The Project Gutenberg eBook of Die Stadt am Inn

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Title : Die Stadt am Inn

Roman

Author : Rudolf Greinz

Release date : October 29, 2023 [eBook #71980]

Language : German

Original publication : Leipzig: Verlag von L. Staackmann

Credits : The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE STADT AM INN ***

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1917 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Ausdrücke und Dialoge in Tiroler Mundart wurden nicht korrigiert.

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Die Stadt am Inn

Roman

von

Rudolf Greinz

Zweiundzwanzigstes bis sechsundzwanzigstes Tausend

Verlagssignet

Leipzig
Verlag von L. Staackmann

Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten.

Für Amerika: Copyright 1917 by L. Staackmann, Leipzig.

Altenburg
Pierersche Hofbuchdruckerei
Stephan Geibel & Co.

[S. 5]

Erstes Kapitel.

S chwere weißgraue Nebelwolken lagerten über dem Tal, hüllten die Berge ein in ihre dichten Schleier und drückten lastend auf das kleine romantische alte Städtchen im Unterinntal. Zu Füßen eines steilen Berges, eingeengt zwischen diesem und dem Flusse, liegt der alte Rest einer stolzen Vergangenheit. Düster selbst an sonnenhellen Tagen. Doppelt öde und bedrückend schwer an endlos langen Regentagen wie in letzter Zeit.

Nichts rührte sich da in der alten Stadt. Kaum ein vereinzelter Fußgänger war zu sehen in den engen Gassen oder auf der breiteren Landstraße, die als Hauptstraße das Städtchen von West nach Ost durchzieht. Nicht ganz fünf Minuten erstreckt sie sich zwischen den altersgrauen Häusern, dann mündet sie in den Hauptplatz ein und führt durch ein altes Tor wieder zur Stadt hinaus, hinunter ins Unterland.

Unaufhörlich fällt der Regen in schweren Tropfen vom grauen Spätherbsthimmel. Das eintönige Geräusch der Regentropfen wirkt traurig und melancholisch. Unlustig und kalt ist’s in den Gassen, trotz des lauen Windes, der vom Oberland kommend jäh in die dichten Wolken fährt, sie zerreißend und in zerstreuten Fetzen durch das Tal hetzend.

Wie eine wilde Jagd sieht sich’s an. Kleine weiße Schleiergebilde und wieder dunkle schwere Wolkenballen, die sich abermals bleiern auf das Tal herniederwälzen. Und neuerdings umzieht sich der Himmel mit noch schwärzeren Wolken. Langsam und schwer senken sich die Nebelmassen tiefer und immer tiefer ins Tal und lösen sich dann in dünnen grauen Regenschleiern.

So ist es nun schon seit Tagen. Endlos traurige Tage sind es. Wie ausgestorben liegt die kleine Stadt da. Nur ab und zu wagen sich ein paar lose Buben ins Freie [S. 6] und versuchen ihr Spiel im Schmutz und in den Pfützen, die sich überall angesammelt haben. Öfters steuert auch ein einsamer Bürger im gemächlichen Schritt, wohl beschirmt und vermummt gegen Wind und Wetter der Innbrücke zu und sieht mißtrauisch auf das unruhige Wasser.

Ein dumpfer Geruch von mitgeführten Erdmassen steigt aus den braunen Fluten des Flusses. Lange wird’s nicht mehr dauern, und Rattenberg kann in ein Klein-Venedig verwandelt werden, wie das bei Überschwemmungen des Inn schon häufig der Fall war.

Völlig eingezwängt zwischen dem steil ansteigenden Schloßberg mit seiner verfallenen Ruine und dem breiten Flußbett des Inns ist das altertümliche Rattenberg. Zu dem breiten Hauptplatz streben die engen Gassen mit ihren hohen Häusern, die an der Bergseite vielfach ganz knapp an dem Felsen des Schloßberges liegen, auf der Wasserseite nur durch einen Weg vom Inn getrennt sind.

Alte gewölbte Hausflure und enge krachende Stiegen finden sich in diesen Häusern, die auf Jahrhunderte zurückschauen und noch lebhafte Zeiten gesehen haben, da Rattenberg eine mittelalterliche Handelsstadt war, wo die Warenfrachten nach dem Süden durchgingen und vom Süden herauf. Auf diese Zeit schreiben sich auch noch die vielen Wirtshäuser des alten Städtchens zurück, die heute ein beschauliches Dasein zwischen den Bürgerhäusern führen.

Die Sonne scheint spärlich in die kühlen Gassen von Rattenberg, das im Schatten des felsigen Schloßberges liegt. Im Winter verschluckt der Berg für geraume Zeit ganz und gar das Sonnenlicht und verwehrt ihm den Zutritt in die alte Stadt.

Dumpf und feucht riecht es in den Häusern. Das Grundwasser des Inns steigt in die Keller und von dort in die Mauern. Auf der Bergseite nehmen sich die engen Höfe der Häuser, die sich zwischen die Rückenmauern und [S. 7] den Felsen des Schloßberges drängen, manchmal fast aus wie düstere Felsenschlünde.

Alte, längst vergangene Zeit träumt in diesen Mauern, Gewölben und Stuben. Sie liegt auf den Dächern und Zinnen, spinnt ihre Erinnerungen um die ausladenden Erker der Häuser, hockt unter den Toren und schleicht über Stiegen und Gänge.

Lang erstreckt sich am Inn das stattliche Kloster der Serviten, und die Kuppeltürme der Klosterkirche bilden ein weithin sichtbares Wahrzeichen von Rattenberg. Auf einem Felsen erhöht thront die Pfarrkirche mit uralten Gräbern in ihrem Schutz.

Drüben aber am andern Ufer des Inn breitet sich das Tal aus, freundlich und sonnenhell. Weit verstreut erstrecken sich die Häuser von Kramsach durch Wiesen und Obstanger. Stattliche Höfe und wiederum kleine Bauernhäuser mit ihrem traulichen Holzbau auf dem weißen Mauergrund des Erdgeschosses.

Über Hügel sacht ansteigender Wald führt zu den drei Reinthalerseen ... träumerischen Augen der Bergwelt im Schweigen der Waldeinsamkeit.

Felsige Anstiege recken sich zum mächtigen Sonnwendjoch. Zu seinen Füßen breitet sich dichter Nadelwald mit dem Einschnitt des Brandenberger Tales. Wo sich dieses Bergtal öffnet und das schmale steinige Bauernstraßel in die Höhe führt, da liegt wie ein stiller Gruß romantischer Weltabgeschiedenheit das alte Frauenklösterlein Mariathal mit seiner stattlichen Kirche und den paar Häusern der kleinen Gemeinde.

Wald und Berg, Wiesengrund und fruchtbares Ackerland. Ein liebes lachendes Land das Unterinntal, in dessen Mitte als ein altes, unberührtes Juwel das schattige Nest Rattenberg gebettet ist. Ein verblichenes Schmuckstück in längst verschollener Fassung ... auf dem grünen [S. 8] Samtgrund des breiten Tales ... selbst grau, dämmernd, verwittert ...

Und drunten, weiter drunten im Unterland, da schließt das herrliche Panorama des Kaisergebirges die Talsicht ...

Vom Turm der Rattenberger Pfarrkirche tönt jede Viertelstunde der dumpfe Schlag der Glocke. Und manchmal hört man gedämpft das Rollen der Eisenbahn, die außerhalb der Stadt, knapp an der erhöht stehenden Kirche vorbei in einem Tunnel den Schloßberg durchquert.

Die Zeit der Maschinen und des Weltverkehrs stampft, saust und rattert durch den Leib des Berges, auf dem die alte Schloßruine träumt. Von vergangenen Jahrhunderten träumt, als da droben Wilhelm Biener, der Kanzler von Tirol, ein Opfer welscher Tücke und welscher Ränke, sein blutiges Ende fand. Ein edles Haupt fiel durch das Beil des Henkers, wo heute karge, rissige, von Wind und Wetter zerklüftete Mauertrümmer in den Himmel ragen.

Nach den endlos grauen Regentagen war heute zur Mittagsstunde Leben in die stille Stadt gekommen. Ein Wagen fahrender Leute, von einem Pferd gezogen und geführt von einem großen, finster dreinschauenden Mann, war langsam durch die Hauptstraße gefahren und zum Stadttor hinaus gewandert. Mit Peitschenknallen und Hüh und Hott hatte der Mann sich bemerkbar gemacht. Neugierig schauten die Leute zu Türen und Fenstern heraus, und die Gassenbuben liefen ihm nach und begleiteten ihn mit Gejohl trotz des Regengusses bis vor das Stadttor hinaus.

Dort lagerten nun die fahrenden Leute. Die Straßenjugend von Rattenberg wich nicht von ihnen. Eine solche Begebenheit war selten und mußte ausgekostet werden. Da spürten die Buben keine Nässe und auch keinen [S. 9] Hunger. Nur ab und zu lief so ein kleiner Bengel als Berichterstatter hinein ins Städtchen und erzählte atemlos von dem Tun und Treiben der Karrner.

Aber auch für die Erwachsenen, für die ehrsamen Bewohner und Bürger der kleinen Stadt bildete das Eintreffen der fahrenden Leute ein Ereignis, nur daß sie die naive Freude über die erwünschte Abwechslung nicht so unverhohlen zum Ausdruck brachten, wie die liebe Jugend dies tat. Man war jedoch froh, freute sich innig und kindlich über die Sensation des Tages und hoffte nur sehnlich, daß der Himmel ein Einsehen haben und daß der Regen bis zum Abend aufhören möchte.

Der Himmel hatte kein Einsehen. Es regnete und regnete in einem fort, und der Inn draußen vor der Stadt stieg zu einer immer bedenklicheren Höhe an.

Trotz der Unbill des Wetters durchzogen die fahrenden Leute in später Nachmittagstunde mit lautem Trommelgewirbel die Stadt. Voran der große, finstere Mann, ein Hüne von Gestalt, hellblond, mit gelblich braunem Gesicht und harten, stahlblauen Augen. Tiefe Furchen waren in dem wetterfesten, knochigen Antlitz eingegraben. Ein dichter, rötlich blonder Schnurrbart fiel über die dicken aufgeworfenen Lippen. Ein dunkler, abgetragener Filzhut saß ihm tief in der Stirne, und sein langer Wettermantel verlieh ihm ein noch unheimlicheres Aussehen.

Mit aller Kraft und mit einer Art verbissenen Ingrimms schlug der Mann die Trommel. Hinter ihm führte ein schwarzes, schlankes Mädel, als Knabe gekleidet, das mit bunten Bändern geschmückte kleine Pferd, auf dem ein allerliebstes, blondes Büblein saß. Weißblond waren die Haare und fein und zart die Glieder des ungefähr fünfjährigen Kindes.

Der kleine Kerl war in blasse, rosafarbene Trikots gesteckt, mit bloßen Füßen und ohne jeden Schutz gegen den Regen. So saß das hellblonde Bübel auf dem [S. 10] braunen Bosniakenrößlein und verteilte große, bunte Zettel unter die Straßenjugend, die von allen Seiten herbeiströmte und mit bewundernden Blicken nach dem kleinen Reitersmann schaute.

Das Bübel schien sich trotz der allgemeinen Bewunderung nicht sehr wohl auf seinem erhöhten Sitz zu fühlen. Das von der Sonne leicht gebräunte Gesichtel war blaurot vor Kälte, und der kleine Mund verzog sich krampfhaft und unterdrückte nur mühsam das Weinen. Die hellblauen Augen schauten verzagt und wie um Hilfe flehend auf das braune Mädel, das das Pferd sorgsam am Zügel führte.

Das Mädel nickte dem blonden Brüderchen aufmunternd zu, und manchmal blieb es etwas zurück und streichelte ganz verstohlen die nackten Beinchen des Buben.

„Sei nur stad, Tonl!“ flüsterte sie dann. „’s dauert nimmer lang, nacher kommst hoam zur Muatter!“ Dann war das flinke Ding wieder mit einem Sprung vorne beim Pferd und führte es am Zügel.

Das junge Gassenvolk hatte seine helle Freude an den fremdartigen Kollegen. Ein Mädel in Bubenkleidern war nichts Alltägliches in Rattenberg.

Einige unter den Buben, die ganz frechen, versuchten eine Annäherung und zogen das Mädel erst schüchtern und dann immer dreister an einem der kurzen, dicken Zöpfe oder zwickten sie derb in die Waden.

Da kamen sie aber schlecht an. Das Mädel verstand sich zu wehren. Wie eine junge Wildkatze war sie, kratzte und zwickte und stieß um sich mit einer Fertigkeit, wie es kaum die geübtesten Raufer unter den Buben hätten besser machen können. Wär’ auch kein echtes Karrnerkind gewesen, wenn es sich von den paar Lausbuben hätte unterkriegen lassen.

Das mochte der finstere Mann, der vorausging und unbekümmert seine Trommel schlug, wohl auch denken. [S. 11] Es entging ihm nicht, wie die Buben immer dreister hinter dem Mädel drein waren, aber er kümmerte sich nicht darum; tat, als bemerke er es nicht, und hieb nur um so energischer auf seine Trommel ein.

Heida, war das ein lustig Völkel, wie es trotz des strömenden Regens durch die alte Stadt zog. Das Mädel lachte schadenfroh und fletschte dabei die Zähne gleich einem jungen Raubtier, und die schwarzen Augen funkelten nur so in dem braunen Gesicht.

Am Stadtplatz, dort wo sich der schöne Blick in die Hauptstraße bot mit ihren alten Häusern und Erkern und mit den alten, kunstvollen Schildern aus Schmiedeisen, machte der muntere Zug halt. Der Mann mit der Trommel schlug noch ein paar extra kräftige Wirbel und fing dann mit lauter Stimme an, seine Einladung für die heutige Abendschaustellung vorzubringen.

Hier am Hauptplatz sollte die Vorstellung stattfinden. Seilkünstler und jugendliche Akrobaten würden ihre Künste sehen lassen. Der kleine Reitersmann schlug schon jetzt einen Purzelbaum über den andern auf dem Rücken des Pferdes, um eine Probe seiner Kunstfertigkeit zum besten zu geben. Das wirkte derart aufreizend auf einzelne der Buben, daß sie trotz Regen, Schmutz und Pfützen den fremden Künstlern gleichfalls mehrere Purzelbäume vorführten.

Vor dem Stadttor lagerten die Karrner. Dort stand das fahrende Heim, auf welches das braune Mädel sein frierendes Brüderlein vertröstet hatte. Ein grüner, schon recht baufälliger Wagen. Kleine Fenster mit roten Vorhängen waren an dem alten Rumpelkasten angebracht. Ein rauchender Kamin von Eisenblech reckte sich aus der Dachlucke. Zu der schlecht schließenden Tür des Wagens führte eine kleine wacklige Leiter empor.

Dies war das Heim der fahrenden Künstler und bot ihnen Schutz gegen Sturm und Regen. Gesundes Blut [S. 12] gedeiht überall, wächst auf wie Unkraut und vermehrt sich gleich ihm. Kümmert sich nicht um Lebensbehagen und um die einfachsten Satzungen der Hygiene. Krankheit ist ein unbekanntes Ding unter den Karrnern.

Erstaunlich viele Menschen birgt so ein fahrendes Heim. Schier stolpern sie einander über die Füße. Die Inneneinrichtung des Wanderkastens war höchst einfach. Ein Tisch, ein altes abgebrauchtes Ledersofa und mehrere Holzstühle und Rohrsessel, die schon halb zerbrochen waren. Knapp neben einem Fenster stand ein kleiner eiserner Herd. Der Rauch mußte nur schlechten Abzug durch den Kamin finden, denn der enge Raum war eingehüllt von beißenden Schwaden.

Anschließend an dieses Gemach befand sich durch eine Tür getrennt noch ein Abteil. Da drinnen war es ganz dunkel. Es war eigentlich die Theatergarderobe der fahrenden Leute. Der enge Raum war zum größten Teil angefüllt mit Schachteln, Lumpen und alten Kleidern. Ein breites, unordentlich gemachtes Bett stand an der Längsseite der Wand. Zu dessen Füßen erstreckte sich auf dem Boden ein Strohsack mit einem Polster und einer alten Pferdedecke. Darauf balgten sich ein paar größere Kinder, zankten und schlugen sich und verursachten einen Heidenlärm.

Draußen im Wohnraum beim Herd stand die Mutter der Kinder, eine große, schwarze Frau, derb und üppig, in nachlässiger Haltung, mit schlampig gekämmtem Haar und in schmutzigen, herabhängenden Kleidern. Auf dem linken Arm hielt sie einen Säugling, der sich an ihrer Brust festsog. Mit der freien rechten Hand rührte sie in einer Pfanne Milch und Mehl zu einem Mus für das Abendessen. An ihrem Rock hielten sich ein paar kleine Kinder fest und zerrten an ihr, daß sie ihr den schmutzigen Kittel halb vom Leib rissen.

Ein anderes kleines Kind, das noch nicht gehen konnte [S. 13] und mit einem farbigen Hemdchen nur notdürftig bekleidet war, saß gravitätisch auf dem Sofa und schlug mit einem Kochlöffel um sich, unaufhörlich und nach allem, was ihm in die Nähe kam. Und es kam immer etwas in die Nähe. Eines der kleinen oder der größeren Kinder. Unbarmherzig hieb der kleine Wicht am Sofa auf die Köpfe seiner Geschwister. Die brüllten dann jedesmal aus Leibeskräften, liefen zur Mutter und wischten sich an deren Rockfalten die Tränen ab oder die schmutzigen kleinen Nasen.

Die Frau am Herd ließ sich durch keinen Lärm aus ihrer Ruhe bringen. Sie kochte unbeirrt weiter und preßte den Säugling mit dem linken Arm fest an ihre Brust.

Ein struppiger, häßlicher Köter umsprang mit lautem Gebell die kleinen, weißblonden Kinder, hüpfte an ihnen empor und drängte sich wedelnd und mit der Zunge leckend zwischen sie. An einem der rot verhangenen Fenster baumelte in einem winzigen Vogelkäfig ein einsamer Kreuzschnabel und zirpte seinen sehnsüchtig wehmutsvollen Sang.

Die Karrnerin stand mit einer Art stolzer und hoheitsvoller Genugtuung vor dem Herd. Wie eine Königin in ihrem Reich, so kam sie sich inmitten ihrer Kinderschar vor.

Es war aber auch eine ganz besondere Stellung, die sie unter ihren Standesgenossen einnahm. Einen Wagen, einen richtigen, echten Wagen als Wohnstätte und ein lebendes Pferd hatte sie. Zu solchem Besitz brachten es nur wenige unter den Karrnern. Es war auch gar nicht so lange her, seit sie zu diesem Wohlstand gekommen waren. Früher zogen sie herum wie die andern fahrenden Leute. Da besaßen sie nur einen Handkarren, der mit einem großen Segeltuch überspannt war und drunter die wenigen Habseligkeiten der Familie barg.

[S. 14]

Den Karren zogen sie gemeinsam, sie und ihr Gaudenz, den sie ihren Gatten nannte, obwohl weder Kirche noch Staat diesen Bund besiegelt hatten. Aber bei den Karrnern nimmt man das nicht so genau. Das sind freie, ungebundene Menschen, sind Menschen ohne den Zwang strenger Sitten.

Die führen ihr ungebundenes Leben von Jugend an. Und wenn sich Männlein und Weiblein gefunden haben, so ziehen sie zusammen ihren wilden Ehestandskarren, ohne Pfarrer und Gemeinde erst lange um Erlaubnis zu fragen. Und trotzdem halten sie fest aneinander. Ohne Schwur und Gelübde nehmen sie es mit der Treue genauer, als viele in strenger Sitte und Zucht auferzogene Kulturmenschen.

Gemeinsam getragene Not ist ein fester Kitt. Und es ist ein hartes Leben, das diese Tiroler Zigeuner führen. Von Ort zu Ort ziehen sie. Durch das ganze Land wandern sie und noch weit über die Grenzen hinaus in fremde, unbekannte Gegenden.

Überall sind sie geächtet und überall gemieden. Aber sie ertragen alles, Not und Hunger, Frost und Regen, Sonnenglut und Straßenstaub, Schande und Verachtung. Ihr Freiheitstrieb ist so groß und unbändig, daß sie lieber in Gottes freier Natur elend zugrunde gehen, als daß sie sich den Gesetzen einer geordneten Lebensweise unterwerfen würden.

In Gottes freier Natur, ohne Hausdach, ohne Hilfe und Beistand bringt die Karrnerin ihre Kinder zur Welt. Es müssen kerngesunde, lebenskräftige Kinder sein. Wer nicht ganz fest ist, geht zugrunde. In Wind und Wetter, Schnee und Regen und im glühenden Sonnenbrand, ohne Furcht, in Freiheit und Ungebundenheit, so wächst das Karrnerkind auf.

Von der Hand in den Mund lebt die ganze Familie. Kann der Vater keinen Verdienst finden, so ziehen die [S. 15] Kinder zum Betteln aus, und wenn’s nicht anders geht, auch zum Stehlen. Sie lernen wenig Gutes von den Menschen. Überall werden ihnen die Türen vor der Nase zugeschlagen, oder man wirft ihnen Gaben hin wie jungen Hunden. Und gierig wie junge Hunde schnappen sie darnach. Denn immer sind sie hungrig, und die kleinen Mägen knurren ihnen oft unbarmherzig.

Seit Gaudenz Keil, der Karrner aber den genialen Einfall hatte, sich ein Pferd und einen Wagen zu erstehen und seine Kinder zu Akrobaten heranzubilden, seit jener Zeit ging es ihm und seiner Familie viel besser. Woher der Gaudenz das Geld auftrieb zum Kauf, wußte niemand. Das Korbflechten und Pfannenflicken brachte ihm jedenfalls keine Reichtümer ein. Aber der Gaudenz war von jeher ein ganz gerissener Bursche gewesen, und einer seiner obersten Grundsätze war, sich nicht erwischen zu lassen.

Erwischt hatte ihn niemand. Und Benedikta Zöttl, die Karrnerin, die vielleicht über den plötzlichen Reichtum hätte Auskunft geben können, war verschwiegen wie das Grab. Sie hielten zusammen, diese beiden, trotz Zank und Streit und trotz mancher wüsten Szenen, die es oft zwischen ihnen gab. Die gehörten jedoch mit zur rechten Karrnerliebe. Streit und Prügel. Der Karrner muß fühlen, daß er der Herr im Hause ist.

Gaudenz Keil war eine ausgesprochene Herrennatur. Das Regiment, das er führte, war ein strenges. Wenn er seinen schlechten Tag hatte, dann fürchteten sie sich alle vor ihm. Die Benedikta und die Kinder, die großen wie die kleinen. Sogar der kleine, struppige Köter zog den Schweif ein und verkroch sich. Der Herr hatte einen festen Fuß, und so ein Stoß oder Tritt tat weh.

Am widerspenstigsten war von jeher die Sophie gewesen. Das war das braune zwölfjährige Mädel, das [S. 16] als Bub verkleidet herumlief. Die hatte wirklich den Satan im Leib.

Wenn Gaudenz Keil ganz besonders schief gewickelt war, dann rannte sie ihm sicher im Weg herum, reizte ihn auf irgendeine Weise oder spielte ihm sonst einen Possen. Über die Sophie entlud sich dann gewöhnlich der ganze Groll des Karrners. Er schlug und prügelte sie unbarmherzig, wohin er sie nur traf. Drosch auf sie ein in blinder Wut, daß das Kind heulte vor Schmerz und es doch nicht lassen konnte, ihn immer und immer wieder in rasenden Zorn zu bringen.

Sie haßten sich gegenseitig, der Gaudenz und die Sophie. Gaudenz Keil haßte das Mädel, weil es der lebende Zeuge war, daß Benedikta Zöttl ihre Gunst einmal einem andern Manne geschenkt hatte.

Sie war schön gewesen, die Benedikta. Ein südländischer Typus, wie er unter den Karrnern nicht oft anzutreffen ist. Meist sind diese Zigeuner der Tiroler Berge hellblond, von einem unschönen, schmutzigen Blond. Ihre Gesichter sind knochig und häßlich, die Haut ist von der Sonne gelb gebrannt.

Benedikta Zöttl war ein wildes, unbändiges Mädel gewesen. Ihr heißes Blut hatte sie schon in früher Jugend von einem Mann zum andern getrieben, flüchtig und unstät, bis der Gaudenz kam und sie mit sich führte.

Das kleine, braune Ding, die Sophie, mußte er allerdings mit in den Kauf nehmen. Das Mädel war ihm ein Dorn im Auge. Es bildete zwischen ihm und der Benedikta einen Zankapfel auf Weg und Steg.

Die Sophie haßte den finstern, harten Mann, der so roh und grausam werden konnte. Das heiße, unbändige, wilde Blut der Mutter hatte sich auf die Tochter vererbt. Der Gaudenz hatte die Benedikta gezähmt. Es gibt ein sicheres Mittel, wildes Karrnerblut zu bändigen. Kinder [S. 17] auf Kinder entsproßten dieser freien Ehe. Die Mutterpflichten hatten das Weib milder und gefügiger gemacht.

Benedikta Zöttl war mit den Jahren ziemlich stumpfsinnig geworden. Nur wenn es der Gaudenz in seiner brutalen Art zu weit trieb, wenn er wie ein gereiztes Tier blindwütig Hiebe und Fußtritte austeilte und die Kinder sich wimmernd und heulend verkrochen, dann stellte sie sich dem Manne furchtlos gegenüber, schlug wohl auch kräftig mit einem Stock oder einem Scheit Holz oder sonst einem Gegenstand, der ihr gerade zur Hand war, auf ihn ein. Bis dann doch schließlich seine Kraft die Übermacht gewann.

Der Tonl, das hellblonde Bübel, hatte am meisten Angst vor dem Vater. Bei jedem rauhen Wort zitterte er und kämpfte mit den Tränen. Und gerade der Tonl war es, den die Sophie am meisten ins Herz geschlossen hatte. Seinetwegen hatte sie schon viele Prügel vom Vater eingeheimst. Der Tonl, so putzig und zierlich er aussah, so herzlich ungeschickt war er. Das Akrobatentum wollte ihm gar nicht einleuchten. Und jedes neue Kunststück hatte er nur dadurch erlernt, daß er des Vaters harte Faust zu spüren kriegte.

Auch heute wieder stellte sich der Tonl ganz besonders ungeschickt an. Gleich nach dem Umzug in der Stadt hielt der Karrner draußen vor dem Tor eine Generalprobe für den heutigen Abend. Mitten in Wind und Regen. Das störte ihn nicht.

Mit harten Worten rief er seine Kinder zusammen. Der Tonl machte ein weinerliches Gesicht. Er war ganz durchnäßt, und es fror ihn jämmerlich. Der Tonl war überhaupt ein bissel aus der Art geschlagen. Empfindlich wie ein Stadtkind. So gar kein richtiger Karrnerbub. Das ärgerte den Gaudenz. Für das Zimperliche und Überfeine besaß er nicht den geringsten Sinn. Der Tonl hatte sich schon die ganze Zeit her auf die warme Stube [S. 18] und einen Bissen Brot gefreut. Und nun hieß es wieder an die Arbeit gehen, ausharren im Regen trotz Hunger und Kälte.

Die Sophie sah die Enttäuschung des kleinen Bruders. Wie ein Wiesel rannte sie dem Vater davon, sprang mit ein paar Sätzen über die Stufen der Leiter hinein zur Mutter und brachte dann triumphierend ein großes Schwarzbrot für den Tonl.

Das hellblonde Bübel kaute und kaute und putzte sich die Nase. Schips, der struppige Köter, erhielt auch ab und zu einen Bissen, weil er gar so schön betteln konnte. Und die Sophie stand vor dem Bruder, der mitsamt seinem schönen Staat auf dem aufgeweichten Erdboden saß, und suchte den Tonl vor den Blicken des Vaters zu verstecken. Denn der Vater duldete keine „Fresserei“ während der Arbeit. Das wußten die beiden Kinder, und deshalb würgte der Tonl auch das Brot hinunter, so rasch er nur konnte.

Trotzdem entdeckte der Karrner den kleinen Sünder. Der Gaudenz stand abseits und probierte mit zweien seiner Söhne, die auch nicht älter als sieben und acht Jahre sein mochten, verschiedene Kunststücke. Nun rief er die Sophie herbei. Das Mädel war der Kraftathlet der jungen Künstlerschar. Sie hatte die Aufgabe, zwei ihrer Geschwister mit freien, weit vor sich hingestreckten Händen zu halten, während der Tonl mit einem geschickten Sprung auf ihren Kopf gelangen mußte.

Die Buben und Mädeln von Rattenberg, die den fahrenden Leuten bis vor das Tor gefolgt waren, kamen während der Probe voll Neugierde und mit immer wachsendem Interesse näher heran. Der Gaudenz Keil verjagte sie zwar, doch umsonst. Den Karrner konnte nichts so sehr in Harnisch bringen, als wenn man ihn bei seinen Proben belauschte.

Er drohte den fremden Kindern mit der Peitsche. [S. 19] Lachend stoben sie auseinander, um sich dann gleich wieder, frecher und kühner werdend, zu nähern. Was konnte der Karrner ihnen schließlich auch antun! Sie fühlten sich ganz sicher und reizten den Mann durch kecke Zurufe.

Gaudenz Keil spürte es, daß er den fremden Kindern gegenüber ohnmächtig war. Er durfte ihnen nicht grob kommen. Sonst verdarb er sich’s mit denen da drinnen in der Stadt; und die brauchte er ja. Denen mußte er ja zu gefallen suchen, damit sie ihm ein paar lumpige Kreuzer zu verdienen gaben.

Eine plötzliche Wut überkam den Gaudenz. Der Herrenmensch in ihm empörte sich dagegen, daß er vor Straßenbengeln kuschen sollte. Der Karrner fühlte, wie ihm das Blut schwer zu Kopfe stieg. Er mußte einen Gegenstand haben, an dem er seinen Zorn auslassen konnte. Sonst passierte etwas, und er vergriff sich an der Bande. Zornig fuchtelte er mit der Peitsche in der Luft herum.

„Hau mi, Karrner, wenn du di traust!“ schrie einer der Buben höhnisch zu ihm herüber.

„Hennenstehler!“

„Karrnerleut!“

„Pfannenflicker!“

„Diebsg’sindel!“ schrien die Kinder abwechselnd.

Gaudenz Keil stierte wütend zu der kleinen Bande herüber. Mit einem Sprung war er bei ihnen, die nun in jäher Flucht der Stadt zujagten. Einen Augenblick noch, und er hätte einen von den Buben am Kragen gehabt und jämmerlich verhauen. Da fiel sein Blick zufällig auf den kauenden Tonl, der noch immer mitten im Schmutz saß und den Vater ängstlich beobachtete.

Die angsterfüllten Augen des Kindes reizten den Mann noch mehr. Drohend näherte er sich dem kleinen Sünder, der ein letztes Restchen des guten Brotes in der Hand hielt.

[S. 20]

„Wer hat dir ’s Brot gegeben?“ frug der Vater mit einer unheimlichen Ruhe, die nur ein Vorbote des hereinbrechenden Gewitters war.

„I ... i ... i woaß nit!“ log das Bübel und blinzelte verstohlen zur Sophie hinüber.

„Woaßt nit, ha?“ Ein harter Schlag mit der flachen Hand traf das zitternde Kind, das beide Händchen bittend und flehend über das blonde Köpfchen hielt.

Mit einem raschen Satz war die Sophie zwischen den Vater und den Bruder gesprungen und beugte sich schützend über den Tonl.

„I hab’s tan, daß d’s woaßt!“ sagte sie trotzig.

„Du Teufelsbrut, verfluchte!“ Mit geballter Faust hieb der Mann auf das Mädel ein. „Woaßt du nit ...“

„Der Tonl ist hungrig g’wesen. Drum hab’ i ihm a Brot bracht!“ verteidigte sich das Mädel.

„Saumensch du!“ schimpfte der Karrner und schlug in blinder Wut auf das Mädel ein.

Die Sophie wand und krümmte sich vor Schmerz, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Sie biß die Zähne zusammen und schlug dann plötzlich mit den Füßen aus. Geschickt und kräftig traf sie den Gaudenz gerade in der Magengegend, so daß er unwillkürlich einen Augenblick von ihr abließ. Dann aber packte er sie mit eisenharter Faust, drückte sie zu Boden und schlug unbarmherzig auf sie ein. Das Mädel wand sich wie ein Aal. Kratzte und biß ihn in die Hand gleich einer tollgewordenen Katze, so daß die Hand des Karrners blutete.

Die Buben und Mädeln von Rattenberg waren geschwind wieder umgekehrt. Sie umkreisten den Gaudenz Keil und beschimpften ihn mit Zurufen.

„Schamst di nit, Karrner!“

„A Madel so zu verhauen!“

„Mistkarrner! Saufbruder!“

Daß sie für das Mädel Partei nahmen, machte den [S. 21] Gaudenz nur noch rasender. Die Sophie wehrte sich tapfer, stieß nach ihm mit den Füßen, kratzte ihn und spie ihm ins Gesicht. Keine Bitte um Hilfe oder um Mitleid kam über ihre fest zusammengepreßten Lippen. Wie ein junger Teufel war sie. Der Mut des Mädels gefiel den Buben.

„Laß dir nix g’fallen, Diandl!“ riefen einige unter ihnen. „Wir helfen dir!“

Und wirklich kamen sie dem Mädel zu Hilfe. Von rückwärts packten sie den Karrner an. Das brachte den Gaudenz völlig zur Raserei. Er ließ plötzlich von dem Mädel ab und lief zu der Gruppe seiner Kinder hinüber, wo die Peitsche lag. Im Laufen versetzte er dem Tonl, der ihm nicht rasch genug auswich, einen Stoß, daß der kleine Kerl gegen ein Wagenrad kollerte.

Zitternd verkroch sich das Bübel unter den Wagen und beobachtete ängstlich, was der Vater nun beginnen würde. Die Karrnerkinder rannten, als sich der Vater näherte, kreischend und heulend auseinander und flüchteten in das Innere des Wagens zur Mutter.

Benedikta Zöttl kam, den Säugling noch immer krampfhaft an der Brust haltend, aus dem Wagen, und schimpfte mit keifender Stimme: „Laß mei Madel in Ruah, du Ruach, du gottverlassener!“

Aber Gaudenz Keil kümmerte sich nicht darum. Mit der Peitsche hieb er auf die fremden Kinder ein, die sich mitleidig über das mißhandelte Kind beugten. Nun rannten die Kinder geängstigt davon, hinein in die Stadt, um dort Hilfe zu holen gegen den wilden Mann.

Gaudenz Keil drosch jetzt stumm, verbissen und zähneknirschend mit der Peitsche auf das Mädel, so daß sie wund vor Schmerzen laut aufheulte. Dann krallte sie sich mit den Händen in den vom Regen aufgeweichten Erdboden. Nein, er sollte und sollte es nicht merken, wie weh er ihr tat, dieser Mann, den sie haßte mit [S. 22] der ganzen Inbrunst ihres jungen, stürmischen Herzens. Sie krallte ihre Hände in die Erde, so fest sie konnte, und biß sich die Lippen blutig.

Die Karrnerkinder lugten neugierig aus den Fenstern. Ein paar wagten sich sogar heraus und schrien dabei in allen Tonarten aus lauter Erbarmen mit der Sophie. Schips, der Hund, sprang winselnd und schweifwedelnd an der Karrnerin empor, als wollte er sie für das arme Mädel um Hilfe betteln.

Der Tonl in seinem Versteck unter dem Wagen verhielt sich mäuschenstill. Dicke Tränen kugelten ihm über die blassen Wangen, und die kleinen Hände waren wie vor Schmerz ineinander verkrümmt.

Immer unmenschlicher hieb der Karrner auf das Mädel ein. Wie eine Furie stürzte sich nun die Benedikta auf den Mann. Den Säugling legte sie vorerst in sicherer Nähe des Wagens nieder, wo ein trockenes Plätzchen war. Und dann fiel sie gleich einer Tigerin von rücklings über den Gaudenz her.

Sie umklammerte ihn und preßte ihm mit festem Griff den Hals zu, so daß er von dem Mädel ablassen mußte und mit den Fäusten taumelnd in die Luft faßte. Aber nur einen Augenblick. Dann packte er das Weib. Mit eiserner Faust zwang er sie zu Boden. Und mit den groben genagelten Stiefeln trat und stieß er sie und zerrte sie dann durch den Schmutz hinüber gegen den Wagen.

Das Weib schrie gellend und schleuderte wilde Flüche und Verwünschungen gegen den Mann. Ihre langen, schwarzen Haare hatten sich ihr vom Kopf gelöst und fielen in wirren Strähnen herab in den Schmutz. Mit aller Kraft wehrte sich die Karrnerin.

„Laß mi aus!“ schrie sie verzweifelt. „Ruach, verfluachter ... i bring’ di um ... i schneid’ dir den Hals ab!“

„Halt’s Maul, Bestie du!“ Voll blinder Wut stampfte [S. 23] ihr der Mann mit dem Stiefel ins Gesicht, daß ihr das Blut von Mund und Nase kam.

„Hilfe ... Hilfe ... er bringt mi um ... Hilfe!“ schrie die Karrnerin gellend auf.

Die Karrnerkinder waren an wüste Szenen der Eltern gewöhnt. Sie hatten es oft mit angesehen, wie der Vater die Mutter und die Sophie verprügelte, daß sich beide einige Stunden nicht mehr rühren konnten. Aber Blut hatten sie noch nie gesehen. Deshalb erschraken sie jetzt ernstlich, als sie das Blut von dem Gesicht der Mutter rinnen sahen, und sie heulten noch lauter als zuvor. Ein paar der größeren Kinder rannten der Stadt zu, um von dort Hilfe für die Mutter zu holen.

Von der Stadt her kamen die Leute gelaufen. Der lange Schmied, und der Schuster Naz, und der Tischlergesell Weber kamen zuerst. So, wie sie waren, ohne Rock und Hut und ohne Schutz gegen den Regen liefen sie, durch die Kinder herbeigerufen, von ihrer Arbeit fort, um draußen vor dem Tore den Streit zu schlichten. Und voraus rannten etliche Stadtbuben und schrien keuchend vor Aufregung und Eile ...

„Der Karrner ist narrisch worden!“

„Er bringt’s Madel um! Naa, nit’s Madel, sei’ Weib schlagt er tot!“

„Naa, er hat sie tot g’schlagen!“ brüllten einige in höchster Aufregung.

„I hab’s g’sehen!“

„Holt’s den Gendarmen!“

„Eing’sperrt g’hört er!“

Die Männer eilten in großen Sprüngen und hinter ihnen drein ein paar neugierige Weiber und die Mädeln und Buben von Rattenberg.

Benedikta Zöttl hatte sich ganz heiser geschrien. Die Sophie lag wimmernd und regungslos auf der nassen Erde. Schips, der Hund, beschnupperte sie ängstlich und [S. 24] lief wedelnd und winselnd von einem der Kinder zum andern. Endlich ließ er sich traurig und mit gesenktem Kopf wie zum Schutz neben dem Säugling nieder und heulte laut und in langgezogenen, kläglichen Tönen.

„I zeig’ di an! Mörder ... Dieb ... Saufaus!“ schrie die Benedikta jetzt mit rauher, heiserer Stimme und krümmte sich unter den wuchtigen Schlägen des Mannes. Immer und immer wieder raffte sie sich zu ihrer Verteidigung auf und schlug und stieß aus ihrer halbliegenden Stellung auf ihren Gegner, obgleich sie sich vor Schmerzen kaum mehr rühren konnte.

Die drei Männer aus der Stadt hatten sich jetzt des wütenden Karrners bemächtigt und zerrten ihn mit dem Aufgebot ihrer ganzen Kraft von dem Weib weg. Immer mehr Leute kamen zum Tor heraus und umstanden das Karrnerlager.

„Laßt’s mi aus!“ schrie der Gaudenz Keil und wehrte sich kräftig gegen den festen Griff der Männer. „Was geht das enk an, wenn i mei’ Weib prügel! I kann mei’ Weib prügeln, wie i mag!“

„Halt’s ihn fest! Er bringt mi um!“ kreischte die Benedikta leidenschaftlich.

„Mistmensch ... vermaledeits ... halt’ dei’ Goschen!“ Da er die Hände nicht mehr frei hatte, so stieß der Gaudenz jetzt mit beiden Füßen nach ihr. „Heut’ no drah’ i dir den Kragen um! Dir und dei’m Balg, dei’m gottverdammten!“ drohte er.

Dabei machte er so wütende Anstrengungen, sich aus der Gewalt der drei Männer zu befreien, daß es ihm tatsächlich für einen Augenblick gelang. Aber nur für einen kurzen Augenblick. Denn der lange Schmied, der über die Roheit des Karrners ehrlich empört war, stieß ihm seine eisenharten Fäuste so fest ins Gesicht, daß der Gaudenz wie betäubt hintenüber fiel.

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„Recht so, Schmied! Gib’s ihm, dem Ruachen, dem verfluachten!“ schrien einige der Leute.

Gaudenz Keil erhob sich etwas schwerfällig. Seine ganze Wut war mit einem Male verflogen. Jetzt, da er den Herrn fühlte, wurde er klein. Er fuhr sich, wie wenn er sich erst besinnen müßte, mit der Hand über die Augen und sah mit dem Ausdruck einer Bulldogge, die den Stock zu spüren bekam, auf den langen Schmied.

Der stand vor ihm, groß, massig und sehnig. Der Schmied überragte alle Männer der Stadt um fast eines Hauptes Länge. Kohlschwarz war er und voller Haare, wie ein halber Waldmensch. Er stemmte die muskulösen, behaarten Arme vor sich hin und zeigte dem Karrner die sehnigen Fäuste.

„Da, Manndl ... da geh her, wenn d’ a Schneid hast!“ rief er mit herausforderndem Hohn. „Nacher raufen wir’s aus! Wir zwoa ... verstehst!“ fügte er drohend hinzu.

„Kinder und Weiber schlagt man nit halbtot!“ keifte ein altes Weibele.

„Saukerl, schlechter!“ rief eine andere Frau und spie verächtlich vor dem Gaudenz aus.

Den Karrner flog schon wieder die Wut an. Er sah die erbitterte Haltung der Leute und erblickte die Fäuste des langen Schmieds dicht unter seiner Nase. Das zähmte ihn für den Augenblick. Er wandte sich gegen die Frau, die vor ihm ausgespuckt hatte, und sagte höhnisch und mit verhaltenem Ingrimm: „A alt’s Weib ... mei, a alt’s Weib!“

„Ja ... a alt’s Weib!“ gab diese resolut zurück und trat ganz dicht an den Karrner heran. „Nix wie a alt’s Weib. Hast recht. Aber wenn i jünger wär’, Karrner, schau her, da mit dö zwoa Händ’, dö i hab’ ... kratzet i dir die Augen aus! Das g’höret dir, du Schandmensch du!“

„Hast recht, Ennemoserin!“ stimmten ihr einige der Leute bei.

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„Die Ennemoserin, die ist halt oane!“ meinte das alte Weibele und nickte beifällig mit dem Kopf.

„Hat Haar’ auf die Zähnd, die Ennemoserin!“ sagte der Tischlergesell nicht ohne Bewunderung und trat einige Schritte vor ihr zurück.

Der Schuster Naz forderte den langen Schmied auf: „Schmied, hau’ ihm oane in die Fotzen, dem Karrner!“

Die Ennemoserin war eine große, hagere Frau, nicht mehr weit von sechzig Jahren entfernt. Sie hatte ein blasses, strenges Gesicht und hellblonde Haare, die kaum ergraut waren und die sie glatt gescheitelt trug. Die dunkle Kleidung war höchst einfach, aber äußerst sauber. Das Auftreten der Ennemoserin war barsch und resolut. Mit Energie bahnte sie sich auch jetzt den Weg durch die versammelten Leute und ging hinüber zu dem braunen Mädel, das noch immer leise vor sich hinweinte.

Der Tonl hatte sich neben die Sophie gesetzt, mitten in den Schmutz hinein. Steckte den Daumen in den Mund und sah recht verzagt und hilflos drein. Er war selber dem Weinen nahe, und sein kleines Stumpfnäschen tropfte schon recht bedenklich.

„Nit rearen, Sophal ... Tonl nit haben wollen!“ tröstete das Bübel das braune Mädel mit weinerlicher Stimme und fuhr ihr mit seiner feuchten und schmutzigen Hand streichelnd über das Gesicht.

