des Mutakkilnusku, des Priesters des Gottes von Assur, des Sohnes von Assurdan, dem Priester des Gottes Assur, Erbauer des Tempels Adads und des Gottes Anu“.

Der Hof ist 50,5 Meter breit und 28 Meter tief. Seine Mitte nahm ein Brunnen ein. Die geringfügigen Reste der umliegenden Gebäude mit ihren Zimmern und Gängen geben viele Rätsel auf. Wer Assurs jetzige Schuttlabyrinthe gesehen hat, muß aufs Höchste den Scharfsinn bewundern, der diese Tempel und Mauern rekonstruiert und sogar Detailzeichnungen von ihnen entworfen hat.

Der Grundriß der beiden Türme ist quadratisch, ihre Seitenlänge 36 Meter. Aber wie sahen sie selbst aus? Konnte man sie besteigen und wie? Ein Vorbild aus assyrischer Zeit bietet der Tempelturm von Chorsabad, um den sich eine einfache Rampe zur Spitze emporwindet. Wahrscheinlich waren auch die beiden Türme des Anu-Adad-Tempels massiv wie alle bekannten Zikkurate. Andrae vermutet, daß ihre Höhe etwa 50 Meter betrug, und daß ein fünf Meter breiter, langsam ansteigender Weg vom Hof aus hinaufführte. Baudokumente auf Ziegeln und Terrakottaprismen nennen Tiglat-Pileser I. als Vollender dieses Tempelbaues. Die im Jahre 1852 von Rassam und Layard gefundenen, heute im Britischen Museum befindlichen berühmten Prismen, deren achthundert Textzeilen die Regierungstaten Tiglat-Pilesers verewigen, verschweigen, daß sein Vater Assurrisisi, wie Andrae nachweisen konnte, den Grundstein zu dem Tempel gelegt hat.

Rekonstruktion des Tempels des Assurrisisi (nach Andrae).
Rekonstruktion des Tempels Salmanassars II. (nach Andrae).

Von dem jüngeren Tempel ist fast die ganze Nordseite verschwunden, von andern Teilen aber sogar der Überbau erhalten. Zweihundertundfünfzig Jahre nach Tiglat-Pileser I. ließ Salmanassar II. die jedenfalls noch bedeutenden Reste des alten Tempels bis auf fünf Meter über dem Felsengrund abtragen und errichtete nun auf diesem eingeebneten Grund den Neubau, der an Umfang kleiner, aber noch immer sehr groß war. Eine hier gefundene Urkunde berichtet, das Dach habe aus Zedernholzbalken bestanden; eine andere ist in Basalt eingehauen und lautet: „Salmanassar, der mächtige König, der König des Alls, der König [S. 319] des Landes Assur, der Sohn Assurnasirpals, des Königs des Landes Assur, des Sohnes von Tukulti Ninib, dem Könige des Landes Assur, der Erbauer des Tempels des Gottes Anu, des Tempels des Gottes Adad“.

Salmanassars Brunnen auf dem Hofe ist von einer Ringmauer umgeben und bis zum Grundwasser 29,5 Meter tief. Unter den Tempelmauern fand man Beile und Schwerter, die wahrscheinlich symbolische Bedeutung hatten. Nach dem goldenen Blitz zu urteilen, den Adad in der Hand hielt, müssen die Götterbilder prächtig ausgestattet gewesen sein.

Phot.: Andrae.
Der Tigris bei Assur.

Neun Jahre verwandten Andrae und seine Mitarbeiter auf die Freilegung der Festungswerke Assurs (vgl. „Die Festungswerke von Assur“ von Walter Andrae. 2 Bde., 1913), denn ihre Bestimmung war nicht nur wichtig für die Erkenntnis der ganzen Stadtanlage, für Ermittlung ihrer Zugänge und zugleich des Verlaufs der wichtigsten Handelsstraßen, sondern auch für die Geschichte der Befestigungskunde überhaupt, da man assyrische Festungen bis dahin nur ungenügend kannte. Die Arbeit war um so schwerer, als die Mauern am Rande des Stadthügels naturgemäß am meisten der Vernichtung ausgesetzt waren, und obendrein der Tigris den größten Teil der Ostfront zerstört hatte.

[S. 320]

Assur liegt auf der Spitze eines Ausläufers der Chanukekette, und der Platz war für eine Festung wie geschaffen. Im Osten bespülte ihn der schnellfließende, das ganze Jahr über tiefe Tigris, ein Angriff von dort war also unmöglich. Im Norden fiel der Fels (weicher Sandstein und Kieselkonglomerat) jäh nach einem Stromarm ab, der trefflich als Festungsgraben diente. Am Rande dieses noch erkennbaren Flußbettes hatten wir unser Lager aufgeschlagen. Vor der Westfront erleichterten zwei kleine Täler die Anlage von Gräben, die nur da zugeschüttet waren, wo Straßen zu den Toren führten. Im Süden war eine Geländesenkung. Der einzige Nachteil war, daß man von dem Hügelplateau im Westen aus in die Stadt hineinsehen konnte. Deshalb baute man die Westmauer am höchsten.

Das Alter der Festungsbauten Assurs ist sehr verschieden. Andrae unterscheidet die archaische Zeit bis zur Mitte des 2. vorchristlichen Jahrtausends, die altassyrische bis Ende des 2. Jahrtausends, die jungassyrische vom Anfang des 1. Jahrtausends bis Sargon, die spätassyrische unter Sargon und den Sargoniten bis zur Zerstörung des assyrischen Reiches im Jahre 606 v. Chr., die nachassyrische der Wiedereinwanderung unter den Neubabyloniern und Cyrus (6. Jahrhundert) und die parthische Zeit, die ersten zwei Jahrhunderte vor und nach Christus.

Phot.: Andrae.
Der Strand von Assur.

Aus vorgeschichtlicher Zeit haben sich keine Befestigungen gefunden, nur Grundmauern von Häusern, Feuerstätten und Kanälen. An der [S. 321] Ostseite führte man schon zu Anfang des 2. Jahrtausends Mauern auf, um die Stromfahrt zu beherrschen und das Ufer gegen die Erosion zu schützen. Diese Mauern befestigte Adadnirari I. in altassyrischer Zeit. Davon ist noch vieles erhalten. Auch legte man Landeplätze und Treppen am Ufer an. An der Nordostecke der Stadt lag der Assurtempel mit der Front nach Norden, und an der Nordwestecke der Palast Tukulti-Ninibs I. auf seiner ungeheuren Plattform.

In jungassyrischer Zeit baute Salmanassar III. im Westen und Südwesten eine äußere und eine innere senkrechte Mauer, auf denen je eine Fahrstraße hinlief. Blaugelbe und schwarzweiß glasierte Ziegel schmückten die Zinnen. Nach seiner Regierung, aber vor Sargon, verfiel die innere Mauer; an ihrer Stelle entstanden Wohnhäuser, und davor legte man eine niedrigere Mauer an.

In spätassyrischer Zeit führten Sargon und Sanherib noch mancherlei Verbesserungen aus. Die Achämeniden dagegen ließen die Befestigungen unverändert, und auch in der parthischen Zeit wurde nichts daran getan.

Aus der Zeit Salmanassars III. grub man sieben Tore aus. Jedes Tor flankierten zwei Türme; nach innen waren Wachtstuben, Rampen und Treppen, die zur Mauerzinne hinaufführten. Eines der Tore hieß Abul gurgurri, das Stadttor der Metallarbeiter; die übrigen sind bisher namenlos. Die Zapfen der gewaltigen Flügel des Gurgurritores, zylinderförmige Basaltblöcke, sind noch vorhanden. Verkohlte Zedernholzbalken lassen auf eine Feuersbrunst schließen. Zwei sargonitische Kalksteinblöcke an diesem Tor tragen Sanheribs Namen. Eine Bildsäule Salmanassars III., die im Gurgurritor stand, besitzt jetzt das Ottomanische Museum in Konstantinopel, eine andere, die den König auf seinem Throne sitzend darstellt, das Britische Museum. Beide sind in Lebensgröße.

Der ebenfalls ausgegrabene, offenere Zugang von Norden her, den man nicht als Tor bezeichnen kann, hieß Muschlal und wird schon Ende des 3. Jahrtausends auf Ziegelinschriften erwähnt. Adadnirari I. in altassyrischer Zeit ließ ihn erneuern; auch die jungassyrische Zeit unter Salmanassar III. kennt ihn. Unter Sanherib heißt es: „Der Palast Muschlal in der Stadt Assur“, und bei Assarhaddon: „Bît muslalu, [S. 322] das am Palast der Stadt Assur liegt, ließ ich aufs neue erbauen als Ein- und Ausgang“.

Straßen an der inneren Mauer stammen aus spätassyrischer Zeit; sie erinnern an die Straßen Pompejis und der heutigen Städte des Orients.

Professor Andrae beschreibt ausführlich alle Einzelfunde, die an den Mauern gemacht wurden, Ziegelkanäle, Straßen und Häuser, Abflußtrommeln, Poternen, Wehrgänge, Turmtreppen, Bastionen, emaillierte Terrakottareliefs, Kupferbecken, Konsolen, Haken und Pfeilspitzen aus Bronze, Gräber und Ziegel mit Inschriften, von denen folgende aus der Zeit Salmanassars III. als Probe angeführt sei: „Salmanassar, der König des Alls, König des Landes Assur, der Sohn des Assurnasirpal, des Königs des Landes Assur. Erobernd herrschte ich vom großen Meer beim Lande Amurru gegen Sonnenuntergang bis zum Meer beim Lande Kaldu, genannt Marratu (d. h. der Salzstrom). Da brach ich die Ruinen der früheren Festungsmauer meiner Stadt Assur nieder, die Tukulti-Ninib, Salmanassars Sohn, ehedem gebaut hatte; ich erreichte ihren Grund; von ihrem Fundament bis zu ihrer Brustwehr fügte und vollendete ich sie; prächtiger und gewaltiger als zuvor machte ich sie. Meine Tafeln und Urkunden brachte ich an. Ein zukünftiger Fürst soll ihre Ruinen wieder aufrichten und meinem Namen wieder seinen Platz einräumen, dann wird Assur seine Gebete erhören.“

Salmanassar gedachte also der kommenden Jahrtausende, die seinen Namen vergessen könnten. Dann sollten die Steine für ihn reden!

Andraes Grabungsmethode in den Ruinen Assurs war eine andere als die Koldeweys in Babylon. Er zog 5 Meter breite „Suchgräben“ quer über das ganze Stadtgebiet; sie laufen je 100 Meter voneinander entfernt parallel von der Westmauer bis nach dem Tigrisufer im Osten. Stieß solch ein Graben auf Reste von Palästen, Mauern, Toren, Häusern, Kanälen usw., so grub man seitwärts weiter, bis der ganze Fund bloßgelegt war. Manchmal zwangen Bodengestaltung oder neuere mohammedanische Grabstellen zur Aufgabe des 100-Meter-Zwischenraums. Solch ein unregelmäßiger Graben führte in den Jahren 1909–1911 zur Entdeckung der merkwürdigen Königspfeiler im Winkel zwischen dem breiten Nordteil und dem schmalen Südteil der Stadt. (Vgl. „Die Stelenreihen in Assur“ von Walter Andrae, Leipzig, 1913).

[S. 323]

Diese Pfeiler stammen aus der Zeit zwischen dem 14. und 7. Jahrhundert v. Chr. Sie sind flach, oben abgerundet und tragen eine Inschrift oder ein Reliefbild der Personen, zu deren Gedächtnis sie errichtet wurden. Die größten sind aus Basalt und nennen Tukulti-Ninib I., Semiramis und Assurnasirpal III.; kleinere sind mit den Namen anderer Könige und hoher Beamten bezeichnet. Einer aus körnigem, gelbgrauem Kalkstein zeigt das Bild einer Palastdame Sardanapals. Sie sitzt, nach rechts gewendet, auf einem Thron, ist mit Armbändern und Ohrringen geschmückt, trägt Rosetten auf den Schultern und auf ihren üppigen, den Rücken herabwallenden Locken eine Königskrone; in der Linken hält sie eine Blume, die Rechte streckt sie nach oben. Das Gesicht entspricht dem Schönheitsideal des Orients: volle runde Wangen, kräftiges Kinn, gerade, scharf gezeichnete Nase, schön geschwungene, breite Augenbrauen und lachende Lippen.

Phot.: Schölvinck.
Ein Suchgraben in Assur.

Eines dieser Denkmäler nennt Andrae den „Kalksteinpfeiler der Semiramis“. Auf ihm stehen die Worte: „Pfeiler für Sammuramat, die Palastdame Samsi Adads, des Königs des Alls, des Königs von Assur, die Mutter des Adadnirari, des Königs des Alls, des Königs von Assur; die Schwiegertochter Salmanassars, des Königs der vier Weltgegenden.“ Die in dieser Inschrift genannten Könige sind Salmanassar III., Samsi Adad V. und Adadnirari IV., die zwischen 858 und 781 regierten. Nach einem Schlummer, der vor der Gründung Roms begann, hat also der Forscher [S. 324] diese Semiramis von den Toten erweckt und ihre Verwandtschaft mit drei Königen festgestellt. Von ihrem sonstigen Schicksal aber wußte der Stein nichts zu melden. —

So weit war Andraes Werk über die Ausgrabungsergebnisse von Assur gediehen, als der Weltkrieg auch dieses stolze Denkmal deutscher wissenschaftlicher Forschung einstweilen zu einem Torso machte.

Phot.: Schölvinck.
Das deutsche Expeditionshaus in Assur.

Wir besuchten auch das Haus der deutschen Archäologen am Ufer, ein großes, festes Gebäude, auf dessen Innenhof, wie üblich, eine offene Galerie hinausging. Am Tor trat bei unserer Ankunft die Wache ins Gewehr. Dann empfing uns ein alter Türke, erzählte von der Zeit, als Andrae, Jordan, Lührs und Bachmann hier arbeiteten, und zeigte uns die Zimmer, die jeder von ihnen bewohnt hatte. Jetzt lagen darin vierzehn englische Soldaten und eine Anzahl schwerkranker Inder, die auf dem Wege in die Gefangenschaft zusammengebrochen waren.

Später unterhielt ich mich in der Nähe des deutschen Hauses mit einem dieser Patienten, der sich bereits wieder völlig erholt hatte. Es war ein Hindusoldat, der fließend Englisch sprach und den Anflug europäischer Bildung sehr geschickt mit seiner ursprünglichen orientalischen Weisheit zu verbinden wußte. Auch er hatte anfangs den Versicherungen [S. 325] der englischen Offiziere geglaubt, Deutschland habe aus Raubsucht den Krieg begonnen und die Türkei gezwungen, mitzumachen; die Deutschen seien Barbaren und die Feinde der Menschheit, die Kosaken aber die Herolde der Zivilisation; Deutschland sei schon so gut wie vernichtet, und die Türkei verdiene eine exemplarische Strafe, da sie die Geschäfte der Deutschen besorge. Das alte Lied! Seit dem Fall von Kut-el-Amara war aber dem Hindusoldaten ein Licht aufgegangen. Von der Barbarei der Deutschen und Türken hatte er nichts gemerkt, er war im Gegenteil als Gefangener von den Türken gut behandelt worden. Auch die Bedrohung Indiens durch Deutschland hatte er als Schwindel erkannt, und er wußte nun, daß man ihn gezwungen hatte, für ein Land zu kämpfen, dessen Geschick ihn nichts anging und für das sich zu opfern er und alle seine Landsleute wahrlich nicht die geringste Veranlassung hatten.

Phot.: Schölvinck.
Assur von Norden gesehen. Unser Lager bei Kalaat-Schergat.

Der Inder bat mich noch, ihn in meinen Dienst zu nehmen, in der Hoffnung, dann früher wieder in seine Heimat kommen zu können. Diesen Wunsch mußte ich ihm natürlich versagen, und er kehrte wieder [S. 326] zu den türkischen Wächtern zurück, die ihre Schützlinge frei umherstreifen ließen. Ich mußte dieser Begegnung noch oft gedenken. Die angeblichen Vertreter der Zivilisation und des Christentums führten die Orientalen gegeneinander ins Feld und brachten sie, was noch schlimmer ist, nach Europa, um gegen Christen zu fechten. Diese Saat Englands wird noch einmal furchtbar in die Halme schießen! Dann werden Männer wie dieser Hindusoldat und viele Tausende seiner Leidensgefährten, die nun wissen, wie man sie betrog, ihren Landsleuten vieles zu erzählen haben!

Am Abend lagen die Hügel von Assur in bleichem Mondschein. Im Lager verklang der Lärm, die Unterhaltung verstummte, und die Steppe schlief. Die lautlose Stille war unheimlich. Leise Schritte umschlichen unsere Betten — waren es Gespenster, die die Mitternachtsstunde aus den tausendjährigen Gräbern der Ruinen ringsum heraufbeschwor? Sollten all der Glanz und die Herrlichkeit der alten Königsstadt doch noch nicht so ganz verschollen sein und nächtlicher Weile eine geisterhafte Wiederauferstehung feiern?

In den Ruinen regte sich nichts. Was mich aus dem Halbschlaf emporschreckte, waren hungrige Hunde aus der Nachbarschaft, die in unserm Lager nach Beute suchten.

[S. 327]

Phot.: Schölvinck.
Unser großes Zelt bei Schergat-hauesi.

Einundzwanzigstes Kapitel.
Erlebnisse auf einer Etappenstraße.

E s war eine sehr stattliche Karawane, die am Morgen des 7. Junis, in dünne Staubwolken gehüllt, von Assur nordwärts zog: an der Spitze Konsul Schünemann mit den persischen Reitern, dann unsere Wagen mit türkischen, arabischen und armenischen Kutschern, und als Nachhut 25 Esel, die wir von Arabern gemietet hatten, um unsere Gepäckwagen zu entlasten. Doch bedurften unsere Zugtiere so sehr der Schonung, daß wir beschlossen, heute nur bis Schergat-hauesi zu marschieren, das kaum eine Stunde entfernt war. Wir hatten also reichlich Zeit und folgten daher der Einladung eines Araberhäuptlings vom Hedschadschstamm, der eine Strecke weiter unten am Ufer des Tigris sein Lager hatte.

Die Dörfer der Hedschadscharaber in der Nähe von Schergat-hauesi zählten gegen 100 Zelte mit je 8–10 Bewohnern. Auch bei Kalaat-Schergat und an einigen andern Plätzen bildeten sie kleine Gemeinden [S. 328] Sie gelten schon als Fellachen oder Ackerbauer, haben aber die Liebe der Nomaden zu ihren schwarzen Zelten noch nicht abgestreift.

An Ort und Stelle angelangt, fanden wir ein prächtiges schwarzes Zelt mit Teppichen für uns hergerichtet, und in der luftigen Wohnung des Häuptlings wurden wir feierlich empfangen, mußten auf dem Ehrenplatz niedersitzen und uns von mindestens hundert seiner Stammesgenossen anstaunen lassen, der Frauen und Kinder nicht zu gedenken, die von draußen hereinsahen. Der Zweck der Einladung war hauptsächlich ein Geschäft, das der Araber mit dem Herzog machen wollte; er hatte einen weißen Hengst zu verkaufen, der uns als Ersatz für die gehabten Verluste sehr willkommen erschien.