Die Ennemoserin beugte sich über das mißhandelte Kind. Neugierig näherten sich die weißblonden Karrnerkinder. Eins nach dem andern kamen sie heran und sahen auf die große, hagere Frau.

Diese hob mit kräftigem Arm die Sophie empor und setzte sie sanft auf den Boden, so daß der Kopf des Kindes eine Stütze an den Knien der Frau fand. Mit ihrem großen bunten Taschentuch säuberte die Ennemoserin das braune Gesicht des Karrnermädels, so gut sie es vermochte. Ihre groben Arbeitshände waren zart und lind, als sie [S. 27] dem Mädel die arg zerrauften Haare aus der nassen Stirn strich. Und ihre harte Stimme klang weich, als sie leise zu ihr sagte „Arm’s Madel, ist er oft so zu dir?“

Die kleine Sophie sah forschend und verwundert zu der fremden Frau hinauf. Sie hatte wenig Liebe genossen in ihrem jungen Leben, fast nur Härte und Grausamkeit. Die Liebe ihrer Mutter fühlte sie nur dann, wenn diese sich, wie das heute der Fall war, für ihr Kind von dem Karrner prügeln ließ. Dann wußte es die Sophie, daß sie doch einen Menschen besaß, der zu ihr gehörte und der sie wohl auch lieb haben mußte, weil er für sie zu leiden verstand.

Benedikta Zöttl kümmerte sich wenig um das Mädel. Zärtlichkeiten sind unbekannte Dinge bei den Karrnern. Und doch hängen sie mit einer Art blinder Liebe an ihren Kindern.

Die Sophie war stets herumgepufft und herumgestoßen worden. Sie mußte springen und arbeiten und die kleineren Geschwister warten. Selten fiel ein gutes Wort für sie ab. Fremde Menschen schalten sie als Karrnerfratzen. Und sie fühlte es deutlich, daß sie von ihnen verachtet wurde, daß man die Türen mißtrauisch vor ihr versperrte.

Das braune Mädel machte sich nicht viel daraus. Sie streckte den Leuten die Zunge heraus, drehte ihnen eine lange Nase und bestahl sie zu einer Art Vergeltung, wenn sich ihr die Gelegenheit dazu bot. Und wenn man sie schlug, dann schlug sie zurück und biß und kratzte und wehrte sich mit affenartiger Behendigkeit.

So wuchs die Sophie heran und wußte wenig Gutes vom Leben. Und doch barg das Mädel eine heiße Sehnsucht nach Liebe und Güte in ihrem jungen Herzen. Das zeigte sie aber bei Leibe nicht. Sie hätte sich vor sich selber geschämt, wenn jemand eine Ahnung von ihrem Sehnen gehabt hätte.

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Sie hatte es manchmal auf ihren Wanderungen und Bettelgängen mit angesehen, daß eine Mutter ihr Kind herzte. Dann war es der Sophie heiß in die Augen gestiegen, und ein bitterer Geschmack kam ihr in die Kehle. Sie hatte es aber jedesmal tapfer überwunden. Und dann tat sie was Garstiges. Ging hin zu der Mutter, die mit weicher Hand ihr Kind liebkoste, und bestahl sie, oder sie bettelte sie an. Und zum Dank für die Gabe beschimpfte sie die Frau und lief dann wie eine junge Hexe davon.

Die kleine Sophie haßte diese Menschen. Sie haßte sie deswegen, weil sie Liebe geben konnten und sie sich selber davon ausgeschlossen fühlte. Sie war ein garstiges, böses Kind, die Sophie. Das wußte sie selbst. Wozu sollte sie auch anders sein? ... Sie mochten sie ja doch alle nicht leiden. Niemand mochte sie. Nur der Tonl, der hing an ihr, und sie war anders zu ihm, wie zu den übrigen Kindern. Sie liebte dieses Kind mit einer fast leidenschaftlichen Liebe.

Der Tonl war so ganz anders geartet als die übrigen Geschwister. Er zankte sich nicht und prügelte sich nicht mit ihnen; er war verschüchtert und weinte gern. Die Sophie fühlte es instinktiv, daß der Bub gleich ihr Sehnsucht nach jenen kleinen Äußerungen der Zärtlichkeit und der Besorgtheit hatte, für die Kinderherzen so empfänglich sind. Diese Sehnsucht nach Liebe führte die beiden Kinder zusammen, daß sie einander alles wurden und auch für einander Übles erduldeten.

Gaudenz Keil sah mit einem bösen Blick auf die Ennemoserin. „Laß mei’ Madel in Ruh, Weib!“ rief er mit scharfer Stimme.

„Dei’ Madel!“ höhnte die Benedikta. „ Mei’ Madel ist sie, nit deins!“ schrie sie leidenschaftlich.

Die Ennemoserin näherte sich der Karrnerin.

„Hast sie vor der Eh’ g’habt?“ frug sie.

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Der Karrner brach in ein lautes, rohes Lachen aus. „Eh’! Das gibst guat!“ wieherte er.

Der lange Schmied sah mit ernstem Blick auf die Benedikta, die sich jetzt mühsam erhoben hatte und mit der Schürze das Blut, das ihr übers Gesicht lief, zu stillen suchte. „Also seid’s nit verheiratet ös zwoa?“

„Naa!“ sagte die Benedikta. Das kam so einfach und selbstverständlich über die Lippen des Weibes, daß die Umstehenden an diesem offenen Bekenntnis nicht einmal sonderlich Anstoß zu nehmen schienen.

Jetzt stemmte die Ennemoserin ihre hageren Arme in die Hüften. Kerzengerade stand sie da. Man hätte ihr das Alter kaum angesehen, so ungebeugt, zäh und kräftig war sie.

„Warum ziehst denn du nacher mit dem Loder durchs Land, Karrnerin, wenn d’ nit amal verheiratet bist damit?“ frug sie im harten, strafenden Ton.

Erstaunt sah das Weib auf die Frau. „I? ... Ja, weil i Kinder hab’ von ihm!“

Sie waren alle ruhig, die um sie herum standen. Keiner gab ihr eine Widerrede. Wozu auch? Sie fühlten es alle, daß dieses Karrnerweib kein Verständnis für ihre Moralbegriffe besaß.

Auch die Ennemoserin blieb ruhig. Über eine Weile frug sie, auf das kleine Mädel deutend: „Und die, die ist von an andern?“

„Ja!“

Die Ennemoserin erhaschte den Blick des Karrners, mit dem er auf das Mädel schaute. Ein Blick voll Haß und Abneigung war es, und voll brutaler Grausamkeit.

„Er ...“, die Ennemoserin deutete mit dem Daumen auf den Karrner ... „mag sie nit, gelt?“

„Naa!“ gab die Benedikta kleinlaut zu.

„Warum tust sie dann nit weg?“ frug die Ennemoserin mit ihrer lauten, harten Stimme.

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Die Karrnerin sah erstaunt auf die Frau. „Ja, wohin soll i sie denn geben?“

„Frag nit so dumm!“ polterte der Gaudenz gegen die Ennemoserin los. „Du woaßt es ja selber am besten. Wer nimmt denn a Karrnerkind?“

Eine Welt von Haß lag in den Worten des Karrners. Haß gegen sie alle, die da um ihn standen. Haß gegen eine Gesellschaft, die ihn ausstieß, weil sie seinen ungebändigten Freiheitsdrang nicht verstehen konnte. Er wußte es genau ... alle, wie sie ihn hier umringten, waren nicht allein empört über seine Roheit, sie ekelten sich auch vor ihm und seinesgleichen.

Mit überlegenem Hohn sah der Karrner auf die Leute. Sah auf den langen Schmied, der ihn mit ruhigen, gleichgültigen Blicken beobachtete. Und Gaudenz Keil sah die Mienen der Weiber, die immer weiter von ihm und der Benedikta abrückten. Da war auch nicht eine unter ihnen, die der blutenden Karrnerin beigestanden wäre. Sie ekelten sich vor ihr und hüteten sich, ihre Hände in ihre Nähe zu bringen. Und Gaudenz Keil wußte, daß eine ganze Welt von Vorurteil und Abneigung ihn und seinesgleichen von diesen Menschen trennte.

Seine stahlblauen Augen hatten einen stechenden Ausdruck, wie er jetzt mit geringschätziger Verachtung von einem zum andern schaute. Unwillkürlich zogen sich alle von dem Karrner zurück. Sogar der lange Schmied machte ein paar Schritte nach rückwärts.

Der Gaudenz lachte laut auf. „Wer nahm’ denn a Karrnerkind?“ frug er nochmals höhnisch. „Tat’s enk ja grausen, unseroans nur anzurühren!“

Die Ennemoserin hatte ihre blassen, schmalen Lippen, wie das ihre Art war, fest zusammengepreßt. Ruhig und mit einem entschlossenen Blick sah sie dem Karrner ins Gesicht.

[S. 31]

„I nimm’s Madel, wenn du mir sie gibst, Karrnerin!“ sagte sie dann laut.

Gaudenz Keil schien das als einen guten Witz aufzufassen. Roh und unbändig lachte er heraus.

„Tua’s nit, Ennemoserin!“ warnte der lange Schmied mit seiner tiefen, wohltönenden Stimme. „’s tuat koa guat nit!“

„Mei, Ennemoserin,“ meinte das alte, zahnlose Weibele, „laß grad du die Hand von der Butten. Hast amerst Sorg’ genua. Karrnerleut ... woaßt wol!“

Sie schupfte bedauernd die schiefgewachsene linke Schulter in die Höhe und wandte sich zum Gehen. Es interessierte sie nicht im geringsten, was jetzt hier noch vorfallen mochte. Die Ennemoserin hatte offenbar wieder ihren narrischen Tag. Der Schmied würde ihr die Mucken schon austreiben. Da wollte sie lieber nicht mit dabei sein; denn die Ennemoserin tat ihr leid, wirklich leid.

Auch der Schuster Naz dachte so. Er und noch einige von den Leuten. Die wandten sich alle langsam weg und gingen der Stadt zu. Einer nach dem andern. Es verdroß sie, da noch länger zuzuhören. Gescheites sah doch nicht viel heraus. Der Karrner hatte sich jetzt sichtlich beruhigt. Eine Beihilfe zur Schlichtung des Streites war nicht mehr notwendig. Die Schaulust und Neugierde kamen auch nicht mehr auf ihre Rechnung. Einige, die ganz besonders Neugierigen, verließen allerdings auch jetzt ihren Posten nicht. Sie wollten mit dabei sein bei der Verhandlung und harrten aus trotz Regen und Wind.

Lange dauerte die Verhandlung freilich nicht. Die Ennemoserin hatte einen starren Schädel, und was sie sich in den Kopf setzte, das geschah. Da half auch das Zureden des langen Schmieds nichts.

„Was willst denn du machen mit dem Madel, Ennemoserin? [S. 32] Bist a oanschichtigs Weib und hast koa Glück mit Kindern. Dös woaßt.“

„Ja, dös woaß i!“ gab die Ennemoserin trocken zurück. „Aber a Seel’ kann i dem Herrgott retten. Ist aa eppas!“

Die Benedikta stand noch immer da und preßte die farbige Schürze gegen die blutende Stirn. Sie begriff es nicht ganz, was die Ennemoserin von ihr wollte. Ein bißchen verwundert sah sie erst auf den Gaudenz, dann auf den Schmied und von diesem zur Ennemoserin.

Der Schmied redete noch immer eifrig auf die Ennemoserin ein. Er wollte ihr die Mucken austreiben, wie er meinte. Aber die Ennemoserin blieb unerschütterlich dabei.

„Wenn du mir’s Madel gibst, Karrnerin, i nimm sie!“ sagte sie fest.

Die Benedikta zuckte gleichgültig die Achseln und wandte sich ab. „Meinetwegen kannst sie haben. I bin froh, wenn i sie los krieg.“

Dann ging sie, ohne auch nur einen Blick auf die Sophie zu werfen, mit lethargischen Schritten zu ihrem Säugling, der treu bewacht von Schips, dem Hunde, in den höchsten Tönen unaufhörlich schrie.

Der Gaudenz trat jetzt ganz nahe an die Ennemoserin heran.

„Und i? Mi fragst nit, Weib!“ sagte er mit einem bösen Ausdruck in seinen stahlblauen Augen.

„Naa!“

Mit festem Blick maßen sich die beiden. Die ruhige, entschiedene Art der Ennemoserin machte Eindruck auf den Karrner.

„Von mir aus kannst ihn haben, den Balg!“ stieß der Gaudenz nach einer Weile grob heraus. „I bin froh, wenn i sie nimmer g’siech.“ — — —

So war denn die kleine Sophie mit der Ennemoserin [S. 33] gegangen. Ohne Tränen, ohne Händedruck und ohne ein Abschiedswort war sie von den Ihren geschieden.

Einen Abschied hatte sie allerdings genommen, und den vom Gaudenz. Als ihr die Ennemoserin die Hand reichte und ihr beim Aufstehen half, da begriff das Kind, daß es von nun an vor der brutalen Gewalt dieses Mannes geschützt werden sollte. Und sie hatte eine so ehrliche und herzliche Schadenfreude darüber, daß sie plötzlich ganz auf ihre schmerzenden Glieder vergaß und zu dem finstern, großen Mann, den sie so glühend haßte, wie sonst nichts in dieser Welt, hinlief und sich tief vor ihm verbeugte. Voll Spott und Hohn.

Und dann, dann drehte sie ihm mit beiden Händen eine Nase. Streckte ihm die Zunge heraus, so weit sie konnte, und rief triumphierend: „Etsch! Etsch! Ausg’rutscht! Jatz hau mi, wenn du kannst!“ Darauf lief sie flugs zum langen Schmied hin und versteckte sich hinter ihm.

Das war der Abschied der kleinen Sophie vom Karrnerlager. Sogar auf den Tonl hatte sie vergessen und ihm kein gutes Wort mehr gesagt. Sie fühlte sich jetzt, da sie zwischen dem langen Schmied und der Ennemoserin gegen die Stadt zuging, trotz ihrer verprügelten Glieder so unsagbar glücklich und so erlöst und froh und frei wie noch nie im Leben.

Schlussvignette, Kapitel 1

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Zweites Kapitel.

E s war schon ziemlich dunkel geworden, als die Ennemoserin mit ihrem Schützling aus der Stadt in der Richtung gegen die Innbrücke ging. Die alte Frau wanderte mit rüstigen, weit ausholenden Schritten und fast schweigend ihren Weg. Neben ihr trippelte die Sophie in ihren Knabenkleidern und ohne Schutz gegen den Regen, den ihr der Wind in das braune Gesichtchen und in die aufgelösten, durchnäßten Haare peitschte.

Das Kind merkte es kaum. Sie sah mit neugierigen, forschenden Augen auf die Ennemoserin. Und dann wieder spähte sie lauernd umher. Besah sich die kleinen, freundlichen Bauernhäuser von Kramsach und malte sich aus, wie viel Schönes es wohl da drinnen zu ergattern gäbe, wenn sie dort einmal bei Gelegenheit einen Besuch abstatten würde. Sie berechnete in aller Geschwindigkeit, wo man in diesem oder in jenem Haus sich wohl am geschicktesten einschleichen könnte. Ob vorne bei der Haustür oder rückwärts über einen Gartenzaun, oder ob eine Kletterpartie durch eines der kleinen, sauber geputzten Fenster sich vielleicht besser verlohnen würde.

So wanderten die beiden, den Talkessel des langgestreckten Dorfes Kramsach durchquerend, hinüber nach dem stillen, welteinsamen Mariathal.

In einer engen Schlucht hart an dem Bach steht die stattliche Kirche mit dem Kloster und einigen Häusern. Brausend durchzieht die Brandenberger Ache das Tal. Hoher Bergwald erhebt sich zur einen Seite des Baches, während knapp hinter dem Gotteshaus ein dichter Buchenwald sachte ansteigend sich viele Stunden den Berg entlang und bis tief hinein ins Brandenbergertal erstreckt. Als ob hier die Welt ein Ende hätte, so still und abgeschieden ist es. Eine eigene Welt, so recht ein Ort [S. 35] für fromme Frauenherzen, die ihr Leben dem Herrn geweiht haben.

Ein kleines, altes Frauenkloster ist der Kirche angebaut. Von außen sieht es grau und nüchtern und ein wenig baufällig aus. Der Friedhof trennt es von der Kirche, und doch verbindet ein gedeckter Gang das Gotteshaus mit dem Heim der frommen Frauen.

Nur wenige Bewohnerinnen beherbergt das Klösterlein. Einige Schwestern und mehrere kleine Mädchen, die unter dem Schutz der Nonnen erzogen werden sollen. Es wäre auch nicht Platz für viele in dem einstöckigen, langgestreckten Gebäude, das seinen Eingang vom Friedhof aus hat. Gegen den Friedhof führen auch die Fenster des Klosters.

Im Innern des Klosters sind niedere, gewölbte Gänge, alte knarrende Holztreppen und Türen, ausgetretene Dielen, die bei jedem Schritte ächzen und stöhnen, als seien sie es müde, die jahrhundertelange Bürde der Menschen zu tragen. Die Bürde der Menschen, die mit leichten Tritten auf weichen Sohlen fast unhörbar durch die niedern Gänge wandeln oder mit sachten, schlürfenden Füßen müde und verdrossen und doch gottergeben aus den dunkeln Winkelgängen kommen, die zu den einzelnen Zellen führen, um hinüber in die Kirche zu gehen.

Die kleine Sophie sah verwundert zu der Ennemoserin auf, als diese jetzt vor der Pforte haltmachte und mit raschem Griff an der Glocke zog. Der Friedhof, das lange graue Haus mit den vergitterten Fenstern, die in unmittelbarer Nähe emporragende stattliche Kirche, das alles machte auf das Kind einen seltsamen Eindruck.

„Wohnst du da?“ fragte die Sophie die Ennemoserin.

„I nit, aber du darfst dableiben, wenn du brav bist!“

Einen Augenblick war es der Sophie, als ob sie ihre kleine Hand, welche die Ennemoserin ergriffen hatte, [S. 36] gewaltsam losreißen müßte, um davonzulaufen. Weit, weit fort von hier. Fort von dem garstigen Haus und dem unheimlichen Friedhof mit den vielen Kreuzen. Aber da öffnete sich schon von innen die Tür, und eine kleine, dicke Klosterschwester, die ein Kerzenlicht in der fleischigen Hand hielt, erschien im Türrahmen.

„Grüß Gott, Schwester Salesia!“ sagte die Ennemoserin mit ihrer lauten, harten Stimme.

„Ja ... ja ... die Ennemoserin! Grüß Gott, Ennemoserin!“ machte die Schwester. „Ja, was führt denn Ihnen zu uns? Noch so spät auf die Nacht?“ fragte sie verwundert.

Die Schwester Salesia mochte ungefähr sechzig Jahre zählen. Sie hatte ein gutmütiges, freundliches Gesicht und ein paar helle Augen, die so sonnig und strahlend waren, als ob ihre Besitzerin immer beim Lachen wäre. Das runde, rosige, fast faltenlose Gesicht bewirkte, daß sich das Kind sofort zu der Klosterschwester hingezogen fühlte, trotz der Ungewöhnlichkeit der Umgebung und trotz der eigenartigen Klostertracht.

„Um Unterkunft tät’ i halt recht schön bitten!“ sagte die Ennemoserin. „Nit für mi, aber für das Kind da. Ihr sollt es behalten und einen ordentlichen Menschen draus machen!“

Die Ennemoserin war jetzt mit dem Kind in die Halle des Klosters eingetreten. Und die Schwester schob mit kräftiger Hand den Riegel vor die Tür, daß es krachte.

Die kleine Sophie sah sich in dem niedern, gewölbten Raume um, der vom Schein der Kerze und von einer brennenden Ampel matt erleuchtet war.

Eine Vorhalle war es in der Größe eines mittleren Zimmers. Links von der Haustür führte eine breite, etwas steile Holztreppe nach dem obern Stockwerk. Rechts davon zweigte ein langer, dunkler Gang ab. Dem Kinde erschien dieser Gang besonders unheimlich. In seiner [S. 37] lebhaften Phantasie kam es ihm vor, als führe dieser dunkle Gang in einen entsetzlichen Kerker, wo undurchdringliche Finsternis herrschte.

Namenlose Angst überfiel das Kind. Vielleicht war es das erstemal im Leben dieses halbwilden Mädels, daß sie es ernstlich mit der Angst zu tun bekam. Mit großen, erschreckten Augen sah das Kind zu der Klosterschwester auf, die in der einen Hand das Kerzenlicht hielt, während sie ihr mit der andern freien Hand liebkosend die Wangen streichelte.

„Also dableiben möchtest, Mädel?“ frug sie mit einer guten, leicht asthmatischen Stimme. „Ja, sag’ amal, Mädel, wie heißt denn nur?“

„Sophie!“ erwiderte das Kind leise.

„Sophie! Ja, da hast freilich an schönen Namen!“ lobte die Schwester und hüstelte etwas rauh und schwer. „Recht schön. Also Sophie ... Und wie heißt denn nacher noch?“ fragte sie.

Das Kind sah trotzig zu der Klosterschwester auf. „Meine Mutter schreibt sich Zöttl!“ sagte sie laut und mit einem Anflug ihrer gewöhnlichen Frechheit.

„So, so ... mhm! mhm!“ Die Schwester bekam einen richtigen, etwas länger dauernden Hustenanfall. „So, so ...“ machte sie dann schwerfällig und führte die Ennemoserin und deren Schützling durch eine Tür gegenüber der Eingangspforte in ein kleines Wartezimmer.

„Gehen’s einer da, Frau Ennemoser,“ forderte sie auf, „und tuan’s a bissel Platz nehmen! I geh’ grad derweil die Schwester Oberin holen. Es dauert nit lang. I renn’, so g’schwind i kann! Weißt, Sophie ...,“ sagte sie zu dem Kinde und machte ein Gesicht, als ob sie ihr etwas ganz Besonderes mitzuteilen hätte ... „i bin nimmer so jung, wie du bist. Es ist nimmer weit her mit meine Beiner. Und wenn wir zwei Fangen spielen, dann g’winnst du! Glaubst das?“

[S. 38]

Das Kind mußte unwillkürlich lachen. Die Schwester hatte so etwas Lustiges: An die konnte man sich gleich gewöhnen.

„Wie heißt denn die?“ frug die Sophie die Ennemoserin, als die Schwester fortgegangen war und die beiden Ankömmlinge in dem kleinen Raum allein gelassen hatte.

„Das ist die Schwester Salesia!“ erklärte die Ennemoserin. „Sie ist a guate Seel’, und prächtig zu brauchen im Kloster. Ist Pförtnerin und Meßnerin und Gärtnerin. Hat no viel zu tuan für ihr Alter.“

Das Kind verstand wenig von den Ämtern der Schwester. Es interessierte sie auch gar nicht weiter. Viel mehr bewunderte sie das Zimmer, in dem sie sich gegenwärtig mit der Ennemoserin befand. Völlig wie in einer Kirche sah es hier drinnen aus. Der Raum war durch eine große Ölampel nur matt erleuchtet. Und dem Kinde war es, als läge ein feiner Duft von Weihrauch in der Luft.

Es war nicht oft der Fall gewesen, daß die kleine Sophie eine Kirche betreten hatte. Karrnerleut’ sind keine Kirchenbesucher. Und die Kinder der fahrenden Leute jagt man davon, wenn man sie in Kirchen erwischt ... wegen der Opferstöcke. Denn es ist oft vorgekommen, daß sie für den Inhalt derselben ein gar zu großes Interesse bezeigten.

Ein paarmal hatte die Neugierde das Karrnerkind doch in eine Kirche getrieben. Ganz heimlich hatte sie sich hineingeschlichen. Sie wußte, daß sie das eigentlich nicht durfte. Und sie wußte, daß Gaudenz Keil es den Kindern streng untersagt hatte, in einer Kirche zu stehlen.

Es hatte ihr gut gefallen in den Kirchen, und sie wäre am liebsten überall herumgegangen, um sich alles ganz genau zu besehen. Aber das wagte sie doch nicht recht. Man hätte sie dabei erwischen können und davonjagen [S. 39] oder gar einsperren. Wenn sie hundertmal nicht die Absicht gehabt hätte, zu stehlen. Einem Karrnerkind glaubt man nicht. Das wußte sie.

So besah sie sich denn die Kirchen von einem ganz verborgenen Winkel in der Nähe des Eingangs, so daß sie zu jeder Zeit behende die Flucht ergreifen konnte, falls man sie entdeckte.

Es gefiel ihr in den Kirchen. Der hohe, freie Raum, die großen farbigen Fenster mit ihren Glasmalereien, die vielen Bilder und Statuen, die glänzenden Leuchter, der Geruch der Blumen, des Weihrauchs und der verlöschten Wachskerzen übten auf die Sinne des Kindes einen ungewöhnlich feierlichen Eindruck aus.

Und feierlich wie in der Kirche erschien es dem Kinde auch hier in der kleinen Wartestube des Klosters.

Die Ennemoserin hatte sich breit auf einen der hochlehnigen Polsterstühle gesetzt. Aufrecht, steif und kerzengerade saß sie da, wie eine hölzerne Statue. Die Sophie saß neben ihr, am Rande des Stuhles, wie ein Vogel auf einem Sprießlein seines Käfigs.

Mit klugen Augen schaute das Kind neugierig umher. Die beiden sprachen jetzt kein Wort mehr miteinander. Bis die Schwester Oberin kam in Begleitung der Schwester Salesia. Die Pförtnerin hielt nun statt der Kerze eine große Stehlampe in der Hand, die sie auf den ovalen Tisch in der Mitte des Zimmers stellte.

Die Oberin war eine hohe, schlank gewachsene Frau. Nicht mehr ganz jung. Aber mit einem gesunden, runden Bauerngesicht, eckigen Bewegungen und mit Augen, die nicht recht zu ihrer sonstigen Erscheinung paßten. Es waren helle, scharfe Augen. Augen, die einen klaren, wissenden Blick hatten, energisch und selbstbewußt schauten, und dann wieder demütig und unentschlossen. Die Schwester Oberin hielt ihre Augen meistens gesenkt und hatte die Hände wie zum Gebet [S. 40] fromm ineinander gefaltet, als befände sie sich im steten Zwiegespräch mit ihrem Gott.

Die Ennemoserin erhob sich, als die Oberin eintrat, und hieß auch das Kind aufstehen.

„Gelobt sei Jesus Christus!“ grüßte die Oberin mit leiser, sanfter Stimme, die in einem seltsamen Gegensatz zu ihrer derben Erscheinung war. Dann gab sie der Ennemoserin die Hand und bat sie, Platz zu nehmen. Die Sophie setzte sich ungebeten. Baumelte mit den Füßen und besah sich jetzt im hellen Lampenschein ihre Umgebung.

Freundlich und sauber schaute es in dem Wartezimmer aus. Für Sophies Geschmack zu sauber. Denn hier drinnen war alles hell und weiß. Weiß die Vorhänge an den beiden Fenstern und weiß die Überzüge der Polsterstühle. Weiß die gehäkelte Decke, die auf dem ovalen Tisch lag. Und weiß die kleinen Schutzdeckchen, die an die Lehnen des grünen Sofas geheftet waren. Auch die Hauben der beiden Klosterfrauen waren weiß.

Es war das erstemal in ihrem Leben, daß die Sophie eine Klosterfrau in unmittelbarer Nähe betrachten konnte. Ab und zu hatte sie ja auf ihren Streifwegen eine solche begegnet. Sie war ihr aber immer in weitem Bogen ausgewichen. Die großen weißen Hauben mit den dreieckigen Flügeln kamen ihr so unsagbar häßlich vor, daß sie dieselben gar nicht näher anschauen mochte. Noch eine Art Nonnen kannte das Kind. Das waren solche mit langen schwarzen Tüchern, die ihnen nach rückwärts vom Kopfe hingen, während das Gesicht nur durch ein weißes Stirnband abgeschlossen wurde. Diese gefielen ihr schon weit besser. Allerdings hatte sie auch vor ihnen eine eigene Scheu und wich ihnen aus, wo sie nur konnte.

Mit einer Nonne gesprochen hatte die Sophie noch nie im Leben. Und jetzt hatte sie mit einem Male sogar [S. 41] zwei Klosterschwestern in ihrer nächsten Nähe. Und noch dazu solche mit garstigen weißen Hauben, die sie gar nicht leiden mochte.

Das Kind lehnte sich bequem in dem Sessel zurück, legte das dunkle Köpfchen mit den beiden nassen Zöpfen auf die linke Seite, hielt sich mit den Händen an ihrem Sitz fest, als wäre sie zu Pferd, und baumelte unruhig mit den Füßen hin und her.

Die Schwester Salesia machte sich an der großen Ölampel zu tun. Goß aus einer Kanne, die in einem Winkel des Zimmers verborgen stand, Öl nach und putzte das Licht zurecht.

Das Kind besah sich die Schwester ganz genau, und sie gefiel ihr immer besser. Trotz der garstigen Haube und dem häßlichen Gewand. Denn das Kleid der Schwester mißfiel dem Kind gleichfalls. Es war dunkel und unförmig. Ein faltiger, weiter Rock und eine dunkle, ebenso weite Schürze. Eine Bluse von derselben Farbe, von der man jedoch mit Ausnahme der weiten Ärmel gar nichts sehen konnte, da ein breiter, steif gestärkter Kragen sie zur größeren Hälfte verdeckte. Um die Mitte hatten die Klosterschwestern einen weißen, dünnen Strick geschlungen, der seitwärts in einem Knoten neben einem großen Rosenkranz mit Kreuz herunterhing.

Die Oberin unterhielt sich mit der Ennemoserin im gedämpften Ton so leise, als fürchteten die Frauen, durch den Laut ihrer Stimmen die heilige Ruhe des Klosters zu stören.

Die Ampel, an der die Schwester Salesia sich zu schaffen machte, hing vor einer lebensgroßen Christusstatue, die das heilige Herz Jesu purpurrot leuchtend und mit einem goldenen Strahlenkranz umgeben als Sinnbild der unendlichen Liebe des Heilands auf der Brust trug.

Das Kind hatte noch wenig von Gott gehört und [S. 42] wußte auch nicht, was die fromme Statue darstellen sollte. Aber sie ahnte, daß es Gott sein sollte, und war so vertieft in ihre Betrachtung, daß sie gar nicht darauf merkte, was die beiden Frauen an ihrer Seite verhandelten.

Es war ihr jetzt auch gleichgiltig; denn je mehr sie sich hier umsah, desto besser gefiel es ihr. Und als die Schwester Oberin sich erhob, sie bei der Hand nahm und ihr erklärte, sie dürfe von jetzt an hier bleiben und das Kloster solle nun ihre Heimat sein, war sie ganz damit einverstanden.

Das beklemmende Gefühl, das sie anfangs beim Betreten des Klosters ergriffen hatte, war geschwunden, und willig folgte sie den beiden Klosterfrauen in das Innere des Hauses, nachdem sie sich von der Ennemoserin mit kurzem Gruß verabschiedet hatte.

Es war jetzt schon spät an der Zeit. Die Zöglinge des Klosters gingen gerade von einer Schwester geführt durch den gedeckten Gang zur Kirche hinüber. Alle in gleichen, einförmigen, grauen Kleidern, mit runden, schwarzen Kragen und ohne Hüte. Sie verbeugten sich tief vor der Oberin und warfen neugierige Blicke auf das Kind. Dann gingen sie schweigend in Reih’ und Glied der Kirche zu. — — —

Es war ein eigentümliches Gefühl, mit dem die kleine Sophie abends in ihrem sauberen, weiß bezogenen Bette lag. In einem großen, langen Saal war es. Bett an Bett, nur durch kleine Zwischenräume voneinander getrennt, standen die Lagerstätten der Kinder in zwei Reihen nebeneinander. Ungefähr zwölf Betten mochten es sein. Und am Ende des Saales hatte ein Bett Platz gefunden, das zu beiden Seiten mit Vorhängen verhüllt war. Dort schlief eine der Schwestern, der die Aufsicht über die Zöglinge anvertraut war.

Lange konnte die Sophie kein Auge schließen. Es [S. 43] war ihr alles so ungewohnt und fremd. Bisher hatte sie ihr Lager auf einem elenden Lumpenhaufen gehabt in dem fahrenden Haus des Karrners. Hatte sich mit den Geschwistern Tag für Tag gerauft und gebalgt um eine Decke oder ein Kissen.

Ein Höllenspektakel war das an jedem Abend gewesen. Ein Geschrei und Geheul und Gezeter, bis der Vater mit dem Stock und mit wilden Flüchen zwischen die kleinen Raufbolde dreinfuhr. Dann duckten sie sich und gaben Ruhe. Dumpf war es in dem kleinen Schlafabteil des Wagens. Eng und dumpf. Aber die Sophie schlief vortrefflich und vollständig traumlos bis zum Morgen, wo neuer Höllenlärm sie weckte.

Wie ganz anders war es heute in dem freundlichen und sauberen Schlafsaal des Klosters. Tiefer Friede und heilige Ruhe. Nichts regte sich.

Etwas wie abergläubische Furcht überkam das Kind. Sie setzte sich in ihrem Bette auf und sah hinüber zu dem großen Madonnenbild, vor dem ein schwaches rotes Licht brannte. Und wieder schaute sie auf die schlafenden Mädchen an ihrer Seite, die ruhig und gleichmäßig atmend dalagen und auf ihren weißen Kissen aussahen wie Engelsköpfe auf kleinen weißen Wolken.

Langsam und in dumpfen Schlägen schlug die Uhr von dem Turme zu Mariathal die zehnte Stunde.

Mit leisen, unhörbaren Schritten kam eine junge Klosterschwester, ging von Bett zu Bett und blieb dann vor der kleinen Sophie stehen.

„Kannst nit schlafen, Kind?“ frug sie flüsternd.

„Naa!“

„Fehlt dir was?“

„Naa!“

„Hast Heimweh?“ frug die Schwester weich und beugte sich über das Kind.

[S. 44]

„Ja!“ sagte die Sophie heiser, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

„Heimweh ... und bist ein Karrnerkind?“ frug die Schwester verwundert. Dann aber erinnerte sie sich daran, einmal gehört zu haben, daß gerade diese Menschen eine brennende Sehnsucht nach der weiten Welt hätten, die ihnen Glück und Heimat war.

„Armes Kind!“ sagte die Schwester voll inniger Teilnahme, setzte sich an den Bettrand und ergriff die kleinen braunen Hände der Sophie. „Armes Kind! ’s wird schon wieder besser!“ tröstete sie. „Mußt halt beten. Kannst beten?“

„Naa!“

„Nit?“ Die Schwester ließ ganz erschrocken die Hände des Kindes fahren. „Nit beten, nit einmal das Vaterunser?“

„Naa!“

„Und das Ave Maria?“

„Naa!“ Das Kind sagte es zögernd. Es hatte ein unbestimmtes Gefühl, daß sie etwas nicht kannte, was sie wissen sollte. Und sie fühlte, daß dieser Mangel ein großer sein mußte, weil die Schwester so erschreckt tat.

„Soll ich’s dich lehren, das Vaterunser?“ frug die Schwester.

„Ja!“

Da erhob sich die junge Klosterschwester, faltete die Hände des Karrnerkindes und machte ihm das Zeichen des Kreuzes auf die Stirne.

Und dann betete sie mit ihm, jedes Wort betonend, halblaut das Vaterunser im Schweigen der Nacht, in dem stillen Saale, während die andern Kinder ringsumher ruhig unter ihrer Obhut schliefen. Betete mit dem halbwilden braunen Mädel, das in dem Frieden des Klosters seine Zuflucht gefunden hatte, das Vaterunser von der ersten bis zur letzten Bitte.

[S. 45]

Und die Sophie sprach Wort für Wort nach, bis im gedämpften Flüsterton die letzten Bitten des heiligsten Gebetes der Christenheit von ihren jungen Lippen durch den nachtstillen Saal gingen. Neben dem ruhigen Atmen der schlafenden Kinder und gemeinsam mit der leisen, weichen Stimme der jungen Klosterschwester ... „Und vergib uns unsere Schuld, als auch wir vergeben unsern Schuldigern. Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Amen.“

Schlussvignette, Kapitel 2

[S. 46]

Drittes Kapitel.

S ophie Zöttl, das Karrnerkind, befand sich nun schon seit Monaten in dem Kloster zu Mariathal.

Den endlos langen Wintertagen folgten die ersten Stürme des Frühlings. Lauer Regen weckte die schlafenden Triebe in der Natur. Unter der dichten Schneedecke, die allmählich zu schmelzen begann und ihr schönes, blendendes Weiß in ein schmutziges Gelb verwandelte, stahl sich aus der feuchten braunen Erde schüchtern saftiges junges Grün hervor. Die ersten Schneeglöckchen hoben ihre zarten Kelche, und in den Zweigen der Bäume zwitscherten die Vögel ihr lustiges, sehnsuchtsvolles Lied durch die aus der Winterstarre erwachte Welt.

Es kamen herrliche, sonnenhelle Tage. Tage von berückender Schönheit, mit einem tiefblauen Himmel und fast sommerlicher Wärme. Langsam schüttelten die Bäume des Tales ihren Winterschmuck von Wipfeln und Ästen, so daß sie sich dunkel und ernst von ihren höher gelegenen und noch immer schneeumhüllten Kameraden abhoben. Heiter und weiß grüßte von jenseits des Tales die scharfe Kante der Gratlspitz herüber nach Mariathal.

Die Zöglinge des Klosters durften sich jetzt viel im Freien aufhalten. Aus den Mauern ihres stillen Heims wanderten sie hinaus und ergötzten sich durch fröhliche Spiele im Garten und auf weiten Spaziergängen über die Felder von Kramsach und dessen Umgebung.

In schlichten Reihen, immer zwei und zwei, gingen die Mädchen in ihren schwarzen, halblangen Institutskleidern und mit den häßlichen runden Hüten, deren weiße Bänder im Winde flatterten. Mit frohen Gesichtern und munter plaudernd.

Niemand hätte die kleine Sophie wiedererkannt, das ausgelassene, wilde Karrnerkind, wie es jetzt an der [S. 47] Seite der Klosterschwester einherschritt in reinlichen Kleidern, mit sauber gekämmten Haaren, das lustige braune Gesichtel in ernsthafte Falten gelegt und die muntern dunkeln Augen sorgsam zu Boden gesenkt.

Gerade diese gezwungene Haltung des Kopfes und dieses gewaltsame Eindämmen ihres sonst so lebhaften Mienenspiels waren die auffallendsten Veränderungen an dem Kinde. Aber darauf hatte die kleine Sophie jetzt stets zu achten auf Geheiß der Oberin. Sie durfte nicht mehr neugierig umher schauen, weil sie sonst auf sündhafte Gedanken und Begierden kommen konnte.

Noch mitten im Winter war’s, als sie mit den andern Kindern heimgekommen war von längeren Spazierwegen, frisch und rosig gefärbt von der scharfen Winterluft und mit lachenden, glücklichen Augen. Die Schwestern hatten ihre Freude daran, besonders die Schwester Salesia. Die konnte sich stets herzhaft freuen mit dem jungen Volk und konnte fast noch übermütiger lachen als die kleinen Mädeln selber.

Die alte Pförtnerin war daher der besondere Liebling der Mädchen. Wenn sie von ihren Ausgängen heimkehrten und die Schwester Salesia ihnen die Pforte des Klosters öffnete, dann umringten sie sie stürmisch, redeten auf sie ein und erzählten, was sie da draußen gesehen und erlebt hatten. Und alle auf einmal wollten sie reden, und jedes hatte es noch wichtiger als das andere. Beruhigend mußte da die Schwester auf die junge Schar einwirken und sie gar oftmals auch mit einem derben Wort zurechtweisen, wenn die Mädchen allzu ausgelassen wurden.

Es waren keine großen Erlebnisse, von denen die Kinder zu berichten wußten. Lauter liebe Kleinigkeiten, die der Jugend ungeheuer wichtig erschienen. Niemand im ganzen Kloster verstand es so prächtig, auf die Interessen der Kinder einzugehen, wie die alte, gute Schwester Salesia.

[S. 48]

Zwischen der Schwester und dem braunen Karrnermädel war es bald zu einer innigen Freundschaft gekommen. Die Schwester hatte gleich den richtigen Ton gefunden, und die kleine Sophie vertraute ihr bald alles an. Sie erzählte der Pförtnerin von ihrem früheren Leben. Von den Streichen, die sie und die kleine Brut ihrer Geschwister ausgeführt hatten. Und von den wüsten Streitszenen im Karrnerlager. Die Schwester Salesia hörte alles ruhig an. Eine neue Welt tat sich da vor ihren Augen auf. Eine Welt, die sie nicht kannte.

Schwester Salesia hatte erst spät den Schleier genommen. Sie hatte in ihrem langen Leben reiche Erfahrungen gesammelt. Viel Trübes war über dieses einsame Frauenherz gekommen. Aber sie hatte tapfer gekämpft, ganz still für sich. Niemand besaß eine Ahnung im Kloster, daß hier ein heißes Herz seinen Frieden gesucht und gefunden hatte. Und mit den Jahren wurde aus dem unruhigen, lebenshungrigen Mädchen die stets heitere und zufriedene Schwester Salesia.

Jene Welt der Karrner aber war der Schwester Salesia fremd geblieben. Das freie, ungebundene Leben dieser Menschen, das so ganz abseits von den gewohnten Sitten lag, und das sie jetzt aus den Schilderungen der kleinen Sophie kennen lernte, erschreckte sie. Sie war aber klug genug, nichts davon merken zu lassen; denn sie wußte, daß sie damit bei dem Kinde nur Unheil anrichten würde.

Das erkannte die Schwester Salesia mit ihrem gesunden Verstand klar und genau ... Das Kind hatte keine Ahnung davon, daß sein früheres Leben gegen Sitten und Moral verstieß. Die Sophie war es gewöhnt worden, dieses Leben als etwas Selbstverständliches zu betrachten und hinzunehmen.

Schwester Salesia hütete sich wohl, das Kind darauf aufmerksam zu machen. Sie wußte es, daß sie dadurch mit rauher Hand die kindliche Unbefangenheit des kleinen [S. 49] Mädels zerstört hätte. Aber sie mußte es auch verhüten, daß die andern Kinder im Kloster etwas von den freien Sitten des Karrnerlagers erfuhren. Sie bat daher das Mädchen fast schüchtern: „Gelt, Kind, das, was du mir sagst, erzählst aber nit weiter! Gelt, versprichst mir das?“

Anfangs hatte die Sophie verwundert auf die Schwester geschaut. „Warum denn nit, Schwester?“

„Weißt, die Kinder und auch die Schwestern, die verstehen nix von der Welt. Da darf man solche Sachen nit reden!“ sagte die Schwester Salesia leicht verlegen.

Trotz aller Vorsicht und Güte war Sophie nachdenklich geworden. Warum durfte sie nichts von ihrem vergangenen Leben erzählen? Sie wußten es ja alle im Kloster, daß sie ein Karrnerkind war. Sophie bemerkte es gar wohl, daß sie den andern Kindern deshalb sehr interessant erschien. Sie hatten sie anfangs oft mit Fragen bestürmt, und sie hatte diese Fragen nicht beantworten dürfen. Darin war die alte Schwester Salesia unerbittlich gewesen.

Die kleine Sophie grübelte immer mehr nach. Etwas wie Scham beschlich sie. Nur wußte sie selbst nicht, worüber sie sich schämte. Aber sie fing an, immer ernsthafter nachzudenken, und dann fragte sie wieder die Schwester Salesia: „Darf ich’s der Schwester Oberin auch nit erzählen?“ Zögernd und etwas kleinlaut kam es über die Lippen des Kindes. Und fast angstvoll schaute sie auf die alte Schwester.

„Wohl, der Schwester Oberin schon. Der muß man alles erzählen!“ belehrte sie die Pförtnerin. Dabei vermied sie es aber, in die großen, forschenden Kinderaugen zu schauen. Die Schwester Salesia wußte es nur zu gut, daß in dem ganzen Kloster vielleicht niemand so ungeeignet war, ein mildes Urteil über die Schattenseiten der Welt zu fällen, wie gerade die Schwester [S. 50] Oberin. Das durfte sie aber dem Kinde nicht merken lassen.

Die alte Schwester kannte die Sehnsucht, die in jedem Menschen lebt. Die Sehnsucht nach Vollkommenheit, nach Reinheit und Größe. Dieses Sehnen schlummert in der Seele eines jeden Menschen. Unbewußt in der Brust des Kindes. Bewußt und oft zu brennendem Verlangen entflammt in den Herzen der Erwachsenen. Und die alte Schwester war klug genug, diese Sehnsucht in den zarten Herzen der Kinder zu hegen und zu pflegen. Sie wußte, daß es das Schönste im Leben ist, sich das felsenfeste Vertrauen auf den edlen Kern im Menschen so lange als möglich zu erhalten. Das felsenfeste Vertrauen auf das göttliche Saatkorn, das in jeder Seele keimt, und, wo es nicht verkümmert, herrliche Blüten und Früchte tragen muß.

Das Leben hatte dem Karrnerkind übel mitgespielt. Sophie hatte bisher nur die niedrigste Seite des menschlichen Daseins kennen gelernt. Sie haßte alle Menschen und traute ihnen nur Schlechtes zu. Erst hier im Kloster war sie langsam zu einem andern Glauben gekommen.

Sophie lernte es wohl, ihre Erzieherinnen zu lieben, und trotzdem fehlte ihr noch jener Begriff hoher Achtung vor den Menschen, der die Grundsäule aller gesellschaftlichen Ordnung ist. So baute denn die alte Klosterschwester ihre geistliche Oberin in der kindlichen Phantasie des Karrnermädels allmählich zu einer Idealgestalt aus. Lehrte sie die Oberin achten und lieben als eines der vollkommensten Wesen, die je gelebt hatten.

Das Kind hatte eine heilige Scheu vor dieser Frau. Es fühlte sich stets unbehaglich in ihrer Nähe und hätte es wohl nie übers Herz gebracht, mit der Oberin über seine Vergangenheit zu sprechen. Das wußte die Schwester Salesia, und darauf rechnete sie.

[S. 51]

Sophie hatte noch nie eine Schule besucht. Ihre ganze Erziehung mußte von den allerersten Anfängen gründlich beginnen. Sie hatte keine Ahnung von einer geregelten Lebensweise und erregte in den ersten Wochen ihres Klosterlebens viel Heiterkeit unter ihren Mitschülerinnen. So befahl denn die Oberin, daß Sophie Zöttl hauptsächlich dem Schutz und dem Unterricht der Schwester Salesia anvertraut werde, bis sie fähig wäre, in eine regelrechte Schulklasse eingereiht zu werden.

Das war auch gut so für das Kind. Auf diese Weise bekam sie den Zwang des Klosterlebens nicht so stark zu fühlen, hatte mehr Freiheit als die andern und fühlte sich unter der milden Zucht der alten Schwester äußerst wohl und behaglich. Sie durfte der Pförtnerin bei den Arbeiten in der Sakristei helfen, durfte aus dem kleinen Treibhaus im Klostergarten Blumen holen für die Kirche und lernte die Blumen mit Liebe behandeln und pflegen.

So gewöhnten sich die Schwester und das Karrnerkind rasch und innig aneinander, und die alte Schwester Salesia kannte bald alle aus dem Karrnerlager. Kannte den weißblonden Tonl und die Benedikta. Sah den rohen Gaudenz, wie er die Peitsche unbarmherzig auf die halbnackten Körper seiner Kinder niedersausen ließ. Und sah auch Schips, den zottigen Köter, bellend und winselnd von einem zum andern laufen. Und dann wieder sah sie die Sophie, wie sie gleich einem kleinen, wilden Teufel um sich schlug, kratzte und biß. Und sie fühlte mit dem Kinde den ganzen ingrimmigen Haß gegen den Stiefvater. Sie wußte auch von des Kindes Schleichwegen, wenn es galt, etwas für das Karrnerlager zu stehlen.

Und für alles hatte die alte Schwester das milde Verstehen und Verzeihen einer gereiften Erkenntnis. Mit weiser, vorsichtiger Hand führte sie dieses wilde, junge [S. 52] Leben in geregelte Bahnen. Es war keine leichte Aufgabe für die Schwester Salesia und bedurfte äußerster Klugheit. Zu viel Strenge oder zu viel Nachsicht ... und alles konnte bei dem Kinde verdorben sein.

In wenigen Monaten hatte die Schwester wahre Wunder gewirkt. Sophie fühlte sich glücklich und war froh und heiter wie noch nie in ihrem Leben. Das Kind fühlte es: die alte asthmatische Schwester Salesia war ihr nicht nur Erzieherin und Lehrerin, sondern auch eine Mutter geworden. Und zum ersten Male in ihrem Leben hatte sie selbst ein warmes, echtes Gefühl der Zuneigung. Nein, nicht das erstemal. Denn den Tonl, das hellblonde Brüderl, das hatte sie doch innig lieb gehabt. Und nach dem Tonl sehnte sie sich auch manches Mal und erzählte es der Schwester, und die Schwester tröstete sie dann immer.

„Weißt, wenn der Gaudenz wieder nach Rattenberg kommt, dann schauen wir, daß wir den Tonl kriegen!“ stellte sie der Sophie in Aussicht.

Da lachte dann das braune Mädel über das ganze Gesichtel. Es war jetzt liebreizend anzusehen, dieses braune Zigeunergesichtel. Das Falsche, Verschlagene und Boshafte, das früher in diesen Zügen lag, war beinahe verschwunden. Die Wangen waren voller und dunkelrot geworden. Und auf jeder Seite zeigten sich beim Lachen zwei allerliebste kleine Grübchen. Die glattgescheitelten, pechschwarzen Haare, die das Kind jetzt in zwei Zöpfen um den Kopf geflochten trug, wollten sich der neuen Ordnung noch nicht recht fügen. Einige krause, widerspenstige Locken fielen trotz aller Pflege stets neuerdings eigensinnig auf die niedere, etwas zu breite Stirn des Kindes. Die lebhaften schwarzen Augen hatten noch immer den suchenden, wie auf Beute lauernden Blick und schauten unter den rassigen, etwas zu dicht gewachsenen Brauen und unter [S. 53] den langen schwarzen Wimpern fast ungewöhnlich groß aus.

„Ja, und dann, was fangen wir dann mit dem Tonl an? Dableiben kann er ja nit!“ gab das Kind zur Antwort, und sein Gesichtel war schon wieder ganz ernst geworden.

Die Schwester wußte Rat. „Den geben wir zum Herrn Pfarrer. Der Herr Pfarrer wird schon sorgen für ihn!“ beruhigte sie das Kind.

Damit war die Sophie sehr zufrieden. Zum Herrn Pfarrer hatte sie alles Vertrauen. Der hatte ja auch für sie gesorgt, daß sie ein ordentlicher Christenmensch geworden war.

Die Schwester Salesia hatte ihr alles erzählt. Sie hatte zwar nicht viel davon verstanden. Aber soviel wußte sie jetzt doch ... der hochwürdige Herr Pfarrer hatte es durchgesetzt, daß sie nun wie jedes Kind im Kloster ihre Dokumente besaß und daß sie auch einen Vormund hatte. Und das war der lange Schmied von Rattenberg. Und der Gaudenz Keil hatte von jetzt ab kein Recht und keine Gewalt mehr über sie, sondern nur der lange Schmied. Das gönnte sie dem Gaudenz vom ganzen Herzen.

Als es ihr die Schwester erzählte, war sie so froh darüber, daß sie mitten in der Sakristei herumhüpfte und auch die Schwester mit sich fortriß. Beinahe wäre die Schwester Salesia deswegen ernstlich bös geworden. Aber nur beinahe. Denn ernstlich, wirklich ernstlich böse werden, das konnte die Schwester nicht. Und mit der Sophie schon erst recht nicht. —

Die Oberin hatte dem schönen Freundschaftsbund zwischen der alten Schwester und dem Karrnerkind ein jähes Ende bereitet. Mit fester, rauher Hand war sie dazwischen gefahren und hatte den zarten Trieb des Guten in dem jungen Herzen des Kindes vernichtet.

[S. 54]

Ganz erschrocken und verstört hatte das Kind damals auf die Oberin geschaut, und blutrot war sie geworden vor Scham. Gerade das, was die alte Schwester ängstlich bestrebt gewesen war zu verhüten, war nun geschehen. Zum ersten Male hatte Sophie ihre Abstammung als eine Schmach empfunden. Mit einem Male fühlte sie es deutlich, daß trotz aller christlichen Nächstenliebe, von der sie immer hörte, eine große und tiefe Kluft bestand zwischen ihr und den andern im Kloster.

Vor allen Kindern, öffentlich hatte sie die Oberin ein diebisches Zigeunermädel geheißen, das seinen Stand nicht verleugnen konnte und das nicht wert war, daß man sie unter die Schar der guten, wohlgesitteten Kinder aufnahm.

Und Sophie sah es deutlich, wie die Kinder alle von ihr abrückten. Sie fühlte es in jenem Augenblick ... da war kein Unterschied zwischen diesen frommen Menschen im Kloster und jenen Menschen, die dem Karrnerkind fluchend und schimpfend die Tür vor der Nase zugeschlagen hatten. Kein Unterschied zwischen jenen Menschen, die sie mieden, haßten und brandmarkten, als ob sie von ekler Krankheit befallen sei.

Warum haßten die Menschen das Karrnerkind? Sophie hatte nie darüber nachgedacht ... und wenn auch, sie hätte die Erklärung dafür doch nicht gefunden. Es war ihr auch im Kloster nie eingefallen, die Schwester Salesia darum zu befragen. Die Güte und Liebe ringsum verwischten die kränkenden Spuren von ehedem.

In jenem Augenblick der öffentlichen Demütigung aber überkam das Mädel wieder der alte, wilde Haß. Mit dunklen, haßerfüllten Augen sah das Kind auf die Oberin, die sie bis dahin wie eine Heilige verehrt hatte.

Warum demütigte sie diese Frau vor allen Kindern? Warum warf sie ihr ihre Abstammung vor als eine Schmach? Was hatte sie getan? Warum war es eine [S. 55] Schande, ein Karrnerkind zu sein? ... Die weichen Züge des Kindes verzerrten sich, und ihr frisches Gesicht wurde aschfahl vor innerer Wut, so daß sie für einen Augenblick ganz alt und häßlich aussah.

Das wilde Blut des Mädels tobte. Die kleinen Fäustchen ballten sich, und ihre Schultern spannten sich straff nach vorne. Genau so war es damals, wenn Gaudenz Keil in viehischer Bosheit das Kind reizte, bis sie ihn wie eine toll gewordene Katze anfiel. Auch diesmal hatte das Kind die Haltung, als wollte sie sich auf die Oberin stürzen.

Was hatte sie getan, daß man sie haßte und demütigte? Gar nichts hatte sie getan. Rein gar nichts. Nur erzählt hatte sie’s der Schwester Salesia, und alle Kinder waren dabei gestanden und hatten es mit angehört. Und waren dann in ein unbändiges Gelächter ausgebrochen, so daß alle Versuche der alten Schwester, das übermütige junge Volk zu beschwichtigen, vergebens waren und der ungewöhnliche große Lärm die Oberin herbeilockte.

Im Nu war alles still. Hoch und gebietend sah die Oberin im Kreise herum, und selbst die alte Schwester hatte unter den strafenden Blicken dieser Frau einen ganz roten Kopf bekommen. Scheu wichen die Kinder zur Seite und grüßten ehrfurchtsvoll.

Die Oberin schaute forschend auf die Mädchen. Mit kaltem, hartem Blick. „Wer ist die Schuldige?“ frug sie dann laut.

Niemand rührte sich. Keins von den Mädchen getraute sich, Antwort zu geben.

„Wer war die Ursache dieses Lärmes?“ frug die Oberin abermals mit harter Stimme.

Die Mädchen sahen scheu und verstohlen auf Sophie, aber keine nannte ihren Namen.

„Sophie, warst du’s?“ frug die Oberin etwas milder.

[S. 56]

Das kleine Mädchen kam knicksend näher und stellte sich vor die Oberin hin. Mit schalkhaftem Lächeln sah sie zu der hohen, schlanken Frau auf.

„I bitt’, Schwester Oberin, ich war’s!“ sagte sie.

Es lag etwas Stolzes, Selbstbewußtes in dem Ton des Kindes. Die befriedigte Eitelkeit der ehemaligen kleinen Komödiantin, die ihrem Publikum gefallen hatte.

Die Schwester Salesia schaute ängstlich auf die Oberin. Sie wußte, daß diese Frau die Art des Kindes nicht verstand und sein Benehmen mißdeuten werde. Und sie wußte auch, daß ein unbesonnenes Wort des Tadels bei dem wilden, ungebärdigen Sinn des Kindes großen Schaden anrichten konnte.

„Was hast du getan, Sophie?“ frug die Oberin streng, aber ohne Härte.

„Ich?“ Das Mädel sah mit selbstgefälligem Lächeln auf ihre Mitschülerinnen. „Nichts hab’ ich getan, rein gar nichts!“

„Lüg’ nicht!“ gebot die Oberin streng. „Gib ehrlich Antwort, wenn man dich fragt!“

Da mischte sich die alte Schwester ein. „Sie hat halt dumm’s Zeug erzählt, Schwester Oberin. Sonst nix, nur a bissel dumm’s Zeug. Und die andern, die Gäns’, die haben g’lacht.“

Die „Gäns’“ fingen bei der Erinnerung an das dumme Zeug schon wieder zu kichern an. Mißtrauisch sah die Oberin auf die Schwester Salesia. Sie hatte es schon längst mit Unbehagen bemerkt, daß die Schwester das Karrnerkind auffallend bevorzugte, und sie sah es deutlich an dem verlegenen Gesicht der Schwester, daß sie ihr etwas zu verheimlichen suchte.

„Was hast du gesagt, Sophie?“ frug die Oberin streng und sah mit festem Blick auf das Mädel.

„Nit sagen!“ flüsterte ein größeres Mädchen, das in ihrer Nähe stand, ganz leise. „Nit sagen!“

[S. 57]

Das feine Ohr der Oberin hörte die Warnung doch.

„Was sollst du nicht sagen, Sophie?“ frug sie mit kalter, lauter Stimme. „Rede!“

Sophie war jetzt tatsächlich verwirrt geworden. Sie sah das hilflose, bestürzte Gesicht der alten Klosterschwester, und sie hörte den heimlich warnenden Zuruf des Mädchens.

„Ich ... ich hab’ einen Hund g’sehen ...“ sagte sie jetzt leise und zögernd.

„Ja ... und ...?“ frug die Oberin, ohne ein Auge von der kleinen Sünderin zu lassen. „Und?“

„Nix!“ sagte Sophie über eine Weile.

„Sag’ die Wahrheit, Sophie Zöttl!“ gebot die Oberin.

Sophie sah sich hilflos um. Dort neben der Oberin stand ihre alte Freundin und hielt die Augen zu Boden gesenkt. Sie gab ihr kein Zeichen, was sie tun sollte. Und alle Kinder standen schweigend im Halbkreis um sie und sahen verlegen und etwas ängstlich drein.

„Sag’ die Wahrheit!“ gebot die Oberin.

„Ich hab’ zwei Hund’ g’sehen ...“ erzählte jetzt das Kind mit lauter Stimme. „Einen braunen, ein Dackel war’s, und einen großen zottigen. Den Dackel, den kenn’ ich schon lang, und den hätt’ ich gern mitg’nommen, wenn ich dürft hätt’. Aber die Schwester hat’s verboten.“ Dabei zeigte das Mädchen mit dem Finger auf die junge Klosterschwester, welche die Kinder bei den Spaziergängen beaufsichtigte. Die junge Schwester hatte sich schon die ganze Zeit her versteckt in eine Ecke gedrückt.

„Ist das alles, Sophie Zöttl?“ frug die Oberin streng.

„Nein, nit alles. Deswegen haben’s nit g’lacht, die Kinder.“ Das Mädchen wurde nun schon wieder selbstbewußter. Die Verlegenheit war geschwunden. Sie hatte eigentlich jetzt keine Angst mehr vor der Oberin. Die war ja gut, das wußte sie. Und die Oberin konnte es gewiß auch begreifen, daß man einen netten, kleinen, lustigen Hund zu stehlen wünschte. Und jetzt konnte sie [S. 58] ihr auch das übrige erzählen. Dann würde sie die Oberin auch so zum Lachen bringen, wie die Mädchen. Und die Sophie erzählte es ganz genau, was sie den andern gesagt hatte. Erzählte, wie sie die beiden Tiere bei ihrem Spiel beobachtete. Und sie habe es nur bedauert, daß kein Weibchen dabei war. Sonst würde es kleine junge Hunderln abgeben.

Für einen Augenblick war die Oberin sprachlos. Sie war so empört über die Verderbtheit des Kindes, daß sie keine Worte finden konnte. Nur mühsam konnte sie ihre Aufregung niederkämpfen.

Dann aber brach das Unwetter los. Im hohen Zorn hieß sie das Kind ein diebisches Zigeunermädel, das nicht wert sei, mit den andern gesitteten Kindern zusammen zu leben. Wie Peitschenhiebe mitten ins Gesicht trafen die harten Worte das Kind.

Die Oberin sah die Veränderung, die mit dem Kinde vorging. Auch die drohende Haltung und die haßverzerrten Mienen entgingen ihr nicht. Sie war wieder eine kluge Frau und auch bestrebt, gerecht zu sein. Sie sah, daß sie mit ihren Worten das Kind tiefer getroffen hatte, als sie beabsichtigte. Aber sie empfand die Äußerungen des kleinen Mädels als etwas so unerhört Schamloses, daß sie es für ihre heilige Pflicht hielt, dieses verderbte Kind von den andern fern zu halten. —

Für die kleine Sophie fingen nun harte Zeiten an. Die Oberin nahm die Erziehung des wilden Karrnerkindes selbst in die Hand und verdarb mit ihrer Strenge alles, was die alte Schwester Salesia durch Güte und milde Nachsicht aufgebaut hatte ...

Eine Zeitlang ging Sophie im Kloster umher mit geducktem Köpfchen und unglückselig wie ein verprügeltes armes Tier. Und doch waren es nur Worte, die diese Änderung hervorbrachten. Das Kind hatte keine Strafe und keine Züchtigung im Kloster erfahren. Aber mit [S. 59] eiserner Konsequenz bestand die Oberin darauf, daß ihre Befehle genau durchgeführt wurden. Mit Worten und nur mit Worten allein erreichte sie es, daß das Kind sich vorkam wie ein junger, armseliger Kettenhund, der schwer und keuchend an seiner Fessel zerrte.

Je mehr die Tage dem Frühjahr entgegen gingen, desto drückender empfand die Sophie das Leben im Kloster. Und als einmal die Ennemoserin kam, um Nachschau zu halten, da fing das kleine Mädel laut zu weinen an und bat, die Frau möchte sie doch mitnehmen. Hinaus aus dem Kloster, in die Freiheit. Es brauchte viel gutes Zureden, um das Kind zu beschwichtigen.

Am gleichen Abend jedoch hatte die Schwester Salesia noch eine Unterredung mit der Oberin.

Diese beiden Frauen waren sich nie nahe gekommen trotz der engen Gemeinsamkeit, in der sie lebten. Sie waren zu grundverschieden voneinander. Ernste Reibungen hatten aber auch nie stattgefunden.

Nur selten kam die Schwester Salesia jetzt mit ihrem Liebling zusammen. Denn Sophie war ihr Liebling geworden. Da machte sie kein Hehl daraus. Wenn sie das Kind jetzt sah, so bemerkte sie deutlich die Wandlung, die mit dem Mädchen vorgegangen war. Sie sah, wie das Mädel den kleinen Kopf senkte und die lebhaften Augen in einem unnatürlichen Zwang zu Boden schlug. Und in dem guten alten Herzen der Schwester regte sich der Zorn. Sie mußte öfters an sich halten, sonst hätte sie der Oberin ernstliche Vorwürfe gemacht.

An jenem Abend nach dem Besuch der Ennemoserin konnte die Schwester sich nicht mehr überwinden. Vor dem Schlafengehen war’s, als die frommen Frauen gerade von der Abendandacht aus der Kirche kamen. Die Schwester Salesia war als Sakristanin die letzte in der Kirche und hatte diese abzuschließen.

Das tat sie jeden Abend. Mit einer behaglichen Ruhe [S. 60] schlürfte sie durch den weiten Kirchengang, füllte das Öl ein in die rote Ampel vor dem Hochaltar und überdeckte den Altar noch vorsichtig mit einer schön gestickten, prunkvollen Decke. Das tat sie alles mit viel Umständlichkeit und Ruhe und schöpfte dabei mehr und tiefer Atem, als es trotz ihres asthmatischen Zustandes notwendig gewesen wäre.

Heute aber verrichtete die Schwester ihre kleine Pflicht mit einer Art nervöser Hast. Vorne im Chorstuhl bei dem Hochaltar kniete die Oberin und betete. Es war schon ganz dunkel in dem hohen Raum. Und nur der matte rote Schimmer des ewigen Lichtes ließ die Gegenstände in nächster Nähe undeutlich erkennen. Die weißen Hauben der beiden Frauen sahen wie riesige, gespenstige, weiße Fliegen aus. Die schlürfenden Schritte der alten Schwester hallten wider in der heiligen Stille des Gotteshauses.

Hin und her wanderte die Schwester und rasselte dann umständlich mit dem Schlüsselbund. Das harte, knarrende Geräusch der Schlüssel störte mißtönig die Stille und machte die Oberin aufschauen aus ihrer Andacht. Langsam erhob sie sich, schritt vor die Stufen des Hochaltars und kniete dort nochmals zu kurzem Gebet nieder.

Die Glocke der Turmuhr schlug die neunte Stunde. So schnell sie konnte, durcheilte die Schwester Salesia den Kirchenraum und wartete in der Nähe des Altars am Eingang zur Sakristei auf die Oberin.

In der Sakristei trafen die beiden Frauen zusammen. Mit kurzem Gruß, wie sie das stets zu tun pflegte, wollte die Oberin an der Schwester vorbeigehen. Aber Schwester Salesia griff nach ihrer Hand und bat mit leiser Stimme: „Auf an Augenblick, Schwester Oberin. Ich hab’ mit Ihnen z’reden!“

Sie waren aus der Sakristei in den gedeckten Klostergang getreten, der das alte Frauenkloster zu Mariathal [S. 61] mit der Kirche verbindet. Die Schwester Salesia verschloß nun auch die von der Sakristei nach dem Gang führende Tür, nachdem sie früher die Pforte von der Kirche zur Sakristei sorgfältig versperrt hatte.

Langsam schritten die beiden Frauen durch den dunklen Gang. Die alte Schwester hatte eine kleine Laterne angezündet, deren matter Schein nur spärlich in das tiefe Dunkel des engen, langen Ganges leuchtete. Die Holzdielen krachten unheimlich unter den sonst fast lautlosen Tritten der Frauen.

„Schwester Oberin ...“ begann die alte Schwester mit flüsternder Stimme ... „tuan’s mir’s nit verübeln, daß i no mit Ihnen reden möcht’.“

Die strengen Regeln des Klosters forderten es, daß nach der Abendandacht nichts mehr gesprochen wurde. Nur im Falle dringender Notwendigkeit war das Sprechen im leisen Flüstertone erlaubt.

Die Oberin hielt unnachsichtig an dieser Regel fest. Mit einem verwunderten, etwas unwilligen Blick sah sie auf die Schwester.

„Ich muß heut’ no mit Ihnen reden!“ fuhr die Schwester Salesia fort. „Es laßt mir koa Ruah nit. Ich hab’s schon immer tun wollen, aber ich hab’ mir no nie recht getraut.“

Nun schaute die Oberin ehrlich erstaunt auf die Schwester.

„Es ist wegen der Sophie ...“ sagte die Schwester Salesia mit Nachdruck. „Das Mädel ist ganz verändert. Es ist nit recht, wie Sie sie einzwängen tun!“

„Ich die Sophie einzwängen?“ frug die Oberin verwundert.

„Ja ... einzwängen tun Sie’s!“ behauptete die alte Schwester in unwilligem Tone. „Sie meinen’s nit so. Ich weiß es. Aber Sie verstehen die Kinder nit! Haben’s nit g’sehen heut’, wie sie g’weint hat? So ein Kind, das [S. 62] an Freiheit g’wöhnt ist, das darf man nit mit Gewalt zurückhalten. Das ist wie ein junges freies Waldtierl, wie ein Vogerl, das no nit im Käfig war. Sie müssen ihr z’erst beibringen, daß ihr der Käfig g’fallt . Sonst ist’s g’fehlt!“

Ohne sie mit einer Silbe zu unterbrechen, hörte die Oberin die Schwester an. Dann sagte sie mit beinahe schüchterner Stimme: „Glauben Sie, daß die Sophie tatsächlich so unglücklich ist, wie sie sich heute gebärdet hat? Die Kinder haben Launen, ich kenne das. Man darf da nicht nachgeben!“ meinte sie überlegend.

Schwester Salesia stellte die kleine Laterne, die sie noch immer in der Hand trug, auf den Fußboden, richtete sich leise ächzend, wie es ihre Art war, wieder empor und stemmte eine Hand in die unförmliche, dicke Hüfte. Dann sagte sie mit etwas lauterer Stimme als bisher: „Schauen’s die Sophie an, Schwester Oberin ... wie die eingangen ist. Für der ihre Art ist Strenge nix. Da richten Sie nix aus damit. Das können’s mir glauben!“

Die Oberin sah nachdenklich vor sich hin.

„Sie ist ein verstocktes Kind!“ meinte sie dann sinnend. „Man wird nit klug aus ihr. Ich glaub’, sie ist verschlagen und sittenlos!“

„Naa! Schwester Oberin, das ist sie nit!“ sagte die Schwester Salesia in so lautem, überzeugtem Ton, daß die Oberin ängstlich abwehrte ...: „Pst! Silentium!“

„Ja! Weil’s wahr ist!“ knurrte Schwester Salesia mit leiser Stimme. „Sie kennen das Mädel nit und kennen die Welt nit. Aber ich kenn’ sie, und Sie dürfen mir’s glauben, das Karrnerkind, das das Leben von der schlechtesten Seite g’sehen hat, ist trotzdem so rein und unschuldig geblieben wie Ihnere wohlbehüteten und verhätschelten Poppelen da herinnen, die glei’ versagen, wenn sie ihre Nasen in die Welt außi stecken. Weil das keine rechte [S. 63] Art ist, wie Sie die Mädeln erziehen. Weil Sie ihnen alles verheimlichen tun und ihnen nur vom Satan und vom ...“

„Schwester Salesia!“ unterbrach sie die Oberin strenge. „Es ziemt Ihnen nicht, mich zu unterweisen!“ Mit einem kalten, strafenden Blick sah sie auf die Schwester, die ganz klein und noch kugeliger zu werden schien.

Die alte Schwester schaute unsicher zu der hohen, schlanken Frauengestalt empor. „Sie haben recht!“ stimmte sie dann bei. „Es nutzt doch nix. Sie und ich, Schwester Oberin, wir zwei werden uns doch nit verstehen.“

„Ist auch gar nicht notwendig, Schwester!“ gab die Oberin mit kaltem Tone zur Antwort. Und kurz grüßend ging sie mit fast lautlosen Schritten durch den dunkeln Klostergang. — — —

Ein Gutes hatte diese nächtliche Unterredung trotzdem gebracht. Die Oberin überließ von jetzt ab die Sophie Zöttl wieder dem ganz besonderen Schutz der Schwester Salesia. Das Kind durfte wie vordem der Schwester bei der Arbeit helfen. Sie durfte viel im Garten sein und dort die Blumen und schmalen Gemüsebeete pflegen.

Und doch war Sophie eine andere geworden. Sie freute sich über die neugewonnene Freiheit, aber sie sehnte sich mit der ganzen Kraft ihres jungen Herzens hinaus aus dem Kloster. Hinaus in die ungebundene, unbeschränkte, vollkommene Freiheit.

Schwester Salesia sah diese Veränderung, die mit dem Kinde vorging, mit geheimer Angst. Und sie war doppelt lieb und gut zu dem Kinde.

„Schwester, warum darf i nit aus dem Garten gehen?“ fragte Sophie einmal, als sie beide zwischen den Beeten knieten und Unkraut jäteten. „Da drüben hinter der Friedhofmauer, da ist der Buchenwald so dicht. Ganz [S. 64] dunkel ist’s, weil die Blätter alle so goldig sind. Und so still ist’s da. Stiller wie in der Kirch’n drinnen. I möcht’ spielen in dem Wald!“

Mit sehnsüchtigen Augen schaute das kleine Mädel hinüber, wo der herrliche Buchenwald sich aufbaute, der hinter der Kirche von Mariathal sich noch viele Stunden den Berg hinan und taleinwärts erstreckt.

Das Mädchen erhob sich, dehnte und reckte ihre Glieder wie eine geschmeidige junge Katze und breitete die dünnen braunen Arme aus. Dann stellte sie sich auf die Fußspitzen und hob neugierig den schlanken Hals, als wollte sie so viel wie möglich von den verborgenen Schönheiten da draußen entdecken.

„Was möchtest denn spielen im Wald da?“ frug die Schwester sie über eine Weile.

„I?“ Das Mädel dachte nach. „I ... auf die Bäum’ tät’ i kraxeln und schauen, daß i ein Eichkatzel erwischen tät’. Oder i tät’ einmal probieren, ob i noch was kann von meiner Kunst, und tät’ a Vorstellung geben!“

„A Vorstellung den Eichkatzeln und den Vogerln im Wald, ha?“ frug die Schwester mit gutmütigem Spott. „Die werden aber viel verstehen vom Seiltanzen!“

„Ja, den Vogerln und den Eichkatzeln!“ sagte die Sophie trotzig. „Ihr da im Kloster wollt’s ja doch nix wissen von meiner Kunst!“ machte sie dann verächtlich. „Und ihr versteht auch nix davon!“

„Aber doch mehr als wie die Vogerln, ha?“ frug die Schwester.

Sophie hob die Schultern und machte ein ganz verstocktes, eigensinniges Gesichtel. Das tat sie jetzt häufig, wenn sie keine Antwort geben wollte.

Aber die Schwester sah es doch, daß sich das Kind unglücklich fühlte. Schwerfällig erhob sie sich von dem Gartenbeet, wo sie gerade Unkraut gejätet hatte, und ging zu dem Mädel hin.

[S. 65]

„Hast recht Sehnsucht, Sophie? Möchtest fort von da?“ frug sie leise und mit zarter Stimme und fuhr mit leichter, liebkosender Hand über die dunkeln Haare des Kindes.

Sophie fühlte es, daß die alte Schwester die einzige sein würde im Kloster, die um sie trauern würde, wenn sie fortging. Aus ganzem Herzen sehnte sie sich fort aus der Enge des Klosters. Mit jedem Tag noch mehr. Aber sie fühlte es instinktiv, daß dieses Geständnis der Schwester Salesia wehe tun müßte. Und kränken wollte sie ihre alte Freundin nicht.

Sophie legte ihre beiden Arme um den Hals der Schwester Salesia und küßte sie stürmisch. Dann drehte sie sich mit ihr wie ein Wirbel im Kreise herum.

„Aber Schwester, Schwesterle, was glauben’s denn! Ich will nit fort. Von Ihnen schon gar nit! Nur da drüben ...“

„Ja ... ja ... so laß mi doch aus! Du Ungut du! Du sollst ja spielen da drüben! So gib doch a Ruh!“ keuchte die Schwester ganz außer Atem und krebsrot im Gesicht „I will schon reden mit der Oberin, ob sie’s erlaubt.“ —

Die Oberin gab ihre Einwilligung, und Sophie machte von der willkommenen Freiheit den ausgiebigsten Gebrauch. Stundenlang trieb sie sich in den Wäldern herum und kam bald nur mehr ins Kloster, wenn sie der Hunger dazu nötigte.

Je länger die Tage wurden und je kürzer und schwüler die Nächte, desto mehr trieb es das Kind hinaus in den Wald. Sie vergaß Zeit und Ordnung und überwand oftmals den nagenden Hunger oder nährte sich von den Beeren des Waldes.

Einmal, da hatte sich die Sophie weit hinaus ins Inntal gewagt. Sie war durch den Buchenwald gewandert mit flüchtigen Schritten, an dem Berg hinan und hinüber zu den drei Seen, die auf hügeligem Vorland eingebettet [S. 66] lagen, umgeben von Wäldern und anstrebenden Felswänden.

Wie ein verzaubertes Land, so herrlich schön kam dem Kinde diese Gegend vor. Es war ihr, als ginge sie gleich einem jener Märchenkinder, von denen die Schwester Salesia so schön zu erzählen wußte, in einem Paradiesgarten spazieren.

Still und ruhig lag das tiefe, grüne Wasser des klaren Bergsees. Es war ein herrlicher, klarer Hochsommertag. Schwül und heiß brütete die Sonne. Weit breitete sich das Inntal vor den Augen des Kindes, das wie im Traume wandelnd immer höher und höher stieg, bis die Nacht sich senkte.

Da suchte sich das Karrnerkind furchtlos und ohne Zagen sein Lager im weichen Moos unter einer Kiefer und schlief süß und traumlos, bis die ersten goldenen Morgenstrahlen sie weckten. Sie fühlte sich so frank und frei, so glückselig hier in Gottes weiter Welt. Und es kam ihr vor, als hätte sie noch nie im Leben einen so erquickenden Schlaf gehabt.

Vergessen war das Kloster in Mariathal mit seinen Regeln und Vorschriften und vergessen die Oberin mit dem ernsten, strengen Gesicht. Auch an die alte Schwester Salesia dachte Sophie jetzt kaum. Sie fühlte nur den einen großen Trieb in sich ... frei zu sein und zu wandern, so lange sie wollte und wohin sie wollte.

Erst nach einigen Tagen kehrte Sophie ins Kloster zurück. Sie tat es ungern, und es war lediglich eine Art Pflichtgefühl gegen die Schwester Salesia, das sie nochmals die Mauern des Klosters betreten hieß.

Innerlich beneidete sie jetzt die freien Kinder der Karrner. Wie schön hatten es die doch. Ihr altes Karrnerheim, die Mutter, die wilde Horde der Geschwister und Schips, der Hund, ja sogar der Gaudenz Keil, alle diese vertrauten Gestalten, die ihrem Gedächtnis allmählich [S. 67] entschwunden waren, tauchten nun wieder in ihrer Erinnerung frisch und lebensvoll auf. Sie beneidete ihre Geschwister ihrer Freiheit wegen.

Hätte es der Zufall gefügt, daß ihr in dieser Stimmung der Gaudenz Keil gerade begegnet wäre, die Sophie hätte sich ihm mit tausend Freuden wieder angeschlossen. In dem großen Drange nach Ungebundenheit vergaß sie alle Leiden ihrer Kindheit, oder sie erschienen ihr unbedeutend und nichtig.

Es brauchte viel gutes Zureden von seiten der Schwester Salesia, daß sich die Oberin noch einmal entschloß, die kleine Ausreißerin in Gnaden aufzunehmen. Aber von jener Stunde an übernahm sie wieder selbst mit fester Hand die Erziehung des Kindes. Sie fand, daß Güte und Nachsicht nicht geeignet seien, den wilden Sinn des Karrnermädels zu zähmen.

Und nun bekam Sophie die ganze Strenge und den eisernen Willen dieser Frau zu fühlen. Sie lernte es, sich zu fügen und sich zu beugen. Sie lernte, einem einzigen Blick aus den Augen dieser Frau zu gehorchen. Und sie lernte es, sich dankbar zu erweisen für ein Leben, das sie innerlich von Tag zu Tag mehr und mehr verabscheute. — — —

Abermals zog der Winter ins Land. Und die gleichförmigen Wintertage im Kloster wollten für Sophie kein Ende nehmen. Ein Tag schlich dahin wie der andere. Ereignislos, ohne Freude und ohne Glück. Und manchmal hatte Sophie das Gefühl, als müsse sie wie ein junges Raubtier an den eisernen Stäben ihres Käfigs rütteln.

Sophie Zöttl war ein hoch aufgeschossenes Mädel geworden, mit linkischen Bewegungen und eckigen Schultern. Ihr braunes Gesichtel hatte einen verschlossenen Ausdruck. Und die Augen bekamen jetzt immer mehr den heimtückischen, lauernden Blick der kleinen Karrnerin von ehedem. [S. 68] Sophie Zöttl haßte nun alles im Kloster. Sie haßte die Unterrichtsstunden und die Tageseinteilung. Sie haßte die Gegenstände und die Räume des Klosters. Und sie haßte die Menschen da drinnen und sogar die Schwester Salesia. Diese und die Ennemoserin machte sie dafür verantwortlich, daß sie noch immer im Kloster bleiben mußte. Und sie wollte nicht mehr bleiben. Um keinen Preis.

Alles Bitten half nichts. Die Ennemoserin und die Schwester Salesia waren sich darüber einig, daß der Charakter des jungen Mädchens erst im Kloster gefestigt werden mußte, bevor man sie den Gefahren der großen Welt aussetzen konnte.

Als Sophie sah, daß alles Bitten und Flehen vergebens war, wurde sie immer heimtückischer und verschlagener. Sie sann auf Mittel und Wege, alle im Kloster zu ärgern, wo sie nur konnte. Sie log und naschte und war widerspenstig bei jedem Gebot, wenn es nicht unmittelbar von der Oberin kam. Denn vor dieser hatte sie noch immer eine Art Respekt. Eine Scheu, ähnlich derjenigen, die sie früher vor der rohen Kraft des Gaudenz Keil besaß.

So wurde Sophie immer mehr zum Sorgenkind des Klosters. Es war, als ob alle edlen Instinkte, welche die alte Schwester durch ihre Herzensgüte wachgerufen hatte, mit einem Male vernichtet worden wären.

Je eigensinniger die Sophie wurde, desto härter und strenger wurde die Oberin. Sie wollte und konnte es nicht glauben, daß ihre Erziehung nur schlechte Früchte trug. Sie griff zu harten Strafen und erreichte damit, daß der Haß in dem Herzen des Kindes immer mächtiger aufloderte.

Mit der Zeit artete das Verhältnis zwischen der Oberin und dem Karrnermädel zu einem deutlichen stummen Kampfe aus. Sophie war bestrebt, alle Schlechtigkeiten [S. 69] zu begehen, die sie nur ersinnen konnte. Und das nur zu dem einen Zweck, die Oberin zu ärgern. Sie zerstörte sogar die Treibhausblumen für die Kirche und dachte gar nicht daran, daß sie dadurch die Schwester Salesia am meisten kränkte. Denn die Blumen waren ja die Pflegekinder und auserkornen Lieblinge der alten Schwester.

Im Frühjahr war’s, da fing die Sophie heimlich draußen im Garten eine Blindschleiche, tötete sie und legte das kalte Reptil der jungen Klosterschwester, welche die Aufsicht im Schlafsaal hatte, ins Bett. Es war dieselbe Schwester, die das Karrnermädel damals an ihrem ersten Abend im Kloster beten gelehrt hatte. Und Sophie hatte ihr auch stets eine Zuneigung bewahrt. Sie überlegte nicht, daß ihr toller Streich der Schwester Schaden bringen konnte, sondern malte sich in ihrer boshaften Rachsucht nur den Eindruck aus, den die Sache auf die Oberin machen würde.

Der Eindruck war übel genug, denn die junge Schwester trug einen solchen Schrecken davon, daß sie einige Tage hindurch krank in heftigem Fieber lag. Öffentlich wurde Sophie von der Oberin als die Schuldige gebrandmarkt. Mit kleinen, boshaft schielenden Augen, aus denen nur Haß und Abneigung sprachen, schaute das Mädel auf die hochgewachsene, schlanke Frau.

„Und du wirst doch niedergezwungen werden, Sophie Zöttl!“ sprach die Oberin mit fester Stimme. „Und wirst gehorchen und dich beugen, wie wir es alle tun!“ Es lag ein unerschütterlicher Wille in diesen Worten. Sie fühlte es selber, daß es ein langer und schwerer Kampf zwischen ihr und dem Mädel werden würde.

Die Oberin sollte diesen Kampf dann schließlich doch verlieren. Aus freien Stücken gab sie ihn auf. Das geschah, als Sophie durch ihre Streiche das Maß ihrer Sünden voll gemacht hatte.

[S. 70]

In einem Anfall von beinahe teuflischer Bosheit schlich Sophie Zöttl in den Schlafsaal, wo das große Madonnenbild hing. Dort rückte sie sich einen Stuhl zurecht, holte einen Bleistift und zeichnete in das zarte, verklärte Antlitz der Gottesmutter einen großmächtigen Schnurrbart.

Als abends die Kinder den Saal betraten, sahen sie das entstellte Bild. Keines der Mädchen verzog eine Miene. Stumm und starr vor Entsetzen umstanden sie das entweihte Heiligtum.

Die junge Klosterschwester nahm Sophie wortlos bei der Hand und führte sie zur Oberin. Ohne zu fragen, wußten es alle im Saal, daß nur Sophie die Täterin gewesen sein konnte.

In dieser Nacht mußte Sophie ganz allein in einer Zelle schlafen. Sie schlief schlecht, und trotzdem träumte sie einen kurzen, schönen Traum von Freiheit und Glück.

Tags darauf ließ die Oberin die Ennemoserin zu sich rufen, und wortlos, ohne Abschied übergab sie das Karrnermädel der Frau.

Mit gesenktem Kopf und doch innerlich jubelnd folgte Sophie Zöttl der Ennemoserin in ihr kleines Heim nach Rattenberg.

Schlussvignette, Kapitel 3

[S. 71]

Viertes Kapitel.

D er Ennemoserin war es anfangs schwer gefallen, ihr einsames Häusel mit dem fremden Mädel zu teilen. Der lange Schmied, welcher der Vormund der Sophie war, hatte der Frau geraten, das Mädel zu einem Bauern als Magd zu verdingen.

„Wirst di lang plagen, Ennemoserin!“ sagte er. „Tua sie zu an Bauern, und guat ist’s. Hat sie ihr Essen und ihr G’wand, und du hast dei’ Ruah! Hättest dir’s nit sollen aufladen die Plag’.“

Davon aber wollte die Ennemoserin nichts wissen. Hatte sie A gesagt, so wollte sie B auch sagen. Dieses wilde Karrnermädel jetzt allein auf eigene Füße zu stellen, das wäre ihr als ein Verbrechen an dem Kinde erschienen ...

Es war schon geraume Zeit her, seit das Häusel draußen am Stadteingang junges, frohes Leben gesehen hatte. Fast zu lebhaft war es damals zugegangen in dem baufälligen Bauernhäuschen, das teilweise in den steil emporragenden Felsen des Rattenberger Schloßberges eingebaut war.

Wie ein kleines Räubernest im bäuerlichen Stil, so lebte das einstöckige, schmale Haus an dem schroff vorspringenden Felsen. Das windschiefe Schindeldach war mit großen Steinen beschwert, an denen schon vielfach das Moos wucherte.

Kleine, blitzblank geputzte Fensterscheiben grüßten aus dem alten Gemäuer. Vor den Fenstern prunkte als auffallender Schmuck ein herrlicher Blumenflor von dunkelroten Geranien und herabhängenden vollen, bauchigen Nelken in allen Farben. Es war eine wirkliche Lust, diesen Blumenflor zu sehen, und die Ennemoserin war auf ihn fast ebenso stolz wie auf ihre Kinder.

Drei Kinder hatte die Ennemoserin gehabt, und alle [S. 72] drei hatte sie verlieren müssen. Zwei Buben von zwölf und vierzehn Jahren und ein kleines, zartes, blondes Diandl.

Große, starke Jungen waren die Buben, die im kühnen Übermut ihre jungen Kräfte messen wollten mit dem breiten Bergfluß. Der war aber ein heimtückischer Geselle und liebte es nicht, daß man seine Wellen zu Spielgenossen machte.

Oft waren die Buben schon mit einem Kahn den Inn entlang gerudert, allen Mahnungen und Bitten der Mutter zum Trotz, die sie vor der Gefahr eindringlich warnte. Sie hörten nicht auf sie, bis dann das Unglück kam.

Eine mondhelle, schöne Sommernacht war’s, da trieb ein leerer Kahn vom Oberland kommend innabwärts. Die Leichen der beiden Knaben wurden erst viele Wochen später draußen im Bayrischen angeschwemmt.

Seit jener Zeit war die Ennemoserin trübsinnig geworden. Die Leute sagten, sie sei halb verrückt, weil sie sich zurückzog vor ihnen und ihr Leid einsam trug.

Die Ennemoserin hatte wenig Glück gekannt im Leben. Ihr Mann war früh gestorben, und sie konnte nicht einmal recht trauern um ihn. Die wenigen Jahre, die sie zusammen lebten, waren für das Weib ein Martyrium gewesen.