Das Tier wurde vorgeführt und war prächtig anzusehen: ein herrlich gerundeter Hals, sprühende schwarze Augen, eine zarte Nase mit schnaubenden Nüstern — ganz das Urbild des feurigen Arabers, eine Freude für jeden Pferdekenner, und der Hengst selbst schien sich seines verführerischen Reizes vollkommen bewußt, so elastisch-kokett tänzelte er daher und schien den Boden kaum mit den Hufen zu berühren. Warum mochte nur der Besitzer sich von solch einem Prachtpferd trennen wollen? Dieses Übermaß von Liebenswürdigkeit gegen uns Fremde schien verdächtig.

Der Herzog bat also den Mann, aufzusitzen und in Schritt, Trab und Galopp die Künste des Tieres zu zeigen. Dazu zeigte unser freundlicher Wirt aber keine Lust, und auch seine Stammesbrüder drückten sich einer nach dem andern mit Redensarten beiseite. Nach langem Hin und Her fand sich endlich ein junger Kerl für ein Trinkgeld zu einem Versuch bereit. Aber kaum saß er auf, als der Hengst ihn auch schon zu Boden geschleudert hatte, und mehreren andern, die der Backschisch reizte, erging es nicht besser ... Nun wagte sich einer unserer Perser heran, und er schien die Kunst zu verstehen, diesen Bucephalus zu zähmen. Zur höchsten Verwunderung der Araber trabte er auf dem widerspenstigen Gaul in eleganten Kurven zwischen den Zelten kreuz und quer umher und kehrte dann im Galopp zu uns zurück. Aber in diesem Augenblick stand das Pferd ganz plötzlich, stemmte die Vorderbeine in die Erde, senkte den Kopf und warf seinen Reiter in großem Bogen mitten in die Zuschauer hinein. Soviel war nun sicher, daß sich das [S. 330] schöne Tier zu Karawanenfahrten nicht eignete, und aus dem Handel wurde infolgedessen nichts.

Zu Besuch bei den Arabern von Nalaat-Schergat.
In der Mitte der Herzog.

Gleichwohl blieben wir den Tag über bei den Arabern. Als wir am Abend im Mondschein vor unserm Zelt saßen, ließ sich einer von ihnen bei uns nieder, um uns mit seiner Maultrommel zu unterhalten. Die Töne des einfachen Instruments erinnerten an die des Dudelsacks, aber die Kunstfertigkeit des Mannes war bewundernswert, und nicht weniger seine Ausdauer, er schien gar nicht Atem holen zu müssen. Von Melodie konnte man kaum reden. Melancholisch und einförmig, wie immer im Orient, quollen zwischen seinen glockenförmig gehaltenen Händen langgezogene, wimmernde Töne hervor, die ein träumerisches Behagen erweckten. Man hörte in dieser Musik die trippelnden Schritte der Schafe über die Steppe, den Hufschlag der Beduinenpferde, das traurige Flüstern des Windes im Grase und das rieselnde Rauschen des Tigris gegen eine Landspitze. Das ganze einförmige Leben der Araber in der Wüste, in der ein Tag verläuft wie der andere, schien in dieser Naturmusik lebendig zu werden.

Der edle arabische Hengst.

Die Töne der Maultrommel hatten zahlreiche Zuschauer angelockt. In dichten, dunkeln Gruppen ließen sie sich mit Anstand und Würde [S. 331] auf dem Boden nieder und hörten lautlos zu, höchstens flüsterten sie leise oder rauchten Zigaretten. Als dann aber der Musikant zum Tanz aufspielte, kam Leben in die Masse; etwa fünfzig Araber sprangen auf, faßten sich in einer langen Kette, aber immer eng aneinandergedrängt, an den Händen und begannen sich in einer bärenmäßig trottenden Gangart zu bewegen, erst einige Schritte nach rechts, dann nach links, ganz im Takt mit dem wimmernden Rhythmus der Flöte. Allmählich weitete sich der Kreis, die Schnelligkeit nahm zu und wurde immer stürmischer, wobei der Mondschein die hohen, dunkeln Gestalten, die flatternden braunen Burnusse und die weißen und bunten Kopftücher noch phantastischer erscheinen ließ als sonst.

Mein Diener Sale hatte beim Tanz das Kommando übernommen. Er hieß nun die Tänzer sich in großem Kreise niederhocken, und in die Mitte des freien Platzes traten zwei Solotänzer, die sich in einer Art Bauchtanz, nicht eben schön anzusehen, aufeinanderzu bewegten. Der eine stellte den Verfolger dar, der andere den Verfolgten. So jagten sie sich mehrmals im Kreise herum, und die Zuschauer verfolgten die Pantomime mit größter Aufmerksamkeit und mit taktmäßigem Händeklatschen. Als schließlich der eine Tänzer den andern einholte und sich über ihn warf, brach allgemeiner Jubel los.

Die nächste Programmnummer war der Schwertertanz, wobei die Klingen dumpf aufeinander rasselten. Auch dieses Spiel endete damit, daß einer den andern übermannte; der Sieger setzte einen Fuß auf den Besiegten und die Spitze des Schwertes auf seine Brust. Hinter dem Kreis der Sitzenden hatten sich dichte Reihen stehender Zuschauer gesammelt, und in diesem Rahmen gewann das Schauspiel noch an Ursprünglichkeit und phantastischem Reiz.

Am nächsten Morgen verließen wir die Nomaden. Als wir unsere Straße erreicht hatten, war schon wieder ein Lastwagen in Stücke gegangen. Von links trat nun ein Ausläufer der großen Kalksteinplatte Mesopotamiens an den Tigris heran und fiel steil zum Wasser ab. Die Straße wand sich daher auf das Plateau hinauf, dessen harter, ebener Boden unsern Pferden eine willkommene Erleichterung brachte. Dann aber zwang uns ein Wadi mit einem rieselnden Salzwasserbach, wieder in das Flachland zurückzukehren, wo große Schaf-, Ziegen- und Rinderherden [S. 332] weideten und ausgedehnte Zeltlager den blauen und weißen Rauch ihrer Feuer in die Morgenluft emporsandten. Wieder stieg die Straße an. Wir kreuzten einen Zug Heuschrecken, der einen schmalen Randstreifen besetzt hielt, fuhren an einer Karawane von 400 Kamelen vorüber, deren Last nach Aussage ihrer Führer aus Uniformen bestand, näherten uns wieder dem Tigrisufer und hielten bei der Station Giara oder Tell-Kaischara, wo uns ein starker Geruch von Naphtha und Asphalt entgegenströmte. Hier tritt das Erdpech offen zutage. Vor mehreren Jahren arbeitete hier eine belgische Gesellschaft mit gutem Erfolg. Nach einiger Zeit meinten aber die Türken, den Gewinn besser selbst einstreichen zu sollen, und kündigten die Konzession. Nun fehlte die geschäftliche Erfahrung, und das Unternehmen geriet ins Stocken; Häuser und Maschinen verfielen, und das Erdpech stank in Tümpeln stagnierenden Wassers zum Himmel.

Giara.

Das Bahnhofsgebäude von Giara hatte nur einen bewohnbaren Raum, eine ungewöhnlich kühle, gewölbte Kammer, in der der Stationsvorsteher unter einem von Fliegen umschwirrten Mückennetz an Ruhr erkrankt darniederlag und aus einem primitiven Filtrierapparat, einem großen Lehmkrug mit porösem Boden, Wasser tropfen ließ. Hier mußten wir die heißesten Tagesstunden abwarten, denn die Temperatur draußen war [S. 333] allmählich unerträglich geworden. Schon morgens um 7 Uhr hatte sie 31 Grad betragen, um 1 Uhr stieg sie auf 41,2 und anderthalb Stunden später auf 42,6 Grad. Konsul Schünemanns persischer Schimmel hatte einen Hitzschlag und Kolik und außerdem Blutegel in Gaumen und Hals. Noch am Morgen war das Tier ganz frisch gewesen; jetzt legte es sich im Schatten des Stalles nieder und verendete. Auch im Schlund der andern Pferde hatten sich beim Trinken Blutegel festgebissen, und unsere Kutscher befreiten sie mit vieler Mühe von diesen Plagegeistern.

In der Kranken- und Fliegenstube von Giara zu übernachten, war unmöglich. Am Spätnachmittag machten wir uns daher zur nächsten Station Schura auf, die fünf Stunden entfernt sein sollte. Nahe bei Giara hatten wir ein ziemlich tief und steil eingeschnittenes Tal zu passieren, auf dessen nackter Sohle Salzkristalle schimmerten und Erdpechquellen zutage traten. Der Herzog und Busse ritten voraus; Schölvinck und ich folgten in der Droschke und fuhren in einer Morastrinne fest. Die Pferde mußten ausgespannt, der Wagen zurückgeschoben und ein anderer Weg versucht werden. Nicht besser erging es dem vorausfahrenden Automobil, das weiter vorn in einem Graben saß und nicht weiter konnte. Wir luden das Gepäck ab, aber der Wagen rührte sich nicht vom Fleck, und wir mußten warten, bis die ganze übrige Kolonne nachgekommen war. Darüber wurde es dunkel, und im Westen erhob sich drohend eine Wolkenwand, die den Mond verdeckte. Nach langem Warten kamen die andern, und mit vereinten Kräften machten wir erst das Auto wieder flott, das nunmehr jeden einzelnen Wagen über die schwierige Stelle hinüberziehen mußte; die müden Tiere allein hätten das nicht fertiggebracht. Drei Stunden kostete uns dieser Graben — eine schöne Etappenstraße!

Dann ging es weiter, Stunde auf Stunde in stockfinsterer Nacht; die Lampen des Autos wiesen den Weg. Endlich leuchtete vor uns der Schein eines Feuers auf: es war Schura, aber noch in weiter Ferne. Ein neuer Graben hielt die Wagen auf; unsere Droschke kam glücklich hinüber, und endlich tauchte die hohe Mauer des Stationsgebäudes aus dem Dunkel hervor. Hastig aßen wir auf dem Dach des Hauses unser Abendbrot und zogen uns dann sofort in unsere Mückennetze zurück, denn es war 4 Uhr, und schon ging ein neuer Tag im Osten auf.

[S. 334]

Süßes Wasser gab es in diesem unglückseligen Dörfchen nicht. Auch der Brunnen auf dem Hof des Stationsgebäudes bot nur salzhaltiges Wasser und war für den ganzen Ort mit seinen 60 Häusern und 250 Einwohnern und ebenso für die Reisenden, für Menschen und Tiere die einzige Quelle; das Wasser eines nahen Flüßchens war ganz ungenießbar. Der Tigris war von hier drei Stunden entfernt. Es gab gewiß zwingende Gründe, die Station soweit vom Strom anzulegen, wie es wohl auch seinen Grund hatte, daß die Sumpfgräben, in denen die meisten Fuhrwerke auf dieser sonderbaren Etappenstraße verunglücken mußten, nicht überbrückt waren. Das nötige Holz mit Kelleks auf dem Tigris heranzuschaffen, konnte unmöglich schwer sein.

Schölvinck und ich waren die ersten, die am andern Tage in glühender Mittagshitze das Nest Schura verließen. Wir waren aber noch nicht weit gekommen, als wir schon wieder in einem tiefen Engpaß mit schroffen Seitenwänden und einem Salzwasserbach festsaßen. Diese hier so zahlreichen Salzquellen scheinen fast das ganze Jahr zu fließen. Wachtmeister Schmitt kam uns mit den Leuten seiner Eselkarawane zu Hilfe, aber nun ging es so schnell bergauf, daß die Deichsel in den schroff ansteigenden Boden hineinfuhr und mitten durchbrach. Die Pferde wurden wieder ausgespannt, das Wrack auf das freie Feld hinaufgezogen, und unser Kutscher machte sich in Gesellschaft des Gendarmen daran, die Deichsel zu flicken. Die armen Pferde standen derweil im glühenden Sonnenbrand und mochten kaum die elenden trockenen Halme knabbern, die ihnen die Heuschrecken übrig gelassen hatten. In einer Senkung neben der Straße weideten einige Kamele, die sich in der Hitze sehr behaglich zu fühlen schienen. Um 1 Uhr hatten wir im Schatten unseres Wagenverdecks 41,9 Grad — das versprach einen angenehmen Nachmittag!

Alle Mann greifen zu.

Mit Pflock und Strick war endlich die Deichsel wieder instand gesetzt, aber man brauchte kein Fachmann zu sein, um diesem Kunstwerk keine lange Dauer zu versprechen. Wir waren denn auch kaum einen Kilometer weitergefahren, als der Verband wieder aufging. Nun schickten wir unsern Gendarm zu den übrigen Wagen zurück, um eine ordentliche Schiene zu holen; nach ein paar Stunden kehrte er mit einer — Schnur zurück. Glücklicherweise kamen jetzt einige Flößer aus Tekrit [S. 336] des Wegs, die mit gebrochenen Wagengliedern umzugehen wußten, und halfen uns aus der Verlegenheit, so daß wir wieder in langsamem Schritt weiterfahren konnten.

Nach einiger Zeit führte die Straße über eine kleine Gebirgsschwelle, von deren Höhe die Windungen und grünen Inseln des Tigris und seine ebenfalls grünleuchtenden Uferränder sichtbar wurden. Schon hofften wir, die Mühsal dieses Tages überstanden zu haben, denn die grauen Häuser und schwarzen Zelte von Hammam Ali, unserm letzten Lagerplatz vor Mosul, waren schon zu erkennen. Aber es kam anders.

Die Deichsel wird geflickt.

Die Etappenstraße verwandelte sich mit einmal in eine unheimlich steile, schmale Rinne in festem Fels. Jedesmal, wenn das Wagenrad von einer Steinplatte polternd herabglitt, erwartete man eine Katastrophe. Doch erreichten wir noch ohne Unfall wieder ebenes Land, wo zahlreiche Störche in einem Sumpf Frösche, Eidechsen und Mäuse suchten. Dann aber öffnete sich vor uns ein tiefes und großes Wadi, durch dessen Furche ein Süßwasserbach nach dem Tigris hinabging. Wir fuhren auf dem rechten Ufer, das nicht allzu schroff abfiel, während das linke um so jäher zu den flachen Hügeln anstieg, die uns noch von [S. 337] Hammam Ali trennten. Kurz vor der Talfurche teilte sich der Weg; unser Kutscher bog links ab, während er rechts hätte fahren sollen, und plötzlich geriet unser Wagen ins Abwärtsrollen. Eine Bremse fehlte, und die Pferde waren zu müde, ihn aufzuhalten. Zehn Meter vor uns aber hörte die Straße am Rande der zwei Meter hohen, senkrechten und überhängenden Erosionsterrasse, die jedenfalls noch nicht lange durch einen heftigen Regenstrom ausgewaschen war, völlig auf! Vergebens, daß ich „Dur!“ (halt!) rief — unaufhaltsam näherten wir uns dem Abhang. Schölvinck schrie auf und warf sich aus dem Wagen, ich folgte seinem Beispiel, und eine Sekunde später stürzten Wagen und Pferde in die Tiefe.

Nach dem Absturz.

Es war ein regelrechter Purzelbaum, den unsere Droschke gemacht hatte. Die Pferde fielen verhältnismäßig sanft in den Kies, die Deichsel zerbrach aufs neue, der Wagen stürzte auf Vorderräder und Kutscherbock und schlug vornüber, das zertrümmerte Verdeck zu unterst. Der Kutscher hatte so geschickt pariert, daß er zwischen die Pferde zu liegen und mit heiler Haut davonkam. Aber sein Begleiter, ein Stalljunge, lag schreiend im Bach. Wir zogen ihn sofort aufs Trockene; auch er konnte von Glück sagen, seine Glieder waren heil, er hatte nur einige Hautwunden an Kopf und Knien davongetragen.

[S. 338]

Der Kutscher half den Pferden aus dem Geschirr und auf die Beine, und wir fischten nun unsere Sachen zusammen, die zum Teil auf dem Kutscherbock verstaut gewesen waren. Schölvincks photographischer Apparat war in Stücke gegangen, meiner ganz geblieben. Das Schlimmste war der zertrümmerte Wagen! Wie sollten wir nun mit Sack und Pack weiterkommen?

In diesem Augenblick erschien Konsul Schünemann wie ein rettender Engel auf den Hügeln des linken Bachufers. Er war schon in Hammam Ali gewesen, aber da wir so bedenklich lange auf uns hatten warten lassen, in Vorahnung eines Unfalls mit seiner Droschke zurückgekommen. Unsere verunglückte Equipage überließen wir nun einstweilen ihrem Schicksal, luden unsere Siebensachen auf den andern Wagen und fuhren so als gerettete Schiffbrüchige in Hammam Ali ein.

Konsul Schünemann hatte überraschende Neuigkeiten vom Kriegsschauplatz zu erzählen. Am Skagerrak hatte am 31. Mai und 1. Juni eine Seeschlacht stattgefunden, die mit einem großen Erfolg der Deutschen ausgegangen war: die Engländer hatten 23, die Deutschen nur 10 Kriegsschiffe verloren, obgleich bei Beginn der Schlacht die englische Kampfflotte der deutschen ums Doppelte überlegen war.

Die andere Neuigkeit war Kitcheners Untergang mit der „Hampshire“. In diesem energischen Heerführer Großbritanniens verloren die Zentralmächte einen gefährlichen Gegner; dennoch mußte ich seinen Tod bedauern, denn er war mein Freund oder war es doch gewesen. Ich hatte mehrfach bei ihm vornehmste Gastfreundschaft genossen und bis kurz vor dem Kriege von Zeit zu Zeit mit ihm in Briefwechsel gestanden; der Krieg hatte uns getrennt. Das wundervolle Märchen seines Lebens hatte ich stets mit Anteil verfolgt, seine männliche Energie bewundert und seinen geradsinnigen Charakter geliebt. Obgleich er in allen Dingen seine eigene, feste Meinung hatte, wußte er doch auch fremde Ansichten zu achten, und ich war stets überzeugt, daß gerade er nach dem Kriege am ersten wieder in ein leidliches Verhältnis zu dem Gegner gekommen wäre. Ich halte ihn für den größten Engländer unserer Zeit, und sein Tod hinterläßt in jedem, der ihn kannte, eine große Leere.