Jetzt blieb ihr nur noch ein Glück und eine Hoffnung auf dieser Welt, ihr jüngstes Kind, das Roserl. Ein blondhaariges Diandl mit braunen Glutaugen und einem sonnigen, strahlenden Gesichtel, das nur zum Glück geschaffen schien.

Das Roserl wuchs heran, von der Mutter gehegt und gepflegt wie ein duftender Nelkenstock aus dem Blumenflor der Ennemoserin.

Die Leute in Rattenberg und in der nächsten Umgebung hatten ihre Freude an dem hübschen Roserl von der Ennemoserin. Und die Burschen schauten sich ganz [S. 73] besonders gerne nach ihr um, wenn sie mit leichten, zierlichen Schritten durch die Hauptstraße und durch die Gäßchen der Stadt ging.

Die Ennemoserin war keine wohlhabende Frau. Als das Roserl heranwuchs, mußte sie daran denken, ihr Mädel irgendwie gut zu versorgen. Und weil sie sich nicht gerne auf längere Zeit von ihrem Mädel trennen mochte, so gab sie das Roserl nach Kufstein hinunter zu einer Schneiderin. Dort sollte sie das Handwerk lernen und dann wieder zur Mutter ziehen.

Dem Roserl gefiel es gut in Kufstein. Nur zu gut. Die Leute in Rattenberg fingen bald an, über sie zu schwatzen. Als der Klatsch zu den Ohren der Mutter drang, war’s für das Mädel zu spät.

Die Ennemoserin machte sich auf den Weg nach Kufstein, um ihr Kind wieder heimzuholen. Sie kam aber ohne das Mädel zurück, und niemand erfuhr, was zwischen Mutter und Tochter vorgefallen war. Die Ennemoserin trug ihren Kopf gerade und aufrecht und verbiß ihren Kummer. Sprach selten ein Wort mit den Leuten. Und die gaben’s bald ganz auf, sie über das Roserl auszuforschen.

Aber Kufstein und Rattenberg sind nicht allzu weit voneinander entfernt, und üble Kunde findet ihren Weg gar schnell. Man erzählte sich in Rattenberg, daß das Roserl immer tiefer und tiefer sank, und man prophezeite, daß sie einmal übel enden werde.

Das dauerte so eine Weile. Dann verschwand das Roserl aus der kleinen Grenzstadt, und es vergingen Jahre, ehe man wieder von ihr hörte. Eines Tages erzählte jemand, der in Wien gelebt hatte, daß er das Roserl von der Ennemoserin dort getroffen habe. Und was er von ihr zu erzählen wußte, war schlimmer, als wenn er von ihrem Tod berichtet hätte.

Die Ennemoserin war eine fromme Frau geworden. [S. 74] Bei allen Gottesdiensten, die in der Pfarrkirche abgehalten wurden, war sie anwesend. Sie betete länger als die andern Frauen der Stadt und hielt sich am liebsten in den Kirchen auf.

Es gab niemand in Rattenberg, der sie für eine Betschwester gehalten hätte; und freche Neugierde wich gar bald der Achtung vor dem einsamen Schmerz dieser Frau.

Die Ennemoserin tat Gutes, wo sie konnte. Nach ihren Kräften und nur um Gotteslohn. In ihrem Herzen war ein starkes Gottvertrauen, der feste Glaube, daß Gott ihr Tun und Handeln als ein Opfer und eine Sühne annehmen werde für das sündhafte Leben ihres Kindes. Und nur um Gott eine Seele zuzuführen, hatte sie sich des Karrnermädels angenommen und vertrat jetzt die Stelle einer Mutter an ihr.

Neues junges Leben zog wieder ein in dem blumengeschmückten Berghäusel vor dem Stadteingang. Und die Blumen vor den Fenstern blühten noch schöner und üppiger, da Sophie sie so gut zu pflegen verstand.

Die Sophie fühlte sich bald heimisch bei der Ennemoserin. Ihr widerspenstiges, trotziges Wesen hatte sie abgelegt und war nur mehr sonnige Heiterkeit und frohe Lebenslust. Was sie erreichen wollte, das hatte sie jetzt erreicht. In Freiheit zu leben und ohne Zwang und Fesseln. Und wenn auch die Ennemoserin schweigsam war und am liebsten ihre eigenen Wege ging, so machte das dem Mädel gar nichts aus.

Sie war froh über ihr neues Dasein, und ein Gefühl echter, warmer Dankbarkeit gegen die Frau beseelte sie. Sie wollte ihr Freude machen und brachte es bald in der Schule so weit, daß sie zu den besten Schülerinnen zählte. Daheim half sie der Ennemoserin mit flinken, geschickten Händen bei der Hausarbeit, so daß ihre Pflegemutter bald ganz entlastet war. Sie hatte keine Klage über das Mädel und gewann sie von Tag zu Tag lieber.

[S. 75]

So lebten sich diese beiden ungleichen Menschen rasch zusammen ein. Aber sie wurden nie so recht vertraut miteinander. Das herzliche Verhältnis, das die Schwester Salesia und das Karrnerkind verbunden hatte, fehlte bei ihnen.

Manchmal trieb es das Mädel doch hinüber zu der alten Schwester nach Mariathal. Dann erzählte sie der Schwester wie in früheren Zeiten von ihrem ganzen Tun und Treiben. Und ganz so wie ehedem fand die Schwester wieder die richtigen Worte und das wahre Verständnis für das Mädel.

Mit vielen guten Ermahnungen von seiten der Schwester Salesia kam die Sophie jedesmal nach Hause. Das kleine Heim war ihr dann doppelt lieb und wert. Wie in einem Paradies von Freiheit und Glück kam sie sich drinnen vor. Die Schwester Salesia meinte einmal lachend zu ihr, daß sie wohl hauptsächlich nur deshalb so gerne nach Mariathal komme, um sich immer wieder einen neuen Grausen vor dem Kloster zu holen ...

So verstrichen die Jahre, und die Sophie war ein kräftiges junges Mädchen geworden.

Mit geheimer Angst beobachtete die Ennemoserin das Heranblühen der Sophie. Sie hatte Furcht, das Mädel aus ihrer Obhut zu entlassen. Bis jetzt hatte Sophie noch nie den Wunsch geäußert, fortzukommen. Aber die Ennemoserin mußte daran denken, das Mädel auf eigene Füße zu stellen.

Siebzehn Jahre war die Sophie nun alt geworden. Ein großes, üppiges Mädel mit einem ausgeprägten, breiten Rassegesicht. Tiefbraun die Haut und schwarz das leicht gewellte Haar, das sie in zwei Zöpfen um den Kopf geschlungen trug. Zwei dicht bewachsene Brauen wölbten sich in großen, scharf gezeichneten Bogen über den Augen, und das braune Haar fiel widerspenstig in die niedere, breite Stirn. Ihre Lippen waren voll [S. 76] und üppig und von tiefstem Rot. Und ein tiefes Rot blühte auf den herben Wangen des Mädels. Sie machte überhaupt einen herben, fast verschlossenen Eindruck, dem nur der Schalk widersprach, der ständig in ihren nicht sehr großen, dunkeln Augen lauerte.

Wenn sie ging, so wiegte sich der junge Körper in unbewußter Koketterie leicht in den Hüften. Und der starke, etwas zu derbe Nacken des Mädchens hatte in dem kleinen Ausschnitt des schwarzen Miederleibchens etwas Lockendes und Verführerisches.

Bildsauber war die Sophie geworden. Mit Unruhe bemerkte es die Ennemoserin bei den gemeinsamen sonntäglichen Kirchgängen, daß die Burschen von Rattenberg sich öfter, als ihr lieb war, nach dem Mädel umsahen. Auch die Sophie war sich allmählich der stummen Huldigungen der Burschen bewußt geworden und wurde immer eitler und herausfordernder in ihrem Wesen.

Das alles verursachte der Ennemoserin nur noch mehr Angst vor der Zukunft. Von Monat zu Monat verschob sie es, das Mädel aus dem Haus zu geben, um sie etwas lernen zu lassen. Sie vermied es sogar, mit ihr über diesen Punkt zu sprechen, und Sophie fühlte sich so vollkommen zufrieden und behaglich, daß sie keinen andern Wunsch hegte als den, immer bei ihrer Pflegemutter bleiben zu können.

Bis eine Begegnung, die sie mit ihrer eigenen Mutter hatte, sie aus ihrer Ruhe aufscheuchte.

Wieder war der Herbst ins Land gezogen, und der Föhn, der Vorbote des Winterschnees, trieb die letzten traurigen Reste des goldgelben Blätterschmucks im tollen Reigen durchs Inntal. Lau und unnatürlich warm war die Luft, und die weißen Wolkenstriche am Himmel zogen sich immer mehr zusammen. Bedeckten das Firmament und ballten sich dann drohend zu schweren, regenverheißenden Dunstgebilden.

[S. 77]

Tiefschwarz und in fast greifbarer Nähe hoben sich drüben im Tal die Wälder und Berge ab. Die grauen, kahlen Felsen des Sonnwendjoches hatten die eigenartige Färbung der milden Regenluft des Südwindes.

Es war noch ziemlich früh am Nachmittag, als die Sophie sich anschickte, im Auftrag ihrer Pflegemutter einen Gang ins nächste Dorf zu machen. Der Weg führte innaufwärts der Landstraße nach, in jene Gegend, wo die beiden Buben der Ennemoserin zum letztenmal gesehen worden waren. Die Sophie dachte plötzlich daran, wie die Kinder ihr junges Leben lassen mußten.

Unwillkürlich verlangsamte sie ihren Schritt und sah auf das spielerische Treiben des hellen Wassers. Ganz sanft und leise plätscherten die Wellen und hatten ein gleisnerisches Aussehen. Langsam schlenderte die Sophie ihres Weges und sang dann leise ein Liedchen vor sich hin.

Auf einmal aber blieb sie stehen und zog die Luft in scharfen Zügen ein. Wie ein Reh war sie anzusehen mit dem lauernd vorgebeugten Oberkörper und dem spähenden Blick.

Ein unangenehmer, brenzlicher Geruch lag in der Luft. Ein Geruch von Rauch und verkohltem Holz. Die Sophie kannte diesen Geruch jetzt, und sie wußte, daß irgendwo in nächster Nähe ein Karrnerlager sein mußte.

Und jäh durchzuckte es den Körper des jungen Mädchens wie mit einem elektrischen Schlag. Karrnerleute waren in ihrer Nähe. Leute ihres eigenen Standes. Die mußte sie sehen.

Seit sie damals von der Ennemoserin geführt ihr fahrendes Heim verlassen hatte, war sie nie mehr mit Karrnerleuten zusammengetroffen. Ein starkes Verlangen, wieder einmal mit Menschen ihres eigenen Standes zu sprechen, überkam sie. Sie mußte hingehen und sehen, wo die Leute waren. Vielleicht kannte sie die Karrner sogar. Oder die konnten ihr von Gaudenz [S. 78] Keil und von ihren Leuten erzählen. So schnell sie konnte, sprang sie der Richtung nach, aus welcher der Rauch kam.

Abseits vom Wege, ganz am Rande des Innflusses, wo seine Ufer völlig mit dichtem Gebüsch verwachsen sind, hatten die Karrner ihr Lager für die kommende Nacht aufgeschlagen.

Sophie Zöttl stand wie angewurzelt und starrte auf das kleine Heim der fahrenden Leute, zu denen sie einst selbst gehört hatte. Ein großer, bissiger, schwarzer Köter kam bellend auf Sophie zugeschossen, und ein kleiner, gelber Kläffer saß vor dem mit Segeltuch bespannten Karren und sekundierte dem empörten Zorn seines Kameraden mit einem langgezogenen Geheul.

In einiger Entfernung von dem Karren war zwischen zusammengetragenen Steinen ein Feuer angeschürt. Ein großes, zerlumpt aussehendes Weib, das einen Säugling im Arm wiegte, rührte mit nachlässiger Gebärde in der über dem Feuer stehenden Pfanne. Einige hellblonde, schmutzige Kinder balgten sich in ihrer Nähe und zogen und zerrten einander an den Haaren. Als sie Sophie erblickten, schnellten sie wie Gummibälle empor, um das junge, gut gekleidete Mädchen anzubetteln.

Sophie Zöttl stand noch immer regungslos da und starrte hinüber zu der Frau beim Feuer. Ganz so wie diese Frau aussah, so hatte sie ihre eigene Mutter in der Erinnerung. Nur daß sie die Benedikta jünger und hübscher im Gedächtnis trug, während diese Karrnerin ein altes, häßliches Weib war. Ein derbes Karrnerweib mit lederartiger Haut und tiefen Furchen im Gesicht. Die pechschwarzen Haare, die ihr zum Teil in wirren Strähnen über die Stirn fielen, waren schon stark mit weißen Fäden durchzogen. Und lässig und unordentlich war der Knoten des spärlichen Haares im Nacken befestigt.

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Trotzdem erinnerte das ganze Gebaren des Weibes an die Benedikta Zöttl. Der Sophie fiel es jetzt plötzlich auf, daß sie jedesmal, wenn sie an ihre Mutter dachte, diese nur bei ihrem Namen nannte und ihr nie den Titel Mutter gab. Die Mutter, ihre Mutter, das war nun schon seit Jahr und Tag die Ennemoserin geworden.

Je länger die Sophie auf das Karrnerweib starrte, desto größeren Widerwillen empfand sie vor ihr, und ein warmes, inniges Gefühl von Liebe und Dankbarkeit für die Ennemoserin, die sich ihrer angenommen hatte, überkam das junge Mädchen.

Die schmutzigen, gelbhaarigen Kinder mit den zerlumpten Kleidern und den ungekämmten Haaren umdrängten die Sophie und wollten Geld von ihr haben. Dabei griffen sie immer zudringlicher werdend nach ihren Händen. Die bloße Berührung mit den ungewaschenen Rangen war dem Mädchen so widerlich, daß sie, um sich von ihnen loszumachen, auf die kleine freche Bande einschlug.

Das laute Heulen der Kinder und ein wütendes Gekläff der Hunde bewirkten, daß die Frau am Feuer aus ihrer Lethargie erwachte und auf das fremde Mädchen aufmerksam wurde. Mit nachlässigen, langsamen Schritten näherte sich die Karrnerin. Mechanisch wiegte sie den Säugling in ihrem linken Arm.

Je näher die Karrnerin kam, desto aufgeregter wurde die Sophie. Ihr Herz klopfte in unruhigen Schlägen, und die Farbe wich aus ihrem Gesicht. Mit großen, erwartungsvollen Augen schaute sie auf das Karrnerweib. Und dann, als diese ihr ganz nahe gegenüber stand, erkannte das junge Mädchen seine Mutter.

Benedikta Zöttl nickte nur leise mit dem Kopf. Ohne die geringste Spur von Aufregung oder von Freude zu zeigen, fragte sie mit gleichgültiger Stimme: „Bist da, Sophal?“

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Als ob sie ihr Kind erst vor wenigen Stunden verlassen hätte, so ruhig fragte das Weib. Und doch lag eine lange Trennung dazwischen. Jahre, die aus dem unreifen Kind ein wissendes Mädchen gemacht hatten und aus dem kräftigen, starken Karrnerweib eine früh gealterte Frau.

Die Sophie bemerkte erst jetzt die Veränderung, welche die Zeit bei ihrer Mutter hervorgebracht hatte. Die hohe Gestalt der Frau war eingesunken, und sie war fast zum Skelett abgemagert. Die Sophie erinnerte sich, daß beinahe alle Karrnerweiber, die sie gekannt hatte, so häßliche alte Weiber waren wie die Benedikta.

Die Karrnerin bot der Sophie nicht einmal die Hand zum Gruß. Aber neugierig betrachtete sie das gut gekleidete, hübsche Mädel und ließ dann mit Kennermiene den leise knisternden Seidenstoff ihrer Schürze durch zwei Finger gleiten. Das schwarze Samtmieder, die breite, hellfarbige Seidenschürze und das schwere Seidentuch im Mieder, der breitkrempige Hut mit der goldenen Stickerei am Innenrand und den breiten, schwarzen Moireebändern, die rückwärts fast bis zu den Füßen reichten, verliehen dem hochgewachsenen Mädel ein ungemein schmuckes Aussehen.

Befriedigt nickte das Karrnerweib. Darauf fuhr sie mit ihren derben, braunen Händen vorsichtig über die Schürze des Mädchens. „Sauber bist, Sophal!“ sagte sie dann.

Noch immer konnte die Sophie vor innerer Erregung kein Wort hervorbringen. Die Röte kam und wich aus ihrem Gesicht im raschen Wechsel. Und immer eindringlicher und aufmerksamer beobachtete das Weib ihr Kind.

„Bin aa amal so g’wesen!“ sagte sie. „Grad so wie du. Ja, ja, es ist lang her.“

Dann wiegte sie wieder ihren Oberkörper hin und her und preßte den Säugling fester an sich, als könnte er ihr entgleiten. Und die schreienden, gelbhaarigen Kinder [S. 81] kamen neugierig herbeigesprungen und betrachteten das fremde Mädel wie ein Wundertier. Mit offenen Mäulern standen sie da oder bohrten mit den schmutzigen Fingern vor Verlegenheit in den Nasen.

„I kenn’ di schon lang!“ fuhr die Benedikta fort. „Es hat mi do g’wundert, was aus dir g’worden ist und wie du ausschaust. Fast alle Jahr sind wir da vorbei zogen. Da hab’ i dir aufpaßt.“

Und dann erzählte die Benedikta in kurzen Worten, wie es ihr seit der Trennung von der Tochter ergangen war. „Alle Jahr a Kind, woaßt wohl. Unseroans kennt sonst nix. Es ist aa ’s beste, solang oans jung ist. Lei iatz, iatz kimmt’s mi a bissel hart an, aber es macht nix. Und der Tonl, der Bua, der war für nix. Ist bald g’storben. Hat lei mehr so dahin g’serbt, und der Gaudenz hat sei’ Wuat kriegt auf ihn. Der vertragt’s halt nit, wenn oans a so dahin serbt. Ist aa nix für unseroans, woaßt wol! Und’s Glück hat ihn aa verlassen, den Gaudenz. Hat sein’ Wagen und sei’ Roß verkafen müssen und hat g’fluacht und g’wettert. ’s war a harte Zeit.“

So erzählte das Weib, und allmählich wurde die Sophie zutraulicher. Auch sie berichtete der Mutter von ihrem Leben. Sie setzte sich zu der Frau in das Gras. Das Feuer knisterte leise in ihrer Nähe. Die Kinder tollten wieder unbändig herum und spielten und sprangen den beiden Hunden um die Wette. Der Krummschnabel, der vorne in einem kleinen Käfig am Wagen hing, rieb seinen rollenden Waldgesang. In schmelzenden, hingebungsvollen Tönen sang er sein Lied von der Sehnsucht und der Freiheit.

Die Sophie saß neben ihrer Mutter und hielt mit beiden Händen die Knie umschlungen, die sie leicht emporgezogen hatte. Versonnen starrte das Mädchen in das leise knisternde Feuer. Es war ihr, als ob die Jahre, die sie von den Ihren getrennt gelebt hatte, [S. 82] nun mit einemmal geschwunden wären. Ein Gefühl der Zugehörigkeit zu diesen Leuten überkam sie und ein Verlangen, mit ihnen zu ziehen, weit hinaus in die ferne Welt.

Die Benedikta wiegte ihren Oberkörper in unaufhörlich schaukelnder Bewegung und sah dabei von seitwärts fortwährend auf die Tochter. „Hast an Schatz?“ fragte sie dann über eine Weile völlig unvermittelt.

Die Sophie wurde über und über rot im Gesicht. Ohne ein Wort zu sagen, schüttelte sie verneinend den Kopf.

„Nit?“ Verwundert sah das Weib auf ihre Tochter. „Schad’!“ meinte sie bedauernd.

Es entstand eine lange Pause. Sophie starrte nachdenklich in das kleine Lagerfeuer. Ohne daß sich das Karrnerweib näher ausgesprochen hätte, fühlte das Mädchen es doch instinktiv, daß sie der Mutter leid tat, weil sie ein großes Glück nicht kannte.

Einige Burschen hatten es versucht, dem Mädchen näher zu treten. Aber jeder derartige Versuch scheiterte an der starken und sorgsamen Wachsamkeit der Ennemoserin.

„Wie i in dei’m Alter war, hab’ i schon lang mein Schatz g’habt!“ erzählte die Karrnerin nach einer Weile. „Es g’hört si für unseroans und muaß sein. Bist a saubers Madel, Sophal ...“ fuhr sie dann fort, „sei g’scheit und halt eppas auf di, und merk dir’s, sein Glück kann unseroans nur machen, so lang’s jung und sauber ist. I hätt’s aa anders troffen, wenn i g’scheiter g’wesen wär’.“

Bis zum späten Abend saßen Mutter und Tochter beim Lagerfeuer. Dann schoß die Sophie plötzlich wie ein aufgescheuchtes Wild empor. Sie erinnerte sich, daß Gaudenz Keil jeden Augenblick kommen konnte, und wollte ein Zusammentreffen mit ihm vermeiden ...

Die Sophie hatte einen hochroten Kopf, als sie heimkam und in die kleine Stube ihrer Pflegemutter trat. [S. 83] Die Ennemoserin brauchte nicht lange zu fragen. Die Sophie erzählte ganz von selber über ihre Begegnung mit der Benedikta.

Seit jenem Tag beschlich eine innere Unruhe das Mädchen. Es gefiel ihr nicht mehr in Rattenberg, und das enge Heim der Pflegemutter fing an, sie zu bedrücken.

Die alte Wanderlust regte sich in ihr. Jene namenlose Sehnsucht nach der ungebundenen Freiheit, die sie damals aus dem Kloster getrieben hatte. Nur daß Sophie jetzt mit reifem Willen vor die Pflegemutter trat und sie bat, sie möge sie ziehen lassen und sie möge ihr nicht hinderlich sein bei der Suche nach ihrem Glück.

Der alten Frau war’s, als greife ihr jemand mit rohen Händen ins Herz. Nun sollte sie wieder allein sein in ihrem Berghäusel am Felsen. Und das Mädel, das sie fast so lieb gewonnen hatte wie eine Tochter, sollte sie preisgeben, sie ziehen lassen, hinaus in die Welt, um sie vielleicht zu verlieren, wie sie ihr eigenes Kind verloren hatte.

Sie hatte kein Glück mit Kindern. Sie wußte es ja. Die Ennemoserin bat nicht lange. Sie fühlte, es war das beste, dem Mädel seinen Willen zu lassen ...

Zu Lichtmeß fuhr die Sophie hinauf nach Innsbruck und schaute sich in der Stadt nach einer Stellung um. Sie brauchte nicht lange zu suchen. Beim „Weißen Hahn“ im der Altstadt kam sie als Küchenmädel unter.

Jetzt hieß es schaffen und arbeiten vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Die Sophie schaffte und rackerte sich ab und scheute keine Arbeit. Und Schneid’ hatte sie für zehn. Wenn ihr einer zu nahe kommen wollte, dann schnauzte sie ihn ab. Sie wollte klüger sein, als die Benedikta es gewesen war. Sie wollte ihr Glück gründen, so lange sie noch jung und sauber war.

Das hatte ihr die Mutter geraten. Und sein Glück [S. 84] gründete man nur, wenn man etwas auf sich hielt und klug war mit der Wahl des Schatzes.

Da war der Hausknecht und der Schankbursche und der Kutscher. Und alle hätten sie gerne angebandelt mit dem saubern Küchenmädel. Aber alle waren sie bei der Sophie abgeschlüpft.

Die Wirtin vom Weißen Hahn war eine kluge Frau. Mit einer Art Feldherrnblick erkannte sie, daß die Sophie für den Beruf einer Kellnerin wie geboren war. Die Sophie war gerade das, was sie für ihre Stammgäste schon längst gesucht hatte. Ein hübsches, junges, resches Mädel mit einem gesunden Mutterwitz. Nach einem halben Jahr schon wurde die Sophie zur Kellnerin im Herrenstübel befördert.

Schlussvignette, Kapitel 4

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Fünftes Kapitel.

I n einer der engen Gassen der Innsbrucker Altstadt liegt der Gasthof zum Weißen Hahn. Die Häuser sind dort hoch und die Mauern altersgrau. Ein Gewirr von kleinen, engen Gäßchen mündet hinaus in die breitere Hauptstraße der Altstadt. Das ist eine Straße, die ebenso gut ein viereckiger Platz sein könnte, wenn der Abschluß gegen Süden nicht den herrlichen Ausblick auf die malerische Maria Theresia-Straße offen ließe.

Der alte, prächtige Gedenkbogen, die Triumphpforte bildet am Ende der Maria Theresia-Straße einen künstlerischen Abschluß des Stadtbildes. Hinter der Triumphpforte erhebt sich in weiter Ferne die spitze Zacke der Serles. In ruhiger, majestätischer Pracht ragt sie in den tiefblauen Himmel, als wäre sie sich ihrer unvergänglichen Schönheit wohl bewußt.

Die hohen Häuser der Altstadt mit ihren Erkern und gewölbten Torbogen, mit den düstern, fast kellerartigen Hausfluren bergen unter ihren Dächern noch immer den Zauber vergangener Jahrhunderte. Dort ziehen sich zu beiden Seiten der Herzog Friedrich-Straße die niedern gemauerten Steinlauben hin, unter denen sich Geschäft an Geschäft reiht. Der grauschwarze Stadtturm mit seiner grünlich schillernden Kuppel steht in einem seltsamen Gegensatz zu dem schmucken, vorspringenden Erkerbau des goldenen Dachels.

Im Hintergrund recken sich wie eine abschließende Riesenmauer die steil aufragenden Berge der Nordkette empor. Düster, grau, schwer und von imponierender Macht ist der Eindruck dieses ältesten Innsbrucker Stadtteiles mit dem grandiosen Hintergrund der gewaltigen Bergwelt, mit seiner ganzen ernsten nordischen Schönheit, mit den verblaßten Resten des Mittelalters, da Tirols Grafen und Fürsten in diesen Gassen Hof hielten, [S. 86] da längst verblichener Prunk, verschollene Üppigkeit und erstorbener Glanz darin heimisch waren.

Eine breitere Querstraße führt an dem goldenen Dachel vorbei hinüber zur Innbrücke, welche die beiden Teile der Stadt diesseits und jenseits des Flusses miteinander verbindet. Die schmale Gasse, in welcher der Gasthof zum Weißen Hahn liegt, ist ganz besonders düster und grau und bei der spärlichen Beleuchtung am Abend fast unheimlich. Selbst bei hellem Sonnenschein verliert sich der ernste Charakter dieses Teiles der Landeshauptstadt nur wenig.

Während des Tages herrscht ein reges Leben in den engen Gassen. Da stehen dann die Botenwagen, die den Frachtenverkehr mit den umliegenden Tälern und den Nachbardörfern vermitteln, mit schweren Säcken beladen und mit weißlich grauem Segelleinen bespannt. Wie ein Stück Mittelalter mutet dieser Verkehr mit der Außenwelt an. Die bäuerlichen Wagenführer in ihren blauen Fuhrmannskitteln, oder auch in der Tracht ihres Tales, treiben vor ihren Wagen Handel. Auch Botenweiber, mit hohen Ruckkörben beschwert, haben sich hier eingefunden. Sie bringen Eier, Butter und Hühner mit zur Stadt und oft auch Wildbret. Ihre Waren werden von den sparsamen Hausfrauen gerne gekauft. Denn was die Boten vom Land hereinbringen, gilt als billigere Ware, als was man auf dem Markt und in den Läden erstehen kann.

Der Verkehr in den engen Gassen der Altstadt ist in den frühen Morgenstunden oft ein so reger, daß die Weiber, die mit ihren Einkaufkörben vom nahen Marktplatz kommen, sich mühsam ihren Weg bahnen müssen.

So lebhaft es hier während des Tages zugeht, so still und ruhig und einsam ist es in den Abendstunden. Die Schritte der wenigen Fußgänger hallen dann mit gleichmäßigem Schall durch die Dunkelheit. Es sind nur [S. 87] einzelne Menschen, die an den Abenden hier ihren Weg suchen. Meist sind es gute Innsbrucker Bürger, die nach ihren Stammlokalen wandeln. Denn Gasthof an Gasthof liegt in den alten Gassen.

Über dem gewölbten Eingang des Gasthofes zum Weißen Hahn prangt ein kunstvolles altes Schild aus Schmiedeisen. Es trägt das Wahrzeichen der Gaststätte, einen riesigen weißen Gockel, umrahmt von einem dichten Blumenkranz. Von außen macht die düstere Mauerfront des Gasthofes einen wenig behaglichen Eindruck. Dafür geht es aber drinnen um so gemütlicher zu. Denn der Weiße Hahn ist eines der beliebtesten Gasthäuser der Innsbrucker Herrenwelt.

Die Bürger der Stadt und die Studenten sitzen hier gar oft bis tief in die Nacht hinein, bis die Uhr vom nahen Stadtturm herüber sie in eindringlichen Schlägen zum Aufbruch mahnt. Der Wein ist vorzüglich beim Weißen Hahn, und die Innsbrucker wissen Behaglichkeit und einen guten „Rötel“ wohl zu schätzen.

Das Herrenstübel beim Weißen Hahn ist eine niedere getäfelte Stube. Ganz braun ist das Holz der Täfelung vom Alter und vom Rauch. Der Tabakrauch vom Herrenstübel ist manchmal so dick, daß man ihn schneiden könnte. Nur wenige Tische gibt es da drinnen. Eng gepfercht sitzen an diesen Tischen die Gäste, und alle rauchen sie und trinken von dem trefflichen echten Rotwein, auf den die dicke Wirtin ihren ganz besonderen Stolz setzt.

Die Wirtin hält sich meistens im Herrenstübel auf und hat ein scharfes Auge, daß ihre Herren gut bedient werden. Sie ist eine alte behäbige Frau, groß und rundlich, mit schlichtem, grauem Haar und mit einem guten, gemütlichen Gesicht, das stets gerötet ist. Von Tisch zu Tisch geht sie mit etwas steifem, schwerfälligem Gang und plaudert mit den Gästen. Denn ein jeder ist ihr bekannt, [S. 88] und mit jedem einzelnen der Stammgäste verbindet sie eine Art freundschaftlichen Verhältnisses.

Beim Honoratiorentisch jedoch hat sie ihren Stammplatz. Diese Ehrentafel ist ein großer, viereckiger Holztisch in der Ecke gleich neben dem Fenster, das auf die Gasse hinaus geht. Nur daß man von hier aus am Abend keinen Ausblick auf die Gasse hat, denn die Fensterläden sind dann geschlossen, und ein dichter Vorhang aus rotem Plüsch verdeckt das Fenster von innen und verleiht dem Zimmer ein ungemein behagliches Aussehen.

Am Honoratiorentisch wird jeden Abend Karten gespielt, bis die Köpfe der Herren vom Wein, vom Rauch, von der Aufregung des Spieles und von der Hitze, die hier drinnen herrscht, glühend rot geworden sind.

Frau Maria Witwe Buchmayr, die Wirtin, ist sehr beliebt bei ihren Gästen. Eine einfache Herzlichkeit geht von ihr aus, etwas Mütterliches und Verständnisvolles für die kleinen Schwächen und Liebhabereien eines jeden ihrer Gäste.

Sie wird bei den Herren als tüchtige Kartenspielerin sehr geschätzt. Während sie in aller Behaglichkeit auf ihrem Stammplatz sitzt und anscheinend für nichts Interesse hat als für das Spiel, entgeht ihrem scharfen, beobachtenden Blick auch nicht das Geringste, was im Stübel passiert. Sie hört und sieht alles und beherrscht, während sie die Karten in der Hand hält und eifrig beim Spiel zu sein scheint, mit ruhiger Sachlichkeit alle Vorgänge im Zimmer.

Nicht das kleinste Versehen der Kellnerin bleibt von ihr unbemerkt. Die Stammgäste beim Weißen Hahn versichern ihr immer und immer wieder, daß man in ganz Innsbruck nirgends so gut aufgehoben sei und so vorzüglich bedient werde wie bei der Frau Buchmayr.

Seit Sophie die Kellnerin im Herrenstübel war, hatte [S. 89] Frau Buchmayr fast gar keine Ursache zur Klage. Eine wahre Perle schien die Sophie zu sein. Und die Wirtin machte ihr allerzufriedenstes Gesicht, wenn sie bemerkte, wie beliebt die neue Kellnerin bei den Gästen war. Das runde, etwas fett glänzende Gesicht der Wirtin strahlte dann förmlich vor innerer Heiterkeit. Flink war die Sophie und aufmerksam zu jedem Gast im Lokal und voll Witz und Humor.

Es war schwer zu sagen, an welchem der Tische die Sophie beliebter war. Die Herren am Honoratiorentisch waren etwas zurückhaltender in ihrer Bewunderung als die junge Herrenwelt am untern Ende des Zimmers. Aber die Wirtin hatte es wohl gemerkt, daß sogar der Herr Rat Leonhard, der ein ganz erpichter Kartenspieler war und der kaum jemals ein Auge von seinen Karten ließ, jetzt öfters, als gerade notwendig gewesen wäre, über seine Brille hinweg schaute und die Sophie nicht gerade unfreundlich anlächelte.

Der Herr Rat war ein alter, schrullenhafter Junggeselle. Er sprach wenig, war klein und hatte das verzwickte Gesicht eines alten, verdrossenen Mopses. Ohne Pfeife im Mund war er am Stammtisch nur selten zu sehen. Wenn er sprach, hielt er die Pfeife wie ein echter Bauer fest zwischen die Zähne geklemmt. Er entfernte sie nur dann, wenn er sich einen neuen Schluck aus seinem Weinglas einverleiben wollte oder wenn er genötigt war, die Pfeife frisch zu stopfen.

Beim Trinken machte der Herr Rat eine ganz besonders kritische Miene. Sein kleines, faltiges Gesicht schrumpfte dann förmlich zusammen, und die Lippen zogen sich nach innen, um erst ganz langsam wiederzukehren, wenn sie den Geschmack des Weines eingehend geprüft und genossen hatten.

Der Herr Rat war am Stammtisch überhaupt eine tonangebende Persönlichkeit. Das kam daher, weil er [S. 90] sehr wenig sprach und seine Gedanken eigentlich nur auf seinem stets zuwidern Gesicht zu erraten waren. Die Wirtin hatte unter allen ihren Gästen den meisten Respekt vor dem Herrn Rat. Beinahe ängstlich beobachtete sie sein Mienenspiel, wenn er sich eine Speise mit aller Umständlichkeit, deren nur er fähig war, zu Gemüte führte.

Außer dem Herrn Rat Leonhard war noch der Doktor Valentin Rapp eine ganz gehörige Respektsperson am Stammtisch. Und nicht nur am Stammtisch, sondern auch in der ganzen Stadt wurde der Doktor Rapp hoch geschätzt. Wenn man den schlichten Mann in seiner altmodischen Kleidung und mit dem fast bäuerlichen Benehmen so am Stammtisch beim Weißen Hahn sitzen sah, dann hätte man nicht vermutet, welche Rolle im öffentlichen Leben von Innsbruck dieser Mann spielte, der einer der tüchtigsten und gesuchtesten Rechtsanwälte war.

Doktor Valentin Rapp war klein, untersetzt und schon gut in den Vierzigern. Er war aber noch so prächtig erhalten und gab sich so jugendlich, daß man ihn für höchstens Ende Dreißig hätte ansehen können. Voll Temperament und Geist war er, einer der angenehmsten Gesellschafter, die man sich wünschen konnte. Nur brauchte es immer eine Zeit, ehe Doktor Rapp aus sich heraus ging. Fremden gegenüber beobachtete er eine Art scheuer Zurückhaltung, die er erst bei näherer Bekanntschaft und dann nur ganz allmählich abzulegen pflegte.

Der Doktor hatte blondes, volles Haar, scharf blickende dunkle Augen und einen langen blonden Vollbart. Das Gesicht war regelmäßig, aber etwas zu derb geformt und so sehr gerötet, daß es einen dicken, aufgedunsenen Eindruck machte. Wer den Doktor nicht genau kannte, hätte ihn seiner Gesichtsfarbe nach für einen Trinker [S. 91] halten können. Aber Doktor Rapp war in Wirklichkeit ein sehr mäßiger Mann. Mit seiner Halben Wein und einer oder zwei Virginias, die er mit Wohlbehagen rauchte, konnte er sich stundenlang begnügen. Wenn er sprach, klang seine Stimme hell, klar und etwas gebieterisch im Tonfall. Doktor Valentin Rapp hatte seinen Platz stets neben der Wirtin, mit der er fortwährend in einem lustigen Kriegszustand lebte.

Zur rechten Seite der Wirtin saß für gewöhnlich der Herr Kaufmann Patscheider. Ein älterer Mann, groß und knochig, mit rotem Gesicht, hellen Augen und einem kurz geschnittenen graumelierten Schnurrbart, der die dicken, aufgeworfenen Lippen in unangenehmer Art zur Geltung brachte. Die dunkeln, stark ergrauten Haare waren teilweise schütter und standen straff empor. Seine bogenförmig geschwungenen Brauen über den lichtblauen Augen hielt der Herr Patscheider stets emporgezogen, was ihm einen naiv verwunderten Ausdruck verlieh.

Trotzdem hatte man es auf den ersten Blick los, daß dieser Ausdruck nur Maske war. Herr Patscheider war ein kluger und gewiegter Geschäftsmann und viel gescheiter, als er zu scheinen wünschte. Ein Mann, der es verstanden hatte, sich zu dem ererbten väterlichen Vermögen einen ganz ansehnlichen Haufen Geld zu sammeln.

Am Stammtisch beim Weißen Hahn führte Johannes Patscheider die lauteste Sprache; und was er sagte, das galt als eine Art Evangelium. Sie waren alle ruhig, wenn er mit lauter, gebieterischer Stimme seine Ansichten kund tat. Und sie wagten es, ihm nur schüchterne Gegenreden zu geben, wenn sie anderer Meinung waren.

Nur Doktor Rapp getraute sich, diesem ausgesprochenen Herrenmenschen gegenüber seine Ansicht zur Geltung zu bringen. Das ging dann aber jedesmal recht schief aus und endete regelmäßig damit, daß Patscheider schweigend [S. 92] seinen Hut und Stock nahm und aus dem Zimmer ging. Er erschien auch nicht mehr am Stammtisch, bis man ihn holte.

Die Vermittlerrolle zwischen den beiden Gegnern übernahm dann jedesmal der Herr Apotheker Simon Tiefenbrunner. Doktor Rapp und Patscheider waren immer und ausnahmslos in allen Dingen vollkommen entgegengesetzter Meinung. Doktor Rapp war ein schneidiger Draufgänger, radikal und unbesonnen. Patscheider war dagegen überlegend, scharf berechnend, in seinen Ansichten jedoch etwas rückständig, was ihm oft den Spott und den Hohn des jüngeren Doktor Rapp eintrug.

Patscheider hatte sich schon seit Jahren um die Stadt große Verdienste erworben. In völlig uneigennütziger Weise hatte er dem Wohl seiner Vaterstadt gelebt und für sie gewirkt. Er besaß diese eine große Liebe in seinem Leben: mitzuwirken an dem Aufblühen und Gedeihen der herrlichen Alpenstadt am Inn. Außerhalb dieser Stadt gab es für ihn kein Interesse.

Mit Klugheit und Scharfsinn erforschte er alles, was dem Ansehen seiner Vaterstadt von Nutzen sein konnte. Wenn er sich einmal zu einer Reise aufschwang, um andere Städte kennen zu lernen, so geschah das nur, damit er Vergleiche zwischen diesen und seiner Heimat anstellen konnte. Und vom Standpunkt eines Innsbrucker Bürgers betrachtete er auch die Vorgänge des ganzen Reiches und der übrigen Welt. Patscheider war stolz darauf, ein Innsbrucker Bürger zu sein, und sein Lokalpatriotismus hatte etwas Rührendes an sich.

Aber nicht allein Patscheider, sondern auch der Apotheker Tiefenbrunner war ein ausgesprochener Lokalpatriot. Nur daß er nicht die Intelligenz des andern besaß und diesen Mangel auch einsah. So wirkte der Apotheker eben für das Wohl der Stadt auf seine Weise. Es war eine undankbare Aufgabe, die er übernommen [S. 93] hatte. Immer und überall war er das versöhnliche Element, beschwichtigte, wo er konnte, und entledigte sich seines freiwilligen Amtes mit viel Geschick und Takt. Manches Unternehmen kam zustande, weil Tiefenbrunner es zur rechten Zeit verstanden hatte, die widerstreitenden Meinungen der Parteien auszugleichen und zu versöhnen.

Simon Tiefenbrunner war schon durch seine äußere Erscheinung dazu bestimmt, die Rolle eines Friedensengels zu übernehmen. Ein stiller, kleiner Mann mit blassem, farblosem Gesicht, hellen Haaren und Augen. Die Augen waren durch einen Zwicker bewehrt, den der Apotheker stets an einer dicken, schweren Schnur trug. Der Zwicker saß auf dem äußersten Nasenrande seines Besitzers und sah aus, als wäre er immerfort im Begriff herunter zu fallen. Tiefenbrunner machte auch stets den Eindruck, als ob er sich in einem ewigen Kampf mit seinem Zwicker befände. Er hob die Nase höher empor, als nötig war, und sah nie durch die Gläser, sondern stets über dieselben hinweg.

Ein nervöses Zucken, das schmerzhaft zu sein schien, ging in regelmäßigen Zwischenräumen über sein kleines, blaß aussehendes Gesicht. Tiefe Denkerfalten waren auf der niedern Stirne eingegraben. Boshafte Menschen behaupteten jedoch, daß der Apotheker zum selbständigen Nachdenken nur wenig Talent besaß und diese anstrengende Gehirntätigkeit am liebsten seiner besseren Ehehälfte überließ, die das auch gründlich besorgte.

Frau Therese Tiefenbrunner war eine resolute Frau und paßte in jeder Hinsicht vorzüglich zu ihrem Gatten. Sie war der Ausgleich seiner Persönlichkeit und verstand sich prächtig mit ihm. Nie gab es Zank und Streit bei dem älteren, kinderlosen Ehepaar. Frau Therese war eine echte Innsbruckerin und hing mit der gleichen hingebungsvollen Liebe wie ihr Gatte an ihrer Heimat.

Sie stammte von der andern Seite des Inns, von [S. 94] jenem Stadtteil, der eigentlich die älteste Ansiedelung ist und jetzt nur mehr eine Vorstadt von Innsbruck bildet. Zwischen dem breiten Flußbett und den sacht ansteigenden Höhen des Mittelgebirges der Nordkette liegt auf schmaler Ebene die Vorstadt Sankt Nikolaus. Teilweise lagern sich die kleinen Häuschen schon an dem Grunde des Bergabhanges, und steile, enge Gäßchen, die in ihrer Bauart an jene eines Dorfes gemahnen, führen zum Berghang empor.

Es gibt feine Unterschiede in den Bezeichnungen dieses interessanten Stadtteils. Von der Innbrücke abwärts erstreckt sich eine breite Straße den Fluß entlang, an der zum Teil schöne Gartenanlagen einen grünen Saum bilden. Aus dieser Gegend war Frau Therese Tiefenbrunner. Hier hatte sie ihre ersten Jugendjahre verlebt. Und dem leichten, singenden Tonfall ihrer Aussprache merkte man die allernächste Nachbarschaft der „Kothlacken“ an.

Die sogenannte Kothlacken ist eine schmale Gasse in Sankt Nikolaus. Eigentlich ist sie eine Seitengasse der Innstraße und mündet auf den breiten Kirchplatz vor der schon etwas erhöht liegenden gotischen Kirche von Sankt Nikolaus. Die Bewohner, aber hauptsächlich die Bewohnerinnen dieser Gasse zeichnen sich durch ihren scharfen und gesunden Mutterwitz aus.

Es ist keine ansprechende Gegend. Die alten Häuser dieser Gasse machen vielfach einen verlotterten Eindruck. Schmutzige, unreinlich gekleidete Frauen und Kinder stehen und gehen da herum. Oft ertönt auch schrilles Geschrei von zankenden und keifenden Weibern; denn die Kothlacknerinnen sind in dem Ruf, recht unverträglich zu sein. Wer sie näher kennt, weiß, daß sie besser sind als ihr Ruf. Gutherzig, hilfsbereit und ehrlich.