Schon in Mosul erreichten uns auch die bis heute noch unbestätigten Gerüchte über die Art seines Todes. Der Mann, der bei [S. 339] seinem Leichenbegängnis geehrt worden wäre wie kein anderer Brite, hatte nicht einmal ein Grab erhalten können, und niemand wußte, wo seine sterblichen Überreste Ruhe gefunden! Einige gerettete Matrosen hatten noch gesehen, wie Kitchener, seine Zigarette rauchend, aufrecht und ruhig auf der Kommandobrücke des sinkenden Schiffs stand. Dann hatte ihn eine schäumende Meereswoge plötzlich entführt. Wohin schweiften wohl seine Gedanken, als er die Woge kommen sah, die ihm den Tod brachte? Schossen die farbenprächtigen Bilder seines reichen Lebens noch einmal wie ein Blitz an ihm vorüber? Gedachte er der Zeit, da er mit Unterstützung des Palestine Exploration Fund die Karte des Heiligen Landes aufnahm, oder als er bei Omdurman den Mahdi und seine Derwische vernichtete? Sah er die Blockhäuser von Transvaal, und hörte er den Jubel, mit dem London den Sieger bei seiner Rückkehr begrüßte? Oder träumte er von den sonnigen Tagen in Indien, da er seinen stärksten Widersacher, Lord Curzon, niederrang und die Organisation der Armee vollendete, auf der die britische Herrschaft am Ganges beruht? Wie ein Märchen, wie etwas im höchsten Grade Unwirkliches muß ihm diese stolze Bilderreihe in diesem Augenblick erschienen sein. Welch grausame Ironie des Schicksals, daß er, der stets die größten Schwierigkeiten zu überwinden wußte, nun hilflos von einer Meereswoge dahingerafft wurde! Ob er wohl in seinem letzten Augenblick auch der beiden letzten Jahre gedachte, die seine glänzende Vergangenheit verdunkelten? Hatte er eingesehen, daß er jetzt auf einen Feind gestoßen war, der nicht besiegt werden konnte, daß Englands Herrschaft auf dem Weltmeer zu Ende ging und daß es für ihn selbst hieß: „Bis hierher und nicht weiter“? Eines hatte ihm jedenfalls das Schicksal gnädig erspart: die Niederlage Englands zu erleben.

Man hat gesagt, Kitchener sei, als er unterging, auf dem Wege nach Rußland gewesen; er habe für gemeinsame Operationen der Ententemächte gegen Deutschlands Nordfront wirken sollen — lauter Vermutungen. Die Wissenden sind stumm.

Mit solchen Gedanken zog ich in Hammam Ali ein, ein kleines Dorf von etwa zehn Hütten inmitten weiter Ackerfelder, mit einem türkischen Erholungsheim für Offiziere und einem Kavekhane, vor dem ich unser Lager aufgeschlagen fand.

Kleine Brücke auf dem Wege nach Mosul.

[S. 341]

Am folgenden Tag machte sich die Nähe einer größeren Stadt allenthalben bemerkbar. Zahlreiche Reiter, Männer und Frauen, auf Pferden und Mauleseln, begegneten uns. Ein türkischer Beamter reiste mit seiner ganzen Familie südwärts, und ein vornehmer Araber schien auf seinem Pferde zu schlafen im Schatten eines weißen Sonnenschirms, den ein Diener, der hinter dem Herrn auf der Krupe des Pferdes saß, halten mußte. Zahlreiche Fußgänger belebten den Weg; Landleute kamen schwer bepackt vom Einkauf in den Basaren. Der eigenartige Charakter der Etappenstraße blieb aber auch jetzt derselbe; er steigerte sich noch durch zahlreiche Brücken und Brückchen aus weißem Kalkstein, die nach Aussage des Kutschers höchstens zehn Jahre alt, aber durch Regengüsse und Sturzbäche mehr oder weniger zerstört waren. Viele waren völlig eingestürzt, nur ihre Pfeiler standen noch; zum mindesten fehlten auf dem Fahrweg etliche Steinplatten, so daß ein Fuhrwerk, besonders bei Nacht, elend steckenbleiben mußte. Alles, was Wagen hieß, vermied denn auch mit Sorgfalt diese „modernen“ Verkehrsmittel im alten Assyrien und fuhr rechts oder links daran vorbei, je nachdem die Abhänge der Hohlwege und Wadis passierbar waren!

Schließlich führte die Straße auf eine flache, steinige Schwelle hinauf. Von hier aus erblickte ich das gewundene, graubraune Ufer des Tigris, um das sich ein Haufen grauer Häuser ballte, aus denen zahlreiche Minarette emporragten. Das war Mosul, und im Norden, auf dem linken Tigrisufer, die eintönig graubraune Landschaft barg die Ruinen von Ninive.

[S. 342]

Eingang zum Basar in Mosul.

Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Mosul.

D er Dolmetscher des deutschen Konsulats in Mosul war uns entgegengeritten und geleitete uns zu den Häusern der Bagdadbahn am äußersten Südende der Stadt, Gebäuden im üblichen Stil, mit viereckigen, gepflasterten Höfen und kleinen Gruppen buschiger Maulbeer- und Olivenbäume. Hier sollte unsere Wohnung sein. Ich erhielt ein treffliches Zimmer im Erdgeschoß, das sogar mit einem Sofa, einem Tisch, etlichen Stühlen und einer Badewanne möbliert war; mein Schlafgemach war der Hof, in den nur wenige Stunden am Tage die Sonne hineinschaute. Einige meiner deutschen Freunde bereiteten sich ihre Lagerstätte auf dem höchsten Dache, das von einer ziemlich hohen Mauer umgeben war, ein Zeichen, daß ein Araber das Haus gebaut hatte, der seine Frauen profanen Blicken entziehen wollte. Auf der Mauer nisteten mehrere Störche, deren Geklapper in den Höfen besonders laut widerhallte, wenn die zahlreichen Katzen der Stadt über Dächer und Höfe jagten oder ihre nächtlichen Konzerte veranstalteten.

[S. 343]

Ein Storchennest auf unserm Dach.

Nachdem wir uns mit Hilfe unseres Gepäcks ein wenig eingerichtet hatten, war unser erster Gang zum deutschen Konsulat, einem von prächtigen Gärten umgebenen Komplex von mehreren stattlichen Gebäuden im Süden der Stadt, etwas entfernt vom Tigris. Der deutsche Konsul, Dr. Holstein, nahm uns mit gewinnender Liebenswürdigkeit auf, und sein Haus wurde für uns fast ein Klublokal, in dessen Räumen man immer Freunde oder Bekannte zu treffen sicher war. Außer uns — dem Herzog, Rittmeister Schölvinck, Leutnant Busse und mir — verkehrten dort Major Köppen, Leutnant Staudinger, Stabsarzt Schwarz, der deutsche Konsul Wustrow aus Teheran und der österreichische Konsul Dr. Jarolymek, der auf der Etappenstation in Mosul tätig war. Solange des Herzogs eigene Küche noch nicht imstande war, mußten wir auch zum Mittag- und Abendessen Dr. Holsteins unbegrenzte Gastfreundschaft in Anspruch nehmen, und am Abend versammelten wir uns regelmäßig auf einer der schattigen Dachterrassen, um die neuesten Telegramme zu hören oder die Zeitungen zu lesen, die nach einer Reise von mehreren Wochen angelangt waren. Vom Dach des Konsulats, auf dem an gewaltigem Mast die deutsche Reichsflagge wehte, hatte man eine weite Aussicht auf die grauen Häuser und gewundenen Straßen der halbmondförmigen Stadt, den berühmten Damm, die unfruchtbare Öde [S. 344] der Steppe und des persischen Grenzgebirges und auf das englische Gefangenenlager am Tigrisufer mit seinem Wirrwarr von Zelten und seinem Gewimmel von Menschen und Tieren. Schon 8600 Gefangene hatten bisher dort unten gelagert; auch der irische Priester, den ich in Bagdad und Samarra getroffen hatte, kam während meines Aufenthalts in Mosul hier durch.

Am 11. Juni, dem ersten Pfingstfeiertag, begleitete mich Dr. Jarolymek auf einer Rundfahrt durch Mosul. Wir fuhren nach Nordwesten die Stadtmauer entlang bis Bab-el-beith, dem Eiertor; eine alte Inschrift über dem Torbogen erklärt den Namen: sie erzählt von einer ehemaligen Hungersnot, bei der man für einen Para (etwas über 40 Pfennig) nur 40 Eier erhalten habe! Jetzt kostete ein Ei 6–7 Para, also einen Taler, ohne daß eine Hungersnot herrschte. Die Stadtmauer ist etwa 300 Jahre alt und mit einigen runden Türmen besetzt. Die übrigen Tore heißen Bab-el-dschedid, Bab-Sindschar, Bab-Ligisch und Bab-el-Tob; letzteres und Bab-Sindschar sind jetzt zerstört.

Vom Eiertor folgten wir der grauen Mauer nach Norden und bogen dann nach Nordwesten ab, sahen eine Schule, die jetzt Krankenhaus war, das Städtische Lazarett und das Judenviertel, dessen Bewohner sich hauptsächlich durch Herstellung von Silberschmuck ihren Lebensunterhalt erwerben, ließen das englische Konsulat, das jetzt von der türkischen Regierung mit Beschlag belegt war, links liegen und hatten nun die alte Seldschukenburg vor uns, die sich auf steiler Klippe hoch über dem rechten Tigrisufer erhebt.

Der Blick von dort oben gehört ohne Zweifel zu den merkwürdigsten, die sich auf Erden dem Auge bieten. Von Schönheit der Landschaft kann man dabei nicht eben sprechen. Das Tal des Satledsch durch den Himalaja, die Grusinische Heerstraße über den Kaukasus, die Ufer des Brahmaputra von den Abhängen des Transhimalaja aus gesehen — welche Fülle von Schönheit bieten sie gegenüber dem dürftigen Strande des Tigris! Und Aleppo, Damaskus und Jerusalem nehmen sich, von oben gesehen, weit stolzer aus als dies kleine, unbedeutende Mosul. Aber in einer Beziehung übertrifft die Aussicht von der alten Seldschukenburg doch alle übrigen, denn im Mittelpunkt dieser Landschaft liegt Ninive, die älteste Königsstadt der Erde. Im Osten reicht [S. 346] der Blick bis zu den Bergen von Rowandus und im Norden bis zum armenischen Taurus, über dessen Kamm bei klarem Wetter schneebedeckte Gipfel stehen.

Die Seldschukenburg aus der Nähe.
Rechts der Tigris.

Gerade unterhalb der Burg macht der Tigris eine Wendung und verschwindet im Nordwesten, von wo er kommt, und im Südosten, auf dem Wege nach Bagdad, in blauer Ferne. Er ist aber hier in Mosul viel weniger imposant als in der Stadt der Kalifen, wo seine Wassermenge, trotz der starken Verdunstung auf dieser Strecke, viel bedeutender erscheint infolge des Zuflusses des Kleinen und Großen Zab, des Zabatus Minor und des Zabatus Major.

Unten am Ufer saßen Hunderte von Frauen und spülten und klopften ihre Wäsche. So sitzen sie dort jahraus, jahrein in brennender Sommersonne und in der Winterkälte, die hier viel stärker sein soll als in Bagdad, denn Mosul liegt 250 Meter über dem Meeresspiegel, Bagdad nur 50. Die Sommertemperatur ist aber in beiden Städten ungefähr die gleiche.

Oberhalb der Fähre wurde eine Herde schwarzer Büffel über den Strom getrieben. Das Bad gefiel ihnen offenbar, denn sie schwammen langsam und ließen sich ein gutes Stück nach der Brücke hinabtreiben, bis sie, vom Wasser glänzend und tropfend, das jenseitige Ufer erreichten.

Südlich der Seldschukenburg hielten wir bei der kleinen Grabmoschee Jahija Abu Kasim, deren schöne, mit Fayence bekleidete Vorderseite in ihrer Wirkung beeinträchtigt wird durch ein später gebautes, vorstehendes Marmorportal. Gleich dem Grabe der Sobeïd in Bagdad hat dieses Mausoleum statt einer Kuppel ein spitzes, pyramidenförmiges Dach, das für andere Grabdenkmäler dieser Gegend vorbildlich gewesen ist.

Nahe dabei stehen dicht am Ufer die Ruinen offenbar einer ehemaligen Moschee namens Bedretdin Sultan Lulu, wo man dicht am Ufer zahlreiche Fische im Strom beobachten kann. Von drüben hört man das Wimmern der Wasserräder, die schmale Streifen Ackerland bewässern, und ab und zu kommen merkwürdige Fahrzeuge durch die Brücke geschwommen; sie sehen wie losgerissene Inseln aus, und in ihrer Mitte sitzen ein paar Leute wie Eier in einer Schüssel Spinat; es sind kleine Kelleks, deren Holzrost, von aufgeblasenen Ziegenfellen getragen, oben mit Reisig und Zweigen bedeckt ist.

[S. 347]

Nach dieser ersten orientierenden Rundfahrt durchwanderte ich nun Tag für Tag die Straßen Mosuls, die denen von Bagdad an malerischem Reiz weit nachstehen, denn der herrliche Schmuck der Palmen fehlt hier ganz; überhaupt sieht man in der Stadt kaum eine Spur von Grün. Dafür sind aber die Häuser Mosuls stattlicher und viel fester gebaut, nicht aus schlecht gebrannten Ziegeln, sondern aus Stein, der Jahrhunderte überdauert. Der Stil ist derselbe wie in Bagdad, die Architektur aber reicher und vornehmer. Von der engen, schmutzigen Gasse führt ein unansehnliches Tor mit einem Eisenklöppel oder -ring durch einen Gang auf den viereckigen, gepflasterten Hof, wo ein kleines Wasserbecken einige Kühle und bestenfalls niedrige Maulbeer- und Orangenbäumchen etwas Schatten verbreiten. Sofas und Stühle zeigen, daß hier tagsüber der Wohnraum der Familie ist. Das Erdgeschoß des Hauses enthält Küche, Vorratskammern, Holzschuppen, Ställe und Dienstbotenwohnungen. Der nach dem Hof offene Empfangsraum (Eivan oder Ivan) ist wie in Bagdad zu ebener Erde oder auch eine halbe Treppe hoch, mit Eingang von der ersten Galerie. Die Privatgemächer, Schlafräume usw., liegen eine Treppe höher. Darüber ist das flache Dach, auf dem man die heißen Sommernächte zubringt.

Stickende Araberin in Mosul.

Die Front der Häuser ist nicht nach der Straße, sondern nach dem Hof hinaus, denn der Orientale verbirgt sein Familienleben [S. 348] eifersüchtig vor der Außenwelt. Das gilt auch für christliche, syrische und chaldäische Häuser. In diese erhält man leicht Zutritt, die weiblichen Angehörigen gehen unverschleiert und beteiligen sich an der Unterhaltung mit dem Gast. Aber man muß schon ein sehr guter Freund des Hauses sein, wenn selbst die christlichen Frauen in Gegenwart eines Europäers ihre angeborene Scheu überwinden sollen. Die Hoffront vornehmer Häuser zeigt reichen Marmor- oder Alabasterschmuck, hauptsächlich an den Seitenflügeln, denn den Rücken des Vorderhauses, durch das man eintritt, bilden die schattigen, von Steinsäulen getragenen Pferdeställe. Die eigentliche Hauptfront gegenüber ist zum größten Teil von Galerien bedeckt, und die vergitterten Bogenfenster darunter lassen wenig Raum zu ornamentalem Schmuck. Dieser beschränkt sich daher auf das untere Mauerwerk, während die Wände der Seitenflügel bis zum Dach hinauf mit Blumengewinden und Blattwerk in Relief verziert sind. Auch die höchsten Fenster haben zum Schutz gegen Einbrecher dicke Gitter; die Eisenstangen sind an ihren Kreuzungspunkten noch durch Ringe gesichert. Gegen die Sonne schützen Holzläden, wie man sie auch in Konstantinopel findet.

Vier Musikanten vor der Treppe, die vom Hof zum Empfangsraum hinaufführt.
Die mit Marmorreliefs geschmückte Hoffront eines vornehmen Hauses in Mosul.

[S. 350]

Mosul zählt viele solcher vornehmen Häuser, deren Besitzer armenischer, syrischer oder chaldäischer Abstammung, Mohammedaner oder Christen, Kaufleute oder Priester sind. Es besitzt eine starke kaufmännische Aristokratie, deren Ansehen weit über das Weichbild der Stadt hinausreicht. Solch ein Hof mit seinem kostbaren Marmorschmuck zeugt von erworbenem oder ererbtem Reichtum, der sich im Takt mit den lautlosen Schritten der Kamele auf den weiten Wanderungen der Karawanen vermehrt, wenn nicht die Wüstenschiffe durch Zyklone Schiffbruch leiden oder arabische Piraten mit den Ballen Baumwolle, gepreßter Datteln, bunter Stoffe, Kolonialwaren und europäischen Krams in der Tiefe der Wüste verschwinden. Auch der Handel Mosuls war durch den Krieg fast völlig lahmgelegt. Aus Indien und Basra kam gar nichts; die persischen und kaukasischen Handelsstraßen waren gesperrt, und die Anatolische Eisenbahn fast ausschließlich mit Militärtransporten belegt. Doch wartete man mit echt orientalischer, fatalistischer Ruhe der kommenden besseren Zeiten.

Hadschi Mansur, 65jähriger Chaldäer.
Straße in Mosul.

Solch ein schattiger Hof wirkt gegenüber den backstubenheißen Straßen wie eine Oase in der Wüste. Hin und wieder besprengt ein Sakka das Steinpflaster mit Wasser. Nur eines vermißt man: nie dringt ein Luftzug hier hinein; nur wenn Stürme über das Land ziehen, stürzen die Wirbelwinde wie Wasserfälle von den Dächern herab auf [S. 352] das Laub der Maulbeerbäume. Im übrigen aber entspricht ja diese Bauart, wie schon im alten Assyrien und Babylonien, vollkommen dem durch das Klima bedingten Bedürfnis. Unsere europäischen Häuser mit ihren nach Luft und Licht verlangenden Fenstern auf allen Seiten würden in Mosul unerträgliche Steinkamine sein. Auch die Häuser der Armen haben dieselbe Bauart; nur fehlt natürlich der Marmorschmuck; oft sind sie aus unbehauenem Stein oder nur aus an der Sonne getrocknetem Lehm.

Dem kunstverständigen Auge, das auf diesen Höfen der zahlreichen vornehmen Häuser an malerischen Motiven reiche Ausbeute findet, mag Mosul leicht als eine Perle unter den Städten des Orients erscheinen. Das Panorama von einem hohen Dache aus enttäuscht aber stark. Man sieht nichts als graue, fensterlose Mauern, flache Hausdächer mit Brustwehren in verschiedener Höhe, runde Minarette mit einem oder mehreren Rundgängen für die Gebetsrufer, und hier und da die viereckigen Türme und flachen Kuppeln der christlichen Kirchen und Klöster.

Toros, 60jähriger armenischer Karawanenfuhrer aus Erserum.
Basarstraße in Mosul.

Weit dankbarer ist eine Wanderung durch die Straßen und Basare, wahrhaftige Labyrinthe, durch die man sich nur unter kundiger Führung hindurchfindet. Eng und winkelig sind die Gassen, wie in Bagdad, weniger häufig die Holzerker. Die belebteren Stadtviertel haben Steinpflaster, [S. 354] aber so schlechtes, daß eine Droschke verunglücken würde, wenn sie sich überhaupt hier durchzwängen könnte. Schmutz, Unrat, Gerümpel, Fruchtschalen, Gedärme und andere Küchenabfälle liegen haufenweise umher, die widerwärtigen Hunde wühlen darin herum. Die Straßenreinigung besorgt nur ab und zu ein heftiger Sturmwind mit riesengroßem Besen; ganze Kehrichtwolken füllen dann die Basare. Vergebliche Mühe! In den Winkeln sammelt und häuft sich der Schmutz um so höher, und dort bleibt er liegen.

Eine schöne Ecke im Basar.

In den lebhaftesten Straßen des Basars sind die Läden der Waffenschmiede und Gelbgießer, die Stände der Schmiede und Seiler, Fleischbänke und Obstläden, wo Rosinen und Mandeln, Nüsse, Gurken, Gewürze usw. feilgehalten werden. Das Geschäft der Töpfer blüht, denn der Krug geht solange zu Wasser, bis er bricht, und ganz Mosul braucht die hübschen Trinkgefäße, die die Frauen so anmutig auf dem Kopfe einhertragen. In den Buchläden schmökern Männer im Turban oder Fes umher. Durchmarschierende Soldaten kaufen Tabak und Pfeifen, Feuerstahl und Mundstücke. Mächtige Ballen europäischer Stoffe liegen aufgestapelt, immer in schreiender Farbe, die das Auge des Orientalen erfreut. Ein Hammam, ein Bad, ist überall in der Nähe. Kleine Tunnel, deren spitzbogige Tore oft von schönen Skulpturen umrahmt sind, führen zu den Karawansereien der Großkaufleute, und Stände mit [S. 356] alten Kleidern, wahre Herde für ansteckende Krankheiten und Ungeziefer, fehlen auch nicht. In den engsten Gassen arbeiten die Barbiere in schattigen Gewölben. Schutzdächer aus dünnen Brettern oder Bastmatten über den Läden erhöhen noch die malerische Buntheit der Straßenbilder.

Bab-el-Dschiser.

Das Herz des Basars ist ein kleiner, unregelmäßiger Marktplatz, auf den die Hauptstraßen zusammenlaufen. Hier liegen mehrere Kaffeehäuser. Auf der offenen Veranda des einen habe ich viele Stunden zugebracht. Unter mir ein Gewimmel, wie in einem Ameisenhaufen; würdig einherschreitende Orientalen im Turban oder Fes und in weißen, braunen oder gestreiften Kopftüchern mit Scheitelringen, Chaldäer und Syrier — im Fes, aber sonst europäisch gekleidet —, Priester und Bettler, Frauen mit und ohne Schleier, Hausierer und lärmende Kinder, Eseltreiber mit ihren störrischen Langohren und Kameltreiber durchziehender Karawanen, die nie ein Ende nahmen. Das Reizvollste aber war der Blick über dies Gewimmel hinweg durch den mächtigen Rundbogen des gegenüberliegenden Tores Bab-el-dschiser auf den nahen Strom, die Brücke, die seine Ufer verbindet, und auf die Ruinenhügel von Ninive.

In 35 Bogen zwischen mächtigen Steinpfeilern setzt die Brücke über den Strom. Aber nur auf dem linken Ufer ist sie landfest; bei niedrigem Wasserstand steht sie dort zum größten Teil auf dem Trockenen. Die Strömung geht am rechten Ufer entlang, wo auch das Bett am tiefsten ist, und bei Hochwasser, nach der Schneeschmelze oder nach Frühjahrsregen, würde auch die stärkste Steinbrücke der rasenden Gewalt des Wassers nicht widerstehen. Deshalb hat man hier eine Pontonbrücke angesetzt, deren Verbindungsteil mit der Steinbrücke, je nach dem Wasserstand, seine Lage selbsttätig ändert. Auch unterhalb der festen Brücke läuft ein Fußsteig, der aber nur bei niedrigem Wasserstand begangen werden kann; jetzt war er überschwemmt. Die Brücke wurde vor achtzig Jahren von einem Italiener gebaut, dessen Sohn noch jetzt in Mosul leben soll.

Das orientalische Gepräge Mosuls wird starke Einbuße erleiden, wenn nach dem Kriege die Bagdadbahn fertig ist, und Eisenbahnen, Lokomotiven und Güterzüge die Kamele verdrängen. Schon jetzt hatte die Regulierungsmanie eines Wali auch hier gewütet. Vom künftigen Bahnhof [S. 357] brach man eine Straße quer durch die Stadt zum Tigris. Dadurch fiel eine Menge schöner alter Häuser und Höfe der Spitzhacke zum Opfer. Der Krieg verhinderte bisher den Neubau; infolgedessen sah die Straße aus, als habe ein Erdbeben sie zerstört, oder als hätten die Russen hier wie in Ostpreußen gehaust. Halb abgerissene Häuser standen da, und bloßgelegte Höfe mit hohen Gewölben, Säulen und Marmorarabesken boten einen traurigen Anblick. Ich fragte den Gendarm, den mir der Kommandant als Begleiter mitgegeben hatte, ob der für diese Zerstörung verantwortliche Wali nicht gehängt worden sei. „Im Gegenteil,“ antwortete er lachend, „jedenfalls ist er Ehrenbürger von Mosul geworden!“

Tunnel im Basar.

Meine Streifzüge durch Mosul beschloß ich gewöhnlich mit dem Besuch eines Gasthauses, dessen Besitzer, der Italiener Henriques, mit einer tüchtigen deutschen Frau verheiratet ist; aus Bagdad hatte man ihn ausgewiesen, in Mosul aber ließ man ihn unbehelligt. Er wohnte fast außerhalb der Stadt an einem großen Platz zwischen den Infanteriekasernen, dem Konak und dem Serail, wo die Zivilbehörden ihren Sitz haben, und verschenkte den herrlichsten Nektar, den man sich in der Sonnenglut wünschen konnte, eiskalte Limonade.

Der chaldäische Patriarch, rechts der Herzog, links Koeppen und Staudinger.

[S. 359]

Monseigneur Chajat.

Von den Kirchen Mosuls soll die ältere chaldäische aus dem 7. Jahrhundert stammen. Unmittelbar neben ihr liegt die jetzige chaldäische Kathedrale, die im 14. Jahrhundert erbaut und 1810 und 1896 erneuert wurde. Es war gerade Vespergottesdienst, als wir sie in Begleitung mehrerer Priester besuchten, und der Gesang der Chorknaben erfüllte die niedrigen Wölbungen des Kirchenschiffs, das vom Altar durch einen Vorhang getrennt war. Die Wölbungen ruhen auf acht Säulen; Kapitäle und das sie verbindende Gebälk sind mit Bibelsprüchen bedeckt, der Boden mit Teppichen belegt. An die Kathedrale schließt sich das Seminar mit einem geräumigen Hof. Ein Gang und eine Treppe führen in eine Krypta, eine andere Treppe auf einen kleinen Hof, an dem ein Zimmer gezeigt wird, das Feldmarschall von Moltke 1837 bewohnt haben soll. Ein dritter Hof umschließt eine Begräbnisstätte der Chaldäer. Sonntag, den 18. Juni, waren der Herzog [S. 360] und wir andern frühmorgens ½6 Uhr zu einer feierlichen Messe in der Kathedrale eingeladen. Der Vorhang vor dem Chor war nun aufgezogen, der Altar strahlte im Kerzenlicht, und Knaben- und Männerchöre sangen oder vielmehr schrien Psalmen und Lieder. Der Patriarch, ein ehrwürdiger Greis mit langem, weißem Haar und freundlichen Augen hinter runden Brillengläsern, zelebrierte selbst und murmelte mit dumpfer Stimme uns unverständliche Worte aus goldbeschlagenen Büchern. Die Morgensonne flutete durch die Fenster herein auf die dichte Menge der Andächtigen, und die Festkleider der chaldäischen Frauen leuchteten in allen Farben.

Erntetanz.

Am zweiten Sonntag lud mich der Chorbischof der syrischen Kirche, Monseigneur Chajat, Fondateur de l’Institut Pius X. à Mosoul , zu einer höchst originellen Tanzvorstellung kurdischer Landleute, die zur Erntearbeit nach Mosul zu kommen pflegen. Die Männer trugen Turbane, Westen, Leibgürtel und lange Hosen, die Frauen leichte Kopftücher, Mieder oder Jäckchen und bunte Röcke. Vier Musikanten spielten auf; ihre Instrumente waren ein Kanun, ein zitherartiges Saitenspiel, das man aus den Knien hält, ein Oud oder eine Gitarre, ein Dumbug oder eine Trommel und ein Tamburin mit rasselnden Tellerchen an der Seite, genannt Daff (vgl. das Bild S. 348 ).

Der erste Teil des Erntetanzes: Die Sicheln werden geschliffen.
In raschem Tempo.

[S. 363]

Erst traten die Männer vor, faßten sich an den Händen und begannen jenen rhythmisch wiegenden Tanz, den ich schon bei den Arabern gesehen hatte. Bald warfen sie sich nach rechts, bald nach links vornüber, jedesmal den Fuß gegen die Steinplatten stemmend, und zwar mit solchem Nachdruck, daß man fürchtete, sie müßten sich die Fußsohlen zerreißen. Der Schweiß floß ihnen vom Gesicht herab, die Augen glänzten vor Eifer; die Tänzer schienen völlig im Bann der immer leidenschaftlicher anschwellenden Musik, die Finger rissen immer ungestümer die Saiten, die Knöchel schlugen mit rasender Schnelligkeit das gespannte Trommelfell, und wie ein saugender Strudel des Tigris wirbelte es um die Maulbeerbäume des Hofes herum.

Am zweiten Tanz nahmen auch die Frauen teil, und den Schluß bildete der Erntetanz der Männer. Erst saßen sie auf dem Boden und schliffen ihre Sicheln zum Takt der Musik. Dann standen sie auf und machten in wiegendem Gang die Bewegungen des Schnitters beim Mähen der Saat. Dann steigerte sich der Tanz zu einem wilden Krescendo.

Hinterher gaben uns die Musikanten in einer Loggia noch ein besonderes Konzert. Sie spielten einen algerischen Marsch, der an der Nordküste Afrikas volkstümlich sein soll, und melancholische, eintönige Weisen zu den Liedern eines arabischen Sängers, denen man stundenlang zuhören konnte.

Das Haus des Chorbischofs war einer der schönsten Paläste in Mosul, und Monseigneur Chajat hatte die Liebenswürdigkeit, mir eines seiner Zimmer als Atelier einzuräumen und mir zahlreiche männliche und weibliche Modelle zu beschaffen. Die Bilder, die ich von ihnen entwarf, erheben keinen Anspruch auf künstlerischen Wert, geben aber wohl einen Begriff von der Mannigfaltigkeit charakteristischer Typen, die Mosuls Straßen und Basare beleben und dem Auge des Malers einen unerschöpflichen Reiz bieten.

[S. 364]

Das Tor Bab-el-Dschiser in Mosul mit Blick auf die Tigrisbrücke und Ninive.

Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Ninive.

I m vorigen Kapitel berichtete ich schon, daß ich am 11. Juni 1916 die alte Seldschukenburg in Mosul bestieg, die sich auf einem steilen Felsen über dem rechten Ufer des Tigris erhebt, und zum erstenmal die alte Königsstadt Ninive vor mir sah — oder vielmehr die Stelle, wo sie ehemals gestanden hat. Keine grauen Massen gewaltiger Mauern, keine Türme mit Zinnen, keine Terrassen von Königspalästen oder festen Bürgerhäusern sind mehr zu sehen; nicht einmal Reste ihrer Grundmauern ragen über der Erde hervor. Alles ist verschwunden; nur drei ausgedehnte, gleichförmige Hügel mit schroffen Abhängen verraten den Ort, wo vor Jahrtausenden die Hauptstadt des assyrischen Weltreichs blühte. Von der beherrschenden Höhe der Seldschukenburg aus erhält man aber wenigstens einen ungefähren Begriff von der Lage und Größe dieser Stadt, und die Phantasie glaubt den Lauf der Stadtmauer zu erkennen. Sonst nichts als graubraune Wüste in glühendem Sonnenbrand.

[S. 365]

Und diesen Eindruck unendlicher Verwüstung erhielt ich auch, als ich am 16. Juni mit Professor Tafel, der ebenfalls von Bagdad herübergekommen war, auf dem Ruinenfeld selbst umherstreifte. Nur an zwei Stellen dieses ungeheuern Friedhofes hat sich das Leben noch festgenistet; die eine ist das Dorf Nebi Junus, unmittelbar neben dem südlichen Hügel und selbst auf einer kleinen Anhöhe gelegen, von der die Grabmoschee des Propheten Jonas weithin sichtbar ist, und das Dorf Kujundschik, berühmt als einer der ergiebigsten Fundorte der Assyriologen.

Die Droschke, mit der wir von Mosul über das Rollsteinpflaster der Tigrisbrücke Ninive entgegenfuhren, war mit Seilen umschnürt, weil ihre gesprungenen und eingetrockneten Radkränze und Speichen auseinanderzufallen drohten. Auf dem linken Ufer bogen wir rechts ab und hielten bald am Fuße des Abhangs, von wo ein Fußweg zur Grabmoschee Nebi Junus hinaufführt. Es war gerade Freitag und Gottesdienst in der Moschee.

Oberster Priester der Grabmoschee des Propheten Jonas.

Man empfing uns freundlich und geleitete uns zu einer Dachterrasse hinauf, von der aus eine Tür in den Tempel führte. In einem kleinen Kiosk, einem Turmzimmer mit Fenstern nach allen Himmelsrichtungen, die eine prächtige Aussicht auf das gegenüberliegende Mosul darboten, mußten wir warten, bis die Gebete zu Ende waren, die Allahs Segen auf den Sultan, auf Kaiser Wilhelm und Kaiser Franz Joseph herabflehten und um Sieg über die Feinde baten — eine erbauliche Zeremonie für die anwesenden englischen Untertanen, wenn anders sie aufrichtige [S. 366] Gefühle für England im Herzen hegten. Ein kleiner weißbärtiger Alter, den Turban auf dem Kopf und eine Brille auf der Nase, leistete uns mit mehreren andern Mohammedanern Gesellschaft.

Als die Gläubigen die Moschee zu verlassen begannen, zogen wir die Schuhe aus; unser Führer ergriff meine Hand und bat uns ihm zu folgen. Das Innere des Tempels war sehr einfach und entbehrte jedes Schmucks, nur ein paar verschlissene Teppiche lagen auf dem Boden. Seitwärts vor einem Gitterfenster standen einige indische Mohammedaner im Gebet versunken. Durch dieses Gitter sah man in die Krypta des Propheten Jonas hinab, ein dunkles Loch, in dessen Mitte sich eine sarkophagähnliche Erhöhung abhob. Das eigentliche Grab des Toten soll aber unter diesem Denkmal liegen.

Indische Mohammedaner in der Moschee Nebi Junus.

Eins der Minarette von Mosul hängt bedenklich über. Der Sage nach verbeugten sich alle Gebetstürme in Ehrfurcht, als der Prophet Jonas gleich unterhalb dieses Dorfes, das seinen Namen trägt, vom Walfisch ans Land gespien wurde. Nachher richteten sie sich wieder auf bis auf einen, der noch heute fortfährt, die Bewohner Mosuls an das Grab des Heiligen zu erinnern.

Aus der stillen Kühle der Moschee gingen wir wieder in den Sonnenbrand [S. 367] hinaus und stiegen langsam den Hügel hinab, auf dessen Abhang die ärmlichen Hütten des Dorfes Nebi Junus in amphitheatralischer Anordnung liegen. Auf einem der Höfe hatte sich eine Schar armenischer Flüchtlinge gelagert. Dann fuhren wir eine Strecke nordwärts bis zum Flusse Choser, der von Osten nach Westen die Ruinenstätte durchfließt. Eine schöne neue Bogenbrücke führte hinüber, die aber auch schon so verfallen war, daß wir vorzogen, sie zu Fuß zu überschreiten. Auf einer Landspitze nahm eine Eselkarawane, Führer und Tiere, in dem kristallklaren, fast stillstehenden Wasser ein Bad.

Josefine Saijo, 13jährige Syrierin.

Bald hinter der Brücke beginnt der eine von den Hügeln Ninives, und wir steigen seinen niedrigen Gipfel hinan. Ringsum nur Schutt und Disteln — nichts, was auch nur einigermaßen an die Welt des Altertums erinnert, kaum daß die eingestürzte Mündung eines Tunnels die Spur älterer englischer und französischer Ausgrabungen verrät. Lautlos und öde dehnt sich die sonnenverbrannte Wüste vor uns; nur Scherben zerbrochener Wasserkrüge liegen umher, zwischen denen zahlreiche Eidechsen über glühend heiße Steine dahinhuschen. Die Grundmauern, auf denen Königspaläste und Festungen ruhten, sind im Schutt verborgen, und die Phantasie versagt, wenn sie aus diesem öden Nichts die Herrlichkeit vergangener Jahrtausende erwecken soll. Auf diesem ungeheuern Friedhof sind nicht einmal mehr Grabsteine zu finden, die ihr als Führer dienen könnten, und in meinen Ohren klingen die Worte des Propheten Nahum, zu dessen Grab in dem Dorf Alkosch, neun Stunden nördlich von Mosul, an bestimmten Festtagen die Juden wallfahren: „Es wird der Zerstreuer wider dich heraufziehen und die Feste belagern. Siehe wohl auf die Straße, rüste dich aufs beste und stärke dich aufs gewaltigste. Denn der Herr wird die Pracht Jakobs wiederbringen, wie die Pracht Israels. Die Schilde seiner Starken sind rot, sein Heervolk glänzt wie Purpur, seine Wagen leuchten wie Feuer, wenn er sich rüstet; ihre Spieße beben. Die Wagen rollen auf den Gassen und rasseln auf den Straßen. Sie glänzen wie Fackeln und fahren einher wie die Blitze. Er aber wird an seine Gewaltigen denken; doch werden sie fallen, wo sie hinaus wollen, und werden eilen zur Mauer und zu dem Schirm, da sie sicher seien. Aber die Tore an den Wassern werden doch geöffnet, und der Palast wird untergehen. Die Königin wird gefangen weggeführt werden, und ihre [S. 368] Jungfrauen werden seufzen wie die Tauben und an ihre Brust schlagen. Denn Ninive ist ein Teich voll Wasser von jeher; aber dasselbe wird verfließen müssen. Stehet, stehet, werden sie rufen, aber da wird sich niemand umwenden. So raubet nun Silber, raubet Gold, denn hier ist der Schätze kein Ende und die Menge aller köstlichen Kleinode. Nun muß sie rein abgelesen und geplündert werden, daß ihr Herz muß verzagen, die Kniee schlottern, alle Lenden zittern und alle Angesichter bleich werden. Wo ist nun die Wohnung der Löwen und die Weide der jungen Löwin, da der Löwe und die Löwin mit den jungen Löwen wandelten und niemand durfte sie scheuchen? Der Löwe raubte genug für seine Jungen und würgte es seinen Löwinnen. Seine Höhlen füllte er mit Raub und seine Wohnungen mit dem, was er zerrissen hatte. Siehe ich will an dich, spricht der Herr Zebaoth, und deine Wagen im Rauch anzünden, und das Schwert soll deine jungen Löwen fressen; und will deines Raubens ein Ende machen auf Erden, daß man deiner Boten Stimme nicht mehr hören soll. Wehe der mörderischen Stadt, die voll Lügen und Räuberei ist und von ihrem Rauben nicht lassen will. Denn da wird man hören die Geißeln klappen und die Räder rasseln und die Rosse jagen und die Wagen rollen. Reiter rücken herauf mit glänzenden Schwertern und mit blitzenden Spießen. Da liegen viel Erschlagene und große Haufen Leichname, daß ihrer keine Zahl ist und man über [S. 369] die Leichname fallen muß. Und alle, die dich sehen, werden vor dir fliehen und sagen: Ninive ist zerstört; wer soll Mitleiden mit ihr haben, und wo soll ich dir Tröster suchen? Siehe dein Volk soll zu Weibern werden in dir, und die Tore deines Landes sollen deinen Feinden geöffnet werden, und das Feuer soll deine Riegel verzehren. Schöpfe dir Wasser, denn du wirst belagert werden! Bessere deine Festen! Gehe in den Ton und tritt den Lehm und mache starke Ziegel! Aber das Feuer wird dich fressen, und das Schwert töten; es wird dich abfressen wie die Käfer, ob deines Volks schon viel ist wie Käfer, ob deines Volks schon viel ist wie Heuschrecken. Deiner Herren sind so viele wie Heuschrecken und deiner Hauptleute wie Käfer, die sich an die Zäune lagern in den kalten Tagen. Wenn aber die Sonne aufgeht, heben sie sich davon, daß man nicht weiß, wo sie bleiben. Deine Hirten werden schlafen, o König zu Assur, deine Mächtigen werden sich legen; und dein Volk wird auf den Bergen zerstreut sein und niemand wird sie versammeln. Niemand wird deine Schaden lindern, und deine Wunde wird unheilbar sein.“ —

Monseigneur Boloß, syrischer Bischof in Dara.
Marie George, 30jährige syrische Katholikin, in Mosul verheiratet.