Frau Therese Tiefenbrunner betrachtete es als eine Art Schimpf, für eine Kothlacknerin zu gelten. Sie verwahrte [S. 95] sich stets sehr energisch dagegen, indem sie immer wieder betonte, daß sie eine Schlossermeisterstochter aus der Innstraße sei. Und das ist wiederum eine andere Gegend, die mit der Kothlacken nichts zu tun haben will.

Da der Name der Kothlacken auf dem Innsbrucker Stadtplan als offizielle Bezeichnung nicht zu entdecken ist, sondern dem Volksmund angehört, wird er keineswegs als Schmeichelei empfunden. Daher kommen auch die feinen Unterschiede, mit denen sich die unmittelbare Nachbarschaft von dieser nicht gerade hervorragend schönen Bezeichnung zu schrauben trachtet.

Die Frau Apotheker hatte sich eine ganz eigene Sprache zurechtgelegt. Sie sprach langsam und mit einer gewissen schwerfällig gezierten Plumpheit. Trotz aller Mühe war es ihr aber nicht gelungen, die singende Tonart, dieses untrügliche Kennzeichen der echten Kothlacknerin, auszumerzen. Diese Eigenart bemerkten freilich nur die einheimischen Innsbrucker oder jene Fremden, die sich schon lange Zeit in der Stadt aufhielten.

Trotzdem es die Frau Tiefenbrunner ganz und gar ableugnete, in näheren Beziehungen zu der Kothlacken zu stehen, hatte sie doch sehr nahe Verwandte, die in dieser Straße daheim waren. Ihre Schwester und deren einziger Sohn hausten dort in einer kleinen Wohnung. Eine enge, dunkle, schlecht gelüftete Küche und ein größeres Zimmer bildeten die Wohnung der armen Witwe, die sich und ihren Sohn kümmerlich durch ihrer Hände Arbeit ernährte.

Die Tiefenbrunnerischen waren gutherzige Leute, und ihre Schuld war es nicht, daß Frau Susanne Altwirth ein so schweres Leben hatte. Sie wollten gerne helfen, aber die Witwe hatte ihren Stolz. Bettelstolz nannten sie’s in der Kothlacken, und Bettelstolz nannte es auch der Apotheker Tiefenbrunner und seine Frau Therese.

Die Frau Apotheker und ihr Mann nötigten ihre [S. 96] Wohltätigkeit der Witwe Altwirth förmlich auf. Jedoch vergeblich. Solange sie kräftige Arme habe, sagte die Frau Altwirth, brauche sie keine Barmherzigkeit. Frau Susanne Altwirth arbeitete daher weiter und rackerte sich vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Und alle Überredungskünste der Apothekerin vermochten nicht ihren Sinn zu ändern.

Es war eine alte Gegnerschaft zwischen den Schwestern. Frau Therese hatte das große Loos gezogen im Leben, und mit der Selbstverständlichkeit der vom Glück Begünstigten wollte sie auf die jüngere Schwester einwirken und dieser ihren Lebensgang vorschreiben. Die Susanne aber hatte ihren eigenen Kopf und setzte es durch, den Mann ihrer Wahl zu heiraten. Der war ein kleiner Tischler in der Kothlacken, und gar lange dauerte das Glück nicht bei den jungen Leuten. Der Mann starb und ließ Frau und Kind in bitterer Armut zurück.

Nach dem Tode des Mannes war es zu ernsten Zerwürfnissen zwischen den Schwestern gekommen. Frau Therese konnte es nicht unterlassen, die Vormünderin ihrer Schwester spielen zu wollen, und gab ihr böse Reden. Frau Susanne blieb keine Antwort schuldig.

Schließlich wurde die Apothekerin so erbost auf ihre Schwester, daß die beiden Jahr und Tag keinen Verkehr mehr miteinander hatten. Frau Therese bildete sich ein, daß es die Schwester darauf abgesehen habe, ihr Ansehen zu untergraben.

Jahre hindurch sahen und sprachen sich die Schwestern nicht mehr, bis durch die Vermittlung des Pfarrers von Sankt Nikolaus eine Aussöhnung zwischen den beiden zustande kam.

Frau Susannes Sohn, der junge Felix Altwirth, war ein äußerst begabter Bursche, ein tüchtiger Schüler. Und Lehrer und Pfarrer stimmten darin überein, daß es Sünd’ und Schade wäre, ein solches Talent nicht [S. 97] studieren zu lassen. Zum Studium aber gehörte Geld. Und das besaßen die reichen Verwandten in der Altstadt.

Anfangs wollte Frau Susanne nichts davon wissen. Aus Liebe zu ihrem Sohn aber gab sie nach, und der Pfarrer leitete die Versöhnung zwischen den beiden Schwestern in die Wege.

Das war jedoch die ausdrückliche Bedingung, die Frau Tiefenbrunner stellte. Wenn sie, die Tiefenbrunnerischen, den Felix studieren ließen, so mußte seine Mutter aufhören, als Wäscherin ihr Brot zu verdienen. Den Unterhalt für Mutter und Sohn würden die Tiefenbrunnerischen bestreiten.

Mit schwerem Herzen fügte sich die Witwe. Doch nahm sie nur das Notwendigste, was sie zum Unterhalt bedurfte. Keine Macht der Welt hätte sie aber dazu zwingen können, ihr bescheidenes Heim aus der Kothlacken in einen besseren Stadtteil zu verlegen.

Sie hatte sich so sehr eingelebt in die engen Verhältnisse, und alles, was sie umgab, war ihr eine liebe Erinnerung an ihren verstorbenen Mann und an ihr kurzes Glück.

Das düstere Haus, in dem sie wohnte, gehörte entfernten Verwandten ihres Mannes. Es war ein zweistöckiges Haus mit niedern Fenstern, mit einem alten, engen Hausflur und mit quietschenden und krächzenden Holzstiegen, die stets unreinlich aussahen.

Viele Leute wohnten in dem Haus. Leute, die wenig Geld und zahlreiche Kinder besaßen. Die Wohnungen der einzelnen Parteien waren nicht abgesondert. Wie eine einzige große Familie lebten sie alle zusammen. Sie wußten alles voneinander, jede Kleinigkeit, jede Freude und jedes Leid. Hielten zusammen wie Kitt und Pech, um sich bei nächster Gelegenheit wegen einer geringfügigen Sache in den Haaren zu liegen.

Es war kein ruhiges Haus. Schon in den ersten [S. 98] Morgenstunden ertönte das Geschrei der Kinder, vereint mit den keifenden Stimmen der Mütter. Die Väter waren noch die ruhigsten in diesem großen Familienhaus. Die gingen schon zeitig zu ihrer Arbeit und hielten sich den größten Teil des Tages nicht daheim auf. Nur in den Abendstunden, wenn sie über den Durst getrunken hatten, machte sich ihre Anwesenheit bemerkbar.

Es roch stets nach Schmalz und üblem Fett in dem grauen Haus und nach schlechtem Tabak und ungelüfteten Räumen. Es gab auch wenig Luft dadrinnen. Der hohe Bau des in der engen Gasse unmittelbar gegenüber emporragenden Nachbarhauses nahm Luft und Sonne weg.

Die Witwe Altwirth hatte es zustande gebracht, sich in diesem völkerreichen Haus eine kleine Einsiedelei zu gründen. Eine niedere Tür im ersten Stock, nahe bei der steilen, knarrenden Holztreppe, führte in den Vorraum der Wohnung, der gleichzeitig die Küche war.

Ganz klein und schmal war der Raum. Ein eiserner Herd, ein Stuhl mit einer Gießkanne, in der Frau Altwirth das Wasser vom Gassenbrunnen zu holen pflegte, ein Tisch und ein kleiner Küchenschrank bildeten die Einrichtung und füllten den Raum so vollständig aus, daß zwei Personen nebeneinander kaum mehr Platz hatten. Das niedere Fenster war mit einem roten Vorhang verhängt und ließ das dämmerige Tageslicht vom Stiegenhaus nur spärlich eindringen.

Es war stets dunkel in der kleinen Küche der Witwe Altwirth. Dafür war es aber in dem daranstoßenden Zimmer um so heller und freundlicher. Dieses hatte die Aussicht gegen den Garten, der sich bis zum Höttinger Ried hinauf erstreckte.

Ein großer, schattiger Garten war’s, ungepflegt und unbebaut. Still und einsam war dieser Garten; denn niemand außer den Hausleuten durfte ihn benützen. [S. 99] Die Witwe Altwirth und ihr Sohn bildeten die alleinige Ausnahme. Es war die einzige verwandtschaftliche Begünstigung, die sie genossen.

In diesem Garten war Felix Altwirth groß geworden, hatte seine einsame Kindheit dort verbracht, seine reiferen Knabenjahre und die Zeit des ernsten Studiums. Hier hatte er ruhig lernen können, hatte gesonnen und geträumt und mit feinen, scharfen Augen die stille Schönheit der Natur gesehen.

Dieser einsame, große, verwilderte Garten, zu dem der wüste Kinderlärm der Straßenjugend nur gedämpft hereindrang, hatte den Künstler in Felix Altwirth geweckt. Viele Stunden saß er da und zeichnete mit geschickter Hand irgendein Blatt oder einen Baum. Und immer mehr vertiefte er sich in das Studium der Natur, und immer kühner und entschlossener wurden die Entwürfe zu seinen Arbeiten. Halbe Tage lang hielt er sich oft in dem Garten auf und zeichnete und malte mit der Lust und Liebe, die aus innerstem Trieb entspringt.

„Du solltest Künstler werden, Felix!“ riet ihm einmal Max Storf, sein um einige Jahre älterer Freund.

„Künstler!“ Felix Altwirth wiederholte es mit Bitterkeit. „Künstler, um elend zu verkommen! Du weißt doch, daß ich Beamter werden muß. Anders tut’s die Tante nicht.“ Und dann zerknüllte er in ohnmächtiger Wut die Zeichnung, die er gerade vollendet hatte.

Das war in dem großen Garten gewesen, als Max Storf neben Felix saß und dem Freunde, wie so oft schon, bei der Arbeit zusah. Max Storf war ein hochgewachsener junger Mann. Schlank und braun und äußerst lebhaft in seinen Bewegungen. Seit einem Jahr war er Assistenzarzt im Innsbrucker allgemeinen Krankenhaus. Hatte also sein Lebensschifflein schon in sichere Bahnen gelenkt.

Felix Altwirth war zart gebaut, hatte hellblondes, [S. 100] volles Haar und die leuchtende weiße und rote Gesichtsfarbe eines jungen Mädchens. Beinahe um Kopfeslänge überragte der junge Arzt seinen Freund. Es war eine seltene, treue und aufrichtige Freundschaft, welche die beiden jungen Männer schon seit Jahren verbunden hatte.

Felix Altwirth und Doktor Max Storf gehörten auch zu den Stammgästen beim Weißen Hahn. Aber sie saßen am andern Ende des Herrenstübels, an dem Tisch der jungen Leute, wo es viel lauter und ungezwungener zuging als bei dem Honoratiorentisch, an dem die Wirtin ihren Platz hatte.

Am andern Ende des Stübels waren die älteren Semester der Studenten heimisch und einige junge Ärzte und neugebackene Juristen, die noch nicht allzulange in Amt und Würden saßen. Auch das Nebenzimmer des Herrenstübels war von jungen Leuten noch dicht bevölkert.

Die Sophie hatte alle Hände voll zu tun, um sämtlichen Wünschen schleunigst gerecht zu werden. Die jungen Herren scherzten gerne mit ihr, und Sophie hatte es bald los, alle Register weiblicher Koketterie spielen zu lassen. Keck und munter gab sie Antwort, lachte und scherzte mit einem jeden. Aber da war keiner, der ihr zu nahe treten durfte.

Eines hatte sie von der Karrnerin, ihrer Mutter, gelernt. Ihr heißes, junges Blut wollte sie im Zaum halten, wollte besser mit ihrem Glück umgehen, als es jene getan hatte. Auch die schöne Tochter der Ennemoserin war ihr ein warnendes Beispiel und bestärkte sie in dem Vorsatz, sich ihre Mädchenehre zu bewahren.

Die herbe Zurückhaltung der hübschen jungen Kellnerin bildete ihre größte Anziehungskraft. Das reizte die jungen Herren und gefiel den älteren Stammgästen beim Weißen Hahn.

Sophie hatte es bald verstanden, sich zum Mittelpunkt [S. 101] des Lokals zu machen. Wie eine Fürstin herrschte sie unter ihren Herren ...

Einige Jahre waren vergangen, seit Sophie beim Weißen Hahn ihre Stellung gefunden hatte. Seitdem war sie mit allem so verwachsen, daß man sich das Stammlokal ohne die Sophie nicht mehr denken konnte.

In all der Zeit hatte sich Sophie rein gehalten. Rein mit einer einzigen Ausnahme. Das war noch nicht lange her. Sophie litt noch immer innerlich an diesem Erlebnis. Eine kurze, heiße Liebe war es gewesen. Das alte Lied von der enttäuschten Liebe im Leben des Weibes. Die alte Tragödie der verschiedenen Auffassung der Liebe beim rasch genießenden Mann und beim tiefer fühlenden Weib. Sophie erschien es als der Inhalt ihres ganzen Lebens. Für den Mann war es eine vorübergehende Episode.

Mit leichtem Herzen hatte der junge Beamte Abschied von der Liebsten genommen. Dann war er fortgegangen, weit fort, und ließ Sophie mit der bitteren Erkenntnis zurück, daß sie ihm nichts bedeutet hatte, nichts anderes war, als eine kleine, hübsche Tändelei.

Sophie Zöttl hatte damals in wildem Schmerz ihre Zähne zusammengebissen, war leichenblaß geworden und mußte ihre ganze Kraft aufbieten, um nicht laut aufzuschreien. Aber sie hielt an sich, und das Blut rann ihr aus den vollen, roten Lippen unter dem krampfhaften Biß ihrer Zähne. Kein Wort des Vorwurfs sagte sie dem Mann, und kein Wort, das ihn ihre Gefühle hätte erraten lassen. Als sie aber allein war, heulte sie wie ein todwundes Tier.

Diese demütigende Erfahrung, die den ersten großen Schmerz in ihrem Leben bedeutete, wirkte bestimmend auf ihr ferneres Empfinden. Sophie wußte nun, daß ihr das gleiche Schicksal blühen würde wie ihrer Mutter und dem blonden Roserl der Ennemoserin, wenn sie [S. 102] nicht auf ihrer Hut war und sich nicht auf’s äußerste beherrschte.

Sie lernte es, die Männer zu betrachten, als wären sie eine wilde Meute, die nur den richtigen Augenblick abwartete, um sich auf sie zu stürzen. Es war ein herber Stolz in dem Mädchen. Der gesunde Stolz des reinen, wissenden Mädchens, das liebend und vertrauend der brutalen Gier der männlichen Selbstsucht zum Opfer gefallen war.

Von da ab wurde Sophie berechnend. Sie rechnete mit ihren Jahren, und sie rechnete mit ihrer Schönheit. Mit klarem, erkennendem Blick sagte sie sich, daß sie haushalten müsse mit beidem, daß sie sich nicht vergeuden dürfe, sondern ihr Glück beizeiten suchen müsse.

Und Sophie Zöttl wählte unter ihren Verehrern. Sie hatte deren viele. Auch Felix Altwirth und Doktor Max Storf befanden sich darunter, und beide gefielen dem Mädel. Alle beide. Nur hatten sie nicht die Mittel, ihr jene Lebensstellung zu bieten, die ihr wünschenswert erschien für das, was sie Glück nannte.

Schon gar der arme Schlucker von einem Studenten, der Felix Altwirth. Was der sich eigentlich einbildete. Daß sie auf ihn herwartete? Ihr junges Leben aufs Spiel setzen sollte, um dann von ihm im Stich gelassen zu werden? Um weggeworfen zu werden, wie man sie schon einmal weggeworfen hatte!

Nein, und tausendmal nein! Sie wollte nur ein solides, aussichtsreiches Verhältnis haben. Ein Verhältnis, das zur Grundlage einer gesicherten Existenz führen würde.

Auch Doktor Max Storf vermochte ihr das nicht zu bieten. Mein Gott, ein junger Arzt ohne Vermögen. Sophie Zöttl verspürte wenig Lust, diesen rauhen Pfad einzuschlagen.

Und trotz allem mußte Sophie erkennen, daß ihr der arme Schlucker, der Felix Altwirth, noch am allerbesten [S. 103] gefiel. Felix verehrte die Sophie mit stiller Bescheidenheit als ein hohes, für ihn nie erreichbares Ideal. Und gerade diese ehrliche, stumme Verehrung rührte das Mädchen. Es war gerade dasjenige, was ihrem wunden Empfinden am wohlsten tat, was ihr den innerlichen Ausgleich verlieh und ihr den Stolz ihrer gekränkten Frauenehre wieder zurückgab.

Mehr, als ihr lieb war, beschäftigten sich ihre Gedanken mit dem jungen Mann. Sophie Zöttl war ein klarer Geist. Mit ruhiger Überlegung formte sie sich ihre Gefühle zurecht, belog sich nicht, sondern gab sich klare Rechenschaft über ihr Empfinden. Und so erkannte sie gar bald, daß jener Mann, der ihre Liebe achtlos genossen hatte, ihr heißes, leidenschaftliches Blut in Erregung gebracht hatte. Und sie erkannte auch, daß ihre Neigung für Felix Altwirth nicht rein war, sondern Leidenschaft und heißes Begehren in sich barg.

Felix Altwirth hatte keine Ahnung, was in dem Herzen des jungen Mädchens vorging. Hätte er es gewußt, so hätte diese Liebe vielleicht seinem ganzen Leben eine andere Richtung gegeben. Sie hätte in seinem Dasein jene Mission erfüllt, die echte, warme Frauenliebe zu erfüllen imstande ist.

Dem schüchternen, unentschlossenen jungen Mann, der auf dem schönsten Weg war, sich zu verbummeln, hätte das Bewußtsein der Liebe eines Weibes starken Halt, Zuversicht und kühnen Schaffensdrang verliehen.

Je mehr Felix Altwirth seinen künstlerischen Neigungen nachhing, desto weniger beschäftigte er sich mit seinem Studium. Seit zwei Jahren schon hätte er seine Prüfung als Jurist ablegen sollen, und zwei volle Jahre drückte er daran herum. Er fand nicht den Mut dazu. Alle Lust und Freude für den Beamtenberuf war ihm abhanden gekommen. Sein Innerstes sträubte sich mit Macht gegen jeden Zwang. Nach dem freien Leben [S. 104] des Künstlers sehnte er sich. Sehnte sich, einer von den ganz Großen zu werden, die da Leuchten der Menschen sind.

Mit Widerwillen betrachtete er seine Studienbücher. Wie ein Sklave kam er sich vor. Wie einer, der keinen freien Entschluß fassen durfte ... der verurteilt war, um des lieben Brotes willen ein Leben zu führen, das für ihn nur unsagbare Qual barg.

Seine Mutter und Max Storf sahen wohl die Veränderung, die mit Felix vorgegangen war. Max Storf erkannte die Ursache, aber die Witwe Altwirth konnte nicht das richtige Verständnis für den Seelenzustand ihres Sohnes finden.

Für sie war es ein Schmerz, eine persönliche Demütigung ihrer Schwester gegenüber, daß Felix seine Prüfungen nicht machte. Sie schämte sich vor ihrer Schwester und vor ihrem Schwager. Und in ihrem Zorn tat sie dasjenige, was sie hätte unterlassen müssen ... sie überhäufte Felix mit Vorwürfen. Sie trieb ihn zu seinen Büchern, wie man faule Schuljungen treibt, und machte ihm so das Leben zur Hölle.

Frau Susanne Altwirth mangelte jedes Verstehen für die künstlerischen Neigungen des Sohnes, und von Künstlerfreiheit und Künstlerdrang hatte sie keine Ahnung. Für sie war es der höchste Inhalt eines menschlichen Daseins, wenn man sein sicheres Brot hatte und dabei ungetrübt und ohne Nahrungssorgen leben konnte.

Max Storf allerdings verstand und begriff alles. Er war es auch, der einmal mit dem Apotheker über die Sache sprach.

Einmal nach einem Abend, als sie beide beim Weißen Hahn gewesen waren, begleitete der junge Arzt den Apotheker nach Hause und redete mit ihm über den Freund.

Herr Tiefenbrunner tat sehr erschrocken. „Ja, aber [S. 105] um Gotteswillen, er hat ja alles, was er braucht. Es geht ihm doch nix ab!“ sagte er und sah ganz verstört zu dem jungen Manne auf.

„Das ist’s ja auch gar nicht, Herr Tiefenbrunner!“ entgegnete Doktor Storf. „Sie lassen ihm nichts abgehen. Das ist richtig. Aber Felix eignet sich nun einmal nicht zum Beamten. Er ist ein Künstler und sollte die Mittel bekommen, um sich als solcher auszubilden.“

„Sie meinen, ein Maler werden?“ fragte der kleine Apotheker und starrte mit nachdenklichem Gesicht vor sich hin.

Die beiden waren gerade durch die breite Herzog Friedrich-Straße gegangen und blieben an der Ecke der Maria Theresia-Straße stehen. Der helle Schein einer Straßenlampe fiel auf das kleine, fahle Gesicht des Apothekers und beleuchtete scharf die tiefen Denkerfurchen auf seiner niedern Stirn.

Der Apotheker Tiefenbrunner mußte tatsächlich nachdenken. Angestrengt nachdenken. Was ihm da Doktor Storf sagte, war keine Kleinigkeit, war eine ernste Sache. Da ließen sie nun, er und seine Frau, diesen Buben, den Felix, studieren aus gutem Herzen, aus reiner Gutmütigkeit, damit er einmal sein anständiges Auskommen habe und geachtet dastehe auf der Welt. Und mehr geachtet denn als Beamter konnte man im Leben doch unmöglich sein.

Der Apotheker wurde ganz zapplig, als er seinen angestrengten Gedankengang so weit verfolgt hatte. So zapplig, daß sich sein Gesicht nach allen Seiten verzog. Dabei erbebte seine Nase vor innerer Erregung so sehr, daß der Zwicker, der ohnedies nur wackelig darauf saß, in ernstliche Gefahr geriet, herabzugleiten.

Ganz ängstlich und hilflos sah der Apotheker Tiefenbrunner über die Gläser hinweg zu Max Storf empor, und mit zitterigen Händen rückte er sich immer und [S. 106] immer wieder seinen Zwicker zurecht. Aber er wollte nicht passen. Er wollte überhaupt nicht passen, wenn Herr Tiefenbrunner eine Erschütterung seines Seelenzustandes erlitt.

Und eine Erschütterung war das unbedingt. Eine starke Erschütterung sogar. Jetzt um Mitternacht. Der Apotheker machte ganz vorwurfsvolle Augen. So eine Roheit ... das hätte er dem Max Storf gar nicht zugetraut. Ihn derart aus seiner behaglichen Ruhe zu stören! Und das noch dazu allein ohne seine Frau! Und hier, ausgerechnet hier, an der Ecke der Maria Theresia-Straße, sollte er sich entschließen in einer so wichtigen Angelegenheit. Wenn doch seine Frau in der Nähe gewesen wäre!

Ein Maler wollte der Felix werden. Schau, schau! Eigentlich ein interessanter Fall. Der Felix und ein Künstler. Was da nur seine Frau sagen würde?

Bei diesem Gedanken überkam den Apotheker ein Gefühl, als spürte er die kleinen, nervösen Trittchen einer Maus über seinen Rücken huschen. Es war entschieden eine höchst ungewöhnliche Situation. Ganz entschieden! Und es war eine Roheit von dem Doktor Storf, ihm mit so was bei der Nacht zu kommen. Ein ganz gemeiner Überfall war es, der ihn eigentlich erzürnen sollte.

Aber Herr Tiefenbrunner erzürnte sich nicht. Schon aus Prinzip nicht. Er beschwichtigte immer und in jeder Lebenslage. So beschwichtigte er sich jetzt auch selber. Eine Zumutung blieb es aber deswegen doch.

Der kleine Apotheker hatte endlich einen Ausweg aus seiner unangenehmen Lage entdeckt. „Ja,“ sagte er sehr langsam, als müßten sich seine Gedanken erst allmählich aus dem tiefen Labyrinth der innersten Seelenforschung erholen. „Ja, ein Künstler, sagen’s, möcht’ der Felix werden?“

[S. 107]

„Jawohl!“ bestätigte Max Storf. „Ein Maler. Und dazu braucht er Mittel, Herr Tiefenbrunner. Er muß die Akademie besuchen, muß ...“

„Wissen’s was, Herr Doktor ...“ versetzte der Apotheker, und sein Gesicht glättete sich deutlich vor Freude über den gefundenen Ausweg. Er legte den Zeigefinger seiner rechten Hand an die Nasenspitze und sah furchtbar klug aus. „Wissen’s was, i red’ mit meiner Frau darüber.“

Herr Tiefenbrunner war nie ein großer Redner gewesen und mußte sich stets jeden Satz gewaltsam von der Zunge ringen. Seine Sprache klang leise und etwas heiser, als ob er an ständigem Rachenkatarrh leiden würde.

„Der Felix ist ja meiner Frau ihr Neffe ...“ fuhr er langsam und bedächtig fort. „Da soll sie entscheiden, was das Gescheiteste in dem Fall ist. Wissen’s, die Frauen sind in solchen Fällen immer die Gescheitern!“ fügte er mit leisem Kichern hinzu. „So machen wir’s, Herr Doktor, gelten’s?“

Ehe es sich der junge Arzt versah, hatte ihm der Herr Apotheker Tiefenbrunner die Hand gedrückt und war um die Ecke gebogen, die zum Marktgraben führte. „Kommen’s gut nach Haus!“ rief er ihm noch rasch nach. „I bieg’ jetzt da heim ummi. Gute Nacht, Herr Doktor! Schlafen’s g’sund!“

Etwas verblüfft schaute Max Storf dem Apotheker nach. Dieser Ausgang der Unterredung war gar nicht nach seinem Geschmack. Wenn die Frau Apotheker zu entscheiden hatte, dann war die Sache allerdings verloren. Das wußte er bestimmt. Aber ein gerissener Schlaumeier war der Apotheker. Das mußte man ihm lassen. Der geborene Diplomat. Kein Wunder, daß es der verstand, sich so unentbehrlich zu machen ...

Frau Therese Tiefenbrunner fällte ihr Urteil, und das lautete, daß ein Maler niemals nicht das Ansehen habe von einem Beamten, und daß das nicht ginge, daß man [S. 108] von den Prüfungen davon laufe, und daß der Felix seine Staatsprüfung zu machen habe, und daß nachher noch immer Zeit genug sei, den Fall zu besprechen.

Doktor Max Storf mußte an sich halten, um dem Apotheker keine grobe Erwiderung zu geben, als ihm dieser den Bescheid seiner Frau überbrachte. Er wußte, daß er durch jedes unüberlegte Wort seinem Freund nur geschadet hätte.

Schlussvignette, Kapitel 5

[S. 109]

Sechstes Kapitel.

E s blieb bei der Entscheidung der Frau Apotheker. Felix Altwirth mußte sich, ob er wollte oder nicht, mit dem Ernst seiner Lage vertraut machen. Tag und Nacht büffelte und studierte er und bläute sich die für ihn so trockene Materie seines Faches ein.

Oft hatte er das Gefühl, als könne sein Kopf nichts mehr auffassen, nichts begreifen und nichts behalten, was da vor ihm gedruckt und geschrieben stand. Mit beiden Fäusten stützte er dann seinen gemarterten Schädel. Wiederholte immer und immer wieder die gleichen Stellen und dachte doch in innerster Seele an ganz was anderes ...

Felix Altwirth machte seine Staatsprüfung und fiel zweimal durch. Es war schon das erstemal schrecklich. Nun war es aber der völlige Zusammenbruch.

Max Storf hatte den Freund von der Universität abgeholt. An dem todbleichen Gesicht des jungen Mannes erkannte er auf den ersten Blick, wie die Sache stand. Abermals durchgefallen. Ruiniert. Die ganze Existenz vernichtet.

Kein Wort konnte Felix Altwirth sprechen. Stumm und gleichgültig schritt er neben dem Freunde und beachtete gar nicht, daß dieser durch den alten Torbogen der Hofgasse einlenkte und die Richtung gegen den Weißen Hahn nahm.

Es war Spätherbst, und die Abende waren früh und kühl. Der dämmerige Schein der hereinbrechenden Nacht fiel über die hochgebauten, altersgrauen Häuser der Hofgasse. Die Lichter der Straßenlampen brannten noch nicht. Geschäftiges Treiben herrschte in der schmalen Gasse. Kinder tummelten sich umher, schrien und pfiffen oder trugen Milch oder Bier für den elterlichen Haushalt heim.

Schweigend schritten die beiden jungen Männer nebeneinander [S. 110] her. Felix befand sich in einem Zustand so vollständiger Apathie, daß er wie willenlos dem Freunde folgte. Erst als sie im Hausflur des Gasthofes zum Weißen Hahn anlangten, fuhr er erschrocken zusammen.

„Da hinein ...“ machte er. „Du wirst doch nicht ... Ich kann nicht, Max! Laß mich, ich kann heute nicht unter Menschen gehen!“

Max Storf nahm mit festem Griff den Arm des Freundes und zog ihn gewaltsam mit sich fort.

„Es ist noch nicht spät, Felix. Es wird dir gut tun. Die Stammgäste kommen ja erst später.“

Im Herrenstübel war es gähnend leer. Eine Lampe erleuchtete den Raum nur sehr spärlich.

Der junge Arzt war dem Freund behilflich, den Hut und den Überzieher abzulegen. Gleichgültig ließ Felix alles mit sich geschehen. Es fröstelte ihn. Wie in einem Traumzustand befand er sich, aus dem er nie wieder zu erwachen wünschte.

Für Augenblicke kam ihm seine ganze Lage zum Bewußtsein. Durchgefallen, wieder durchgefallen! Was wohl jetzt mit ihm geschehen würde? Ob sich die Verwandten nun von ihm abwenden würden? Nur nicht nachdenken, nur jetzt nicht nachdenken!

Wie ein milder, alles verstehender Vater redete Max Storf mit guten Worten auf Felix ein. „Nimm’s nicht so hart, Felix. Du kannst ja nichts dafür. Es ging dir halt die ganze Sache gegen deine Natur. Vielleicht ist’s zu deinem Glück, daß es so gekommen ist!“

„Glück!“ Mit bitterem Hohn wiederholte Felix dieses Wort. „Glück! Als ob ich je ein Glück gekannt hätte im Leben!“

Und dann saßen die beiden jungen Männer schweigend nebeneinander, eine ganze Weile lang.

Erst nach geraumer Zeit kam Sophie ins Herrenstübel. Die Kellnerin von der Schwemme hatte sie darauf aufmerksam [S. 111] gemacht, daß im Herrenstübel Gäste seien. Die Schwemme befand sich auf der rückwärtigen Seite des breiten, gewölbten Hausflurs und war das Gastzimmer derjenigen Besucher des Weißen Hahn, die im sozialen Leben eine oder auch zwei Stufen niedriger standen als die Gäste des Herrenstübels.

Es geschah nicht oft, daß die Schwemmkellnerin ihrer Kollegin einen Gefallen erwies. Ganz im Gegenteil. Wenn sie ihr einen Possen spielen konnte, so tat sie es. Teils aus Neid auf deren bevorzugte Stellung und teils aus persönlicher Abneigung.

Die Sophie war daher äußerst erstaunt über die ungewohnte Liebenswürdigkeit der andern. „Bist ja heut’ gar amal nett zu mir, Kathl!“ meinte sie scherzend. „Wo muß i denn das hinschreiben?“

„Von mir aus, wohin du willst!“ erwiderte die andere schnippisch. Sie trug einige Biergläser in der Hand und stieß im Vorbeigehen mit Absicht an die Sophie an, so daß ihr der braune Saft über die blendend weiße Schürze spritzte.

„Macht nix!“ sagte die Sophie scherzhaft. „Bin jung g’nug. Das kann i schon aushalten!“

Dabei zeigte sie im Lachen die zwei Reihen großer, schöner, weißer Zähne, die in dem braunen, gesund geröteten Gesicht den Eindruck kräftigster Lebensfrische nur noch erhöhen halfen. Die Sophie wollte darauf anspielen, daß die Kathl sich schon den Dreißigern näherte, während sie selber ja noch in der ersten Blüte der Zwanziger stand.

Mit flinken Schritten lief sie dann ins Herrenstübel. „Ja, Herr Altwirth und der Herr Doktor!“ machte sie erstaunt und hielt den beiden die Hand zum Gruße hin. „Was ist denn das, daß Sie schon da sind so zeitlich?“

Die Sitzungen im Herrenstübel gingen immer erst viel [S. 112] später an. Vor sieben Uhr war noch wenig Leben in der Bude.

Ein feines Rot bedeckte das zarte Gesicht von Felix Altwirth, als er zu dem hübschen Mädchen aufsah, das vor ihm stand und ihn forschend anschaute. Seine großen, etwas träumerischen blauen Augen leuchteten auf. Es tat ihm wohl, ihr frisches, teilnehmendes Gesicht zu sehen.

„Ich hab’ Prüfung gemacht, Fräul’n Sophie ...“ sagte er dann zögernd.

„Ja ... und?“ Er glaubte etwas wie eine geheime Sorge in dem Klang ihrer Stimme zu vernehmen. „Wie ist’s denn ausgangen?“

„Wie die frühere auch. Durchgefallen!“ Der junge sprach es leise, kaum hörbar. Seine Stimme verschleierte sich, als habe er mit aufsteigenden Tränen zu kämpfen. Er hielt den Kopf tief nach vorne gesenkt, und in seinem weichen Kindergesicht zuckte es gewaltsam.

Sophie hatte mehr Licht gemacht. Der helle Schein fiel auf das blonde, volle Haar des jungen Mannes. Es lag etwas Rührendes in seiner ganzen Haltung. Fast noch etwas knabenhaft Unberührtes.

Wie er so da vor ihr an dem mit einem farbigen Tuch gedeckten viereckigen Tische saß, war es der Sophie, als hätte Felix Altwirth eine Ähnlichkeit mit ihrem toten Brüderchen, dem Karrnerbübel. Und ganz ähnlich, wie sie jenen so oft in seinem kindlichen Leid getröstet hatte, machte sie es nun mit dem durchgefallenen Prüfungskandidaten. Mit der ganz gleichen resoluten Energie, in demselben mütterlich tröstenden Ton sprach sie jetzt zu Felix, wie sie es in ihren frühen Kinderjahren so oft getan hatte.

Sophie Zöttl setzte sich auf die Bank an die Seite des jungen Mannes, ergriff mit warmem Druck seine [S. 113] eisigkalte Hand und hielt sie fest in der ihren. „Und jetzt, jetzt sind’s natürlich recht unglücklich! Statt daß Sie Ihnen freuen täten, daß Sie kein so langweiliger Beamter zu werden brauchen. Gelten’s? Und möchten wohl am liebsten gleich in Inn eini springen, ha? Und stellen Ihnen vor, wie schön ’s wär’, wenn man an jedem Ersten sein schäbiges G’haltel einstecken könnt’, wie man vertrocknen dürft’ vor lauter Aktenstaub. Und dann hinaus kommen tät’ aufs Land als k. k. Bezirksrichter. Ja, ja!“ nickte sie mit einem komisch ernsten Gesicht, als Felix sie unterbrechen wollte. „Es ist schon so, wie ich sag’! Und wenn man dann am Land draußen den großen Herrn spielen könnt’ ... und wenn man dann alt und katzgrau und so schäbig ist, daß si’ g’wiß koa Madel mehr nach einem umdreht, da darf man wieder in die Stadt z’ruck. Da kriegt man an schönen G’halt und bildet sich an Batzen drauf ein. Stackelt umanander, recht breit und recht behäbig, Bauch voran und die Füß’ auseinander, daß ja a anderer Mensch koan Platz mehr hat, da wo man selber geht. Denn am Land draußen, da hat man’s erst begriffen, daß man wer ist, und da bildet man sich nacher aa was ein drauf, weil man sonst nix hat, auf was man sich was einbilden könnt’. Ja, ja ... mei’ Lieber, so ist’s! Und das möchten Sie werden, akrat das? Aber z’schad sein Sie für so eppas, sag’ i Ihnen, viel z’schad dazu! Grad recht ist’s, daß Sie durchg’fallen sein. Justament recht ist’s, und mi g’freut’s. Jatz muß die Apothekerin nachgeben, ob sie will oder nit! Gelten’s, Herr Doktor?“

Felix Altwirth hatte bei dem Redeschwall des jungen Mädchens unwillkürlich lachen müssen. Sie hatte das alles mit so viel Entschlossenheit und drolliger Urwüchsigkeit gesagt, daß es ihn erheitern mußte.

Ein gutes Korn Wahrheit steckte ja in dem allen, was sie sagte. Diese ganze Schilderung des alternden Beamten [S. 114] hatte er sich oft genug selbst gemacht, und mit Schaudern hatte er sich vorgestellt, wie wohl sein ganzes Leben da draußen am Land mitten unter den Bauern sich gestalten würde.

Vielleicht hatte die Sophie doch recht. Vielleicht war’s trotz allem nicht gar so schlimm, daß er durchgefallen war. Vielleicht durfte er nun doch sein Leben ... Ja, wenn nur die Tante und der Onkel nicht wären und seine Mutter. Seine Mutter ... die wußte ja noch gar nichts, wie’s um ihn stand.

Bei diesen Erwägungen machte Felix Altwirth ein recht trauriges Gesicht und unterdrückte nur mit Mühe einen Seufzer.

Auch Max Storf dachte an die Verwandten seines Freundes und sagte ziemlich mutlos: „Das stellen’s Ihnen doch leichter vor, als es ist, Fräul’n Sophie. Die Frau Apotheker ...“

„Ach was, die Frau Apotheker! Die nimm einfach i mir z’leihen. Der sag’s einfach i. Die kommt ohnedies heut’ auf d’Nacht her. Da kommt’s mir grad recht. Da red’ i damit!“ meinte die Sophie resolut.

Mit einem jähen Ruck war Felix Altwirth von seinem Sitz emporgeschnellt. „Was? Die Tant’ kommt? Ja da muß i gleich ...“ Und mit Blitzeseile hatte er nach seinem Hut und nach seinem Überzieher gelangt, um sich vor der ihm drohenden Gefahr zu flüchten.

Lachend hielt ihn Max Storf mit beiden Händen an den Schultern fest. „Ob du dableibst oder nit, du Hasenfuß! Vor einem Weib davon laufen, schämst di nit?“

„Nein, ich schäm’ mich nit! Bleib du und red’ mit ihr, wenn du die Schneid’ hast!“ Felix Altwirth mußte jetzt über sich selber lachen.

Die Erinnerung an seine Tante bewirkte, daß sich sein Humor entschieden besserte. Es war eine Art komischer Furcht, die er vor seiner Tante hatte. Er wußte, daß [S. 115] diese Frau allein sein Schicksal in Händen trug. Diese Frau, der gegenüber er sich stets wie auf einem Vulkan befand. Keinen Augenblick fühlte er sich davor sicher, mit ihr ernstlich zusammen zu krachen.

Ihre bornierte Anmaßung, die Beschränktheit ihrer Lebensauffassung und ihre ungeheure Gönnermiene hatten ihn von jeher schon so gereizt, daß er es stets vorzog, mit dem Onkel zu verhandeln ohne Beisein von dessen Frau. Hauptsächlich aus diesem Grunde war er ursprünglich Stammgast beim Weißen Hahn geworden. Bis dann später ein neuer Anziehungspunkt hinzukam, der ihn dort fesselte. Das war seine heimliche Verehrung für Sophie Zöttl.

„Ich bleib’ schon!“ sagte der junge Arzt. „Und ich red’ auch mit ihr. Aber nit heut’, sondern erst morgen. Also heut’ ist wieder Damenabend?“ erkundigte er sich dann bei der Sophie. „Wer kommt denn alles?“

„Na also amal die Frau Apothekerin Tiefenbrunner, dann die Frau Patscheider, die Frau Direktor Robler, die Frau Professor Haidacher, die Frau Baurat Goldrainer und ihre Schwester ...“

Felix Altwirth hielt sich mit komischem Entsetzen die Ohren zu. „Um Gotteswillen hören’s auf, Fräul’n Sophie! Da wird einem ja ganz damisch bei die vielen Leut’. Da geh’ ich lieber!“

„Aber Sie wohl nit, Herr Doktor, hm?“ fragte Sophie mit schnippischer Anzüglichkeit.

„Nein, ich nit, ich bleib’!“ erwiderte der junge Arzt fest, aber doch mit einiger Verlegenheit in seinem Gesicht.

Die Sophie wußte es ganz genau, daß sich Doktor Max Storf nun schon seit einiger Zeit für Fräulein Hedwig Eisenschmied, die Schwester der Frau Baurat Goldrainer, interessierte. Daß der junge Arzt so bald schon seine Aufmerksamkeiten gegen sie auf eine andere übertragen hatte, das kränkte ihre weibliche Eitelkeit.

[S. 116]

Sophie Zöttl war in gewisser Beziehung ein sehr verwöhntes Mädchen geworden und verlangte es, ohne sich dessen bewußt zu sein, daß ihr sämtliche männliche Mitglieder der Stammtischgesellschaft huldigten. Sie hatte mit dem jungen Arzt ihr Spiel getrieben. Sie hatte mit ihm kokettiert, wie sie mit jedem kokettierte. Aber nicht lange. Max Storf eignete sich nicht, der Sklave eines Weibes zu werden oder sie in scheuer Anbetung zu verehren, wie sein Freund dies tat.

Der junge Arzt hatte sich eine warme Verehrung für die reine Frau bewahrt. Daß Sophie noch zu den reinen Frauen gehörte, das fühlte er. Er hatte keine Ahnung von ihrer eigentlichen Abkunft und hielt sie für ein Bauernmädchen aus dem Unterinntal.

Max Storf war Menschenkenner genug, um es zu wissen, daß ein wildes, ungezügeltes Temperament unter der scheinbar gleichgültigen Art des jungen Mädels lauerte. Ein Temperament, das er sich scheute zu wecken, das ihm für ein loses Spiel zu gefährlich schien und für ein ernstes Glück zu ruhelos und wild.

In Fräulein Hedwig Eisenschmied glaubte er das Mädchen gefunden zu haben, das ihm für ein dauerndes Glück sichere Bürgschaft bieten konnte.

Sophie bemerkte sofort den Umschwung in seinen Gefühlen. Da sie ihn nicht liebte, berührte es sie innerlich nur wenig. Einzig und allein gekränkte Eitelkeit war es, die sie veranlaßte, dem jungen Arzt schnippische und anzügliche Reden zu geben. Doktor Storf war kein Neuling in der Beurteilung und Behandlung der Frauen, und sein Takt, auch in diesem Falle, erregte die geheime Bewunderung von Felix ...

Es war schon beinahe halb acht Uhr abends, als Felix Altwirth das Stammlokal beim Weißen Hahn verließ. Gerade noch rechtzeitig, ehe er mit dem ersten der abendlichen Gäste im Hausflur zusammentraf.

[S. 117]

Langsam schlenderte Felix die Anlagen des rechtsseitigen Innufers entlang. Er hatte den dunklen Hut tief in die Stirn gedrückt. Den Rockkragen des hellen Überziehers hatte er aufgestülpt und die beiden Hände in die weiten Taschen vergraben. So ging er mit lässigen Schritten seines Weges, ohne jemand zu beachten. Er kam noch immer früh genug nach Hause. Es eilte ihm gar nicht. Den bittern Reden und Vorwürfen seiner Mutter würde er ja doch nicht entgehen. Daß sie damit nicht sparen würde, das wußte er.

So nahe sich Mutter und Sohn in früheren Jahren gestanden waren, so tief war die Kluft zwischen ihnen geworden. Unüberbrückbar erschien sie dem Sohn. Wenn er nur fort könnte! Fort von hier ... weit fort!

In der Dunkelheit der Nacht bauten sich ihm die Berge der Nordkette auf wie die Riesenmauern eines Gefängnisses. Hoch, mächtig und erdrückend schwer. Da war kein Ausweg für Felix. Fast schien es ihm, als sei das gigantische Gebirge in seiner trotzig herben Unnahbarkeit ein Symbol für ihn.

Kein Ausweg! Sollte er tatsächlich hier in dieser Stadt ein kleines Schicksal zu Ende leben müssen? ...