Fast gedörrt von der Sonne flüchteten wir bald zurück über den Tigris in die schattigen Räume eines der Kaffeehäuser am rechten Ufer, auf dessen oberen Balkonen lauter Beduinen, auf den unteren fesgeschmückte Männer in echt orientalischer Beschaulichkeit ihre Tage verbringen, ihre Tage im wörtlichen Sinne, denn die Besucher richten sich hier für den ganzen Tag ein, zahlen 10 Para und können dafür so viel Kaffee [S. 370] trinken wie sie wollen. In seinen leichten Sommermantel gehüllt sitzt der Gast vor seiner Kaffeeschale, raucht seine Pfeife und tut durchaus nichts; höchstens daß er einmal mit einem Freunde aus Bagdad eine Partie Schach spielt oder mit Bekannten über Geschäfte redet. Geld und Geldgewinn sind außer Lappalien die einzigen Gesprächsgegenstände. Der Weltkrieg kümmert diese Männer nur insoweit, als das wechselnde Waffenglück die Geschäfte beeinflußt. Von seiner ungeheuren Bedeutung für die Zukunft der ganzen Menschheit ahnen, von dem Anlaß des Kampfes, von den Zielen der Gegner wissen sie nichts. Wenn sie nur zur rechten Zeit die geschäftliche Konjunktur ausnutzen und sich am Klang des Goldes in eisenbeschlagenen Kisten freuen können. Alles Übrige ist ihnen gleichgültig — ganz wie gewissen Leuten in Europa, die sich ihrer ungeheuern Verantwortung vor Gegenwart und Zukunft nicht bewußt sind! Stumpf und schläfrig schweifen die Blicke über das bunte Leben auf der Brücke, die badenden Jungen, die schwimmenden Büffel, die zierlichen Gemüseinseln, die durch die Brückenbogen treiben, und über den Strom hinüber zu den Ruinenhügeln Ninives. Langsam gleiten die 99 Kugeln des Rosenkranzes durch die Finger, aber das Ohr [S. 372] vernimmt nichts von den Stimmen der Vergänglichkeit, die mahnend von dort herübertönen. —

Zeichnung von Gustave Doré.
Jonas ermahnt die Bewohner von Ninive, sich zu bessern.

In der Bibel wird Ninive noch an andern Stellen erwähnt. Schon das 1. Buch Moses berichtet, daß Nimrud von Babel nach Assyrien zog und Ninive baute. Zum Propheten Jona geschah das Wort des Herrn: „Mache dich auf und gehe in die große Stadt Ninive und predige wider sie, denn ihre Bosheit ist heraufgekommen vor mich.“ — „Da machte sich Jona auf und ging hin gen Ninive, wie der Herr gesagt hatte. Ninive aber war eine große Stadt vor Gott, drei Tagereisen groß. Und da Jona anfing hineinzugehen eine Tagereise in die Stadt, predigte er und sprach: Es sind noch vierzig Tage, so wird Ninive untergehen. Da glaubten die Leute zu Ninive an Gott und ließen predigen, man sollte fasten, und zogen Säcke an, beide groß und klein.“ — „Da aber Gott sah ihre Werke, daß sie sich bekehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er geredet hatte ihnen zu tun, und er tat es nicht.“ — Er sagte: „Mich sollte nicht jammern Ninive, solcher großen Stadt, in welcher sind mehr denn 120000 Menschen, die nicht wissen Unterschied, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere?“

Eine Frau trägt Wasser aus dem Tigris nach Hause.

Als Tobit den Tod herannahen fühlte, sprach er zu seinem Sohn Tobias: „Siehe, mein Sohn, ich bin alt und bereit aus dem Leben zu scheiden. Nimm deine Söhne und begib dich nach Medien, mein Sohn. Denn ich glaube, Ninive wird zerstört werden, wie es der Prophet Jona [S. 373] gesagt hat.“ Darauf zog Tobias mit den Söhnen nach Ekbatana (Hamadan) in Medien, wo er in hohem Alter aus dem Leben schied. Und ehe er starb, erfuhr er den Untergang Ninives: es wurde von Nebukadnezar und Asverus erobert. So durfte er sich vor seinem Tode über Ninives Fall freuen.

Der jahrtausendelang berühmte Name ist auch dem Menschensohn über die Lippen gekommen. In einer Unterhaltung mit den Schriftgelehrten und Pharisäern sagte Jesus: „Ninives Männer werden im Gericht mit diesem Geschlecht auferstehen und es verdammen. Denn sie besserten sich nach Jonas’ Predigt, und siehe hier ist mehr als Jonas.“

Von der Vernichtung „der großen Stadt“ spricht schließlich der Prophet Zephanja in mächtigen Worten: Der Herr Zebaoth „wird seine Hände strecken gen Mitternacht und Assur umbringen. Ninive wird er öde machen, dürr wie eine Wüste, daß darin sich lagern werden allerlei Tiere bei Haufen, auch Rohrdommeln und Igel werden wohnen in ihren Säulenknäufen, und Vögel werden in den Fenstern singen, und auf der Schwelle wird Verwüstung sein, denn die Zedernbretter sollen abgerissen werden. Das ist die fröhliche Stadt, die so sicher wohnte und sprach in ihrem Herzen: Ich bins und keine mehr. Wie ist sie so wüst geworden, daß die Tiere darin wohnen! Und wer vorübergeht, pfeift sie an und klatscht mit der Hand über sie.“

* *
*

Schon im Jahre 1575 vermutete der deutsche Arzt Rauwolff, daß die Hügel gegenüber Mosul das alte Ninive einschlössen. Der Engländer James Rich, der den ersten Anlaß zu den später systematisch betriebenen Ausgrabungen in Mesopotamien gab, war von der Richtigkeit der Annahme Rauwolffs überzeugt und schickte von Ninive Ziegelsteine mit Keilschrift ins Britische Museum. Im Jahre 1842 legte der französische Konsul Botta den Palast in Chorsabad bloß, das die Residenz Sargons II., des Eroberers von Samaria, war, und 1847 machte der Engländer Henry Layard großartige Entdeckungen in Ninive und Nimrud, wo er unter anderm vier assyrische Paläste untersuchte. Seitdem ist die Entwicklung der Ausgrabungen zu Ninive ein Siegeszug der Wissenschaft geworden, an dem Engländer, Deutsche, Franzosen und Amerikaner mit gleichwertigen Erfolgen beteiligt sind.

[S. 374]

In dem Dorf Kujundschik auf den Hügeln von Ninive fanden Layard und sein Gehilfe, der in Mosul geborene Hormuzd Rassam, in 22000 Tontafeln aus der Zeit Sardanapals (Assurbanipals), des letzten großen Königs von Assyrien (668–626), die älteste Bibliothek der Welt.

Jetzt besitzen die Museen Europas und Amerikas über 100000 solcher Tafeln — ein ungeheures Material, dessen Bearbeitung noch viele Jahre erfordert; 1909 war unter andern C. Bezold schon ein Jahrzehnt lang mit seiner Deutung beschäftigt. Die Franzosen entdeckten die herrlichen Statuen des Königs Gudea, und in Susa die berühmten Gesetze des Hammurabi. Amerikaner arbeiteten in Nuffar in Südbabylonien und fanden 1880–1900 Massen äußerst wertvoller Überreste aus dem 3. Jahrtausend, die Hilprecht geschildert hat.

Dazu kamen im Jahr 1888 die sogenannten Amarnatexte, die jetzt in Berlin, Kairo und London aufbewahrt werden. Bei dem Dorf Tell el-Amarna zwischen Memphis und Theben fand eine Bauernfrau eine Steinkiste mit 300 Tafeln aus gebranntem Ton; sie enthielten Briefe der im 15. und 14. Jahrhundert v. Chr. regierenden Pharaonen und westasiatischer Fürsten, die jenen tributpflichtig waren. Dieser Fund warf neues Licht auf die Geschichte Vorderasiens und die Verbindungen zwischen Assyrien und Ägypten. Einen dieser Briefe aus dem 15. Jahrhundert schrieb ein König Abdichiba in Urusalim (Jerusalem), das Pharao seinen Herrn nannte; schon ein halbes Jahrtausend vor Salomo wird also die heilige Stadt in einer Urkunde erwähnt.

[S. 375]

Die Seldschukenburg.

Vierundzwanzigstes Kapitel.
Die Keilschrift und die älteste Bibliothek der Welt.

W ahrscheinlich im vierten Jahrtausend v. Chr. wanderten von Arabien die Ostsemiten nach Südbabylonien ein. Ihre Sprache war das Babylonisch-assyrische, ein Name, der aus den einheimischen Worten Babilu und Aschschur, Babel oder griechisch Babylon und Assur oder Assyrien gebildet ist. Die semitischen Einwanderer, deren ursprüngliche Heimat jedenfalls Nordafrika war, fanden das Land von den Sumerern bewohnt, einem nichtsemitischen Volke, dessen Urheimat wahrscheinlich Zentralasien war. Diese Sumerer sind die ältesten Bewohner Mesopotamiens. Sie wohnten in Ziegelhäusern, bauten ihren Göttern Tempel, trieben Ackerbau, Viehzucht und Jagd und besaßen eine uralte Kultur, deren Höhe zahlreiche Urkunden besonders aus der Regierungszeit des Königs Gudea beweisen. Die lebensgroßen, aus Diorit gehauenen Standbilder Gudeas, die jetzt im Louvre zu Paris aufbewahrt werden, zeugen von einer Kunst, mit der sich kein anderes Land des morgenländischen [S. 376] Altertums messen kann; niemals hat Asien vor der Blütezeit der griechischen Skulptur trefflichere Plastiken hervorgebracht.

Naima, 20jährige Chaldäerin aus Mosul.

Urkunden aus der Zeit Sargons I., etwa 2850 Jahre v. Chr., erwähnen zum erstenmal die werdende Reichshauptstadt Babel oder Babylon; der König habe hier zwei Tempel gebaut. Unter seiner Regierung gewannen auch die Semiten erst die Herrschaft über das ganze Land. In der ältesten Zeit Babyloniens oder Sinears lebten die Sumerer überwiegend in Südbabylonien, das Sumer hieß, die Semiten in Nordbabylonien oder Akkad.

Von Sargon I. berichten zwei Tontafeln eine Geschichte, die an die Aussetzung des Moses erinnert. Sargon, heißt es, wurde am Ufer des Euphrat geboren. Seine Mutter legte ihn in einen verschlossenen, durch Erdpech gedichteten Schilfkorb und warf ihn in den Strom. Der Wasserträger Akki fand ihn und erzog ihn zum Gärtner. Aber die Liebesgöttin Ischtar erhob ihn zum König über die schwarzköpfige Menschheit. Sargon regierte in der Stadt Akkad in Nordbabylonien. Aber diese Stadt war nicht die erste Kulturmetropole. Denn vor Sargon gab es vier sumerische Hegemonien, unter ihnen die der Stadt des Kisch, dessen Herrschaft die Stadt Sirpurla oder Lagasch, das jetzige Tello am Schatt-el-Hai, unterstand. Sargon unterwarf ganz [S. 377] Sumer, doch gewann Sirpurla unter Gudea (etwa 2600) seine Unabhängigkeit zurück. Inschriften aus seiner Zeit berichten von Kämpfen zwischen Babylonien und Elam. Aus französischen Funden geht hervor, daß die Könige der Elamiten viele Plünderungszüge nach Babylonien unternahmen.

Die Sumerer besaßen eine Schriftsprache, die schon bei den klassischen Schriftstellern Beachtung fand, denn alle Ruinen und Kunstdenkmäler der Euphrat- und Tigrisländer, Persiens und Armeniens waren mit den geheimnisvollen Zeichen dieser Schrift bedeckt. Europäische Reisende des vierzehnten Jahrhunderts brachten mancherlei Kunde darüber in ihre Heimat, und der berühmte italienische Reisende Pietro della Valle machte im Jahre 1621 zuerst einige dieser Zeichen in Europa bekannt. Ein französischer Kaufmann namens Chardin, der in den Jahren 1664–1670 und 1671–1677 zwei große Reisen durch den Orient unternahm, teilte dann in seinem vortrefflichen Werke „ Voyage en Perse et autres lieux de l’Orient “ (1711) die ersten vollständigen Inschriften mit.

Minarett in Mosul.

Die neue Schrift hatte nur zwei Zeichen, den Keil und den Winkelhaken, der wieder aus zwei rechtwinklig zusammengefügten Keilen bestand. Der Keil stand senkrecht, wagerecht oder schräg, seine Spitze aber zeigte immer nur nach unten oder nach rechts, und der Winkelhaken öffnete sich nur nach rechts. Durch Vervielfachung und verschiedenartige [S. 378] Gruppierung der Keile oder der Winkelhaken und durch mannigfaltige Verbindung beider Zeichen schienen Laut- oder Wortbilder geformt zu sein, die sich ohne Unterbrechung aneinanderreihten. Jede Rundung in den Schriftzeichen fehlte; sie paßten sich ganz dem harten Material an, in das sie eingehauen waren.

Die Bedeutung dieser Zeichen, meinte Chardin, werde man wohl niemals ergründen. Aber schon Pietro della Valle hatte die Vermutung geäußert, daß die merkwürdige Schrift von rechts nach links gelesen werden müsse. Den Beweis dafür erbrachte der deutsche Forschungsreisende Carsten Niebuhr, der von 1761–1767 Arabien bereiste, auch Persepolis, die Hauptstadt der altpersischen Achämenidendynastie, besuchte und alle dort erreichbaren Inschriften mit größter Genauigkeit kopierte. Er erkannte außerdem, daß jene beiden Zeichen, Keil und Winkelhaken, drei verschiedene Schriftsysteme bildeten, und daß diese drei Systeme stets zusammen vorkamen; ein- und derselbe Text war offenbar in verschiedenen Schriftarten eingegraben, die stets in gleicher Ordnung aufeinanderfolgten: erst die einfachste, bei der Niebuhr 42 verschiedene, aus Keil und Winkelhaken gebildete Zeichen feststellte, ihr folgte eine an Wort- oder Lautbildern reichere, und zuletzt kam die schwierigste, die die beiden andern an Mannigfaltigkeit der Bilder übertraf. Eine Entzifferung der Schrift erschien aber noch unmöglich, da man ja nicht wußte, welche Sprache sich darunter verbarg.

Aber gerade das Rätselhafte dieser Schrift ließ den Scharfsinn der Gelehrten nicht ruhen. Im Jahre 1798 fand der Rostocker Professor Tychsen heraus, daß nach höchstens zehn Keilschriftzeichen regelmäßig ein einzelner schräger Keil wiederkehrte; das müsse der Wortteiler sein — eine Vermutung, die sich vollkommen bestätigte und für die weitere Forschung grundlegend wurde. Schon vier Jahre später gelang es einem jungen deutschen Schulmann namens Georg Friedrich Grotefend, ohne Kenntnis der morgenländischen Sprachen, nur durch geniale Kombination, des Rätsels Lösung zu finden. Es handle sich, erklärte er, nicht um dreierlei Schriftarten, sondern um drei verschiedene Sprachen; die erste und einfachste müsse die des Herrscherhauses, demnach die altpersische sein, von der damals nur Bruchstücke bekannt waren. Viele der ihm vorliegenden Inschriften, die Niebuhr aus Persepolis mitgebracht hatte, waren Unterschriften unter Bildern alter Könige, und in diesen Unterschriften traten [S. 380] bestimmte Zeichengruppen regelmäßig auf. Dieselbe Erscheinung zeigte sich in spätpersischen Denkmalinschriften, die man damals bereits lesen konnte. Das immer Wiederkehrende waren die üblichen Titel: König, König der Könige, großer König. Da nun dieser Kurialstil im Morgenland durch die Jahrtausende hindurch derselbe geblieben ist, schloß Grotefend, daß diese gleichartigen Zeichengruppen der Keilinschriften eben diese Titel ausdrückten. Den Titeln voraus pflegten in den neupersischen Inschriften die Namen zu gehen, teils im Nominativ, teils, wenn auch der Vater eines Königs genannt war, im Genitiv; derselbe Name mußte sich also in zwei Formen finden, einmal im Nominativ, dann mit der geänderten Flexionsendung des Genitivs. Auch diese Annahme stimmte, und aus der Form der Titulaturen auf den von ihm zugrunde gelegten Inschriften schloß Grotefend weiter, daß darin nur von drei aufeinanderfolgenden Königen, Großvater, Vater und Sohn, die Rede sein könne. Da die drei Namen verschieden waren, erlaubte die Geschichte der Dynastie nun den weiteren Schluß, daß jene Inschriften von Hystaspes, Darius und Xerxes berichteten. Die richtigen altpersischen Formen jener Namen zu finden, machte allerdings noch Schwierigkeiten, aber auf diesem Wege gelang es Grotefend, von den zweiundvierzig Zeichen der ersten Schriftart elf vollkommen richtig zu deuten.

Seitenportal der Grabmoschee Imam Auneddin in Mosul.

Mangel an Sprachkenntnis brachte seine Weiterarbeit ins Stocken, aber nun setzten berufene Orientalisten, vor allem Eugen Burnouf und Eduard Lassen, die Deutungsarbeit mit Erfolg fort. Zur gleichen Zeit entdeckte Sir Henry Rawlinson als Offizier der persischen Armee die berühmte Inschrift des Darius Hystaspes auf einer steilen Felswand des Berges Behistun bei Kirmanschah, und angeregt und gefördert durch die deutschen Forschungen begann er nach gründlichem Studium der morgenländischen Sprachen die Entzifferung seines Fundes, die er 1847 vollendete. Grotefends Kombinationen hatten sich als vollkommen richtig erwiesen, und das rätselhafte Schweigen der Keilschrift war damit gebrochen, wenigstens der einfachen, deren Sprache zwar nicht das altpersische Zend, aber doch nahe damit verwandt war.

Die beiden anderen Sprachen, die jedesmal Übersetzungen der ersten waren, machten größere Schwierigkeiten. Aber auch sie wurden überwunden. In der zweiten Sprache erkannte man das Elamitische oder [S. 381] Susische, und in der dritten, die erst nach den Ausgrabungen in Mesopotamien, wo man reichliches Vergleichsmaterial fand, gedeutet werden konnte, die babylonisch-assyrische, deren Geheimnis von Rawlinson, de Saulcy, Hincks und Oppert ergründet wurde. Die babylonisch-assyrische Sprache erwies sich als semitisch, also mit dem Hebräischen, Phönizischen, Arabischen und Äthiopischen verwandt. In Deutschland führten dann Eberhard Schrader (gestorben 1908) und Friedrich Delitzsch die Assyriologie zum Siege; der erstere hat bereits einige Generationen von Schülern, die sich der jungen Wissenschaft von der alten Geschichte der Menschheit mit unbestrittenem Erfolge widmen.

Die Keilschrift wurde, wie schon erwähnt, von den Sumerern erfunden, sie war also ursprünglich für eine nichtsemitische Sprache berechnet. Sie bestand aus begrifflichen Wort- und lautgemäßen Silbenzeichen, während die reinen Lautzeichen völlig fehlten. Als nun die semitischen Einwanderer die Schrift übernahmen, um ihre Sprache darin auszudrücken, entstanden so viel Schwierigkeiten und Undeutlichkeiten, daß sie auch im Altertum nur von Gelehrten gelesen werden konnte. Die babylonisch-assyrische Sprache, in dieser Schrift ausgedrückt, war spätestens im zweiten vorchristlichen Jahrtausend in der ganzen vorderasiatischen Welt allgemein üblich. Daß sich die assyrischen Gelehrten Jahrtausende lang einer so verwickelten Schrift mit ihren ungeheuerlichen Begriffszeichen und übrigen Sonderbarkeiten bedienten, spricht nicht eben für ihren praktischen Sinn. Umsomehr aber muß man den Scharfsinn und die Energie der europäischen Gelehrten des neunzehnten Jahrhunderts bewundern, denen es gelang, das Dunkel zu zerstreuen und den Schleier zu heben, der bis dahin die Kulturgeschichte von Jahrtausenden verhüllt hatte. —

Zum Schluß noch einige Worte über die in Ninive gefundene Bibliothek Sardanapals, die älteste Bibliothek der Welt. Sie besteht aus 22000 Tontafeln. Die Schrift auf diesen Tafeln wurde in den Ton eingeprägt, während dieser noch weich war; man erkennt darauf sogar die feinen Linien der Fingerhaut. Dann wurden die Tafeln gebrannt. Jede Tafel ist ein Blatt; mehrere bilden ein Buch oder eine Serie. Ihre Zusammengehörigkeit ergibt sich aus besonderen Aufschriften. Sie ermöglichen uns, 2500 Jahre nach dem Verschwinden der Assyrier die Schätze ihrer Buchkammern zu ordnen. Diese einzigartige Bibliothek [S. 382] ist ein vollständiges Kompendium der assyrischen Kultur und der Weisheit jener Zeit und zugleich ein unvergängliches Denkmal eines der größten Könige des Altertums.

Petros Karso, Chaldäer in Mosul.

Die historische Erzählungskunst der alten Assyrier ist vielseitig und genau und zeichnet sich durch eine achtenswerte Geschicklichkeit in der chronologischen Anordnung aus. Das Archiv Sardanapals enthält Schilderungen des Lebens der Könige, ihrer Feldzüge, ihrer Bauunternehmungen und ihrer Regierungshandlungen zum Besten des Volkes und zur Größe des Reiches. Da finden sich Briefe und Befehle an und von Landeshäuptlingen und Vasallen, Proklamationen, Bittschriften, Privatschreiben, Handelsverträge, Orakel und Adressen an den Sonnengott, Anweisungen für die Opferrituale, die mit den Vorschriften im Buche Moses viele Züge gemeinsam haben, Gebete und Hymnen, die von [S. 383] den Sumerern übernommen sind und die Namen und Funktionen der verschiedenen Götter enthalten — ja in dieser uralten Bibliothek fand sich auch der babylonische Schöpfungs- und Sintflutmythus, der viele Berührungspunkte mit der Bibel aufweist.

Der babylonische Sintflutbericht ist in Kürze folgender: „Auf göttliche Eingebung hin baut Ssitnapischtim, der babylonische Noah, die Arche, belädt sie mit Gold, Silber und Lebenssamen aller Art, bringt seine Familie, seine Angehörigen, Vieh und Getier des Feldes an Bord und verschließt die Schiffstüren. Dann kommt die Sintflut als eine Strafe der Götter für die Bosheit der Menschen. Sobald das Morgenrot aufleuchtete, stieg vom Fundament des Himmels eine schwarze Wolke empor. Der Sturmgott donnert darin, und Nebo und Marduk schreiten voran. Die Herolde ziehen über Berg und Tal, den Schiffsanker reißt Nergal los. Ninib geht dahin und läßt einen Angriff folgen. Die Annunaki erheben ihre Fackeln und lassen das Land mit deren Glanz erglühen. Adads Ungestüm dringt bis zum Himmel hinan, und alles Licht wird verwandelt in Finsternis. Sechs Tage und sechs Nächte rasen die großen Wasser. Dann beruhigt sich das Meer. Die Sturmflut hört auf, und die Arche sitzt auf dem Berge Nissir fest. Am siebenten Tage ließ ich eine Taube hinaus und los. Die Taube flog fort und kam zurück; da aber kein fester Grund da war, kehrte sie um. Ssitnapischtim läßt nun eine Schwalbe ausfliegen. Auch sie kehrt zurück, ohne festen Grund gefunden zu haben. Schließlich schickte er einen Raben aus, der sah das Wasser schwinden und kam nicht zurück. Da ließ Ssitnapischtim alle Menschen und Tiere hinausgehen und opferte auf dem Gipfel des Berges. Die Götter rochen den Duft, und Bel ließ sich bewegen, in Zukunft die Sünden der Menschen anders als durch die Sintflut zu bestrafen, nämlich durch wilde Tiere, Hungersnot und Pestilenz.“

Dieser Bericht gelangte später in das Land Kanaan und findet sich im 1. Buch Moses wieder, wo er jedoch, wie Delitzsch zeigt, in weniger ursprünglicher Gestalt vorliegt.

Sardanapals Bibliothek enthält ferner die ältesten medizinischen „Handbücher“ der Welt. Sie beschreiben die physischen und psychischen Krankheiten, ihre Heilmittel und die Beschwörungen dagegen. Geisteskrankheiten galten als Werke der Dämonen. Traumbücher sprechen von [S. 384] Träumen und ihrer Auslegung. Die Deutung der Vorzeichen war eine Wissenschaft für sich. Man prophezeite die Regierungszeit der Könige, die Siege, die sie erringen sollten, und das Glück, das sie genießen würden. Man sprach im voraus über bevorstehende Ereignisse, über Seuchen, Kriege und Heuschrecken, über Ernte, Jagd und Fischfang. Die Bewegungen der wilden Tiere, das Verhalten der Haustiere, der Flug der Vögel, der Biß der Skorpione — alles hatte seine Bedeutung, die sich den Weisen offenbarte. Aus der Leber des Schafs zog man Schlüsse, ebenso aus der Art des Sesamöls und den Farbenabstufungen der Wasseroberfläche — es war das, sagt Bezold, die Lehre von den Interferenzfarben, die 4000 Jahre später von Newton untersucht wurden. Das Wetter und seine Elemente hatten gleichfalls große Bedeutung, und zukünftige Ereignisse wurden von den Wolken, ihren Bewegungen und ihrer Ähnlichkeit mit Tieren, abgelesen. Zahllose astrologische Prophezeiungen finden sich in Sardanapals Bibliothek. So z. B.: „Eine Mondfinsternis am 11. Tag wird Verderben über die Länder Elam und Phönizien bringen, Glück aber dem Könige, meinem Herrn. Möchte das Herz des Königs, meines Herrn, ruhig bleiben.“

Kurz nach Sardanapals Zeit entwickelte sich die Astrologie zur Astronomie, und Babylon wurde die Heimat der astronomischen Beobachtung. Die Sternbilder des Stieres, der Zwillinge, der Fische hatten Namen, die noch bis in unsre Zeit fortleben. Die Ekliptik war in 360 Grade eingeteilt, der Tag in zwölf Doppelstunden von 120 Minuten, und eine Doppelstunde entsprach 30 Grad. Der 7., 14., 21. und 28. Tag jedes Monats war Gebetstag oder Sabbat, die Woche hatte also sieben Tage. Allem Anschein nach waren die alten Semiten des Zweistromlandes erstaunlich bewandert in Mathematik.

So enthält Sardanapals Bibliothek den ganzen Schatz der babylonisch-assyrischen Kultur und berührt alle Gebiete geistiger Betätigung mit Ausnahme der des Dramas. Ohne jemals die Namen ihrer Verfasser zu nennen, kommen hier, wie an andern Stellen Mesopotamiens, immer neue Funde dieser Art an den Tag, die unsre Kenntnis der Vorzeit wunderbar vervollständigen. Auch der Laie fühlt sich davon unwiderstehlich gefesselt, besonders wenn er, wie ich, so glücklich war, dies erinnerungsreiche Land selbst zu durchwandern.

[S. 385]

Indische Gefangene auf dem Weg nach Demir-kapu.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Über Mardin zurück nach Aleppo.

M it meinem Besuche Ninives war der erste Teil meiner diesmaligen Reise abgeschlossen. Der zweite, über den ich in einem besonderen Buche berichten werde, sollte in Jerusalem seinen Höhepunkt finden. Der einfachste Weg dorthin ging über die türkische Etappenstraße Nesibin-Ras-el-Ain zurück nach Aleppo. Begangene Pfade aber haben mich nie gereizt. Um so verlockender erschien mir der Versuch, das Zweistromland Dschesire und die syrische Wüste zu durchkreuzen und so Palästina zu erreichen.

Ohne starken Schutz wäre dieser Weg aber sehr unsicher gewesen. In diesem Teil des Dschesire haben die Schammar-Araber mehrere ihrer Sommerlager, und sie pflegen mit hergelaufenen Reisenden nicht viel Federlesens zu machen. Dennoch schien sich mein Wunsch erfüllen zu wollen, denn der Stammhäuptling der Schammar-Araber, der mächtige Homedi, war dem deutschen Konsul Holstein in Mosul, in dessen Haus [S. 386] ich verkehrte, sehr ergeben. Homedi hatte eben jetzt sein Hauptquartier bei der alten arabischen Stadt Hatra, 90 Kilometer südwestlich von Mosul, und der Konsul erbot sich, ihn rufen zu lassen und mich seinem mächtigen Schutze anzuvertrauen. Er sollte mich unter starker Beduinenbedeckung durch die Wüste geleiten lassen.

Schon waren die Kamele für diese Wanderung bestellt und alles reisefertig, als sich unübersteigliche Hindernisse meinem Plan entgegenstellten. Bis Hatra, erklärten Homedis Vertreter in Mosul, könne ich ohne Schwierigkeit kommen, da sich an mehreren Stellen dieses Weges Trinkwasser finde. Von da bis Der-es-Sor am Euphrat, auf einer Strecke von 240 Kilometern, gebe es nur zwei Quellen mit salzhaltigem Wasser, das zur Not auch trinkbar sei. In diesem Sommer aber seien beide Quellen, wie die ganze Gegend, derartig von Heuschrecken überschwemmt, daß sich statt des Wassers nur ein Brei toter Insekten finde, und nicht einmal die Beduinen diesen Weg zu benutzen wagten.

So blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit der 320 Kilometer langen Etappenstraße zu bescheiden. Professor Tafel, der den Auftrag erhalten hatte, die Euphratufer zu vermessen, schloß sich mir an, und Konsul Holstein hatte mir noch zwei Deutschrussen zugeführt, die bei Kriegsbeginn in Kaukasien interniert, aber von dort geflüchtet waren und unter fabelhaften Abenteuern vor einem Monat Mosul erreicht hatten. Sie wollten nach Deutschland zurück, um ins Heer einzutreten, und da ich in meinen beiden Wagen, einer herrlichen, uralten, vierspännigen Karosse, die mir Dr. Jaromylek verschafft hatte, und einem Lastfuhrwerk Platz genug hatte, ließ ich mir diese Begleitung gerne gefallen.

Am 20. Juni verabschiedete ich mich von dem Herzog und seinem Gefolge, das sich um Major Gravenstein, Hauptmann von Stülpnagel, Graf Kanitz, den Archäologen Dr. Herzfeld und etliche Offiziere vermehrt hatte, und beim nächsten Morgengrauen brachen wir von Mosul auf. Tafel und ich fuhren in meiner Droschke; dann folgten unsere drei Lastwagen mit Gepäck und Besatzung, und schließlich auf arabischen Pferden unsre asiatische Begleitung, darunter mein Diener Sale und zwei Gendarmen, die für unsere Sicherheit haften sollten. Denn noch vor zwei Tagen waren auf unserm Wege türkische Offiziere aus einem Hinterhalt [S. 387] von Schammar-Arabern angeschossen worden. Ein deutscher Arzt, der zum Stabe des Herzogs stoßen sollte und desselben Weges kam, hatte sich der Verwundeten angenommen. Ähnliche Überfälle, noch dazu am hellichten Tage, waren nichts Seltenes. Die Türken hatten also auf dieser Etappenstraße, der zukünftigen Linie der Bagdadbahn, durch die Unzuverlässigkeit der Araber mit mancherlei Schwierigkeiten zu kämpfen. Die deutsche Uniform und besonders der große weiße Tropenhelm galten übrigens als der wirksamste Schutz gegen derlei Überraschungen.

Schon hinter der ersten Gendarmeriestation, dem Dorfe Humedad, ertönte denn auch vor uns plötzlich ein Schuß. Die Wagenkolonne blieb stehen, Tafel warf sich auf eines seiner Pferde und ritt mit den Gendarmen den verdächtigen Gestalten entgegen, die sich vor uns zeigten. Es war aber nichts als eine harmlose Mauleselkarawane, und ihre Begleiter hatten nur deshalb geschossen, um uns, falls wir etwa Straßenräuber seien, darauf aufmerksam zu machen, daß sie nicht ohne Waffen seien.

Halil, Araber in Amuda.

Als wir in der folgenden Nacht am Bache bei Högna rasteten, wurden wir durch Pferdegetrappel, rasselnde Wagen und deutsche Kommandorufe aus dem Schlafe geweckt. Eine Geschützbatterie zog heran, ihr folgten eine Trainkolonne und eine Karawane von 600 Lastkamelen. Der Batterieführer ließ in unserer Nähe biwakieren, an demselben Bache, in dem einst die Reiter des Parmenion ihre Pferde tränkten. Die [S. 388] Soldaten trugen leichte, feldgraue Uniformen und unter dem Tropenhelm ein herabhängendes Tuch, das Nacken und Hals schützte. Auch eine Mauleselkarawane unter Leutnant Erdmann, die von Mosul nach Aleppo zog, fand sich hier ein. Der Weg nahm immer mehr den Charakter einer Etappenstraße an. Deutsche und türkische Truppenabteilungen zogen nach Osten an uns vorüber, gefallene Lasttiere lagen am Wege, und bei Auenat war ein ganzes Zeltlager deutscher Offiziere emporgewachsen.

Deutsche Truppenabteilung in der Wüste.

Auenat liegt am Rande der Wüste, und die nächsten 55 Kilometer mußten in schnellster Fahrt ohne Aufenthalt zurückgelegt werden, da die Schammar-Araber diese Gegend unsicher machten. Unsere Gendarmen hatten uns verlassen, und neue hatten wir nicht auftreiben können; dafür hatte sich Leutnant Erdmann mit seinen vier Burschen und seinen Mauleseln uns angeschlossen. Die elfstündige Fahrt verlief aber ohne jeden Zwischenfall. Wir begegneten nur einer großen deutschen Karawane und überholten eine kleine türkische, der wir nicht wenig Angst einjagten; außerdem sahen wir nur Züge englischer und indischer Gefangenen, die sich mühsam vorwärtsschleppten; wer zusammenbrach, blieb rettungslos liegen. Zwei Inder hatte dies Schicksal ereilt, ihre Leichen lagen an der Straße. Im Westnordwesten loderte ein Steppenbrand wie ein Fackelzug durch die Nacht.

Die deutsche Fahrkolonne bricht von Auenat auf.
Türkische Kamele bei Auenat.

[S. 391]

Am Morgen war die Gefahrzone überwunden, und wir hielten am Ufer eines lieblichen Baches, der das Tal von Demir-kapu (d. h. Eisentor) durchrieselt, eine wohlverdiente Rast. Hier war ein Nokta, ein Gendarmerieposten bzw. eine Garnison; ein paar Hütten standen neben etlichen Feldern, auf denen Melonen und Gurken gezogen wurden. Der Bach wimmelte von Fischen, und zahme Enten schwammen darauf. An einem Hügel lagerten türkische Truppen, in ihrer Nähe englische Gefangene, und am Abend ratterte eine Kolonne von vierzig deutschen Lastautomobilen auf dem Wege nach Bagdad an uns vorüber.

Am andern Morgen, dem Sonnwendtag, waren wir lange vor Sonnenaufgang schon auf dem Marsche und erreichten am Mittag Nesibin, wo wir unter üppigen Bäumen am Ufer eines Armes des Dschardschar, der ein Nebenfluß des Chabur ist, ein erfrischendes Bad nahmen und den Rest des Tages bei 38,6 Grad Hitze ausruhten. Die Basare waren des Sabbaths wegen geschlossen, denn der ganze Handel liegt in den Händen der Juden, und keine Gurke war aufzutreiben. Obendrein hatten die vorüberziehenden Gefangenen alles aufgekauft, so daß sich auf dem ganzen Wege ein Mangel an Lebensmitteln bemerkbar machte.

Imastuhi Manukian, 25jährige Armenierin aus Trapezunt.
Inder tragen trockenes Holz in ihr Lager.

Am 25. Juni brachen wir beim ersten Vogelzwitschern wieder auf und rollten durch die Dorfstraße, wo die Jüdinnen ihre Wasserkrüge [S. 393] aus einem schmutzigen Kanal füllten, weiter nach Westen. Die aufgehende Sonne beleuchtete wirkungsvoll die Ostfront der großen alten Festung Nesibin mit ihren Fenstern und Schießscharten in der viereckigen Mauer. Dann folgte Dorf auf Dorf. In Kasr Serdsche-han stand eine Schar eben ausgehobener kurdischer Rekruten unter Bewachung einiger türkischer Feldwebel, und eine alte Frau weinte und zankte mörderlich, weil ihr Sohn zu den Ausgehobenen gehörte. In Amuda mußten wir einen Tag und eine Nacht verweilen, weil Professor Tafel am Fieber erkrankt war. Das Dorf hatte, wie diese ganze Gegend, kurdische Bevölkerung; der Bürgermeister war trotzdem ein alter Araber, in dessen Haus eine junge Armenierin diente, die man aus Trapezunt fortgeschleppt hatte. Sie bat uns inständig, sie aus dem harten Dienst zu befreien und mit nach Europa zu nehmen. Es war uns natürlich unmöglich, ihren Wunsch zu erfüllen.