Am Himmel war kein Stern sichtbar. Stockfinster war die Nacht und regenschwer die Luft. Immer weiter ging Felix Altwirth den Inn entlang ... viele Stunden ... weit hinunter ins breite Inntal. Erst der frühe Morgen brachte ihn heim zu seiner Mutter.

Schlussvignette, Kapitel 6

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Siebentes Kapitel.

E s geschah nicht oft, daß die Herren von der Stammtischgesellschaft beim Weißen Hahn ihre Damen mitbrachten. So alle heilige Zeiten einmal kam es vor. Aber dann ging’s auch jedesmal hoch her. Da wurde geplaudert, gelacht und gesungen, und die Sitzungen waren ausdauernder, als wenn die Herren unter sich blieben.

Wenn so ein Weiblein einmal etwas Gutes genießt, dann will sie es auch bis zur Neige auskosten. Das war gewöhnlich der Schluß der philosophischen Betrachtungen, die der Herr Rat Leonhard immer und immer wieder anstellte und durch die er die Notwendigkeit solcher weiblicher Heimsuchungen zu ergründen bestrebt war. Dieser Schluß war für ihn eine Art Selbstberuhigung. Besonders dann, wenn er in lauten Selbstgesprächen, die er auf der Straße mit sich führte, sich diesen Schluß stets von neuem wieder vorsagte und sich damit zu trösten suchte.

Für den Herrn Rat waren die Damenabende eine große Geduldprobe. Mit geheimer Angst sah er jedesmal einen solchen Abend herannahen. Er ertrug ihn als eine ihm vom Schicksal auferlegte Prüfung. Obwohl er diese Prüfung als im höchsten Grade unverdient erachtete, wußte er sie doch mit Anstand und Würde zu tragen. Der Anstand und die Würde, die der Herr Rat bei solchen Gelegenheiten zur Schau trug, waren allerdings etwas eigentümlicher Art. Alles, was er zur Verschönerung seines äußeren Menschen tat, beschränkte sich darauf, daß er sich nebst einem weißen Hemd einen steifen Kragen anlegte, einen breiten, niedern Umlegkragen, und dazu eine helle, möglichst geschmacklose Krawatte, die ihm selber aber außerordentlich gefiel.

Im gewöhnlichen Leben war der Herr Rat stets mit einem bunten oder auch dunkelfarbigen Flanellhemd bekleidet, [S. 119] dessen weicher Kragen ihn nicht drücken konnte. Die Stelle der Krawatte vertrat meistens eine Schnur mit Quasten, wie sie bei den Touristenhemden üblich ist. Steife Kragen oder gar Manschetten haßte der Herr Rat ehrlich und aufrichtig und betrachtete diese „Futteraler“ als eine unerhörte Beschränkung seiner persönlichen Freiheit.

Die Frau Professor Haidacher, die eine lustige Frau war und eine unbedingt satyrische Ader besaß, machte einmal die Bemerkung: sie glaube, der Herr Rat Leonhard wähle die dunkle Hemdenfarbe aus Sparsamkeitsgründen und mit Rücksicht auf die Reinlichkeit.

Der böse Witz wurde viel belacht; denn alle wußten es, daß der Herr Rat ziemlich ungezogene Manieren bei Tisch besaß und daß seine Kleidung nie ohne die Spuren der genossenen Mahlzeiten blieb.

Daß der Herr Rat Leonhard zu den Damenabenden auch jedesmal ein weißes Hemd anziehen mußte, war eine Prozedur, die der lustigen Frau Professor sicher viel Vergnügen bereitet hätte, wenn sie dieselbe hätte beobachten können. Im Geist stellte sie sich’s zwar genau so vor, wie es in der Wirklichkeit sich immer ereignete. Und diese Vorstellung ließ es ihr nur begreiflich erscheinen, daß der alte Junggeselle den Damenabenden beim Weißen Hahn bloß Gefühle des Abscheus und der Furcht entgegenbrachte.

Die lustige Frau Professor sah den kleinen Mann, wie er in seiner Junggesellenbude nervös auf und ab trippelte, überall seine Wäsche zusammensuchte und sie nicht finden konnte. Sie sah ihn, wie er nach glücklich vollbrachtem Fund sich abmühte, in das steife, ihm ungewohnte Wäschestück hinein zu schlüpfen. Sie hörte ihn ächzen und keuchen und ingrimmig fluchen, wenn er den Ausweg für den Kopf nicht finden konnte, da er vergessen hatte, oben die Knöpfe aufzumachen. Sie sah ihn [S. 120] in ratloser Verzweiflung und mit ungeschickten, zitterigen Händen einen Knopf annähen, der lose an einem Faden hing und auszubrechen drohte, und sah noch viele kleine Unfälle, die ihm widerfuhren und die er zu überstehen hatte.

Und das mußte der Herr Rat, wie die rundliche, gut genährte Frau Professor mit innerer Befriedigung feststellte, alles zur Strafe dafür durchmachen, weil er es versäumt hatte, sich rechtzeitig im Leben um eine Gefährtin umzusehen, die ihm die kleinen Lasten des Alltags mit liebevoller Sorge abgenommen hätte.

Als warnendes Beispiel hatte die Frau Professor den Rat Leonhard schon oft dem Doktor Rapp vor Augen gestellt. Denn daß der Advokat so völlig keine Lust bezeugte, in den Ehestand zu treten, das wollte ihr schon gar nicht gefallen.

„Schauen’s, Herr Doktor, so viele hübsche junge Mädeln gibt’s in Innsbruck. Mädeln mit Geld und Mädeln ohne Geld. Beißen’s doch an! Ein Mann wie Sie! Ich bitt’ Ihnen!“

Auch heute abend hatte sich die Frau Professor den Doktor Rapp aufs Korn genommen, um ihn abermals in ihrer lustigen Art für den Ehestand zu kapern. Sie selber war eine äußerst glückliche Frau geworden, hatte einen guten, etwas phlegmatischen Mann gefunden, der ihr willig das Zepter der Regierung überließ und sich in alles fügte, was sie bestimmte. Da Frau Anna Haidacher eine sehr vernünftige Dame war, so bedurfte es auch keiner allzu großen Selbstverleugnung von Seite des Herrn Professors, sich ihrem höhern Willen unterzuordnen.

Die Frau Professor war entschieden der Sonnenschein am Stammtisch. Sie war die einzige, die es zustande brachte, die Sophie für den Abend auszustechen. Ohne Absicht natürlich; denn sie befand sich nebst den andern [S. 121] Damen in vollkommener Unkenntnis darüber, welchen Grad der allgemeinen Aufmerksamkeit das junge Mädchen für gewöhnlich genoß. Sophie trat für diesen einen Abend gerne zurück. Sie erfreute sich gleich den andern an der sprudelnden Heiterkeit der jungen blonden Frau.

Sophie hatte eine ganz besondere Zuneigung zur Frau Professor gefaßt. Sie zog sie allen übrigen Damen vor und machte sich gerne um sie zu schaffen. Das kam daher, weil Frau Haidacher ganz anders zu dem Mädel war als die übrigen Damen. Frau Anna hatte eine gute, freundliche Art, mit dem Mädchen zu reden. Sie sprach mit ihr, als wäre sie eine ihresgleichen, und kehrte mit keinem Wort, mit keinem Blick und keiner Gebärde die Dame vom Stande heraus; und dafür hatte Sophie ein besonders feines Empfinden.

Die Damenabende waren für Sophie eigentlich stets Stunden der Selbstüberwindung und Selbstbeherrschung. Ihre Stellung beim Weißen Hahn war mit der Zeit eine derartige geworden, daß sie das Gefühl, eine Dienerin zu sein, ganz verloren hatte. Die Wirtin hielt sie wie ihr eigenes Kind. Die Gäste bewunderten sie und feierten sie und ließen sich von ihr hofmeistern. Das Dienstpersonal nahm eine Art scheuen Abstandes von ihr ein, der nicht frei von Neid war.

Mit dem Auftreten der Damen in der Stammtischgesellschaft änderte sich für Sophie das Bild, und sie empfand deutlich den sozialen Unterschied zwischen sich und jenen. Da war keiner der Männer, der es gewagt hätte, in Gegenwart der Frauen einen Witz mit ihr zu machen. Sogar die jungen Herren am andern Ende des Zimmers verhielten sich ruhiger und zurückhaltender. Sophie war stets froh, wenn so ein Damenabend wieder glücklich überstanden war. In diesem Punkt stimmte sie mit dem alten Herrn Rat vollkommen überein.

Mit heimlicher Genugtuung bemerkte sie es, wie die [S. 122] übrigen Damen es der Frau Professor neideten, daß diese der Mittelpunkt der Gesellschaft war und sich der allgemeinen Gunst erfreute. Die Professorin war hübsch, jung, übermütig und besaß einen sich stets gleichbleibenden Humor. Eigentlich war Frau Professor Haidacher gar keine Innsbruckerin. Sie war nur eine „Eingeheiratete“ und von Geburt eine Linzerin.

Es dauerte auch geraume Zeit, ehe die Innsbrucker Damenwelt sich mit ihr anfreunden konnte. Die herzliche, heitere Art der jungen Frau bezwang aber doch schließlich die kühle, beobachtende Zurückhaltung der Damen. Jetzt allerdings war sie schon längst eine der Ihren geworden, und sie fanden sich ab mit ihrer überquellenden Lustigkeit und mit der für ihre Begriffe zu extravaganten Kleidung der Professorin.

Frau Haidacher liebte es, sich stets nach der allerneuesten Wiener Mode zu kleiden. Und die Art und Weise, wie sie sich trug, wie sie sprach und ging, verriet die Dame von Welt, die in ihre gegenwärtige spießbürgerliche Umgebung nicht so ganz hineinpassen wollte.

Daß sie nicht ganz zu ihnen paßte, das fühlten die Innsbrucker Damen besser, als es Frau Haidacher selbst bewußt wurde. Die Professorin hatte sich rasch eingewöhnt in der Stadt. In ihrer leichtlebigen Art fand sie sich gleich mit allem zurecht und sehnte sich keinen Augenblick nach ihrer alten Heimat zurück.

Sophie Zöttl war, während die Professorin den Rechtsanwalt wieder einmal neckte, in der Nähe geblieben und hatte scharf auf jedes Wort geachtet, das gesprochen wurde.

Sie stand hinter dem Stuhl der Professorin und hatte die rechte Hand leicht auf die Lehne gestützt. Es war eine vertrauliche Haltung, die sie einnahm, während sie ihr Gesicht gegen eine andere Seite wandte, als erwarte sie von dort her einen Auftrag oder als achte sie gar [S. 123] nicht darauf, was in ihrer allernächsten Nähe verhandelt wurde.

Und doch entging ihr kein Wort, nicht ein einziges. Auch nicht die geringste Nuance im Tonfall eines Wortes. Sie war so voll Aufmerksamkeit, daß sie es nicht einmal bemerkte, wie einige Damen sich über ihre gemütliche und ungezwungene Art sich zu geben beschwerten.

Die Frau Patscheider, die sich, wenn ihr Gatte anwesend war, ganz besonders dazu berufen fühlte, über Schickliches und Unschickliches zu urteilen, wandte sich mit schlecht verhehlter Empörung an ihre Nachbarin, die Frau Baurat Goldrainer: „Finden Sie nicht, Frau Baurat, daß die Sophie jetzt anfangt, gar a bissel zu vertraut zu werden. Das gehört sich schon gar nicht. Ein Unterschied muß doch sein. Sie ist ja doch bloß a Kellnerin!“ meinte sie, und ihre vollen Lippen verzogen sich geringschätzig.

Die Frau Patscheider war eine Frau in den schönsten Jahren. Groß, schwarz und üppig, ein bißchen zu üppig. Die schwere, goldene Uhrkette, die sie doppelt um den Hals geschlungen trug, lag straff gespannt über der schwarzseidenen Bluse, die den prallen Busen nur noch mehr zur Geltung brachte. Die Frau Patscheider machte den Eindruck, als hätte sie sich ganz besonders eifrig der Prozedur des Schnürens unterzogen. Sie atmete schwer, und wenn sie sprach, schöpfte sie immer erst tief Atem, als verursache ihr das Sprechen eine ungeheure Anstrengung.

Die Damen saßen alle in einem Kreis beisammen. Männlein und Weiblein waren streng geschieden. Nur die Professorin bildete hier abermals eine Ausnahme. Sie mußte an ihrer Seite stets ein Mannsbild haben, wie sie sich ausdrückte. Sonst fühlte sie sich nicht wohl. „An einer Seite wenigstens!“ lachte sie. „Damit ich auch einmal was anderes zu hören krieg’, als Kinder, [S. 124] Dienstboten und den andern Klatsch.“ Die Damen lachten ihr dann immer mit süßsaurer Miene zu. Die Professorin war halt einmal so. Daran konnte man nichts ändern.

Auch Frau Therese Tiefenbrunner hatte einen Tischnachbar. Sie hatte sich ihn zwar nicht ausgesucht, sondern er war für sie bestimmt worden. Nämlich der Herr Rat Leonhard.

Da der Herr Rat diese Abende als eine ihm von Gott auferlegte Prüfung ansah, in die er sich mit Würde und Anstand zu schicken wußte, so erachtete er es auch für seine Pflicht, bei diesen Gelegenheiten als Tischältester zu präsidieren. Und daß er dies nur an der Seite einer Dame konnte, war klar.

Da die Wirtin an den Damenabenden stets den Platz zu seiner Rechten innehatte und keine der Damen zu bewegen war, ihr diesen Platz zu nehmen, so blieb nur noch der Platz zur Linken des Herrn Rat frei. Eine jede der Damen hatte aber eine ganz bestimmte Abneigung dagegen, neben dem Herrn Rat zu sitzen.

Der Herr Rat pflegte an den Damenabenden einen völlig andern Menschen aus sich zu machen und allen ihm lieb gewordenen Angewohnheiten zu entsagen. Er verzichtete sogar mit Rücksicht auf die Vertreterinnen des schönen Geschlechtes auf seine ihm sonst unentbehrliche Pfeife. Der Herr Rat hatte in seiner frühen Jugend einmal gehört, daß es nicht anginge, in Gegenwart von Damen Pfeife zu rauchen; und das hatte er sich wohl gemerkt. Er wollte nicht unhöflich sein. Um keinen Preis! Und er wußte auch, was sich gehörte.

Daher rauchte der Herr Rat Leonhard an den Damenabenden nur Zigarren. Sie schmeckten ihm zwar nicht. Beileibe nicht! Aber er tat’s doch aus purer Höflichkeit und kam sich dabei als das größte Opferlamm vor, das je gelebt hatte.

Da der Herr Rat im Zigarrenrauchen keine Übung [S. 125] besaß, so behandelte er die Zigarren äußerst schlecht. Er biß darauf, kaute sie zur Abwechslung, entblätterte sie, schnitt sie auseinander, damit sie besser ziehen sollten. Kurz, er befand sich den ganzen Abend in einem unausgesetzten Kriegszustand mit seiner Zigarre.

Dies trug absolut nicht zur Besserung seiner Laune bei und vermochte auch nicht, sein Behagen zu erhöhen. Seine ganze Aufmerksamkeit wurde von dem tückischen, leblosen Gegenstand in seinem Munde in Anspruch genommen. Und wenn er sich auch noch so viel Mühe gab, möglichst unbefangen zu erscheinen und ein freundliches Gesicht zu schneiden, so brachte er es doch über eine verzerrte, griesgrämige Grimasse nicht hinaus.

Sprechen tat der Herr Rat überhaupt nichts. Nur ab und zu nahm er sich einen Anlauf und öffnete seinen Mund zu einer Rede. Da wurde dann immer nur eine Frage daraus. Und es war auch stets dieselbe Frage, die er von Zeit zu Zeit wie eine Offenbarung an seine Nachbarin zu richten pflegte. Für ihn war es auch eine Offenbarung. Das Resultat einer angestrengten Gehirntätigkeit, eine Erlösung von der Pein des Nachdenkens. Denn alles Nachdenken half nichts, es wollte ihm nie ein Gesprächsstoff einfallen.

Wenn der Herr Rat nach der gestellten Frage abermals in tiefes Nachdenken versank, schloß er die Augen und tat, als schliefe er. Nur ein heftiges Zucken gab Zeugschaft, daß er noch munter war und den Kampf mit seinem heimtückischen Glimmstengel auf eine andere Weise fortzusetzen suchte.

Wie ein feiner Sprühregen ergoß es sich aus seinem Mund fortwährend und ohne Unterbrechung. Fast lautlos setzte er den Kampf mit den Tabakblättern fort, die sich wie Kletten an seine Zungenspitze festzukleben suchten.

Daß die Damen es vorzogen, so weit als möglich von [S. 126] dem sonderbaren Herrn zu sitzen, war ihnen gewiß nicht zu verdenken.

Die lustige Frau Professor hatte einen Kriegsrat abgehalten. Ganz im geheimen und mit Ausschluß der Apothekerin. Da die Apothekerin unter den anwesenden Damen die älteste war, wurde beschlossen, ihr ein für allemal den Ehrensitz neben dem Herrn Rat abzutreten. Und mit viel Würde und unsagbar huldvoller Miene thronte Frau Therese Tiefenbrunner seither neben dem Herrn Rat Leonhard am Stammtisch beim Weißen Hahn ...

Es war tiefinnerstes Interesse, das Sophie Zöttl so genau aufpassen hieß bei der Unterredung zwischen der Professorin und dem Doktor Rapp.

Sophie besaß keinerlei Zuneigung für den Rechtsanwalt, und ihr Interesse an ihm war einzig und allein schlau durchdachte Berechnung. Doktor Valentin Rapp besaß alles, was Sophie begehrte. Er war reich, angesehen und nicht zu alt. Schön war er ja nicht, aber doch immerhin nicht häßlich. Und zur Not konnte sie sich ja gerade einreden, daß sie ihn ganz gern habe.

Verliebt war sie nicht. Das gestand sie sich selber vollkommen ehrlich ein. Denn dazu steckte ihr der Student, der Felix Altwirth, doch zu sehr im Kopf.

Sophie Zöttl wußte, daß diese Neigung zu dem mittellosen Studenten bei ihr vergehen würde. Sie mußte eben vergehen. Koste es, was es wolle. Jetzt galt es für sie, alle Karten auf ein Spiel zu setzen. Und dieses Spiel war Doktor Rapp.

Mit der geriebenen Schlauheit, die ihr und ihresgleichen im Blute lag, begann sie das Spiel. Wie eine Spinne fing sie an, feine, unsichtbare Fäden zu weben. Dichter und immer dichter, bis die Fäden zu einem Netz wurden, aus dem ein Entrinnen fast unmöglich war.

Doktor Rapp war es sich noch nicht bewußt, daß er [S. 127] den Mittelpunkt dieses fein angelegten Kunstwerkes bildete. Sophie wollte erfahren, in welchem Grade der Rechtsanwalt seine Unbefangenheit bewahrt habe. Und deswegen verfolgte sie die Unterredung mit der Professorin mit so gespannter Aufmerksamkeit. Sie wußte, daß es einzig und allein darauf ankam, den Doktor tunlichst lange in dieser Unbefangenheit zu erhalten, bis zu einem Zeitpunkt, wo ein Entkommen dann ausgeschlossen sein würde.

Hätte Doktor Rapp auch nur den leisesten Verdacht geschöpft, welches Attentat Sophie auf seine persönliche Freiheit plante, so wäre er mit groben, unbarmherzigen Fäusten dazwischen gefahren und hätte das ganze Gespinst weiblicher Schlauheit vernichtet.

Der Rechtsanwalt dachte mit keinem Gedanken ans Heiraten. Wenn man ihn damit neckte, so lachte er und sagte, er wolle sich’s noch überlegen. Es sei ja noch Zeit. Es könne ja sein, daß er noch auf den Geschmack komme. Bis jetzt halte er noch nicht viel vom Ehestand.

Die Professorin meinte dann jedesmal mit komischer Verzweiflung, daß der Doktor eine ganz außergewöhnliche Art von Ehefeind sei. Einer von jenen allerschlimmsten, die das Heiraten nicht „verschreien“ wollen, um der Ehe desto sicherer zu entrinnen.

In Wirklichkeit hielt sich der Rechtsanwalt Doktor Rapp zu Besserem berufen, als sich, wie er sich in ganz intimen Kreisen auszudrücken pflegte, mit Weib und Kindern ein Leben lang herum zu streiten. Er wußte, daß er hohe geistige Fähigkeiten besaß, und erachtete es für seine Pflicht, diese Fähigkeiten zum Wohle seiner Heimatstadt und seines Landes fruchtbringend anzulegen.

Doktor Max Storf hatte sich für diesen einen Abend zu den Herrschaften am Stammtisch gesellt und saß [S. 128] neben Fräulein Hedwig Eisenschmied und deren Schwager, dem Baurat Goldrainer.

Hedwig Eisenschmied war ein stilles, etwas verschüchtert aussehendes Mädchen, Mitte der Zwanziger. Der Altersunterschied zwischen ihr und Max Storf betrug höchstens zwei oder drei Jahre. Sie war klein und zierlich, hatte ein fein geschnittenes, blasses Gesichtchen und dunkle Haare, die sie in schlichter Art gescheitelt und tief im Nacken zu einem Knoten geschlungen trug.

Ihre hellen Augen standen in einem seltsamen Gegensatz zu dem tiefdunklen Haar. Sie verliehen ihr einen leicht ätherischen Anstrich. Ihre Bewegungen waren so langsam und bedächtig wie ihre Sprache. Sie machte den Eindruck, als hielte sie stets in ihrer Rede mit etwas zurück, als fürchtete sie durch ihre Offenheit sich zu schaden oder mißverstanden zu werden.

Völlig entgegengesetzt war das Äußere ihrer um viele Jahre älteren Schwester. Die Frau Baurat hatte schon leicht ergrautes Haar und sah älter aus, als sie war. Frau Goldrainer besaß ein Gesicht, das von Sorge erzählte, aber auch von Mut und Energie. Der schmale, scharf gezeichnete Mund verriet es, daß die Frau Baurat sich im Leben zu behaupten verstand. Sie machte keinen schüchternen Eindruck wie ihre Schwester, sprach resolut und mit etwas spitzer, schriller Stimme. Sie war groß und knochig, und das Hagere ihrer Erscheinung stach neben der üppigen, molligen Figur der Frau Patscheider ganz besonders unangenehm ab.

Fräulein Hedwig Eisenschmied nahm sich neben ihrer großen Schwester aus wie ein schüchternes kleines Vöglein, das sich Schutz und Schirm suchend eng an einen festen Halt schmiegt. Hedwig Eisenschmied fühlte es wohl, daß sich der junge Arzt um sie bewarb, und sie wußte es auch, daß es für eine ernste Verbindung kein Hindernis gab. Als die Tochter eines angesehenen Kaufmanns [S. 129] besaß sie Vermögen genug, um einen Hausstand gründen zu können.

Aus freiem Willen war sie bis jetzt ledig geblieben. Sie hatte keine rechte Lust zum Heiraten und war sich auch heute noch vollständig im unklaren, wie sie sich dem Doktor Storf gegenüber zu verhalten habe.

Da sie mutterlos war, besaß ihre ältere Schwester den größten Einfluß auf sie, und diese riet ihr, die Partie nicht auszuschlagen. Doktor Storf sei zwar mittellos, aber dafür ein schöner Mann, einer von jenen, um den sie einmal alle beneiden würden.

Doktor Storf war in der Tat eine äußerst angenehme Erscheinung. Er war nicht gerade schön, jedoch in seinem ganzen Auftreten ritterlich und elegant. Auf den ersten Blick sah man ihm den ehemaligen Korpsstudenten an. Sein Gesicht war ernst und sein Benehmen, besonders im Verkehr mit Damen, von außerordentlicher Zuvorkommenheit. Es war daher kein Wunder, daß er den Beifall der Frau Baurat fand und daß sie ihn gerne als Schwager gesehen hätte. Ihr eigener Gatte war gerade das Gegenteil von dem jungen Doktor, in seinem ganzen Wesen und auch in seinem Charakter.

Zu wundern war es nur, daß Hedwig keine tiefere Neigung für den jungen Mann bezeugte. Sie blieb kühl und gleichgültig, wie sie es eben bei allen früheren Bewerbern auch geblieben war. Auch jetzt hörte sie in ihrer ruhigen Art dem jungen Manne zu, wie er auf sie einredete, und sah ihn nur manchmal mit großen, scheuen Augen an. Es lag etwas Angstvolles in ihrem Blick, als fürchtete sie sich davor, den jungen Arzt näher kennen zu lernen.

Sie ist ganz gewiß das Gegenteil von Sophie, sagte sich Max Storf. Das Wilde, Unbändige des Temperaments ist bei ihr nie zu fürchten. Es wird ein stilles, gleichmäßiges Glück werden. Dabei stellte er aber im [S. 130] Geheimen doch Vergleiche an zwischen Hedwig Eisenschmied und der Sophie. So auch am heutigen Abend.

Sophie achtete nicht auf den jungen Arzt. Sie bemerkte es auch nicht, daß Max Storf sie nun schon seit geraumer Zeit nicht aus den Augen ließ und sie scharf beobachtete. Es entging Max keineswegs, daß Sophiens Aufmerksamkeit auf den Rechtsanwalt gerichtet war; und zum ersten Male fiel es ihm auf, daß das Mädchen anders zu Doktor Rapp war, als zu den übrigen Herren.

Mit den Augen des Kenners ließ er Sophiens ganze Erscheinung auf sich wirken. Er sah ihre große, volle Figur, sah die fast königliche Art ihrer Kopfhaltung, sah die Grazie in ihren Bewegungen, das Weiche, Schmeichelnde in ihrem Gang. Sah das derbe, dunkle Gesicht und die blutroten Lippen, die nach Küssen zu lechzen schienen, und sah, wie sie langsam und lässig ihre Hand von der Stuhllehne der Professorin nahm und sie leicht und wie unabsichtlich auf eine Hand des Rechtsanwalts legte, während sie sich jetzt mit anmutiger Gebärde zu ihm herunter neigte, um ihn nach etwas zu fragen.

Der junge Arzt sah auch, daß sie länger mit Doktor Rapp sprach, als es sich geziemte, und daß sie ihm mit einer Innigkeit in die Augen schaute, wie er es von diesem Mädel noch nie gesehen hatte. Und er sah es auch, wie Doktor Rapp sich leicht nach rückwärts neigte, dem Mädchen entgegen, und wie eine tiefe Röte sein ohnedies stets gutgefärbtes Gesicht überzog.

Und Doktor Storf wußte es seit jener Stunde, daß der Doktor Valentin Rapp, der eingefleischte Junggeselle, diesem Weibe verfallen war.

Es ging lustig her am Stammtisch. Die Frau Direktor Robler, die eine zwar ungebildete, aber immerhin sehr gutklingende Singstimme besaß, ließ sich die Guitarre bringen und begleitete ihre Lieder auf der Laute. Es [S. 131] waren muntere Volkslieder, Couplets und Koschatweisen. Wie sie ihr gerade in den Kopf kamen. Immerzu sang sie darauf los und freute sich wie ein Kind über den allgemeinen Beifall, den sie erntete.

Frau Robler war nicht mehr ganz jung, aber sie war lustig und sangesfroh. Gesellschaftliche Talente besaß sie außer ihrem Gesang keine. Sie war ruhig, und in ihrem Wesen lag eher etwas Unliebenswürdiges und Abstoßendes. Das verlor sich aber, wenn sie erst in Stimmung kam und auftaute. Diese Stimmung konnte durch ein Glas guten Weines am ehesten erreicht werden. Den Wein liebte sie genau so wie ihr Gatte, der manchesmal recht gerne einen Tropfen über den Durst trank.

Die Frau Apotheker Tiefenbrunner thronte mit dem Aufgebot ihrer ganzen Würde neben dem Rat Leonhard. Sie war die einzige von den Damen, die ihren Hut am Kopf behalten hatte. Es war ein runder, steifer Filzhut mit einer großen Straußenfeder, deren Spitze ihr seitwärts herunterhing und stets ihr rechtes Ohr zu kitzeln schien. Die Apothekerin hatte ein breites, fast lederfarbiges Gesicht, eine stumpfe Nase mit einer leichten Neigung nach oben, kleine, dunkle Augen und dichte, eng aneinander gewachsene Brauen. Ihr Hals war kurz und ungewöhnlich dick, so daß man hinter dem hochgeschlossenen Kragen unschwer einen Kropf vermuten konnte.

Frau Therese Tiefenbrunner trug ein hellbraunes Kleid von steifer, schwerer Seide, das durch den weißen Einsatz von echten Spitzen den Beweis erbrachte, daß die Frau Apotheker wohl die Mittel, jedoch nicht den nötigen Geschmack besaß, um sich gut zu kleiden. Schwere goldene Ohrgehänge, eine goldene Kette und Brosche sowie schöne wertvolle Ringe vervollständigten den Aufputz der Frau Apotheker.

Sie war eine kleine, gedrungene Gestalt, nicht zu dick, aber derb und knochig, und machte, obwohl sie schon [S. 132] eine hohe Fünfzigerin war, den Eindruck, daß sie sich durchaus gut erhalten hatte. Geduldig saß sie neben dem Rat Leonhard und trug mit keinem Wort dazu bei, sein Mißbehagen zu vergrößern.

Für so etwas wie für den Rat Leonhard und seine Schrullen besaß sie unbedingt ein volles Verständnis. Sie tat, als bemerke sie den feinen, lautlosen Sprühregen gar nicht, der unausgesetzt den erbitterten Kampf des Herrn Rat mit seiner Zigarre begleitete. Frau Tiefenbrunner machte dabei eine riesig wohlwollende und fast gönnerhafte Miene. Der Reihe nach lächelte sie jeden Einzelnen am Tisch an und hielt die kleinen, dicken, lederfarbigen Hände fest ineinander verschlungen vor ihrer Brust.

Ab und zu wechselte sie hinter dem Rücken des Herrn Rat ein freundliches Wort mit Frau Maria Buchmayr, der Wirtin, deren fettglänzendes und faltenloses Gesicht heute sanft und zufrieden strahlte wie der Vollmond in einer schönen Juninacht.

Öfters sah die Frau Apotheker auch hinüber zur Sophie, der Kellnerin. Aber es war entschieden ein Ausdruck äußersten Mißtrauens in ihrem Blick. Sie traute der Sophie nicht. Das konnte man deutlich sehen.

Da die Apothekerin von Haus aus eine gutmütige Frau war, unterließ sie es, irgendwen auf die Sophie aufmerksam zu machen. Zu was auch? Der Doktor Rapp war alt genug, um auf sich selber achtzugeben. Sie ging’s einmal nichts an. Und wenn der Doktor Rapp auch hineinsauste und die Sophie heiraten würde, sie würde ihn einmal nicht warnen davor, sicher nicht. Und sie würde sich auch sonst nicht einmischen. Aber dem Simon, ihrem Mann, wollte sie gleich noch heute abend ihre Bemerkungen mitteilen. Der würde Augen machen.

So etwas sah der Simon nämlich nie. Da war sie [S. 133] eine ganz anders scharfe Beobachterin. Ihr entging auch nicht der leiseste Vorfall auf dem Gebiete der Liebe. Zu verwundern war es nur, daß außer ihr keine einzige der Damen die drohende Gefahr zu bemerken schien.

Eine Gefahr war es ja doch entschieden für alle, wenn die Damen die einstige Kellnerin als ihresgleichen in ihren Kreis aufnehmen mußten. Die Apothekerin gönnte es ihnen schon im voraus. Das geschah ihnen recht! Sie gönnte es ihnen schon deshalb, weil die Damen, wie Frau Therese genau wußte, sie nie für ganz voll genommen hatten und sie unter sich immer noch die Kothlacknerin zu nennen pflegten.

Bei der bloßen Erinnerung daran stieg der Unmut und die Empörung in Frau Therese Tiefenbrunner auf. Ihr Blick war nicht mehr so wohlwollend wie früher, und ihre dicken, breiten Lippen lächelten nicht mehr so gütig. Es war ein dunkler, stechender Blick, den sie jetzt über die anwesenden Damen schweifen ließ. Und ingrimmig sagte sie zu sich selber: „Bagage, hochmütige! Recht g’schieht’s euch!“

Frau Therese Tiefenbrunner würde die Sophie nicht verraten. Die konnte von ihr aus den Advokaten ganz fest umgarnen. Recht geschah ihm. Ganz recht! Warum paßte er nicht besser auf.

Die Apothekerin hielt ihre Hände noch fester ineinander verschlungen, und ihre Lippen öffneten sich zu einem verständnisvollen und nachsichtigen Schmunzeln. Beifällig nickte sie der Sophie zu, die gerade zu ihr herüberschaute.

Frau Therese Tiefenbrunner ließ ihre kleinen, scharf beobachtenden Augen weiter wandern in dem Kreis der Tafelrunde, und sie sah, daß sich noch andere zarte Bande anknüpften, die auch den übrigen Damen nicht verborgen geblieben waren.

Als sie Fräulein Hedwig und Doktor Storf längere [S. 134] Zeit beobachtet hatte, fiel ihr mit einem Male ihr Neffe ein, der Felix Altwirth. Der mußte doch auch hier sein. Sie wußte es ja bestimmt, daß der täglich beim Weißen Hahn verkehrte. Der mußte unten sitzen an dem andern Tisch, der Felix, bei den jungen Leuten.

Die Apothekerin sah angestrengt nach der Richtung hinunter, wo sie Felix vermutete. Sie schaute und schaute und konnte ihn nirgends entdecken. Allerdings war die Beleuchtung etwas getrübt durch den dichten Tabaksqualm, der die Menschen und die Gegenstände nur wie durch einen Nebelschleier erkennen ließ.

Aber das war doch zu dumm, daß sie nicht einmal den Felix sah. Sie wischte sich die Augen mit den Fingern klar, um besser sehen zu können. Jedoch umsonst.

Frau Therese Tiefenbrunner achtete jetzt in ihrem Eifer, den Felix zu entdecken, gar nicht darauf, daß zu ihrer andern Seite die Frau Robler saß und sang. Sie beugte sich nach rechts und beugte sich nach links und erregte durch dieses etwas merkwürdige Gebahren die Aufmerksamkeit ihres Gatten, der ihr schräg gegenübersaß und gerade in ein wichtiges Gespräch mit dem Herrn Patscheider vertieft war.

„Was ist denn, Theres?“ frug er mit nervöser Unruhe. „Fehlt dir was?“

„Ah! Nur den Felix such’ ich. Ist er nit da?“ erwiderte sie.

Der Apotheker, der mit dem Rücken gegen den untern Tisch im Herrenstübel saß, wandte sich um. Dabei drehte er sich mit seinem Stuhl herum, behielt die Zigarre ruhig im Mund, setzte sich den Zwicker zurecht und schaute forschend über die Gläser hinweg in die Luft. Er wollte sich in aller Behaglichkeit einen Überblick verschaffen.

Eine ganze Weile saß der Apotheker so da, stemmte dann die beiden dünnen Arme in die Hüften und schüttelte nachdenklich und sehr bedächtig den Kopf. Dann schob [S. 135] er seinen Stuhl wieder zurecht, klemmte den Zwicker noch fester auf die Nase, sah seine Frau fest und starr an und konstatierte mit ruhiger Würde: „Ich hab’ ihn nit g’sehen.“

Eine Weile starrten sich die beiden Ehegatten in die Augen, als stünden sie vor einem großen Rätsel. Da mischte sich die Sophie ein, die den ganzen Vorgang beobachtet hatte. „Der Herr Altwirth ist schon nach Haus gangen, gnädige Frau. Er war nur ganz kurz da.“

„So, so. Schon da g’wesen ist er. Ich dank’ schön, Sophie.“ Herr Tiefenbrunner tat die Zigarre aus dem Mund, nahm bedächtig den Zwicker ab, der nun an der schwarzen Schnur baumelte, zog sein Taschentuch heraus, sah seine Frau an, legte seine Stirn in äußerst nachdenkliche Falten, fing an, den Zwicker zu putzen, setzte ihn mit zittrigen Händen wieder auf, legte sein kleines Köpfchen schief auf die Seite nach der Richtung, wo Doktor Storf saß, schielte über die Gläser hinweg auf den jungen Arzt hin und ließ sich endlich mit einer für seine Verhältnisse lauten und eindrucksvollen Stimme vernehmen: „Sie, Herr Doktor Storf, wissen’s, warum der Felix heut’ schon heimgangen ist?“

Dem jungen Arzt gab es einen Ruck, da er sich so plötzlich von dem Apotheker angeredet hörte. Als wäre er bei irgendeinem Vergehen ertappt worden, bedeckte eine tiefe Röte sein bräunliches Gesicht.

„Ich ... wie meinen Sie, Herr Tiefenbrunner?“ erwiderte er in ziemlicher Verlegenheit. Er wollte durch die Gegenfrage Zeit gewinnen, um sich eine Ausrede für seinen Freund zurechtzulegen; denn hier unter all den Leuten konnte er doch unmöglich mit der Wahrheit herausrücken.

Frau Therese sah die Verlegenheit des jungen Arztes und schöpfte sofort Verdacht. Sie war nicht gewillt, sich von Doktor Storf hinters Licht führen zu lassen, [S. 136] wenn die Sache mit Felix nicht ganz stimmen sollte. Daher nahm sie eine erwartungsvolle Haltung ein, rückte auf ihrem Sitz etwas vor, legte beide Arme auf den Tisch, als säße sie in der Kirche bei der Predigt, und sah andachtsvoll zu dem jungen Arzt hinüber.

„Ich mein’, Herr Doktor Storf, ob Sie mir vielleicht Auskunft erteilen könnten, wo der Felix, unser Neffe, am heutigen Abend hingegangen ist?“ Es war die Frau Apotheker Tiefenbrunner, welche die Frage stellte. Sie sprach langsam, betonte jedes Wort wie ein gewiegter Redner und ihre Stimme klang voll und etwas speckig. Das mochte wohl von ihrem auffallend dicken Hals herrühren.

Unwillkürlich schwiegen jetzt alle; denn Frau Theresens Stimme war laut vernehmbar. Sogar der untere Tisch der jungen Leute war etwas ruhiger geworden.

„Richtig, der Felix fehlt ja heut’!“ sagte Sepp Ganthaler. Er war ein junger Mann, Maler seines Zeichens, und liebte es, sein Künstlertum auch äußerlich ein wenig zur Schau zu tragen.

Doktor Storf verbeugte sich bedauernd: „Wo der Felix hingegangen ist, weiß ich nicht, gnädige Frau!“ sagte er dann ausweichend.

„So?“ Frau Therese tat sehr erstaunt. „Das wissen’s also nit, Herr Doktor? Aber vielleicht wissen’s, warum er zu so früher Stunde schon fortgegangen ist?“

Die Frau Professor Haidacher wechselte boshafte Blicke mit der Frau Patscheider und mit der Frau Direktor Robler. Es amüsierte die Damen stets köstlich, wenn Frau Therese ihr gewähltes Hochdeutsch sprach. Sophie sah mit festen, unverwandten Augen auf den jungen Arzt. Sie war bereit, ihm zugunsten von Felix Altwirth beizuspringen.

„Felix war nicht ganz wohl heute abend, so viel ich weiß. Er hatte Kopfschmerzen!“ sagte Doktor Storf [S. 137] und machte ein möglichst gleichgültiges Gesicht. Dann wandte er sich gegen den Apotheker und fragte: „Darf ich Sie übrigens morgen vormittag besuchen, Herr Apotheker? Ich hab’ mit Ihnen zu sprechen. Welche Zeit ist Ihnen da am angenehmsten?“

Der Apotheker sah ratlos zu seiner Frau hinüber. Das war also schon wieder ein Attentat auf ihn. Dieser Doktor Storf war ja ein geradezu unheimlicher Mensch. Gut, daß er seine Frau dabei hatte. Die wußte ja stets Rat.

„Was meinst denn, Theres? Um wieviel Uhr paßt’s dir denn?“

„Ich möcht’ mit Ihnen persönlich sprechen, Herr Apotheker!“ sagte Doktor Storf mit fester Betonung.

„Sie, Herr Doktor Storf ...“ nahm nun Frau Therese wieder das Wort. „Sie haben doch g’wiß nur in der Angelegenheit wegen dem Felix, wegen unserm Neffen, mit meinem Mann zu sprechen. Nicht wahr?“

Doktor Storf verbeugte sich zustimmend. Er sah, daß es vor dieser Frau kein Entrinnen gab, wenn man nicht geradezu grob werden wollte.

„Der Felix Altwirth ist doch der Sohn von meiner Schwester. Nicht wahr? Das wissen’s doch, Herr Doktor, gelten’s? Und wann Sie wegen dem Felix Altwirth mit meinem Mann zu sprechen haben, dann müssen Sie mir auch erlauben, daß ich auch ein Wörtel da drein zu reden hab’. Weil ich nämlich in derer Sache in erster Linie auch drein zu reden hab’, weil ich nämlich auch die Sache bezahl’, die er verstudiert, wissen’s?“

Frau Therese hatte sich, während sie sprach, ganz aufrecht gehalten und hatte wiederholt eindrucksvoll mit dem Kopf genickt. Dabei wackelte die Feder auf ihrem Hut so herausfordernd, daß es der lustigen Frau Haidacher alle Beherrschung kostete, um nicht laut aufzulachen.

[S. 138]

Doktor Rapp, der für Taktlosigkeiten ein sehr feines Empfinden besaß, stieg das dicke, schwere Blut zu Kopf. Er kannte Felix Altwirth nur ganz flüchtig. Aber der junge Mann war ihm sympathisch. Und daß die Apothekerin so öffentlich hier über ihn verhandelte, das empfand er als eine Roheit.

In seiner impulsiven Art wandte er sich daher an Frau Therese Tiefenbrunner und meinte in lustiger Weise: „Aber jetzt, gnädig’ Frau, haben’s dem Doktor Storf noch immer kein Rendezvous geben für morgen. Wie lang muß denn der Häuter noch warten, bis Sie ihm endlich die gnädige Erlaubnis erteilen!“

Die Apothekerin sah mit prüfendem Blick zu dem Advokaten hinüber. Sie sah, daß seine heitere Art nur gemacht war, und fühlte es, daß er sich in ihre Angelegenheiten zu mischen gedachte. Dieses Recht wollte sie ihm aber unter keinen Umständen zugestehen. Sie mischte sich ebenfalls nicht in seine Sachen und verwahrte sich daher auch gegen alle fremden Einflüsse, die da zugunsten ihres Neffen auftauchen könnten.

„Der Herr Doktor Storf weiß es ganz genau, daß er uns ein liebwerter Gast ist!“ fuhr sie in ihrer langgezogenen Sprechweise fort. „Und was meinen Neffen anbetrifft, den Felix Altwirth, so muß ich schon sagen, daß ich es, gelinde gesagt, merkwürdig finde, daß er heute abend nicht zugegen ist. Wo er doch weiß, daß seine Tante, nämlich ich, da sein tut. Und wo er mir doch den schuldigen Respekt zu erweisen hätte. Das ist schon höchst merkwürdig. Nicht wahr, Simon?“ wandte sie sich mit gekränkter Miene an ihren Mann.

Dem Apotheker war die ganze Geschichte höchst peinlich. Er wußte nicht recht, wie er sich eigentlich zu verhalten habe. Er hatte ein unbestimmtes Gefühl, daß seine Frau einen Ton anschlug, der nicht hierher paßte. Und doch war wiederum ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit [S. 139] mit seiner Frau in ihm, das ihn hieß, sie nicht im Stiche zu lassen.

Da er aber tatsächlich große diplomatische Talente besaß, so gab es für ihn nur wenige Schwierigkeiten, in denen er nicht einen Ausweg gefunden hätte. So auch jetzt wieder.

Der Apotheker sah zuerst seine Frau eine Weile starr an, verzerrte sein kleines, fahles Gesicht ganz schauderhaft, zog eine Falte nach der andern in die Stirn, so daß der Zwicker von der Nase fiel und er ihn wiederholt zurecht setzen mußte, und meinte dann mit ruhiger Würde: „Der Felix wird studieren müssen!“ Das sagte er im Ton vollster Überzeugung. „Wenn ich mich nicht irre, so wird er jetzt bald die Staatsprüfung machen müssen. Nicht wahr, Herr Doktor?“ fügte er hinzu, indem er sich an den jungen Arzt wandte.

Doktor Storf sah unwillkürlich zur Sophie hinüber. Es war ein Blick des Einverständnisses, den diese beiden miteinander wechselten. Er entging der Apothekerin nicht.

„Allerdings!“ erwiderte Max Storf ausweichend. „So wird’s wohl sein.“

Doktor Rapp unterhielt sich ziemlich laut mit dem Herrn Patscheider. Er wollte die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenken, da ihm die Verhandlungen über Felix Altwirth immer peinlicher wurden. Es war eine geschäftliche Angelegenheit, welche die beiden Herren in gleichem Maße interessierte.

Wenn aber Frau Therese sich einmal an einer Sache festgebissen hatte, so ließ sie nicht so leicht wieder locker. Sie besaß jetzt für nichts mehr ein Interesse, als für ihren Neffen Felix.

„So wird’s wohl epper nit sein, Herr Doktor!“ fing sie neuerdings an.

In ihrem Eifer, den Doktor Storf zu überführen, vergaß sie ganz darauf, sich ihrer gewählten Ausdrucksweise [S. 140] zu bedienen, und sprach im schönsten Kothlackner Dialekt. Das klang so rein und unverfälscht, daß die Damen einander verständnisvoll zulächelten.

„Ich hab’ da einen Blick aufgefangen ...“ meinte Frau Therese bedächtig ... „zwischen Ihnen und der Sophie, der mir nicht gefallen tut. Das muß i Ihnen schon sagen, gar nit g’fallt er mir. Da steckt etwas dahinter, das mi angeht und mi wollen’s hinters Licht führen! Da kenn’ i mi schon aus!“ fügte sie gekränkt hinzu.

Dann aber erinnerte sie sich, was sie ihrer Stellung schuldig war, gab sich einen Ruck, nahm eine sehr huldvolle Miene an und sagte darauf zu Sophie, indem sie jedes Wort eindrucksvoll betonte: „Und jetzt, Sophie, wend’ ich mich einmal an Ihnen. Jetzt reden einmal Sie zu mir, wie sich’s g’hört. Und jetzt frag’ ich Ihnen, was ist denn das für eine Geheimnistuerei mit dem Felix? Was wissen denn Sie davon?“

Da Sophie nicht gleich Antwort gab, ermunterte sie das Mädchen: „Sie dürfen schon reden. Sie dürfen Ihnen schon getrau’n!“ meinte sie mit wohlwollender Herablassung.

„O, gnädig’ Frau, i getrau’ mir schon zu reden!“ Sophie trat jetzt resolut vor und stemmte ihren Arm in die Seite. „Soviel Sie wollen, gnädig’ Frau! Ich fürcht’ mi nit vor Ihnen!“ sagte sie mit leichtem Spott.

„Jetzt schauen’s amal so a Person!“ flüsterte die Patscheiderin ihrer Nachbarin zu. „So a Frechheit!“

Sophie hörte nichts, was die Damen leise miteinander verhandelten. Sie schaute nur fest auf die Apothekerin, die es innerlich schon zu bereuen begann, daß sie sich an die Sophie gewandt hatte. Der Ton, in dem das Mädel zu ihr sprach, war ihr entschieden unbehaglich.

„Also ...“ fuhr die Sophie energisch fort. „Damit Sie gleich alles wissen und Ihnen danach einrichten können ... der Herr Altwirth, Ihner Neffe, der hat [S. 141] die Staatsprüfung heut’ g’macht, und er hat sie nicht bestanden.“

Die Apothekerin warf einen triumphierenden Blick auf ihren Gatten, als wollte sie sagen: „Siehst, genau so, wie ich’s mir gedacht habe!“

Der Herr Apotheker Tiefenbrunner rief in ratloser Bestürzung: „Wa—a—a—s sagen’s da?“

„Er hat sie nicht bestanden!“ fuhr die Sophie ruhig fort. „Weil er sie nicht hat bestehen können! Und warum hat er sie nicht bestehen können? Weil man einen Menschen nicht zwingen tut, ein Beamter zu werden, wenn er ein Künstler ist. Und weil er nämlich gar nichts dafür kann, und weil es ganz recht ist, und weil er jetzt nach München auf die Akademie kommen muß! Und dann kann er ein richtiger Mensch werden und sonst nit. Und weil die gnädig’ Frau schon einmal soviel für ihn getan hat und ihn hat studieren lassen, so wird halt gar nix anders übrig bleiben, als daß sie ihn jetzt auf die Kunst studieren laßt. Da kann man gar nix machen. Es muaß halt sein!“

Ein schallendes Gelächter brach unten am Tisch der jungen Herren los. „Bravo, Sophie! Bravo!“

„Sollst leben, Sopherl!“

„Der tapfern Streiterin, Fräulein Sophie Zöttl, ein Hoch!“ rief Hans Windhager, ein junger Ingenieur. „Die hat Schneid’!“

„Brav plädiert, Sophie!“ lobte der Doktor Rapp. „Ganz ausgezeichnet! Ich werde dich zu meinem Kompagnon ernennen!“ meinte er scherzhaft und hielt Sophie sein gefülltes Weinglas entgegen, damit sie daraus trinken sollte, was sie auch lachend tat.

„Ja, das wird auch das Gescheiteste sein, Herr Doktor, was Sie tun können!“ meinte Frau Therese mit nur schlecht versteckter Anzüglichkeit.

Es ärgerte sie gewaltig, daß sich Sophie diesen unverschämten Ton, wie sie es innerlich nannte, gegen sie [S. 142] erlaubt hatte. Und daß die Herren dazu noch lachen konnten! Denn sie sah es wohl, mit Ausnahme ihres eigenen Mannes freuten sich alle Männer über die schneidige Rede der Kellnerin.

Sogar der Herr Rat Leonhard unterbrach für einen Augenblick den stummen Zweikampf mit seiner Zigarre, nahm sie aus dem Mund, hielt sie vor sich hin, fletschte die kleinen, angefaulten Zähne wie ein quietschvergnügter Mops, zwickte die Augen zusammen und nickte ganz heiter und fröhlich der Sophie zu.

Der Apotheker machte einen bedauernswerten Eindruck, was nur dazu beitrug, die allgemeine Heiterkeit noch zu erhöhen. Wie ein Häufchen Elend saß er zusammengeknickt auf seinem Sessel und wußte sich für den Moment keinen rettenden Ausweg zu finden.

Nur die Damen waren für diesen einen Fall ganz entschieden auf seiten der Frau Apotheker. Frau Haidacher allerdings konnte sich vor Lachen kaum mehr fassen. Die rührende Unverschämtheit des Mädchens gefiel ihr zu gut. Und der Apothekerin, dieser dummen, arroganten Person, gönnte sie es vom Herzen.

Die Frau Patscheider sah mit empörten Augen zu ihrem Mann hinüber. Sie hatte es gesehen, mit ihren eigenen Augen gesehen, wie Herr Patscheider den Arm des Mädchens streichelte und sie ganz verliebt anstarrte. Na, der sollte ihr heute heimkommen! Dem würde sie’s sagen! Ob das ein Benehmen sei! Schämen sollte er sich, ein Mann in seinen Jahren und eine Kellnerin!

Nur mit dem Aufgebot ihrer größten Selbstbeherrschung hielt die Frau Patscheider an sich. Am liebsten hätte sie ihren Gatten hier vor allen Leuten zurecht gewiesen. Aber das ging doch nicht an. Das durfte sie nicht tun. So viel Rücksicht schuldete sie seiner Stellung. Das fühlte sie. Daher überwand sie sich und kam sich dabei vor wie eine Heldin.

[S. 143]

Aber nicht nur die Frau Patscheider, sondern auch die andern Frauen hatten Ursache, mit ihren Männern unzufrieden zu sein. Es war das erstemal, daß das Eis gebrochen war, daß die Herren die Gegenwart ihrer Frauen vergaßen und sich Sophie gegenüber so benahmen wie an den übrigen Abenden.

Der Baurat Goldrainer trank der Sophie zu, und seine Gattin bemerkte, wie er ihr heimlich eine Kußhand schickte. Die Frau Baurat wußte es, daß ihr Gatte es nie allzu genau mit der ehelichen Treue genommen hatte, und daher befiel sie ein eifersüchtiger Argwohn. Eigentlich spürte sie eine innere gehässige Freude, daß sie ihren Mann nun wieder einmal „ertappt“ hatte.

Die Ehe des Herrn Baurat und seiner Gattin war bereits auf jenem Standpunkt angelangt, wo die Liebe sich in Haß verwandelt hatte und nur die Rücksicht auf die Kinder und die gesellschaftliche Stellung diesen Bund zusammenhielt.

Frau Goldrainer freute sich darauf, ihren Mann mit ihrer neuen Entdeckung zu quälen, und hielt jetzt schon innerliche Zwiesprache mit sich, wie sie ihm drohen wollte, daß sie nie wieder zum Weißen Hahn mitgehen würde, wo so eine „Person“ herrschte.

Und immer mehr redete sich die Frau Baurat für sich selber in eine tiefe Empörung hinein. Sie hatte doch geglaubt, daß der Weiße Hahn ein anständiges Lokal sei und Frau Buchmayr eine anständige Frau, die „so etwas“ nie dulden würde. Und mit einem Male wandte sich ihr ganzer Zorn gegen die Wirtin.

Es waren stechende, brennende, verächtliche Blicke, welche die arme Wirtin über sich ergehen lassen mußte. Von allen Seiten. Denn wie auf ein lautloses, allgemeines Kommando ließen auch die andern Damen die Wirtin plötzlich ihre stumme Entrüstung fühlen. Der Frau Maria Buchmayr wurde es schließlich so unbehaglich, [S. 144] daß sie sich schwerfällig von ihrem Sitz neben dem Herrn Rat erhob und so schnell sie konnte aus dem Zimmer humpelte.

Frau Therese Tiefenbrunner fühlte es instinktiv, wie die Damen in geschlossener Reihe hinter ihr standen und zu ihr hielten. Sogar die Professorin hatte auf einmal aufgehört zu lachen und war ganz ernst geworden.

Die Apothekerin fühlte ihre Stärke, und das verlieh ihr den Mut, den Angriff gegen Doktor Rapp fortzusetzen. Denn eine Genugtuung mußte sie haben für die Demütigung, die sie erlitten hatte, und Doktor Rapp gab ihr den besten Anhalt dazu.

„Es wird wirklich das Allergescheuteste sein, Herr Doktor ...“ fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, während der lautlose Stille im Herrenstübel geherrscht hatte ... „wenn Sie sich weniger um unsereins bekümmern tun und in erster Linie vor Ihnerer eigenen Türe kehren. Es hat nämlich jedermann gerade genug, wenn er auf sich selber acht gibt. Und was meinen Neffen, den Felix Altwirth, anbelangt ...“

Dem Doktor Rapp stieg das Blut schwer zu Kopf. Er war wütend aufgesprungen und hatte den Stuhl so stürmisch von sich gestoßen, daß dieser polternd hintenüber fiel.

„Sie gestatten, gnädige Frau, daß ich mir Anzüglichkeiten verbitte! Das dulde ich von niemand, von keinem Menschen, auch von einer Dame nicht!“ sagte er mit scharfer, schneidender Stimme.

Die gemütliche Lethargie, in der er sich sonst in Gesellschaft wiegte, war mit einem Male von ihm gewichen. In diesem Augenblick war Doktor Rapp nur mehr der schneidige Rechtsanwalt und rücksichslose Vertreter seiner Ansichten, als der er allgemein in der Stadt und auch im ganzen Lande bekannt war.

Doktor Rapp verbeugte sich höflich, zuerst vor der [S. 145] Professorin und dann gegen die übrige Tischgesellschaft, und sagte im gedämpften Ton: „Küss’ die Hand, gnädige Frau. Guten Abend, die Herrschaften.“

Patscheider hielt den Rechtsanwalt zurück: „Aber Herr Doktor!“ meinte er beschwichtigend.

Simon Tiefenbrunner hatte sich gleichfalls von seinem Sitz erhoben und trippelte nun mit nervösen kleinen Schritten zu Doktor Rapp hinüber. Er war so hilflos und verstört, wie wohl noch nie in seinem Leben. Bis jetzt war er nur immer in die Lage gekommen, den Frieden zu erhalten als eine außenstehende und ganz unbeteiligte Persönlichkeit. Heute war er jedoch unmittelbar an einer Sache beteiligt, oder, was noch schlimmer war, seine Frau war daran beteiligt, und das raubte ihm vollends sein seelisches Gleichgewicht.

„Aber Herr Doktor! Herr Doktor!“ stieß er beinahe stotternd hervor. „Sie werden mir doch das nicht antun. Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll!“ sprach er in hilfloser Verwirrung.

Patscheider, der für gewöhnlich gar kein Talent besaß, erregte Gemüter zu begütigen, vermittelte jetzt auf seine ganz besondere Art und Weise. Er hob den Stuhl vom Boden, den Doktor Rapp in seiner Erregung von sich gestoßen hatte, und zog den Rechtsanwalt mit gebieterischer Kraft darauf nieder.

„Alles, was recht ist, Herr Doktor!“ sagte er dann in bestimmtem Tone. „Wenn wir zwei uns hackeln und Sie rennen davon, das begreif’ ich. Aber wegen an Weiberg’wäsch, das ist nit der Müh’ wert! Das muß ich Ihnen schon sagen! Und Sie, Her Tiefenbrunner,“ wandte er sich schroff an den Apotheker, „erziehen’s Ihre Frau besser! Was sie mit ihrem Neffen anfangt oder nit anfangt, ist uns da gleichgültig. Das halten’s, wie Sie wollen! Aber es g’hört sich nicht, absolut nicht, daß [S. 146] solche Privatangelegenheiten öffentlich im Wirtshaus verhandelt werden. Sie haben mich hoffentlich verstanden, Herr Tiefenbrunner!“

Der Apotheker verbeugte sich mehrmals zustimmend, als habe ein hoher Vorgesetzter ihm eine Rüge erteilt. Auch nachdem sich Patscheider ziemlich brüsk von ihm abgewandt hatte, verneigte sich der kleine, magere Mann noch immer. Er war so erschrocken und ratlos, daß er sich noch gar nicht zu fassen wußte.

Eine bedrückende und ungemütliche Stille herrschte jetzt im Herrenstübel. Der Apotheker Tiefenbrunner schlich ängstlich zu seinem Sitz hinüber und wagte es für die erste Zeit gar nicht, seiner Frau ins Gesicht zu sehen. Auch Doktor Rapp hatte wieder Platz genommen und starrte ärgerlich und mit hochrotem Kopf vor sich hin. Er ärgerte sich über sich selber, weil er sich von seinem aufbrausenden Temperament hatte hinreißen lassen.

Frau Therese Tiefenbrunner war bei dem Ausbruch des Doktor Rapp so perplex gewesen, daß sie, ohne auf die Rede Patscheiders zu achten, noch immer mit offenem Munde dasaß und ganz erschrocken dreinschaute.

Sie erfaßte überhaupt den Sinn der Worte des Doktor Rapp nicht. Die Apothekerin war nur grenzenlos verwundert, daß sich der Doktor Rapp so aufregte. Das hatte sie ja gar nicht beabsichtigt. Beleidigen hatte sie den Doktor Rapp nicht wollen. Beileibe nicht! Sie hatte sich ja bloß verteidigen wollen. Sonst gar nichts.

Aber diese modernen Männer, aus denen konnte sie doch nicht recht klug werden. Da waren ihr die alten, wie der Rat Leonhard, doch viel lieber. Die verstand man wenigstens, auch wenn sie Schrullen und Unarten hatten. Das machte nichts, und grob wurden sie auch nicht gleich wie dieser Doktor Rapp.

Frau Therese atmete aber doch ganz erleichtert auf, [S. 147] als der Rechtsanwalt nun wieder dablieb, und sie war dem Patscheider ordentlich dankbar für seine Vermittlung. Es störte sie nicht, daß der jetzt auch noch seinen Senf dreingab. Sie hörte gar nicht auf ihn, weil nur der Doktor Rapp durch sein Davonlaufen nicht den ganzen Abend verdorben hatte.

Der alte Rat Leonhard bewies es am heutigen Abend, daß er seine Qualitäten besaß, und daß er wohl imstande war, eine ganze Gesellschaft zu erheitern, wenn er nur wollte.

Während im Zimmer noch lautlose Stille herrschte, sich alle mehr oder weniger verlegen ansahen und keinem ein erlösendes Wort einfiel, das über die peinliche Situation hinweggeholfen hätte, fing der Rat Leonhard auf einmal ganz lustig und vergnügt zu kichern an. Zuerst war es ein leises, stilles, vergnügtes Kichern, das sich aber immer mehr steigerte, bis der alte Herr dann schließlich laut hinauslachte.

Es gehörte zu den allergrößten Seltenheiten, daß der Herr Rat einmal lachte ... und wenn es geschah, so hatte es etwas geradezu Ansteckendes. So auch jetzt. Zuerst sahen sie einander am Stammtisch verlegen an, dann schauten sie auf den Rat Leonhard, der sich riesig zu belustigen schien und dabei ein ungemein komisches Gesicht schnitt.

Die Augen in dem runzligen, sonst stets verbissenen Mopsgesicht waren verschwindend klein geworden und erschienen nur mehr als zwei schmale Striche. Den ganzen magern Körper des Herrn Rat schüttelte es vor Lachen, und sein Kopf wackelte ununterbrochen hin und her wie der Perpendikel einer alten Uhr. Die Zigarre behielt er fest zwischen den Zähnen eingeklemmt und lachte in einem fort.

Es war ein erlösendes, befreiendes Lachen, das sich nun allen mitteilte. Einem nach dem andern. Sie [S. 148] wußten nicht, worüber sie im Grunde lachten. Sogar Patscheider lachte mit und schließlich auch der Doktor Rapp.

„Warum wir jetzt eigentlich lachen, wissen wir zwar alle selber nit!“ äußerte sich der Patscheider über eine Weile und hielt sein Glas dem Rat Leonhard entgegen, um mit ihm anzustoßen.

„Wohl ... i schon ... i weiß es schon!“ meinte der alte Herr vergnügt. „I lach’ über Ihnen, Herr Patscheider. Grad’ über Ihnen!“ sagte er und nickte dem Kaufmann stillvergnügt zu.

„Über mich?“ tat der Patscheider verwundert. „Ja ...“

„Ja, über Ihnen, weil Sie so viel vergeßlich sind!“ Der alte Herr hob jetzt seinen Zeigefinger und sagte in eindringlichem, väterlichem Ton: „I mein’, Herr Patscheider, es sind doch immer Sie derjenige, der davonlauft bei einem Streit, nit der Doktor Rapp. Aber jetzt täten Sie den Spieß umkehren. Jetzt wär’s er auf einmal, der vor Ihnen die Flucht ergreift. Sie sind schon einer! A ganz a G’scheiter!“ Und neuerdings bekam der alte Herr einen Lachanfall. „Sie sind schon der Richtige, Sie! Aber so ist’s alleweil im Leben. Da schiebt man’s alleweil den andern in die Schuh’, was man nit gern zugibt.“

Patscheider mußte nun selber herzlich mitlachen. Er hatte heute entschieden seinen guten Tag und nahm nichts übel, was ihm der alte Herr unter die Nase rieb.

„Recht haben’s, Herr Rat, ganz recht!“ bestätigte er zustimmend. „Und jetzt, Sophie, bringst mir noch a Halbe Wein, weil wir so fein beisammen sind!“ sagte er vergnügt und zwinkerte dem Mädchen vertraulich zu.

„I bin nit per Du mit Ihnen!“ gab die Sophie schnippisch zurück.

„Macht nix. Was nit ist, kann noch werden!“ sagte der Patscheider. Er nahm heute einmal gar nichts krumm ...

[S. 149]

Am Heimweg raffte der Apotheker Tiefenbrunner seinen ganzen Mut zusammen und erklärte seiner Frau mit aller Entschiedenheit, daß er mit oder ohne ihre Einwilligung den Felix „auf die Kunst“ studieren lassen werde. „Denn,“ sagte er, „i hab’ heut’ abend g’sehen, der Felix hat bei allen Herrn einen Stein im Brett. Und es könnt’ mich nur unbeliebt machen, wenn wir ihm das Geld zur Malerei nicht hergeben täten. Deswegen ist’s g’scheiter, wir fügen uns. Gelt, Alte?“

Die „Alte“ nickte und gab völlig kleinlaut ihre Zustimmung. Sie hatte im Laufe des Abends noch manches böse Wort der Damen mit anhören müssen und fühlte sich ganz klein und nachgiebig.

Da war die Frau Patscheider, die ihr gehörig zugeredet hatte und ihr erklärte, daß ein Künstler viel was Gescheiteres sei als wie ein Beamter.

Der Zorn der Frau Patscheider über ihren Gatten war bald verraucht. Sie war, als dieser durch sein energisches Dazwischentreten den Doktor Rapp zum Dableiben bewog, ordentlich stolz auf ihren Mann und verzieh ihm in diesem Augenblick alles. Er war doch ein großer Mann, dachte sie; da durfte man nicht so kleinlich sein. Und da sie zu bemerken glaubte, daß ihr Mann ein Interesse an dem Felix Altwirth nahm, so hielt sie es für ihre Pflicht, nun ihrerseits die Apothekerin tüchtig zu bearbeiten.

In allen Tonarten schilderte sie Frau Therese Tiefenbrunner das Künstlerleben. Wie schön das sei, und wie viel Geld das trage. Alles, was sie je darüber gehört und gelesen hatte, erzählte sie der Apothekerin. Und jede von den Damen brachte einen neuen Grund, warum der Felix ein Künstler werden müsse. Schließlich wurde es der Apothekerin ganz schwummrig im Kopf. Sie sagte zu allem Ja und Amen und sehnte sich dabei, nach Hause zu kommen und ihre Ruhe zu haben.

[S. 150]

Jetzt am Heimweg begann auch noch ihr Mann davon zu sprechen, und das in so kategorischer Weise, wie er es nie zuvor getan hatte.

Frau Therese Tiefenbrunner war im Grunde ihres Herzens gut. Und ihr ganzer Widerstand gegen den Künstlerberuf ihres Neffen ging von dem einen ehrlichen Beweggrund aus, daß sie ihm eine gesicherte Existenz verschaffen wollte. Es war nicht Bösartigkeit, daß sie sich widersetzte, sondern Verständnislosigkeit. Sie hielt die Kunst für eine höchst unnotwendige und überflüssige Sache im Leben. Für etwas, wo man dabei verhungern konnte, wenn man wollte. Und trotz allem Zureden der Damen hatte sie keine andere Meinung bekommen.

Als sie jetzt ihrem Mann ihre Einwilligung gab, tat sie es mit innerem Widerstreben und handelte gegen ihre Überzeugung. Aber sie sah, daß es wirklich der ernste Wille und Vorsatz ihres Gatten war, und sie wollte den Frieden zwischen ihm und ihr erhalten. Sie beschloß jedoch, noch ernstlich mit dem Felix zu reden und ihm alles vor Augen zu stellen.

Nach ihrer Meinung hätte er als absolvierter Jurist ganz andere Aussichten haben können. Und wenn ihn das Jus schon nicht freute, so hätte er ja Pharmazie studieren können, um bei ihrem Mann ins Geschäft zu treten ...

Der Apotheker Simon Tiefenbrunner verkündete es gleich am nächsten Morgen persönlich seinem Neffen, daß er und seine Frau ihm seinen Wunsch erfüllen wollten. Er könne nach München auf die Akademie gehen.

München! Ein neues Leben tat sich vor den Augen des jungen Mannes auf. Ein freies, schönes Land, ein Traumland von Glück, Ruhm, Arbeit und Erfolg.

München! ... Felix Altwirth war so gerührt, daß er schnurstracks zu seiner Tante lief, um ihr zu danken. Im [S. 151] Überschwang seiner Gefühle vergaß er, wie viele bittere Stunden ihm diese Frau schon bereitet hatte. Er vergaß die bösen Reden, die sie ihm gegeben, und war so begeistert, daß er ihr sogar die Hand küßte, was er noch nie getan hatte.

Aber auch Frau Therese vergaß vollständig, daß sie ihm noch gute Ermahnungen und Lehren hatte erteilen wollen. Seine kindliche Freude rührte sie. Sie verstand diese Freude zwar nicht, aber trotzdem gefiel sie ihr ...

Mit leichtem Herzen nahm Felix Altwirth Abschied von seiner Heimat. Nicht einmal der Abschied von Sophie fiel ihm schwer. Er war voll Hoffnung und Zuversicht und voll Vertrauen auf seine Zukunft. Dort in der Stadt der Künstler würde auch er sein Glück erringen. Ein großes, seliges und dauerhaftes Glück.

Schlussvignette, Kapitel 7

[S. 152]

Achtes Kapitel.

D ie Apothekerin hatte damals abends beim Weißen Hahn den Doktor Rapp doch nicht unbillig zurechtgewiesen. Die Damen von der Stammtischgesellschaft beredeten es jetzt oft untereinander und bereuten es, daß sie so unachtsam gewesen waren. Sie hatten seitdem beinahe eine Art Ehrfurcht vor dem Scharfblick der Apothekerin.

Eigentlich hatte sie damals nicht nur den Doktor Rapp, sondern sie alle gewarnt. Er solle vor seiner Tür kehren, hatte sie gesagt, und es habe nämlich jedermann grad’ genug zu tun, wenn er auf sich selber achtgebe. Das war eine Warnung gewesen, die sie alle zusammen in den Wind geschlagen hatten.

Es war gut gemeint von der Apothekerin, wenn es auch grob ausgedrückt war. Das sahen sie jetzt alle ein. Die Apothekerin war halt einmal so. Etwas grob und unbeholfen. Und deshalb hatten sie Frau Therese Tiefenbrunner nie sonderlich ernst genommen. Mit Unrecht. Denn Frau Therese war doch eine gescheite Frau. Unbedingt war sie in diesem Fall die Scharfsichtigste von ihnen allen gewesen. —

Es gab ein ungeheures Aufsehen in Innsbruck, als der Advokat Doktor Valentin Rapp die Kellnerin Sophie Zöttl als sein eheliches Weib heimführte. Und so schnell und überstürzt trug sich dieses unerhörte Ereignis zu, daß die Innsbrucker erst wenige Wochen vor der Hochzeit davon Kenntnis erhielten. Nicht einmal seine besten Freunde hatte der Rechtsanwalt in diese Angelegenheit eingeweiht. Und sobald die Sache in Innsbruck einmal ruchbar wurde, war der Doktor Rapp schon nirgends mehr zu sehen.

Die Herren am Stammtisch schüttelten bedächtig die Köpfe. Sie waren nicht einverstanden mit der Wahl [S. 153] des Rechtsanwaltes. Eine Kellnerin, und wenn sie hundertmal die Sophie war, bedeutete halt doch keine standesgemäße Heirat. Man scherzte und lachte und unterhielt sich mit so einem Mädel, und wenn man wollte ... Die Herren sprachen sich nie klar aus über diesen Punkt, aber sie verstanden einander recht gut. Wenn man wollte ... ja, das schon ... aber man heiratete doch nicht gleich.

Der Kaufmann Patscheider äußerte sich abends beim Stammtisch ganz besonders scharf dagegen. So scharf, daß es endlich dem alten Rat Leonhard zu bunt wurde und er sich einmal über die Angelegenheit ausließ. Denn der Patscheider brachte es schließlich so heraus, als ob auf die Wirtin die Schuld an der ganzen Heiraterei fiele.

Frau Maria Buchmayr war wirklich so unschuldig wie ein neugebornes Kind. Als ihr die Sophie kündigte und um ihre sofortige Entlassung bat, weil sie heiraten müsse, da schlug die Wirtin in hellichter Verwunderung die Hände über dem Kopf zusammen und rief: „Ja, um Gotteswillen, Sophie, bist narrisch worden ... Jetzt auf einmal ... heiraten! Ja, wo hast denn du überhaupt an Mann auftrieben?“

Die dicke Wirtin war so aufgebracht, daß sie vor Empörung kaum Atem schöpfen konnte. So eine Rücksichtslosigkeit von dem Mädel! Sie im Stich zu lassen! Von ihr fort zu gehen! Wo es ihr doch so gut ging. Und alles nur, weil sie heiraten müsse. So was!

Die Wirtin war hochrot im Gesicht vor ehrlicher Entrüstung, und ihre dunklen Augen standen ihr heraus wie die schwarzen Tupfen auf den Fühlern einer Schnecke.

„Wirst dir wohl a recht’s Elend auftun!“ sagte die Wirtin in ehrlichem Zorn. „Ihr Madeln könnt’s es ja nie nit erleiden, wenn’s enk z’gut geht. Ganz wie bei die Goas. Wenn’s denen z’wohl ist, nacher kratzen sie sich, hoaßt’s. Und so ist’s bei enk aa!“ Frau Buchmayr [S. 154] stellte sich in ihrer ganzen Breite vor die Sophie hin und fuchtelte ihr mit den beiden fleischigen Händen erregt vor dem Gesicht herum. „Not und Elend wirst haben und an Haufen Fratzen. Und z’ruck wirst denken an mi und an Weißen Hahn, wie du’s da gut g’habt hast!“

„Ja, aber, Frau Buchmayr, Sie lassen Ihnen ja nit amal erzählen, wen i heirat’. Interessiert Ihnen denn das gar nit?“

„Naa!“ sagte die Wirtin zornig. „Gar nit! Wird schon a rechter Schlott sein, a Fallott, a ...“

„Sie, aber da wird der Doktor Rapp schauen, wenn i ihm das erzähl’. Er und a Schlott und a Fallott!“ lachte die Sophie laut und herzlich.

Die Wirtin mußte sich rasch nach einer Sitzgelegenheit schauen. Sonst wäre sie vor lauter Schreck umgefallen. „Wa—a—a—s!“ keuchte sie nach Luft schnappend und öffnete sich die beiden obersten Knöpfe ihrer Bluse; denn sie glaubte ersticken zu müssen. Dann wischte sie sich mit dem Rücken ihrer rechten Hand den Schweiß von der Stirn. „Wa—a—a—s sagst, der Doktor Rapp?“

„Ja freilich!“ nickte die Sophie bestätigend. „Wer denn sonst? Und bald wird g’heiratet. In vier Wochen bin i schon Frau Doktor. Gelt, da schauen’s!“ fügte sie mit einiger Schadenfreude hinzu.

Die Wirtin schaute allerdings, aber ganz blödsinnig. Sie verstand es einfach nicht. Der Doktor Rapp und die Sophie. Wie das nur zugegangen war? Sie hatte doch nie das Geringste bemerkt, daß sich zwischen den beiden etwas anbandelte. Und sie hatte in solchen Dingen doch gewiß eine feine Nase. Sah und hörte mehr als andere Leute. Aber da ... nein ... nichts hatte sie bemerkt. Rein gar nichts.

Die Sophie war ungemein belustigt über das Erstaunen der Wirtin. „Ja, ja, es ist schon wirklich so!“ versicherte [S. 155] sie. „Und weil’s so ist, so werden’s schon ein Einsehen haben, Frau Buchmayr, und mich gleich entlassen. I kann doch da jetzt nimmer Kellnerin sein. Das werden’s doch begreifen!“ redete sie auf die Wirtin ein. „I fahr’ jetzt dann gleich nach Rattenberg hinunter zu meiner Ziehmutter und richt’ mir die Aussteuer, und dann wird g’heiratet. Aber nacher, Frau Buchmayr, werden’s sehen, wie fleißig i daher komm’ zu Ihnen mit mein’ Mann. I muß mir doch die neue Kellnerin anschauen, die Sie Ihnen dann eintun!“ scherzte sie. „I bin neugierig, ob die ihr Sach’ auch so gut versteht wie ich.“

„Naa, Sophie, das glaub’ i nit! So gut wie du, das gibt’s nimmer!“ erwiderte Frau Buchmayr mit starker Betonung.

Die Sophie erschien ihr jetzt auf einmal ganz unheimlich. Wie das nur zugegangen war? Mit rechten Dingen sicher nicht. Davon war sie felsenfest überzeugt. Und sie sagte es auch am Stammtisch zu ihrer Verteidigung, da sie alle so über sie herfielen.

Der Herr Rat Leonhard schien ihr recht zu geben. Er war ein alter Jurist, und in seiner Praxis waren ihm viele merkwürdige Fälle vorgekommen. Er hatte es gelernt, alles, auch das Unerhörteste im Leben menschlich begreiflich zu finden und zu verstehen. Auf diese Weise war der Rat Leonhard ein tiefer Denker und ein Philosoph geworden.

Als sich der Patscheider gar so ereiferte und der Wirtin mit groben Worten vorwarf, sie hätte die Sache rechtzeitig verhindern müssen und die Sophie zum Teufel jagen sollen, da meinte der alte Herr ganz ruhig: „Sie, Herr Patscheider, sei’n Sie froh, daß die Sophie es nit auf Ihnen hat abg’sehen g’habt. Da wären Sie auch verloren g’wesen dabei. Denn was a Weib will , das kriegt’s auch. Auf den Willen kommt’s an, nur auf den Willen!“ nickte er mehrere Male zur Bekräftigung vor sich hin.

[S. 156]

„Darum hat der Herr Rat keine kriegt, weil ihn keine mögen hat!“ meinte der Baurat Goldrainer mit gutmütigem Spott.

Der alte Herr sah den Baurat einen Moment mit prüfenden Blicken an, aber er sagte kein Wort. Nicht ja und nicht nein. Er rauchte ruhig und phlegmatisch an seiner Pfeife weiter und machte wieder sein verdrossenes Mopsgesicht. Hörte still und gelassen zu, wie die Herren erregt den Fall Doktor Rapp diskutierten, als gäbe es eine hochwichtige Staatsaktion zu verhandeln ...

Sophie Zöttl war gleich am nächsten Tage nach der Unterredung mit der Wirtin nach Rattenberg gefahren zu ihrer Pflegemutter, der Ennemoserin. Auch Doktor Rapp war mit ins Unterland gefahren. Er wollte dem Klatsch und dem Aufsehen in Innsbruck entgehen und sich erst nach vollzogener Trauung wieder bei seinen Freunden und Bekannten vorstellen.

Hätte man den Rechtsanwalt gefragt, wieso dieser plötzliche Umschwung in seiner Gesinnung gekommen war, so hätte er keinen Grund anzugeben gewußt. Er war sich vollständig im unklaren, wie er dazu kam, die Sophie zu heiraten.

Das Mädchen hatte ihre Rolle geschickt gespielt. Sie hatte den älteren Mann sachte umgarnt. Ganz sachte. Bis sein Blut in Wallung kam, immer mächtiger und mächtiger. Und immer mehr verstand sie es, seine Leidenschaft zu entfachen, bis er keinen andern Gedanken mehr nährte, sich keines andern Wunsches bewußt war als dieses einen, Sophie zu besitzen.

Er kannte sich selber nicht mehr; er wollte sich auch nicht mehr kennen. Er ließ sich umgarnen von der Leidenschaft und lebte in dieser wie in einem Traum. Er war nicht mehr er selber. Es war ein anderer Mensch, der da handelte und sprach.

[S. 157]

Zum erstenmal in seinem Leben hatte ihn die Leidenschaft für ein Weib in solchem Maße gefangen genommen. Er hatte ja öfter geliebt, aber er war stets der kühle, klare Beobachter seiner Gefühle geblieben.

Sophie hatte es verstanden, ihn zu formen und umzumodeln, wie sie es wünschte. Das Mädchen hatte sich selbst allmählich zu der Überzeugung gebracht, daß auch sie eine warme und innige Liebe für den Rechtsanwalt empfinde. Sie spielte sich und ihm die Komödie rasender Verliebtheit vor und wußte sich schließlich selber keine Rechenschaft mehr darüber zu geben, wie weit ihre Liebe zu diesem Mann ging.

Durch dieses fortgesetzte Spiel mit den Flammen der Leidenschaft, die sie bei dem Manne entzünden wollte, entfachte sie ihr eigenes wildes Blut. Sie tat sich keinen Zwang an. Sie wußte, daß sie ihrem zügellosen Temperament volle Freiheit gewähren durfte, wenn sie ihr Spiel gewinnen sollte. Nicht nur durfte, sondern sogar mußte. Und so wurde sie allmählich zu jenem leidenschaftlichen Weib, das Doktor Storf in ihr zu wecken fürchtete.

Der Rechtsanwalt war ihr mit Leib und Seele verfallen. Er hing an ihr und konnte sich ein Leben ohne sie nicht mehr denken. Und das war der Zeitpunkt, wo Sophie geschickt die Forderung an ihn stellte, daß er sie zu seiner Frau machen solle. Ohne Weigern, ja sogar mit Freuden war er darauf eingegangen ...

In der stillen Klosterkirche zu Mariathal hatte die Trauung stattgefunden, im Beisein der Ennemoserin und der Schwester Salesia. So war es Sophiens Wunsch gewesen, und ihr Bräutigam hatte sich mit allem einverstanden erklärt. Er war ein Mann, der allen Zeremonien, mochten sie nun mit der Kirche zusammenhängen oder nicht, vom Grunde seines Herzens aus abgeneigt war. Und er hatte auch in diesem einen Fall [S. 158] nur das Verlangen, die Zeremonie der Trauung so still und so rasch als möglich und ohne viel Aufhebens zu erledigen.

Es gefiel Doktor Rapp, daß Sophie den romantischen Wunsch äußerte, gerade in Mariathal getraut zu werden. Schon deshalb gefiel es ihm, weil er dem Mädchen diese Weichheit des Empfindens eigentlich nicht zugetraut hatte und davon überrascht war.

Sophie hatte ihm im Laufe der Zeit ihr ganzes Leben erzählt. Er wußte, daß sie ein Karrnermädel war, und begriff jetzt auch die Wildheit ihres Temperamentes, die ihm früher manchmal unerklärlich erschienen war. Daß Sophie noch immer mit so viel Liebe und Anhänglichkeit der alten asthmatischen Klosterschwester zugetan war, machte ihm einen außerordentlich guten Eindruck. Es verriet ihm ein weiches, dankbares, fast kindliches Gemüt.

Die Ennemoserin als Brautmutter hatte einen schönen, stolzen Tag in ihrem Leben. Nun hatte sie es ja erreicht, was sie erstrebte. Sie hatte das wilde Mädel in ruhige Bahnen geleitet, hatte eine Seele dem Himmel gerettet und das Glück erlebt, ihr Pflegekind in dem sichern Hafen einer ehrbaren Ehe gelandet zu sehen.

Nach den Begriffen der stillen, einsamen Frau konnte jetzt nichts mehr über das Mädchen kommen. Der liebe Gott hatte das Werk der Ennemoserin gesegnet, und sie hoffte und vertraute weiter auf seine Güte. Er würde auch ihr Gebet erhören und ihr sündiges eigenes Kind retten.

Die beiden alten Frauen, die Schwester und die Ennemoserin, knieten still und froh vor dem Hochaltar der Kirche zu Mariathal und beteten inbrünstig zu Gott, daß er den heiligen Ehebund segnen und schützen möge fürs ganze Leben.

Es war ein ruhig klarer, später Oktobertag. Die rotgelben [S. 159] und blutroten Blätter im Buchenhain draußen vor dem Kirchhof fielen mit leisem Knistern auf die taufeuchte Erde. Eines nach dem andern. Ein farbenbunter Regen war’s. Drinnen in der Kirche zu früher Morgenstunde vollzog sich still und feierlich die heilige Handlung, die zwei Menschen zeitlebens miteinander verband.

Die alte Schwester Salesia kniete ganz abseits am äußersten Rande der ersten Bank vor dem Hochaltar. Fast scheu sah sie aus und tief gebückt. Aber ununterbrochen beobachtete sie die Vorgänge am Altar.

Es war lange her, seit Schwester Salesia eine Trauung gesehen hatte. Sehr lange schon. Bald ein Menschenalter war’s her. Und diejenigen, die sich damals den Treuschwur geleistet hatten, waren nicht glücklich geworden. Ob wohl diese beiden, die Sophie Zöttl und der fremde Rechtsanwalt, glücklich werden würden? ...

Die alte Schwester hatte wenig mehr gesehen von der Sophie in den letzten Jahren. Alles, was sie von ihr wußte, hatte ihr die Ennemoserin berichtet, die öfters zu Besuch kam. Und das bewirkte, daß die Sophie in der Erinnerung der Klosterschwester fortlebte als das wilde Karrnermädel von ehedem, das aus dem Kloster gelaufen war.

Die Sophie, wie sie jetzt war, die war der Schwester Salesia eine völlig Fremde. Aber es rührte sie, daß die vornehm gekleidete Dame zu ihr kam, mit ihr redete und so tat, als wäre sie noch das kleine Mädel, das sich stets an die alte Schwester geklammert hatte. Und gerne erfüllte ihr die Schwester den Wunsch, bei ihrer Trauung zugegen zu sein.

„Weißt,“ fügte sie vorsichtig hinzu, „wenn’s die Frau Oberin erlaubt. Sonst nit. Beileib’ nit! Kennst mi schon, gelt?“ lächelte sie heiter vor sich hin.

Der Sophie war’s, als sei erst eine kurze Spanne Zeit [S. 160] seit ihrem Klosterleben verstrichen. Ihr kam die Schwester nicht verändert vor. Sie hatte in ihrer Gegenwart das gleiche ruhige Gefühl des Geborgenseins und der Liebe, wie sie es stets als Kind empfunden hatte.

Die Oberin erlaubte es der Schwester Salesia. Es war eine andere Oberin, die über das kleine Frauenkloster gebot.

„Weißt, Sophie, die, die du kennt hast, die war viel zu g’scheit für uns da!“ erzählte die alte Schwester der Sophie, als diese mit ihrem Bräutigam zu Besuch bei ihr war. „Die ist jetzt in an großen Kloster, wo sie auch hing’hört. Weißt wohl, a Frau wie die eine war. Mit so viel Willen und Verstand! Um die wär’s ja schad’ g’wesen. Wir brauchen nit so viel Verstand da, wir nit. Weißt wohl!“ versicherte sie lustig, bis sie zu hüsteln anfing. „Wir sind ja viel zu einfach da, wir paar Leuteln übereinander!“

Eine vornehme Dame war die Sophie in den Augen der alten Klosterschwester geworden. Schwester Salesia mußte sie immer und immer wieder ansehen, wie Sophie jetzt zur Linken ihres Bräutigams an den Stufen des Altares stand und aus der Hand des alten Pfarrers den Ehering entgegen nahm.

Ihre hohe, üppige Gestalt kam durch das einfache schwarze Kleid ganz besonders vorteilhaft zur Geltung. Sophie Zöttl trug als einzigen Brautschmuck einen Kranz frischer Myrten in dem dunkeln, modisch frisierten Haar und einen großen Strauß weißer Rosen in der Hand. Die Myrten in den dunkeln Haarwellen waren wie eine Krone. Und in wahrhaft königlicher Haltung stand das junge Weib an der Seite des unscheinbaren vierschrötigen Mannes, der nun ihr Gatte geworden war.

Doktor Rapp wirkte neben der imposanten Gestalt seiner jungen Frau, die ihn um ein beträchtliches Stück überragte, bäuerlich, linkisch und unbeholfen. Er hatte [S. 161] gleichfalls einfache, dunkle Kleidung für die Trauung gewählt. Der Anzug war von gutem Schnitt und feinem Tuch. Aber er stand ihm nicht. Doktor Rapp hatte eine unglückliche Art, sich zu kleiden. Auch der beste Schneider vermochte ihm keinen eleganten Anzug zu liefern.

Der Rechtsanwalt liebte über alles seine Bequemlichkeit. Und dieser zuliebe verzichtete er gern auf die Verschönerung seines äußeren Menschen. Jede Kleidung mußte ihm weit genug sein, durfte in keiner Weise beengen. Aus diesem Grunde trug er stets niedere, unmoderne Umlegekragen und machte darin einen ärmlichen und bescheidenen Eindruck. Seine Hosen, die ihm immer zu weit waren, verloren bald ihre Form, schlotterten und machten Falten wie der Fächer einer Ziehharmonika. Seine von Natur aus kleinen, wohlgeformten Füße staken nach den Grundsätzen seiner Bequemlichkeit in viel zu weiten Schuhen, die schon nach kurzer Zeit schäbig und abgetragen aussahen. Der Gegensatz zwischen Doktor Rapp und Sophie war so augenfällig, daß es sogar der alten Schwester Salesia auffiel.

Infolge der inneren Erregung war das Gesicht des Rechtsanwalts ganz besonders rot und aufgedunsen und hinterließ unwillkürlich den Eindruck, als habe er dem Wein etwas zu viel zugesprochen. Der blonde Vollbart und das blonde Haar schimmerten in der frühen Morgensonne, die durch die hohen, buntgemalten Kirchenfenster fiel, strohgelb und sahen struppig aus.