Indische Zelte bei Diger.

Am 26. erreichten wir das wohlbekannte Bir-dava, wo ich drei Monate vorher die trostlosen Regentage verbracht hatte. Von hier aus machte ich einen Abstecher nach Mardin, der überaus malerischen Felsenstadt, deren Häuser und Minarette wie Schwalbennester an den Abhängen des Gebirges im Norden hängen. Aus dem flachen, eintönigen Tiefland Mesopotamiens wieder einmal in eine Berglandschaft mit wilden [S. 394] Formen und immer wechselnden Ausblicken emporzusteigen, war ein köstlicher Genuß. Die Stadt mit ihren 30000 Einwohnern liegt 930 Meter hoch, und über ihr auf dem senkrechten Gipfel des Kalksteinberges erhebt sich in 1300 Meter Höhe die Ruine der alten Festung.

Nesibin.

Durch das neue schöne Stadttor führte eine gewundene, glatt gepflasterte Straße so steil empor, daß immer wieder Steine unter die Hinterräder meiner Karosse geschoben werden mußten, um deren Zurückrollen zu verhindern, und auch die horizontaler gelegene Basarstraße, die Hauptverkehrsader der Stadt, war so eng, daß mein Wagen nicht einmal in den Hof eines Hans einbiegen konnte, sondern draußen stehen bleiben mußte. Ein alter türkischer Veteran in verschlissener Uniform führte mich zum Mutessarrif zur Durchsicht meiner Papiere und dann in ein Kavekhane, ein gewaltiges, auf acht Säulen ruhendes Gewölbe, das von braunen Orientalen dicht besetzt war. Es waren Flüchtlinge aus Erserum, Trapezunt, Wan und Bitlis; sie rauchten ihre Pfeifen oder Zigaretten, spielten Karte, nippten an ihren Tee- oder Wassergläsern und vertrieben sich so in ansprechender Nüchternheit die Zeit. Im kühlen Schatten genoß man durch die Fenster und von einem Altan aus die herrlichste Aussicht auf die mesopotamische Ebene; dort war unsere Straße nach Nesibin, die wir eben gekommen waren, hier die nach [S. 395] Tell-Ermen, die ich am Abend einschlagen sollte. Zu essen aber gab es hier nichts; dazu mußte ich eine andere Gastwirtschaft aufsuchen, die hauptsächlich von türkischen Offizieren und Beamten besucht wurde. Hier gab es Dolma (gehacktes Fleisch in Kohlblättern), Joghurt und Brot. Im übrigen waren die Basarläden ausverkauft; die nach Kaukasien ziehenden Soldaten hatten alles Eßbare mitgenommen.

Vodsa, 12jähriges kurdisches Mädchen in Amuda.

[S. 396]

Die Kalksteinkette, auf der Mardin liegt, gehört zum Gebirgssystem Tur-Abdin und fällt nach Norden so steil ab, daß die Gassen der amphitheatralisch gebauten Stadt in die blaue Luft hineinzuführen scheinen; man muß bis an den Rand hintreten, um sich zu überzeugen, daß die Erde dort nicht aufhört, sondern sich in der Tiefe noch festes Land befindet. Der Weg zu der ursprünglich römischen Festung hinauf ist herrlich. Die ganze Stadt mit ihren viereckigen Häusern und Höfen, ihren schmalen Gassen, ihren Moscheen und spitzen Minaretten liegt wie auf einer Karte ausgebreitet da; die Abhänge fallen ohne hügelige Übergänge jäh zur Ebene hin ab. Der Aufstieg zur Festung führt an hohen Felswänden, Klüften und Grotten vorüber und endet in einer in den Fels gehauenen steilen Treppe.

Am Rande des ganz ebenen Berggipfels standen einige alte Kanonen, die ihre Schlünde schützend über die Stadt richteten. In den Ruinen der alten Festungsmauern und -türme war ein Lagerplatz kurdischer Deserteure; durch die Straßen der Stadt dort unten zog eben wieder eine neue Schar solcher Memmen herauf; niedergeschlagen waren sie nicht, denn ihr lauter Gesang hallte in den Bergen wider. Im Norden öffnete sich ein breites Tal, durch das die Straße nach Diarbekr führt, zwei Tagereisen nach Nordnordwest. Die nächsten Gebirgskämme erschienen höher als der von Mardin. Dahinter war das Land ganz flach; nur in größerer Entfernung hoben sich die blauen Farbentöne weiterer Berge ab. Der südliche Abhang des Bergrückens von Mardin war mit Obstbäumen bewachsen; dort gediehen Äpfel, Birnen, Walnüsse, Mandeln, Granatäpfel und auch Wein; doch herrschte der graue Kalkstein mit seiner einförmigen Öde vor.

Im westlichen Stadtteil besuchte ich einige syrische Steinhäuser mit ihren kleinen, schattigen Höfen, auf denen Frauen und Kinder unter schattigen Arkaden sich aufhielten. An der syrischen Kirche empfingen mich mehrere graubärtige Priester in schwarzen Turbanen und schwarzen Mänteln und einige Brüder in schwarzen Schleiern mit silbernen Kreuzen auf der Stirn führten mich umher. Ein Teil der Kirche war jetzt als Krankenhaus eingerichtet. Mardin hat auch chaldäische und armenisch-katholische Kirchen und Klöster; anderthalb Stunden östlich liegt zwischen Hügeln das im Jahre 1900 erbaute Kloster Der-es-Saferan. Mehr [S. 397] als die Hälfte der Einwohner von Mardin sind Christen, die übrigen Mohammedaner und Kurden. Der griechisch-unierte Patriarch hat hier seine Residenz; auch hat Mardin eine römisch-katholische und eine amerikanische Missionsstation. Der letzteren, die im äußersten Westen der Stadt liegt und kürzlich den fünfzigsten Jahrestag ihrer Gründung feiern konnte, stattete ich einen Besuch ab und traf dort einige liebenswürdige Amerikanerinnen, Frau Dewey und ihre Tochter und Fräulein Graf. Einer der Missionare lag krank darnieder; er hatte nicht weniger als neununddreißig Jahre hier zugebracht, was bei aller entzückenden malerischen Schönheit dieses Felsennestes doch zum Verzweifeln sein muß.

Moschee in Mardin.

Die Rückfahrt gestaltete sich ein wenig dramatisch. Auf der steilen Straße geriet meine Karosse ins Rollen, die Bremse versagte, die beiden Pferde glitten aus, eines stürzte, und die Deichsel stieß gegen eine Mauer und zersprang wie Glas. Eine neue Deichsel war nicht aufzutreiben, die alte mußte daher bei einem Schmied im Basar notdürftig geflickt werden. Bis sie fertig war, schrieb ich in meinem Wagen mein Tagebuch, wobei mir eine Schar von Jungen und Erwachsenen neugierig zusah. Darüber brach der Abend herein.

Endlich kam der Gendarm, den mir der Mutessarrif mitgegeben hatte, mit der Deichsel an, und wir fuhren langsam weiter. Zwei Pferde [S. 398] hatte ich mit einem kleinen Stallburschen bis zur ersten Wegbiegung vorausgesandt. Aber als wir jetzt dort anlangten, war der Junge nicht zu finden. Sale mußte auf dem Pferd des Gendarmen in die Stadt hinauf zurückreiten, entdeckte aber auch dort nichts von dem Flüchtling. Unterdes setzte ich meine Fahrt nach abwärts unter großer Vorsicht fort, jeden Augenblick bereit, aus dem Wagen zu springen, wenn in dem zunehmenden Dunkel die Pferde auf der abschüssigen und gewundenen Straße einem Abhang zustrebten. Ich atmete auf, als wir endlich wieder glücklich in der Ebene waren.

Bei stockfinstrer Nacht erreichten wir das Dorf Gulli, wo das wahnsinnige Gekläff der Hunde die ganze Bewohnerschaft munter machte. Hier rasteten wir drei Stunden. Dann ging es weiter nach Charabilme, wo die Deichsel abermals in Stücke ging und die Pferde in die Seiten stieß. Diese wurden scheu und stürmten in die Steppe hinaus. Sale sprang vom Wagen und blieb wie tot liegen. Als der Kutscher endlich die Tiere zum Stehen brachte, eilten wir zu dem Verunglückten zurück und fanden ihn, zwar mit geschundener Stirn und blutenden Knien, aber sonst unverletzt. Nun flickten wir die Deichsel so gut es ging zusammen, und der Kutscher führte die Pferde am Zügel. Darüber wurde es Tag, und um ½5 Uhr langten wir endlich in Tell-Ermen an.

Nach langem Suchen fand ich dort meine Reisekameraden Tafel und Erdmann. An sofortigen Aufbruch war aber nicht zu denken. Professor Tafel hatte sich noch nicht erholt, einer der Kutscher war ebenfalls erkrankt, und ein glühend heißer Sturm, der die Temperatur auf über 40 Grad erhöhte und unser kleines Zeltlager unter erstickenden Staub- und Sandwolken begrub, erweckte die größte Besorgnis für das Schicksal der Patienten. Obendrein fehlte noch immer der Stalljunge mit den beiden Pferden, und eines unserer Reitpferde schwebte ebenfalls zwischen Tod und Leben. Zwei Mann mußten nochmals nach Mardin zurückreiten, um die ersteren zu suchen. Ohne eine Spur von ihnen entdeckt zu haben, kehrten sie zurück. Aber fast gleichzeitig mit ihnen traf auch der Vermißte bei uns ein; er hatte sich schon in Mardin verirrt und sich am Morgen einigen Syriern angeschlossen, die nach Tell-Ermen fuhren. Es war eine Leistung von dem zehnjährigen Bengel, mitten durch die überall auftauchenden Soldaten, die alles requirierten, was [S. 400] sich an Pferden und Wagen fand, seine beiden Gäule ohne Beschlagnahme durchzubringen, und statt der Schelte, die er wohl erwartet hatte, empfing ihn ein tüchtiges Frühstück als Lohn für seine Gewandtheit.

Sale in Aleppo.

Am Abend stellte sich glücklicherweise Regen ein, und am Morgen des 28. Junis war die Temperatur auf 20,1 Grad gefallen, so daß uns die „Kälte“ durch Mark und Bein ging. Sie erfrischte aber die Kranken, so daß wir unsere Fahrt auf der jetzt vortrefflichen Straße fortsetzen konnten. Starke türkische Truppenabteilungen, Trainkolonnen und Kamelkarawanen zogen an uns vorbei oder rasteten am Wege. Auch englische und indische Gefangene waren wieder auf dem Marsche; sie mochten Gott danken, daß sie glücklich bis in die Nähe der Eisenbahn gelangt waren. Über die beiden Arme des Dschirdschib führten jetzt feste Brücken, und an der Fortsetzung der Bagdadbahn nach Osten wurde mit Hochdruck gearbeitet.

Am Nachmittag erreichten wir glücklich Ras-el-Ain, wo uns der Etappenkommandant Dr. Reuther, der bekannte Archäologe, begrüßte. In seiner und seiner Gäste Gesellschaft verbrachten wir den letzten gemeinsamen Abend, den ein gewaltiger Steppenbrand im ganzen Umkreis von Ras-el-Ain denkwürdig machte.

Am nächsten Morgen brachte mich der Frühzug quer durch die schon bekannten öden Flächen, auf denen noch immer die Schafe in der Sonnenglut weideten und die Nomaden in ihren schwarzen Zelten hausten, wieder zurück nach Aleppo.

[S. 401]

Phot.: Koldewey.
Assarhaddon-Ziegel von Esagila.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Assyrien und Babylonien.

D ie Schilderung meiner Fahrt durch Mesopotamien wäre unvollständig ohne eine kurze Übersicht über die Geschichte dieses Landes.

Die ältesten Urkunden und Kulturreste Babyloniens stammen aus dem Anfang des 3. Jahrtausends v. Chr. Verglichen mit den alten Denkmälern Ägyptens sind sie ärmlich. Das erklärt sich, wie Eduard Meyer gezeigt hat, aus der Natur des Landes. Das einzige vorhandene Baumaterial waren Lehm und die daraus gefertigten Ziegel. Steine dagegen fehlten. Anders in Assyrien, das den Nordteil Mesopotamiens [S. 402] umfaßte und zum Teil Gebirgsland war. Obgleich seine Kultur auf babylonischer Grundlage ruht, sind seine erhaltenen Altertümer mannigfaltig, da Gestein zur Hand war. Die Paläste wurden mit Alabasterplatten und Reliefbildern geschmückt, und die Könige ließen ihre Annalen auf Steinzylinder und -prismen aufzeichnen. Außerdem haben, wie Meyer [2] hervorhebt, die Ruinen der assyrischen Städte Assur, Kalach, Ninive, Dur Sargon, nachdem sie 606 v. Chr. systematisch zerstört worden waren, zum größten Teil unberührt bis in unsre Zeit unter der Erde gelegen, während die babylonischen Städte im Lauf der Jahrhunderte mehrfach von Elamiten und Assyriern geplündert wurden. Das historische Material über Assyrien ist daher viel reichhaltiger. Besonders gut kennen wir das Zeitalter der großen Eroberer Assurnasirpal (884–860), Salmanassar II. (860–824), Tiglat-Pileser IV. (745–727) und Assurbanipal oder Sardanapal (668–626). Diese Glanzperiode zwischen dem 9. und 7. Jahrhundert liegt viel klarer vor uns, als die Geschichte irgendeines andern orientalischen Reiches vor den Persern. Aus der Geschichte Babyloniens sind lange nicht so viele Dokumente erhalten, besonders zwischen 1926 und 745 klafft eine große Lücke. Auch die Königsannalen des neubabylonischen oder chaldäischen Reiches können sich in keiner Weise mit denen der großen Assyrier messen, wenn auch manche Urkunden von Nebukadnezar (604–561) und Naboned (556–539) vorhanden sind, die sich jedoch, wie wir bereits sahen, sehr wenig mit der äußeren Geschichte des Landes beschäftigen. Aber die Städte Babyloniens hatten länger Bestand und traten nach der Perserzeit in engere Verbindung mit den Griechen. Deshalb waren die griechischen Geschichtschreiber, vor allem Herodot, über Babylonien viel besser unterrichtet als über Assyrien. Das babylonische Tiefland war auch in geographischer wie in historischer Beziehung der Schwerpunkt der ganzen Welt, die vom Taurus und vom Zagros begrenzt wird. Von hier [S. 403] strahlte die Kultur nach allen Richtungen aus. Ich erwähnte schon, daß Xenophon über die Ruinen Ninives zog, ohne zu wissen, was sie bedeuteten; man erzählte ihm, es seien Überreste medischer Städte, die der Himmelsgott durch ein Wunder in die Hand der Perserkönige gegeben habe. Tatsächlich war das assyrische Reich mitsamt seinem Volk in einer großen Katastrophe verschwunden und lebte nur noch in der Sage weiter.

[2] Ich benutzte für diese Darstellung ausschließlich folgende Arbeiten: Eduard Meyer, „Geschichte des Altertums“, 1913; C. Bezold, „Ninive und Babylon“, 1909; C. Bezold in Pflugk-Harttungs Weltgeschichte (schwedische Ausgabe von Hildebrand und Hjärne); Oscar Montelius, „Die älteren Kulturperioden im Orient“ (noch nicht erschienen, aber vom Verfasser mir in der Korrektur freundlichst zur Verfügung gestellt); K. V. Zettersten, „ De semitiska språken “, 1914; Harald Hjärne in Wallis’ „Weltgeschichte“, 1875; Johannes Kolmodin in „ Antikvarisk Tidskrift för Sverige “, 1916.

Das assyrische Reich wuchs aus der Stadt Assur hervor. Seine älteste Bevölkerung stammte aus Kleinasien. Das beweisen die Namen der Könige, die die ersten Tempel und Stadtmauern bauten. Der Name der Stadt, des Volkes und seines Gottes war derselbe. Im 1. Buch Moses, Kapitel 10, Vers 22, führt ihn auch derjenige von Sems Söhnen, der der Stammvater der Assyrier war: „Sems Söhne waren Elam, Assur, Arpaksad, Lud und Aram.“ Die ältesten Herrscher Assurs waren jedenfalls Vasallen der Könige von Sumer und Akkad. In Akkad gründete im Jahre 2225 v. Chr. der Amoriterhäuptling Sumuabu das Reich Babel, das sich unter Sumulailu (2211–2176) zum bedeutendsten unter allen Reichen Akkads entwickelte. Sumulailu baute Kanäle, Mauern, Tempel und einen goldenen Thron für Marduk, den Stadtgott von Babylon, und galt bei seinen Nachfolgern als der eigentliche Gründer Babyloniens und als Stammvater der Dynastie. Der sechste König dieser Dynastie, Hammurabi (2123–2081), führte Krieg mit Elam und Ur, unterwarf nach und nach ganz Sinear, nahm den Titel eines Königs von Sumer und Akkad an und trug das Gewand der sumerischen Könige, den Mantel und die Turbanmütze. Sein Steinbild ist erhalten: die Züge sind sumerisch — große Nase, langer Bart —, und nach Art der Beduinen trägt er kurzes Haupthaar und rasierte Lippen. Er heißt auch „König der vier Weltteile“. Assur und Ninive waren ihm untertan. Assur hatte er dem Schutzgott seiner Dynastie, Marduk, dem Merodach der Bibel, wiedergegeben, und Ninives Tempel weihte er der Göttin Ischtar. Er errichtete in verschiedenen Städten Tempel, förderte Ackerbau und Viehzucht, erweiterte das Bewässerungssystem durch Kanäle und schützte das Land durch Dämme gegen Überschwemmungen, legte Straßen an, baute Transportschiffe, zog Steuern ein in Gestalt von Geld oder Getreide, Sesam und Datteln, unterdrückte das Räuberwesen, [S. 404] baute zahlreiche Festungen, sorgte für Sicherheit und Ruhe und hielt ein stehendes Heer. In alle Zweige der Verwaltung griff er ein und achtete auf pünktliche Ausführung seiner Befehle.

Religion und Kultus standen unter ihm in hohen Ehren, und die Opfer wurden genau innegehalten. Am meisten lagen ihm die Städte Sippar, Babel und Borsippa am Herzen. Viele andre Städte, z. B. Uruk, Larsa, Ur, Eridu und Nippur blieben heilig. Andre Orte aber, wie das ehedem glänzende Sirpurla, waren bereits zu Hammurabis Zeit verfallen, um nie mehr genannt zu werden. Man rechnete sie also bereits vor viertausend Jahren zum Altertum. Mit Recht sagt Montelius, wenn die Blütezeit der altbabylonischen Kultur in die erste Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. verlegt werde, so müsse ihr Anfang noch viel weiter zurückliegen, und er zeigt, daß die erstaunliche Kultur Babyloniens unter dem im 24. Kapitel erwähnten König Sargon I. die eines Kupferzeitalters gewesen ist.

Das merkwürdigste Denkmal aus Hammurabis Zeit ist der 2½ Meter hohe Dioritblock, der im Jahre 1901–1902 in Susa entdeckt wurde, wohin ihn elamitische Eroberer im 12. Jahrhundert verschleppten; sonst wäre er wohl kaum der Zerstörung entgangen. In babylonischer Keilschrift und in akkadischer Sprache bewahrt er in 282 Gesetzesparagraphen das älteste corpus juris der Welt. Zu oberst trägt er ein Bild des Königs, wie er die Gesetze aus den Händen Schamasch’s, des Sonnengottes von Sippar, in Empfang nimmt. Dieser Block stand im Marduktempel Esagila in Babel. Meyer nimmt an, daß bereits Sumulailu diese Gesetze erlassen, Hammurabi sie nur gesammelt habe. Erst nachdem er ganz Sumer, Akkad und Assyrien unterworfen hatte, konnte die Arbeit vollendet werden. Nach Zettersten setzt dieser im typischen Gesetzesstil abgefaßte Codex eine sehr lange Entwicklung voraus und enthält wahrscheinlich uralte Rechtsgebräuche, die zu einem systematischen Ganzen vereinigt sind.

Die einzelnen Gesetze sind kurz und bestimmt; man hat entweder Recht oder Unrecht. Sie berücksichtigen alle Beziehungen der Gesellschaft und des täglichen Lebens, sie regeln das Verhältnis zwischen Mann und Frau, zwischen Herren und Sklaven, zwischen Menschen und ihrem Eigentum an Äckern, Kanälen und Vieh. Rind, Esel, Schaf [S. 405] und Schwein werden als Haustiere erwähnt, dagegen fehlt das Pferd. Erst ums Jahr 2000 kommen, wie Meyer zeigt, die ersten Pferde nach Sinear. Ihre ideographische Schreibung „Esel des Berglandes“ beweist, daß sie aus Persien stammen. Man verwandte sie niemals zum Reiten, sondern nur zum Fahren, besonders der Kriegswagen, die sich in den folgenden Jahrhunderten über ganz Vorderasien, Ägypten und Griechenland ausbreiten und nach dem 16. Jahrhundert dem Kampfbild sein besonderes Gepräge geben. Es dauerte noch Jahrhunderte, ehe das Pferd zum Reittier wurde.

Der letzte König aus Hammurabis Dynastie war Samsuditana (1956–1926). Unter ihm ging das Reich Babel nach dreihundertjährigem Bestehen zugrunde. Aus den westlichen Gegenden Kleinasiens drangen die Hettiter ein und eroberten und plünderten Babel. Das war die erste Völkerwanderung in dieser Zeit. Eine andre ging von Osten aus und war arisch.

Anderthalb Jahrhundert herrscht Schweigen über die Hettiter in Sinear. Von ungefähr 1500 an aber läßt sich die Geschichte Babyloniens und Assyriens im Zusammenhang behandeln. Eine Reihe von Kriegen zwischen beiden Ländern schloß ums Jahr 1260 damit, daß das babylonische Reich in das assyrische aufging. Dessen König war Tukultininib I. Durch innere Streitigkeiten verlor zwar Assyrien sowohl Babylonien wie Mesopotamien wieder, erhob sich aber dann unter dem mächtigen und kraftvollen Tiglat-Pileser I. Er baute den Reichstempel für die Götter Anu und Adad wieder auf und unternahm Feldzüge gegen Phönizien und Armenien. Er schildert selbst, wie er im Norden gleich einem Sturm des Adad, des Wettergottes, dreiundzwanzig Könige vernichtete, die ihre Heeresmassen und Streitwagen gegen ihn aufgeboten hatten. Mit seiner Lanzenspitze verfolgte er sechzig Könige bis an das „obere Meer“, eroberte ihre Festungen, brannte ihre Städte nieder und verwandelte sie in Schutthaufen und Ruinen.

Assurnasirpal (884–860), von dem viele Urkunden berichten, drang im Norden und Westen bis ans große Meer bei Tyrus und Sidon vor, wusch in dessen Wasser seine Waffen und brachte seinen Göttern an der Küste Opfer dar. Sein Sohn Salmanassar II. (860–824) schildert in stolzen Worten seine Triumphe in Syrien; er nahm Aleppo [S. 406] ein, schlug die verbündeten Könige von Damaskus, Hamath und Israel aufs Haupt, unterjochte Babylonien und zwang die Fürsten der Chaldäer, Tribut zu zahlen. Gegen dieselben Feinde kämpfte Tiglat-Pileser IV., der Damaskus zu einer assyrischen Provinz und Israel zum Vasallen machte.

Salmanassar IV. belagerte Samaria, und Sargon II. (722–705) führte Assyrien auf die Höhe seiner Macht. Der König der Chaldäer, Merodach-Baladan, von dem Jesaja in seinem 39. Kapitel spricht, unterwarf 721 Babylonien seiner Herrschaft und schloß mit dem König von Elam einen Bund gegen Assyrien. Aber Sargon vertrieb ihn und herrschte dann von der Küste des Mittelmeeres bis zur Küste des Persischen Golfs. Der Chaldäerkönig eroberte zwar Babylonien wieder, verlor es aber zum zweiten Mal an Sanherib (705–681), einen der größten Herrscher Assyriens. Merodach-Baladan schloß von neuem einen Bund mit Elam und andern Fürsten, doch ohne Erfolg. Seitdem hatte Babylon zwei Jahrhunderte lang keinen eigenen König.

Aufruhr im Westen des Reiches zwang Sanherib gegen Juda aufzubrechen, wo er sechsundvierzig feste Orte eroberte. Von Jerusalem aber mußte er, nach den biblischen Urkunden, unverrichteter Dinge abziehen. Auch gegen Medien kämpfte er nicht glücklich. Von dieser Zeit an beginnt die assyrische Großmacht zu sinken.

Als erste Residenz der assyrischen Könige wird Assur schon im Jahre 2100 v. Chr. genannt. Mehrere Jahrhunderte hindurch behielt es seinen hohen Rang, und es blieb eine große Stadt bis zum Ende des assyrischen Reiches. Salmanassar I. machte Kalach, das jetzige Nimrud, zum Sitz seiner Regierung. Sargon II. residierte in der von ihm gegründeten Stadt Dur Sargon, wo heute das Dorf Chorsabad liegt. Sanheribs, Assarhaddons und Assurbanipals Hauptstadt war Ninive, der Kultort der Göttin Ischtar, das seit 3000 v. Chr. bekannt ist.

Assarhaddon (680–668) hielt das Reich auf der Machthöhe, die es unter seinem Vater besaß. Unter ihm war das Verhältnis zwischen Elam und Chaldäa ruhiger als früher, er baute den Tempel von Babylon wieder auf und führte Krieg gegen König Tirhaka, den dritten Herrscher in der 25. ägyptischen Dynastie; nach einem mühseligen Zug [S. 407] durch die Sinaiwüste drang er bis Memphis vor und machte Ägypten bis Theben zu einer assyrischen Provinz. Diese fiel jedoch wieder ab, und auf einem neuen Feldzug starb Assarhaddon.

Sardanapal (Assurbanipal), der letzte große König von Assyrien (668–626), zog ebenfalls gegen Ägypten und drang bis Theben vor, mußte aber den Feldzug aufgeben, da seine Heereskraft nicht ausreichte. Von da an ließen die Assyrier das Reich der Pharaonen in Frieden.

Eine andre Gefahr aber drohte Sardanapal. Sein eigener Bruder, der König von Babylon, trat an die Spitze eines Waffenbundes, der die Vorherrschaft Assyriens brechen wollte; Elamiten, Chaldäer, Aramäer, Araber und andre westasiatische Völker schlossen sich an, und ein Weltkrieg entbrannte. Nur durch Aufgebot seiner ganzen militärischen Macht und durch gewagte, aber rücksichtslos durchgeführte Operationen gelang es Assurbanipal, dem drohenden Verderben zu entgehen. Nach Eroberung von Kutha, Babylon und Sippar war die Macht Babylons gebrochen. Elam wurde für immer als Königreich vernichtet, und Sardanapal nahm 647 den Titel eines Königs von Babylon an.

Nach Bezold gebe ich hier ein Stück aus des Königs eigenem Kriegsbericht wieder: „Die Götter Aschschur (Assur), Sin, Schamasch, Adad, Bel, Nebo, die Göttin Ischtar von Ninive, die Königin von Kidmuru, und die Göttin Ischtar von Arbela, die Göttin Ninib, Nergal und Nusku, die vor mir hergingen und meine Feinde unterjochten, sie warfen Schamaschschumukin, den feindlichen Bruder, der mich befehdete, in einen brennenden Feuerschlund und vernichteten sein Leben. Diejenigen Leute aber, die Schamaschschumukin, den feindlichen Bruder, zu allen diesen Übeltaten verführt hatten, die den Tod gefürchtet und ihr Leben für kostbar gehalten hatten und sich nicht mit Schamaschschumukin, ihrem Herrn, in die Flammen gestürzt hatten, die zerstoben vor dem Gemetzel des eisernen Dolches, vor Mangel, Hungersnot und flammender Lohe und ergriffen einen Zufluchtsort. Das Netz der großen Götter, meiner Herren, aus dem kein Entrinnen möglich ist, warf sie nieder: kein Einziger entkam, keiner der Übeltäter entrann; durch meine Hand wurden sie mein. Wagen, Geräte und Baldachine, seinen Harem und das Hab und Gut seines Palastes brachten sie mir. Diesen Kriegern, die meinen Herren Aschschur gehöhnt und gegen mich, seinen ehrfurchtsvollen [S. 408] Magnaten, Böses geplant hatten, riß ich die Zunge aus und schlug sie nieder ... Ihr zermetzeltes Fleisch ließ ich Hunde, Schweine und Geier, Adler, die Vögel des Himmels und die Seefische fressen. Durch solche Handlungen beruhigte ich das Herz der großen Götter, meiner Herren ... Den übrigen Babyloniern aber und den Kuthäern und Sipparensern, die dem Gemetzel und dem Hungertod entronnen waren, ließ ich Gnade angedeihen; ich befahl, daß sie am Leben bleiben sollten, und wies ihnen Wohnsitz in Babylon an.“

Über Sardanapals Ruhm zu seiner Zeit sagt Hjärne: „So stand Assurbanipal in einem bisher nie gesehenen Glanz, gehärtet und siegreich im Kampf, umgeben von allem erdenklichen Überfluß und von aller Verfeinerung morgenländischer Kunst und Weisheit. Die ganze gebildete Welt war von seinem Ruhm erfüllt. In der Ferne lauschten in den dürftigen kleinen Städten der Hellenen wißbegierige Zuhörer staunend den Berichten, die verständige Kaufleute und Reisende von der märchenhaften Pracht des großen Sardanapal gaben. Sein Name ward bei ihren Nachkommen zum Sprichwort, und die unverständlichen assyrischen Keilinschriften, die hier und da in Kleinasien zu sehen waren, hielt man für Grabschriften auf ihn. Die Dichter übten ihren Scharfsinn an angeblichen Deutungen und ließen Sardanapal eine Lebensweisheit des Genusses preisen, die eher sorglosen Jüngern Epikurs anstand, als dem leidenschaftlich kämpfenden und glaubenseifrigen König von Assur: ‚Vergiß nicht, daß du als Sterblicher geboren bist, und fülle daher dein Herz mit Mut, festlich dich freuend. Für den Toten ist aller Genuß zu Ende; denn selbst ich bin ja zu Asche geworden, der Herr des herrlichen Ninive‘.“

Nun traten die indogermanischen Meder als Feinde Assyriens auf. Im Jahr 606 eroberten sie unter Cyaxares Ninive und löschten seinen Glanz für immer aus. Das neubabylonische oder chaldäische Reich wurde von Nabopolassar (625–604) gegründet und ging nach ihm auf Nebukadnezar II. über. Naboned, der letzte König dieses Geschlechts (556–539), unterlag im Jahre 539 dem Perserkönig Cyrus, der Babylonien eroberte und der babylonischen Weltherrschaft ein Ende machte.

So sind die Völker gleich gewaltigen Meereswogen über Mesopotamiens blutgetränkte Erde hereingebrochen. Schon in den ältesten Urkunden [S. 409] sprechen die Sumerer von einer „grauen Vorzeit“, einem Sagendunkel, das noch weit hinter dem Vorhang liegt, bis zu dem unsre Blicke reichen. Dann überschwemmen die Semiten das Land, und die babylonisch-assyrische Weltmacht streckt ihre Arme über endlose Flächen Vorderasiens und Nordostafrikas aus. Die Geschichte dieses Reiches ist, wie Kolmodin sich ausdrückt, „ein durch Jahrtausende fortgesetzter Kampf gegen den beständig wiederkehrenden Druck der Barbarei“; aus diesem Kampf entsteht „die mächtige babylonische Reichs- und Kulturtradition,“ die bis zur assyrischen Zeit sich allmählich zur „Idee des Weltreichs in der Bedeutung der gemeinsamen Organisation einer ganzen Kulturwelt zur Abwehr der Barbarengefahr“ erweitert.

Auch ihre Stunde schlägt. Die Dämme werden gebrochen, und die persische Völkerwoge rollt heran, um das chaldäische Erbe in Besitz zu nehmen. Aus dem Abendland führt Alexander seine Mazedonier herbei, und auf den Gefilden von Gaugamela stürzen sie das Reich des Darius. In nachgriechischer Zeit stoßen hier parthische und römische Heereswogen aufeinander. Die Sassaniden, Omaijaden und Abbasiden lösen sich ab. Dann leuchtet der ganze Horizont blutrot: Hulagu und die Mongolen ziehen wie ein verheerender Wüstensturm über die Provinzen des erstarrenden Kalifats, und eine neue Völkerwoge aus dem Osten führt Tamerlan und die Tataren herbei. Das Land vermag kaum aufzuatmen zwischen den Schlachten.

So folgt ein Geschlecht auf das andre — Jahrtausende hindurch dieselbe Erscheinung. Die Erde, die ehedem den Opfergesängen für Marduk und den Sonnengott lauschte, sieht plötzlich die Osmanen unter der grünen Fahne des Propheten heransprengen. Kaum vier Jahrhunderte sind seitdem vergangen. Jetzt ist die Reihe an den Osmanen, ihr Erbe zu verteidigen.

* *
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„Es ist alles ganz eitel!“ sagt der Prediger Salomo. „Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt, die Erde aber bleibt ewiglich. Alle Wasser laufen ins Meer, doch wird das Meer nicht voller. An den Ort, da sie herfließen, fließen sie wieder hin. Was ist, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ist, das man getan hat? Eben [S. 410] das man hernach wieder tun wird. Und geschieht nichts Neues unter der Sonne.“

Niemals ist mir die tiefe, salomonische Weisheit dieser Worte eindringlicher aufgegangen, als auf dieser meiner Reise durch das Zwischenstromland Mesopotamien, die biblische Urheimat der Menschheit. Von den mächtigen Reichen des Altertums, die von hier aus die Welt beherrschten, sah ich nicht viel mehr als Schutthalden und Haufen von Ziegelsteinen. Gleich regelmäßigen Erdbeben und vulkanischen Ausbrüchen hat der Paroxysmus der Zerstörung von Zeit zu Zeit die Menschheit heimgesucht. Das lehrt die Vergangenheit. Die Zukunft ist uns verschlossen, aber auch sie wird, allen Sängern des Friedens zum Trotz, sich diesem Naturgesetz der Geschichte nicht entziehen können. „ Lo, all our pomp of yesterday is one with Ninive and Tyre! “ sagt ein Dichter von einem der größten Reiche der Gegenwart.

Auf den Wegen Mesopotamiens liegt der Staub zahlloser Volksstämme. Reiche sind erwachsen, emporgeblüht und wieder zerfallen; neue traten an die Stelle der alten, und heute ist das Antlitz der Weltgeschichte abermals dem Lande zugewendet, wo ihre Wiege stand.

Schlussdekoration

Druck von F. A. Brockhaus, Leipzig.

Hedins Reise nach Bagdad, Babylon und Ninive

GRÖSSERES BILD
Karte, rechte Seite

Dekoration, linke Seite Sven Hedins Werke. Dekoration, rechte Seite

Kriegsbücher:

Ein Volk in Waffen. Den deutschen Soldaten gewidmet. Mit 32 Abbildungen. M 1.50.

Ein Volk in Waffen. Dieselbe Ausgabe auf stärkerem Papier. Geh. M 3.—, geb. M 4.—.

Ein Volk in Waffen. Große Ausgabe mit 185 Abb. u. 1 Karte. Geh. M 10.—, geb. M 12.—.

Nach Osten! Soldatenausgabe. Mit 27 Abbildungen. M 1.50.

Nach Osten! Dieselbe Ausgabe auf stärkerem Papier. Geheftet M 3.—, gebunden M 4.—.

Nach Osten! Große Ausgabe mit 267 Abbildungen. Geheftet M 10.—, gebunden M 12.—.

Bagdad, Babylon, Ninive. Soldatenausgabe. Mit 26 Abb. M 1.50.

Bagdad, Babylon, Ninive. Dieselbe Ausgabe auf stärkerem Papier. Geheftet M 3.—, gebunden M 4.—.

Bagdad, Babylon, Ninive. Große Ausgabe mit 200 Abbildungen. Geheftet M 10.—, gebunden M 12.—.

Ein Warnungsruf. (1912, vor dem Weltkrieg, erschienen.) Geheftet M —.50.

Reisewerke:

Durch Asiens Wüsten. Drei Jahre auf neuen Wegen in Pamir, Lop-nor, Tibet und China. Mit 109 Abb. u. 5 Karten. 5. Aufl. Geb. M 12.—.

Im Herzen von Asien. Zehntausend Kilometer auf unbekannten Pfaden. 2 Bände. Mit 347 Abb. u. 5 Karten. 3. Auflage. Geb. M 24.—.

Transhimalaja. Entdeckungen und Abenteuer in Tibet. Mit 397 Abbildungen und 10 Karten. 2 Bände. 5. Auflage. Gebunden M 24.—.

Dazu Ergänzungsband: Mit 169 Abbildungen und 4 Karten. 2. Auflage. Gebunden M 12.—.

Zu Land nach Indien durch Persien, Seïstan und Belutschistan. Mit 308 Abbildungen und 2 Karten. 2 Bände. Gebunden M 24.—.

Volks- und Jugendschriften:

Abenteuer in Tibet. Mit 145 Abbildungen und 4 Karten. 13. Aufl. Geb. M 10.—.

Von Pol zu Pol. Drei Bände; jeder Band reich illustriert und einzeln käuflich, geh. M 3.—, geb. M 4.—.

1. Band. Rund um Asien. — 2. Band. Vom Nordpol zum Äquator. 3. Band. Durch Amerika zum Südpol.

Verlag F. A. Brockhaus, Leipzig.