Ob diese beiden so ungleichen Menschen wohl glücklich werden würden? Schwester Salesia mußte sich immer und immer wieder diese Frage stellen. Es ist ein langer Weg, der durchs Leben führt. Ein Weg, der gar hart und mühselig werden kann. Schwester Salesia, die wissende alte Schwester, hatte nicht umsonst den Frieden im Kloster gesucht. — — —

Ob Doktor Valentin Rapp sein Glück in dieser Ehe [S. 162] gefunden hatte? ... Ganz Innsbruck beobachtete das junge Ehepaar mit scharfen Augen. Und was die einen nicht sahen, das wußten die andern. Sie hatten gar vieles auszusetzen an der Sophie. Kleine Fehler und Mängel, die der Gatte nicht zu bemerken schien. In den Augen der andern jedoch, die nun einmal diese Ehe von vornherein mit Mißtrauen betrachteten, fielen sie schwer ins Gewicht.

Doktor Valentin Rapp war nicht der Mann, um es zu dulden, daß seine Gattin nicht jene Stellung eingenommen hätte, die seinem eigenen Ansehen gebührte. Als wäre sie von guter Familie, gerade so führte der Rechtsanwalt seine junge Frau in der Gesellschaft ein. Und mit süßsauren Gesichtern mußten die Damen der ehemaligen Kellnerin beim Weißen Hahn den Besuch erwidern.

Sie kamen alle zu ihr. Alle, die Namen und Stellung hatten in der Stadt. Auch Doktor Storf kam und Frau Hedwig. Seit mehr als einem Jahr war Doktor Storf nun mit Hedwig Eisenschmied vermählt, und ihr erstes Kindchen zählte schon etliche Wochen.

Nicht alle, die sie besuchten, waren gut zu Sophie. Und es fehlte nicht an boshaften kleinen Seitenhieben. Aber Sophie verstand es ganz meisterhaft, alle Anzüglichkeiten zu parieren und sie wo möglich mit kleinen Bosheiten zu vergelten. Überhaupt war es im höchsten Grade erstaunlich, wie rasch sich die junge Frau Rechtsanwalt in ihre Stellung zu schicken wußte.

Die geborne Dame ... rühmte die Frau Professor Haidacher einmal von ihr. Dafür wurde sie aber von den andern Damen, die behaupteten, das besser beurteilen zu können, ganz energisch zurechtgewiesen. Eine geschickte Komödiantin nannten sie die Sophie in ohnmächtiger Empörung.

Zu den wenigen Damen, die gut gegen Sophie waren, [S. 163] gehörten die Professorin und Frau Therese Tiefenbrunner. Auch Frau Hedwig war nett zu der jungen Frau. Aber es war mehr eine schüchterne, unentschlossene Haltung. Sie wollte gut sein, wurde aber doch wieder zu sehr von ihrer Schwester beeinflußt, die sie davor warnte, nicht allzu vertraut mit „so einer“ zu werden. Das dürfe man um keinen Preis tun. So viel Rücksicht und Würde sei man seiner Abstammung schuldig. Sophie sei eben doch nur eine Kellnerin; und woher sie eigentlich komme, das wisse man ja gar nicht.

Die Fama hatte sich der jungen Frau Doktor Rapp angenommen; und was es nur über sie zu erzählen gab, das wurde eifrig herumgetratscht. Bald munkelte man sich in Innsbruck zu, die Sophie sei gar kein Bauernmädel aus dem Unterland, sondern ein Karrnerkind. Wer zuerst das Gerücht verbreitet hatte, wußte kein Mensch.

Und noch ein anderes Gerücht lief durch die Stadt, anfangs langsam und zweifelnd aufgenommen, dann immer lauter und bestimmter. Es hieß, daß Frau Sophie es mit der ehelichen Treue nicht allzu genau nehme, daß sie auch Augen und Herz für andere besaß. Wer „die andern“ waren, das wußte allerdings kein Mensch zu sagen. Und trotzdem gab es bald niemand mehr, der dem Gerede nicht Glauben geschenkt hätte. Sie hatten keine Beweise dafür, und doch fand sich niemand, der für die Ehre der jungen Frau Rechtsanwalt eingetreten wäre.

Eine große Veränderung war mit Sophie seit ihrer Verheiratung vor sich gegangen. Sie sahen es alle und mußten es sehen. Es sprang zu sehr in die Augen. Auch Doktor Rapp sah es ... und freute sich darüber. Er freute sich und hatte den festen Glauben, daß er die richtige Wahl getroffen habe.

Die junge Frau gab sich freier und selbstbewußter. [S. 164] Ihre ganze Haltung, ihr Gang und ihre Sprache hatten etwas Sieghaftes an sich. Ihre Anpassungsfähigkeit war geradezu hervorragend. Sie benahm sich bald ganz so, als hätte sie stets unter Damen gelebt, und fiel in keiner Weise durch irgendeine Ungeschicklichkeit auf. Ihre Sprache hatte einen leichten Dialektanflug, der den Innsbruckerinnen eigen ist und auf den sie auch stolz sind.

Was aber Doktor Rapp ganz besonders glücklich machte, das war, daß er beobachtete, wie Sophie fast mit jedem Tag mehr Temperament, mehr Heiterkeit und mehr Humor entwickelte. Jetzt, da die bange Sorge um ihre Zukunft von ihr gewichen war, die ja stets wie ein Alp auf ihr gelastet hatte, da sie unabhängig war und ihre Ziele erreicht hatte, brauchte sie nicht mehr gegen ihre eigenste Natur zu kämpfen. Sie konnte ihrer innersten Anlage nachgeben und durfte das sein, was sie im tiefsten Grunde war: ein heißes, leidenschaftliches Weib, das mit Heißhunger das Leben begehrte und auch genoß.

Doktor Rapp war so vollständig in ihrem Bann, daß er es nicht bemerkte, wie der Weg, den Sophie einschlug, ein schiefer wurde. Noch immer glaubte Sophie daran, daß sie ihren Gatten liebe. Sie umgab ihn täglich mit tausend kleinen Zärtlichkeiten, sorgte für ihn, war arbeitsam und machte ihm sein Heim so behaglich, daß er sich in all den Stunden des Tages nach ihr sehnte, wo sie getrennt sein mußten.

Es war ein großer Sinnenrausch über den Mann gekommen. Jetzt, da er beständig mit diesem entflammten Weibe zusammenlebte, war der Taumel noch mächtiger als zuvor. Sein ganzes Empfinden, sein ganzer Wille, alle Wünsche und Gefühle hatten ihren Höhepunkt in Sophie. So glücklich war Doktor Rapp in seiner Ehe, daß er es nicht sah, wie ein unersättlicher Lebenshunger von dem jungen Weib Besitz ergriff und ihre aufgepeitschte Leidenschaft Befriedigung außerhalb der Ehe suchte.

[S. 165]

Ein sinnliches Fluidum strömte von dem Weibe aus. Überall, in jeder Gesellschaft hatte sie die Männer zu ihren Füßen. Sie beherrschte alle, ganz so wie ehedem, als sie noch die Kellnerin war beim Weißen Hahn. Und doch wieder anders. Damals lockte ihre herbe Zurückhaltung, die so seltsam abstach gegen das leidenschaftliche Rassegesicht.

Es gab niemand, der diesem eigenen Reiz des jungen Weibes widerstand. Auch die alten, vertrockneten Herren, die eingesessenen Bürger und Bureaukraten der Stadt fühlten ein prickelndes Etwas, wenn Frau Sophie mit flüchtigen, leichten Schritten an ihnen vorüberging. Und wenn sie mit ihnen sprach, so waren sie schon nach wenigen Worten vollständig in ihrem Bann.

Frau Sophie war die lachende Freude und Lebenslust, wo immer sie auch hinkam. Und je größeres Gefallen sie bei den Herren fand, desto zurückhaltender und feindseliger wurden die Frauen. Sie durften nicht offen gegen sie auftreten. Dazu gab sie ihnen keine Gelegenheit. Alles, was sie von Sophie zu sagen wußten, waren eben nur Gerüchte, denen der Boden der Wirklichkeit und des Beweises fehlte.

Sophie benahm sich in der Öffentlichkeit tadellos in jeder Hinsicht. Ihre Heiterkeit war nie ausgelassen, ihre Rede witzig, doch anständig, und ihre Koketterie einwandfrei. Und doch wußten es alle, Mann wie Frau, daß dieses Weib den Teufel im Leib hatte, daß sie den Gatten belog und betrog und ihn trotzdem unbändig glücklich machte ...

Es dauerte gar nicht lange, so spielte Frau Sophie Rapp eine führende Rolle in der Innsbrucker Gesellschaft. Sie war sogar tonangebend geworden. Beteiligte sich bei den verschiedenen Vereinen und übernahm selbst die Leitung eines von ihrem Gatten gegründeten wirtschaftlichen Verbandes.

[S. 166]

Mit viel Geschick, mit Takt und Anstand füllte sie ihre Stellung aus. Sie mußten es alle anerkennen, auch die Frauen, unter denen sich bald keine einzige mehr befand, die ihr wohlgesinnt war. Nicht einmal die gutmütige, lustige Frau Professorin. Auch diese hatte sich von ihr zurückgezogen und fühlte sich solidarisch mit den übrigen Damen.

Die Professorin wußte es selbst nicht, warum sie sich von der jungen Frau immer mehr abgestoßen fühlte. Sie hatte keinen eigentlichen Grund dazu. Es war ein unbestimmtes Element, das sie sich nicht zu erklären vermochte.

Frau Haidacher war der Sophie in der allerersten Zeit mit ganz besonderer Herzlichkeit entgegengekommen. Gerade weil alle gegen die junge Frau waren, gerade deshalb tat sie der Professorin leid. Frau Haidacher war ihr eine Freundin geworden und hatte ihr mit Rat und Tat beigestanden. Ihr Verdienst war es zum größten Teil, daß Sophie sich so rasch in die Rolle einer Dame einlebte.

Die Professorin hatte anfangs auch nur mit Selbstüberwindung gehandelt. Ihrem innersten Empfinden widerstrebte es, die ehemalige Kellnerin als ihresgleichen anzuerkennen. Aber das Mitleid und ihre angeborne Gutmütigkeit errangen den Sieg. Und Frau Haidacher ging so weit, daß sie der jungen Frau Doktor sogar das Duwort anbot.

Sophie hatte wenig Sinn für Frauenfreundschaft. Sie nahm es deshalb auch gar nicht sonderlich schwer, als sich die Professorin immer mehr von ihr lossagte. Es war ihr sogar recht; denn sie hatte schon angefangen, die Freundin und deren Besuche lästig zu finden.

Nun sahen sich die beiden Frauen nur mehr in Gesellschaft, wo sie liebenswürdig und zuvorkommend gegen einander waren. Es war aber nur der Firnis einer [S. 167] schlecht verborgenen Abneigung. Nicht auf Sophiens Seite; denn sie fühlte weder Liebe noch Abneigung für die Professorin. Ihr war jede Frau mehr oder minder gleichgültig. Und sie hatte sich auch nie zu einem warmen Gefühl für die Professorin aufschwingen können. Aber Frau Haidacher empfand mit der Zeit einen immer größeren Widerwillen gegen Sophie. Das steigerte sich derart, daß sie es endlich vorzog, bei geselligen Veranstaltungen oder Festlichkeiten fernzubleiben, um nicht mit Sophie zusammentreffen zu müssen.

Die andern Damen verstanden es besser, als die Professorin, ihre wahren Gefühle zu verbergen. Aber Sophie kannte sie trotzdem ganz genau. Sie wußte, wie hoch sie die süßfreundlichen Mienen einzuschätzen habe. Da war ihr die immer mehr zutage tretende Abneigung der Professorin entschieden lieber.

Es kümmerte Sophie im Grunde gar nicht, ob man sie leiden mochte oder nicht. Sie gab sich auch darüber gar keine Rechenschaft, und sie erstrebte es auch nicht, sich das Wohlwollen der Damen zu erhalten. Was sie erstrebte, das hatte sie. Eine Stellung, die in kurzer Zeit diejenige der andern weit überragte ...

Obwohl Sophie der Wirtin damals versprochen hatte, recht oft zum Weißen Hahn zu kommen, so war sie doch nur ein seltener Gast geworden. Sie hatte als Dame der Gesellschaft so viel zu tun, daß sie für die bescheidene kleine Stammtischgesellschaft nur wenig Zeit erübrigen konnte. Und vielleicht fühlte sie es auch, daß sie ihrem Ansehen nur hinderlich war, wenn sie sich allzu häufig an der Stätte ihres einstigen Wirkens zeigte.

Frau Doktor Rapp war mit der Zeit den Gästen des Weißen Hahn eine Fremde geworden. Eine Dame, von der man sprach, weil sie viel in der Öffentlichkeit tätig war, und auch deshalb, weil sie eine außerordentlich [S. 168] interessante Persönlichkeit war, die Geist, Rasse und Temperament besaß wie selten eine in Innsbruck.

Sie verkehrten noch alle beim Weißen Hahn. Genau so wie früher. Und saßen auch in derselben Rangordnung. Doktor Rapp führte seinen lustigen Krieg weiter mit der dicken Wirtin. Und Herr Tiefenbrunner lauerte wie immer mit ängstlicher Miene auf den Augenblick, wo er als Friedensvermittler zwischen die Gegner Rapp und Patscheider treten mußte.

Die alte Gegnerschaft zwischen diesen beiden war besonders in der letzten Zeit ziemlich scharf zutage getreten. Ihre Unversöhnlichkeit war bereits so weit gediehen, daß jeder von beiden den andern haßte. Das kam daher, weil der Einfluß, den Doktor Rapp in der Stadt besaß, die Selbstherrlichkeit des Herrn Patscheider ernstlich verdunkelte. Dafür haßte Patscheider den Rechtsanwalt. Haßte ihn glühend und leidenschaftlich. Und je größer das Ansehen des Rechtsanwalts wurde, desto tiefer wurde der Haß des Kaufmanns Patscheider.

In Doktor Rapp sahen viele Innsbrucker ihren zukünftigen Führer. Seinem Geist, seinem Willen und seiner Energie vertrauten sie. Patscheider, der sein ganzes Leben nur dem Aufblühen und Gedeihen der Stadt gewidmet hatte, fühlte es mit innerem Grimm, daß ihm in Doktor Rapp derjenige Gegner erstanden war, der seine Verdienste für immer in den Schatten stellte.

Aber weder Patscheider noch Doktor Rapp ließen es sich für gewöhnlich anmerken, daß sie einander ehrlich und vom Grunde ihrer Seele aus haßten. Nur bei seltenen Gelegenheiten kam der unterdrückte Groll und Haß zum Vorschein und warf plötzlich grelle Schlaglichter auf ihre wahre Seelenstimmung.

Der Rat Leonhard saß noch immer als Ehrenpräsident am Stammtisch beim Weißen Hahn. Er schnitt sein zuwiderstes [S. 169] Gesicht, aß, was ihm schmeckte, rauchte seine Pfeife und sprach gar nichts.

Ein neuer Gast war jetzt schon seit geraumer Zeit an dem Honoratiorentisch. Das war Doktor Storf, der sich selbständig gemacht hatte und ein sehr gesuchter Arzt geworden war. Böse Mäuler behaupteten zwar, dies verdanke er keineswegs seiner ärztlichen Kunst, sondern seinem hübschen Äußeren.

Tatsächlich hatte Doktor Storf vorwiegend Damen zu Patienten. Weil die Menschen schon einmal bösartig sind und gerne Unrat wittern, auch dort, wo keiner zu finden ist, so hieß es allgemein: seit Doktor Storf seine Praxis ausübe, gebe es ungewöhnlich viele kranke Damen in Innsbruck.

In Wirklichkeit konnte man jedoch dem jungen Arzt nichts Schlechtes nachsagen. Selbst die schärfsten Beobachter und Beobachterinnen hätten ihre schwere Mühe gehabt, auch nur den geringsten Anhaltspunkt dafür zu entdecken, daß Doktor Storf für eine andere Frau, außer für seine eigene, Sinn und Auge gehabt hätte.

Trotzdem machte Frau Hedwig jedermann den Eindruck, als habe sie Schweres in ihrer Ehe zu erdulden, als trüge sie das Leben wie eine harte Bürde, von der sie bald Erlösung hoffte. So glücklich der Rechtsanwalt durch seine Heirat geworden war, so elend und unglücklich fühlte sich Max Storf.

Das stille, gleichförmige Glück, das er erhofft hatte, als er Hedwig Eisenschmied zur Gattin nahm, war so still und so gleichmäßig geworden, daß ihm das Leben neben dieser Frau erschien wie eine endlose graue Wüste. Ohne Freude, ohne Glück, ohne Empfinden und ohne Gemüt.

Sie waren nun schon sechs Jahre miteinander verheiratet, und der kleine, schwarzäugige Junge, der dem Vater so ähnlich sah, daß es fast lächerlich wirkte, hatte [S. 170] erst vor kurzem ein Schwesterchen bekommen. Schwarz und dunkeläugig wie er selber. Diese beiden Kinder waren das Glück des Vaters und die stete nervöse Sorge der Mutter.

Frau Hedwig lebte nur für ihre Kinder. Sie ging vollständig auf in ihren Mutterpflichten und Hausfrauensorgen und hatte wenig Sinn für andere Dinge, die außerhalb dieser Sphäre lagen.

Doktor Storf hatte sich redlich bemüht, seiner Frau innerlich nahe zu kommen. Er hatte eine große, drängende Sehnsucht, nicht allein durchs Leben zu gehen, sondern seine Frau als Weggenossin zu besitzen. Sie sollte ihm nicht nur Weib, sondern auch Freund und Kamerad sein. Aber Frau Hedwig verstand den Wunsch ihres Gatten nicht.

Sie lebte ja für ihn, jedoch auf ihre Weise. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend sorgte und schaffte sie. Es war ein tadellos geführter Haushalt, in dem das junge Paar weilte. Ein feines, geschmackvolles Heim, das so recht den Eindruck von Gemütlichkeit und Behaglichkeit machte.

So behaglich jedoch die Räume anzusehen waren, so ungemütlich war es in ihnen, wenn Mann und Frau sich allein gegenüber saßen. Der Zeitpunkt, wo die beiden jungen Leute sich nichts mehr zu sagen hatten, war schon recht bald gekommen. Eine gähnende Langeweile und Öde herrschte da in den Abendstunden, wenn die Kinder schliefen und sich die Gatten allein überlassen waren.

Die Müdigkeit, die sich bei der rastlos tätigen Frau einstellte, war ja erklärlich, erregte aber den Mann derart, daß er Hut und Stock nahm und ins Gasthaus lief. Oder er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Frau Hedwig konnte sich die Ursache dieser Gereiztheit nicht deuten.

[S. 171]

Als er sich ihr gegenüber nach einer heftigen Auseinandersetzung einmal in ziemlich unverblümter Weise aussprach, da begriff sie ihn nicht. Sie stand vor ihm wie ein verschüchtertes Kind, das man mit Unrecht gescholten hat und das sich nicht zu verteidigen wagt.

Ihre hellen Augen füllten sich mit Tränen. Sie konnte es nicht fassen, daß Max unzufrieden mit ihr war. Daß er noch mehr von ihr erwartete, als eine brave, tüchtige, arbeitsame Frau und eine aufopferungsvolle Mutter ihrer Kinder, war ihr ein Rätsel.

Es kränkte sie, daß er ihren Wert nicht richtig einschätzte, und es tat ihr weh, als sie sah, wie er sich ihr mehr und mehr entfremdete.

Sie tat jedoch nichts dagegen. Sie suchte nicht die Ursachen zu ergründen, weil sie dieselben überhaupt nicht verstehen konnte. Sie war so vollständig davon überzeugt, daß sie vom Schicksal dazu ausersehen sei, in einer unglücklichen Ehe zu leben, daß sie ohne Murren still und ergeben ihr Los ertrug.

Hedwig Storf war eine phlegmatische Natur. Träumerisch, wie sie als Mädchen war, so lebte sie auch als Frau. Sie hatte keinen Funken Leidenschaft in sich; denn sonst hätte vielleicht die Eifersucht sie auf die richtige Fährte gelenkt. So fehlte ihr auch der feine Instinkt des Weibes, der ihr das Gefühl dafür verliehen hätte, daß sie durch ihr Benehmen den Gatten geradewegs in die Arme einer andern Frau trieb.

Sie bemerkte es auch gar nicht, daß Max Storf sich in allerneuester Zeit sehr zu seinem Vorteil veränderte. Er war nicht mehr so unfreundlich zu ihr wie früher und nicht mehr so gereizt. Er sprach gut und nachsichtig mit ihr, wie schon lange nicht.

Aber Frau Hedwig hatte auch dafür kein Gefühl. Sie war herzlich froh, daß ihr Gatte nun wieder eine bessere [S. 172] Laune besaß und daß er offenbar zufriedener mit ihr geworden war. Das genügte ihr.

Wenn Max Storf jetzt abends mit einem flüchtigen Kuß von ihr Abschied nahm und lustig pfeifend aus dem Haus ging, so war sie herzlich erfreut darüber. Froh, daß sie nun ruhen und sich erholen durfte. Sie wollte nichts als Ruhe. Sie war ja so müde. Und im Gefühl des grenzenlosen Ruhebedürfnisses vergaß sie darauf, sich zu kränken, daß Max sie nun jeden Abend, den Gott gab, allein ließ und seinem Vergnügen nachging.

Frau Doktor Rapp aber, die Gattin des Rechtsanwalts, wartete weit draußen vor der Stadt im Schutze der Dunkelheit auf ihren Geliebten Doktor Max Storf.

Schlussvignette, Kapitel 8

[S. 173]

Neuntes Kapitel.

F elix Altwirth war ein richtiger Künstler geworden. „Einer von die ganz G’scheiten, wissen’s ...“ wie sich die Apothekerin auszudrücken pflegte, wenn man sich bei ihr nach dem Neffen erkundigte. Sie sprach jetzt gern und mit Stolz von Felix und machte sich mit Vorliebe wichtig, wenn sie ihre Kenntnisse in künstlerischen Angelegenheiten auskramte. Ihre Stimme hatte dann jedesmal einen ganz besonders tiefen und speckigen Klang. Das kam von der inneren Selbstzufriedenheit, die Frau Therese Tiefenbrunner empfand. Sie bildete sich ordentlich etwas ein auf ihren Neffen.

Seit ihre Schwester drüben in der Kothlacken so plötzlich gestorben war, fühlte Frau Therese Tiefenbrunner sich verpflichtet, Mutterstelle an Felix zu vertreten. Das hatte sie ihm auch gleich gesagt, als er damals nach dem Tode seiner Mutter zu kurzem Besuch gekommen war.

Es war schnell gegangen mit der Witwe Altwirth. Eine heftige Lungenentzündung hatte die robuste Frau aufs Krankenlager geworfen, und der Tod hatte brutal sein Opfer gefordert. Es war ein Ende, wie es sich die einfache Frau stets gewünscht hatte. Ohne viel Aufhebens, ohne lange Qual, rasch und gut.

Die Witwe Altwirth hatte ihren Sohn nicht mehr gesehen. Sie erlebte auch das Ende seiner künstlerischen Studien nicht mehr. Die Berichte, die sie von ihm erhielt, waren ja immer günstig. Es ginge vorwärts mit seiner Kunst, schrieb er, nur noch kurze Zeit, dann würde er selbständig sein. Diese kurze Zeit hatte Frau Susanne Altwirth nicht mehr abwarten dürfen.

Es war eine stete Sorge um das Schicksal des Sohnes, die insgeheim an der Frau zehrte. Und ohne bange Sorgen um die Zukunft ihres einzigen Kindes war sie auch nicht gestorben. In den Stunden, die ihrem Todeskampf [S. 174] vorangingen, hatte sie ihre Schwester zu sich rufen lassen und Frau Therese ihre Seelenangst gebeichtet.

Angesichts des Todes löste sich die starre Zurückhaltung, die sie immer gewahrt hatte, und schwand auch die letzte Spur eines Mißverständnisses, das die Schwestern je im Leben getrennt hatte. Susanne Altwirth wußte, daß sie in ihrer Schwester den einzigen Menschen auf Erden besaß, auf den sie sich verlassen konnte.

Es war erschütternd, wie das knochige, hagere Weib sich mühsam in ihrem bescheidenen Bette aufrichtete und bittend ihre schwieligen Arbeitshände faltete, als Frau Therese Tiefenbrunner in die Stube trat.

„Gelt, Thres,“ sagte sie flehend, und ihr Atem keuchte, „versprich mir’s, daß du mir’n nie verlaßt, den Felix. Nie ... verstehst!“ Angstvoll sahen die fieberglühenden Augen der Todkranken auf die Schwester. „Weißt, i muß dir’s sagen, bevor i sterb’. Es laßt mir koa Ruh nit. Der Felix ist wie sein Vater. Hat koan Halt nit im Leben und braucht a Führung und a Leitung. Mi hat ja nur der Tod vor viel Unglück beschützt. I hab’ mir’s oft denkt, aber zugeben hab’ i’s nit wollen, woaßt wohl! Aber jetzt bekenn’ i’s. I bin glücklich g’wesen mit mein’ Mann, recht glücklich! Aber i hab’s g’wußt, es war nur deswegen, weil der Tod uns rechtzeitig getrennt hat. Oft hab’ i’s kommen sehen, wie’s werden könnt’, wenn der Mann koan Halt und koa Einsicht hat.“

Ermattet von der gewaltsamen Anstrengung und inneren Erregung ließ die Kranke sich in ihre Kissen sinken. Mit ruhiger, leichter Hand fuhr Frau Therese ihrer Schwester über die glühendheiße Stirn und sprach mit guten, tröstenden Worten auf sie ein.

Die Witwe Altwirth nahm ihre ganze Kraft zusammen, um noch sprechen zu können. Sie mußte die bange Sorge noch los werden, die schwer auf ihr lastete ... [S. 175] „Der Felix braucht a Leitung, a starke Hand ...“ fuhr sie fort. „Ist a guater Bua, aber a schwacher Mensch. I sorg’ mi oft um ihn, Tag und Nacht, und kann oft nit schlafen vor Angst. I weiß nit, was noch aus ihm werden soll. I hab’ dir’s nur nie sagen wollen ... aber i begreif’s nit, was er will.“

Und in ihrer Herzensangst um den Sohn, und weil sie in ihrer einfachen Weise nicht imstande war, ihre Sorge eingehend zu erklären, fing sie bitterlich zu weinen an. — — —

Frau Therese Tiefenbrunner hielt ehrlich, was sie der toten Schwester versprochen hatte. Sie sorgte für Felix und ließ ihm nichts abgehen. Schickte ihm Geld und Kleider und Wäsche, und flickte und schaffte für ihn, als wäre er ihr eigenes Kind gewesen. Sie ließ es in ihren Briefen an ihn auch nicht an guten Ermahnungen und Ratschlägen fehlen. Dazu hielt sie sich geradezu für verpflichtet und betrachtete es als ihre heiligste Aufgabe, den jungen Mann auf den Ernst des Lebens und auf die Pflicht des Sparens hinzuweisen.

Diese heilsamen Ermahnungen der Tante bewirkten dann immer, daß Felix den Zeitpunkt herbeisehnte, wo er als freier, unabhängiger Mann vor seine Verwandten hintreten würde, als ein Mann, der etwas erreicht hatte im Leben.

Allzu lange brauchte Felix nicht zu warten auf die Erfüllung seines Wunsches. Der junge, talentvolle Künstler hatte Glück mit seinen Arbeiten. Es gelang ihm, seine Bilder in den Münchener Kunstsalons zur Ausstellung zu bringen und auch einzelne von ihnen zu verkaufen. In verhältnismäßig kurzer Zeit hatte er sich einen ganz geachteten Namen erworben.

Felix Altwirth schrieb selten an seine Tante. Und wenn er schrieb, so waren seine Briefe trocken und formell. Trotz aller Dankbarkeit, die er empfand, wollte [S. 176] kein herzliches Gefühl gegen Frau Therese in ihm aufkommen. Dazu hatten ihn ihre plumpen Ermahnungen, die ihm stets als Vorwürfe erschienen, innerlich zu sehr erbittert.

Auf Frau Therese Tiefenbrunner machten jedoch gerade diese einfachen, sachlichen Briefe einen gewaltigen Eindruck. Sie imponierten ihr, weil sie sich den Ton dieser Briefe nicht zurechtzulegen verstand. Und als Felix eines Tages schrieb, er sei nun in der Lage, allein für sich zu sorgen, und er sei dem Onkel und seiner Tante recht herzlich dankbar für alles, was sie für ihn getan hätten, und was dergleichen schöne Redensarten noch mehr waren ... da war die Apothekerin so glücklich und stolz auf ihren Buben, wie sie ihn jetzt stets zu nennen pflegte, daß sie schnurstracks zur Post lief und eine ansehnliche Geldanweisung nach München sandte. Als Glückwunschgabe für seine großen Erfolge, schrieb sie dazu mit klobigen, ungelenken Buchstaben.

Es waren etliche hundert Kronen. Und Felix Altwirth, der es schon gelernt hatte, Künstlerlos und Künsterschicksal als ein wankelmütiges Ding zu betrachten, legte sich das hübsche Geschenk der Tante als einen Notpfennig beiseite.

Felix Altwirth war jetzt ein glücklicher und zufriedener Mann geworden. Ganz glücklich, seit er sich ein kleines, bescheidenes Heim gegründet hatte, in dem die stille, feinsinnige Adele als seine Frau waltete.

Draußen im Isartal, auf einem der einsamen Wege hatten sich die beiden jungen Menschenkinder kennen und lieben gelernt.

So oft er nur konnte, wanderte der junge Maler ins Isartal. Es war nicht allein die herrliche, farbenprächtige Natur, die ihn allmächtig hinauslockte, sondern auch eine namenlose Sehnsucht nach den Bergen. Es waren die Tiroler Berge, die ihn aus der Ferne unwiderstehlich [S. 177] anzogen. Er wußte es ja, daß er sie nicht erblicken konnte, aber es genügte ihm schon, daß er in dem leichten, blauen Nebeldunst überhaupt Berge sah ... Berge, die seiner geliebten Heimat so nahe und verwandt waren.

Nach jeder solchen stillen Wanderung ins Isartal kehrte Felix neu gestärkt und erfrischt in die Großstadt zurück. Die Natur da draußen hatte ihn seiner Heimat näher gebracht, hatte ihm Kraft verliehen zu neuem Schaffen.

Der junge Maler hätte es nie geglaubt, daß er jemals mit so heißer Liebe und Sehnsucht nach seiner Vaterstadt zurückverlangen würde, als das jetzt in immer stärkerem Grade bei ihm der Fall war. Alles Üble, was er dort erlebt hatte, war gedämpft oder ganz erloschen in seiner Erinnerung. Er fing jetzt an, sich nach Innsbruck zu sehnen, mit der gleichen brennenden Begierde, wie er einstmals von dort fortgestrebt hatte.

Zwei Jahre war Felix Altwirth nun mit Adele verheiratet. Und ein kleines, blondlockiges Mädel machte just die ersten drolligen Gehversuche und übte sich mühsam und mit wichtigem Gesichtchen, um die Kunst des Redens zu erlernen.

In Schwabing, dem Eldorado aller jungen Künstler und Künstlerinnen, hatte das junge Paar sein Heim aufgeschlagen. Eigentlich gehörte Frau Adele auch der Gilde der Schwabinger an. Sie war eine Beamtentochter aus einer größeren Stadt in Mitteldeutschland und früh verwaist. In München hatte sie Musik studiert und die Prüfung als Klavierlehrerin mit gutem Erfolg bestanden.

Adele hatte es frühzeitig lernen müssen, sich zu behaupten. Und in strenger Selbstzucht hatte sie sich stets von allen lockern Sitten des Künstlervölkleins, das sie umgab, fern zu halten gewußt. Als Felix sie kennen lernte, war sie ein reifes Mädchen von fünfundzwanzig Jahren und schon einige Jahre als Klavierlehrerin tätig. [S. 178] Auch in ihrer Ehe wollte sie nicht darauf verzichten, ihren Teil zur Aufrechterhaltung des Hausstandes beizutragen.

So war das Leben des jungen Paares ein zwar bescheidenes, aber ein immerhin behagliches geworden. Felix konnte sich ganz seinen künstlerischen Neigungen widmen. Er brauchte nicht zu malen um des lieben Brotes willen, da ja Frau Adele zum großen Teil die Sorgen für den Haushalt übernommen hatte.

Felix Altwirth hatte all dieses seiner Tante nach Innsbruck geschrieben. Seine Briefe waren, seit er das Glück genoß, von einer feinen und gebildeten Frau liebend umsorgt zu sein, viel heiterer und ausführlicher geworden. Er hatte es gelernt, milder und gerechter zu urteilen, und hatte es sogar so weit gebracht, seine Verwandten zu sich nach München einzuladen.

Daß sich die beiden alten Leute zu diesem Unternehmen wirklich entschließen würden, daran war natürlich nicht zu denken. Sie nahmen es sich zwar stets vor, entwickelten eingehend und umständlich ihre Reisepläne bis in jede Kleinigkeit und verschoben die Ausführung von Monat zu Monat.

Und einmal, da schrieb der Felix, daß er es nicht mehr aushalten könne in der Großstadt. Das Heimweh habe ihn gepackt mit solcher Macht, daß es seine ganze Schaffenslust zu untergraben drohe. Er müsse fort, hinein nach Tirol mit Weib und Kind. Dort in seinen heimatlichen Bergen werde er allein die Kraft finden können, das Höchste in seiner Kunst zu erreichen.

Es sei ihm nicht bange vor der Zukunft. Nachdem es ihm in München unter viel schwierigeren Umständen gelungen wäre, sich einen angesehenen Namen zu gründen, so zweifle er nicht daran, daß er auch in seiner Vaterstadt sein Glück und sein Fortkommen finden werde. Er hoffe sogar, daß es ihm vergönnt sein möge, Großes auf dem [S. 179] Gebiete der Kunst nicht nur für sich, sondern auch für die Stadt zu leisten.

Die Kunst müsse hoch kommen in seiner Heimat. Es fehle nicht an Künstlern und Leistungen, aber an dem Zusammenhalt der einzelnen. Die feste, energische Leitung fehle, das einheitliche Zusammenarbeiten aller, um das Ansehen Innsbrucks auch als Kunststadt im ganzen Reich zu Ehren zu bringen.

Er, Felix Altwirth, fühle in sich die Kraft, diese Ideale zu verwirklichen. Er fühle sich dazu berufen, die künstlerische Führung zu übernehmen. Er gedenke, alle Künstler Tirols um sich zu scharen und einen Kunsttempel zu gründen, der vorbildlich werden solle im engern Heimatlande und im ganzen Reich.

Frau Therese Tiefenbrunner verstand nicht viel von den Zielen und Absichten des jungen Künstlers. Aber sie machte doch ein sehr gescheites Gesicht, während sie den Brief las. Schon deshalb, weil sie jetzt überhaupt große Stücke auf ihren Neffen hielt. Sie war überzeugt davon, daß alles das, was er schrieb, auch richtig sein müsse und ausgeführt zu werden verdiene.

Felix lebte ja nun in München. In der Großstadt hatte er es sicher gelernt, wie man das, was er da sagte, ins Werk setzen mußte. Und eine Frau hatte er auch, die was von Kunst verstand. So würde es schon recht werden. Für Frau Therese Tiefenbrunner bedeuteten die künstlerischen Ideale und Phantasien ihres Neffen ungefähr so viel, als ginge dieser mit dem Plane um, irgendein neues Geschäft in Innsbruck zu errichten.

Mit einer beinahe herablassenden Handbewegung übergab die Apothekerin ihrem Gatten den Brief ihres Neffen. „Da tu das einmal lesen, Simon!“ sagte sie in ihrer langsamen, singenden Tonart. „Und dann bringst den Brief heut’ auf die Nacht dem Herrn Patscheider. Der soll ihn nur auch lesen. Das schadet ihm gar nicht, wenn [S. 180] er sieht, daß andere Leute auch noch Einfälle und Ideen haben tun, nicht nur er alleinig. Und den Doktor Rapp kannst es auch lesen lassen. So etwas muß man nämlich unterstützen, was die Kunst anbetrifft. Das kannst ihnen sagen, Simon. Nit wahr, du verstehst mi schon, Alter?“ sagte sie freundlich und fuhr ihm dabei streichelnd über den jetzt schon stark ergrauten Kopf ...

Beinahe zehn Jahre waren vergangen, seitdem der Apotheker jene denkwürdige Unterredung mit Felix Altwirth gehabt hatte, die dem jungen Mann die Künstlerlaufbahn sicherte. Zehn Jahre ... Die Menschen altern rasch in kleinen Städten. Die Zeit war nicht spurlos an Simon Tiefenbrunner vorüber gegangen. Er war alt und gebeugt geworden, als hätte er eine schwere Sorgenlast im Leben zu tragen gehabt.

Herr Tiefenbrunner sah gar nicht darnach aus, als ob er viel von dem Auftrag seiner Gattin verstünde. Aber er nickte zustimmend und brachte auch abends gehorsamst den Brief von Felix zur Vorlesung beim Stammtisch im Weißen Hahn. Der Apotheker Tiefenbrunner las ihn lieber gleich selber vor, damit sie’s alle hörten und ihre Meinungen darüber abgeben konnten.

Der Rat Leonhard hatte sich gerade über sein Beuschel mit Tiroler Knödeln hergemacht, um es sich mit gebührender Andacht zu Gemüte zu führen. Wenn der Herr Rat beim Essen war, dann liebte er es gar nicht gestört zu werden. Als daher der Apotheker mit viel Umständlichkeit den Brief des jungen Künstlers entfaltete und sich seinen Zwicker mit dem blühweißen Taschentuch reinigte, um dann mit wichtiger Miene darüber hinwegzusehen, traf ihn ein bitterböser Blick des alten Herrn.

Der Herr Rat zog mit einem unsagbar verdrießlichen Ausdruck seines Mopsgesichtes sein Taschenmesser hervor, befühlte die Schneide desselben, ob sie wohl scharf genug sei, und sah dabei so grimmig aus, als wäre er am liebsten [S. 181] dem Apotheker zu Leibe gegangen. Dann ließ er sich einen Wecken Brot bringen, schnitt ein großes Stück davon herunter, beroch es, legte es hin und führte darauf den ganzen Wecken an seine Nase, offenbar, um sich von der Güte und Frische des Roggenbrotes zu überzeugen.

Simon Tiefenbrunner, der Apotheker, war von seiner Mission so erfüllt, daß er gar nicht auf den alten Herrn achtete, sondern zu sprechen begann. Langsam und bedächtig ...: „Ich hab’ da eine Zuschrift bekommen, meine Herren,“ fing Simon Tiefenbrunner seine Rede an, „die mir nicht ohne Wichtigkeit zu sein scheint. Sie ist von meinem Neffen, dem Felix Altwirth, den Sie ja alle kennen.“

„Ah so, der Felix!“ machte der Rechtsanwalt erfreut. „Laßt der auch wieder einmal was von sich hören.“

„Was will er denn?“ frug der Kaufmann Patscheider mit leisem Mißtrauen.

„Das werden Sie gleich hören, meine Herren!“ fuhr der Apotheker fort. „Ich will Ihnen den Brief gleich vorlesen.“

„Alsdann los mit der G’schicht’!“ forderte ihn der Doktor Rapp lustig auf, lehnte sich mit dem Rücken bequem in seinen Stuhl zurück und legte die beiden Arme gerade ausgestreckt auf den Tisch vor sich hin. „Also los! Dann wollen wir’s angehen!“ sagte er mit frischer, munterer Stimme.

„Muß das jetzt gleich sein?“ ließ sich da der Herr Rat vernehmen. „Ich möcht’ meine Knödel essen!“ sagte er brummig.

„Das können’s ja, wenn Sie wollen!“ meinte Patscheider. „Die werden nit kalt vom Vorlesen!“

Da die Herren von der Tischgesellschaft alle zu lachen anfingen, mußte sich der Herr Rat wohl oder übel fügen. Man sah es ihm aber an, wie unlieb ihm diese Störung war. Beim Essen wünschte der Herr Rat unbedingt in [S. 182] Ruhe gelassen zu werden. Er hatte dann für nichts auf der Welt Auge und Sinn als für die Schüsseln, die vor ihm standen. Sein ganzes Sein war dann hingebungsvolles Erwarten und völliges Aufgehen in diesem, alles andere in den Schatten stellenden leiblichen Genusse.

Sogar die Nase hatte ihren ganz hervorragenden Anteil bei den Mahlzeiten des Herrn Rates und entfaltete eine rege Tätigkeit. Von Zeit zu Zeit führte der Rat Leonhard seinen Gesichtsvorsprung ganz zu dem Teller herab und beschnupperte sorgfältig das Gericht, das vor ihm aufgetischt war. Er befühlte mit den Spitzen seiner knochigen Finger liebevoll und zärtlich die Speisen, beroch die Finger und erhöhte diesen raffinierten Genuß seines Geruchsinnes noch dadurch, daß er von Zeit zu Zeit die ganze Schüssel mit beiden Händen ergriff und sie in enge Fühlung mit seiner Nase brachte.

Während er auf diese Weise den Inhalt der Schüssel sorgfältig prüfend besichtigen und beriechen konnte, kaute er eifrigst und unaufhörlich darauf los. Dabei sperrte er seine Kiefer möglichst weit auseinander, schmatzte, schnaubte wie eine Dampfmaschine und zog gleichzeitig den feinen Duft der Speise ein.

Die Wirtin, die stets jede Miene des alten Herrn mit einiger Angst beobachtete, wußte es dann jedesmal, wenn der Herr Rat wiederholt die Schüssel an seine Nase geführt hatte, daß der alte Herr mit dem Gericht auch zufrieden war und daß es seinen ungeteilten Beifall gefunden hatte.

Das Lesen des Briefes verursachte dem Herrn Rat entschieden Mißbehagen. Er wollte nicht darauf achten und hörte trotzdem zu. Es machte ihn schon nervös, daß überhaupt an seine geistigen Fähigkeiten andere Anforderungen gestellt wurden, als jene der tiefsten Versunkenheit bei der Einverleibung von Speise und Trank in seinen Magen.

[S. 183]

Da es dem Herrn Rat nicht gelungen war, die Verschiebung der Vorlesung auf einen spätern Zeitpunkt zu erreichen, so beeilte er sich, mit seiner Mahlzeit so rasch als möglich fertig zu werden. Er aß daher das Beuschel mit Knödeln so hastig und mit so viel Aufwand von Energie und Lärm, daß seine Tischgenossen, die sich im Laufe der Jahre an seine Unarten doch schon einigermaßen gewöhnt hatten, jetzt trotzdem stutzig wurden.

Sie beobachteten ihn unwillkürlich, wie er sich zuerst große Stücke Brotes mit seinem Taschenmesser in das Beuschel schnitt, dann die Gabel in die rechte Hand nahm und Brot und Knödel in dem Beuschel durcheinander arbeitete, als habe er ein großes Fuder Heu vor sich, das er schleunigst abladen müsse. Dabei schnob der alte Herr ordentlich vor Anstrengung und kaute mit so starkem Verbrauch von Kraft und Geräusch, daß er einem förmlich hätte erbarmen können.

Immer wieder schob er neue Ladungen in seinen Mund hinein, und das geschah in so rascher Aufeinanderfolge, daß die dünnen Backen des Herrn Rats hoch geschwollen aussahen und es fast unerklärlich schien, wie er stets wieder Platz für neue Zufuhr in seinem Munde fand.

Die Wirtin hatte einen Augenblick lang ernstlich Angst, der Herr Rat könne durch einen plötzlichen Hustenreiz ersticken. Und so entsetzt war Frau Maria Buchmayr über die rasende Freßgier des Herrn Rates, daß sie ein über das andere Mal besorgt den Kopf schüttelte und leise vor sich hinmurmelte: „Naa, in Gottsnamen ... in Gottsnamen, daß es grad möglich ist!“

Der Herr Rat hörte aber gar nicht auf sie. Er hatte alles zu tun, um seine volle Aufmerksamkeit nach dem Genuß seiner Knödel auf die nun lebhaft gewordene Unterhaltung zu richten. Jetzt, da er mit dem Essen [S. 184] fertig war, schob er den leeren Teller mit einer beinahe großartigen Gebärde weit von sich fort, rieb sich energisch mit der Serviette den Mund und Bart ab, zerknüllte sie und warf sie achtlos neben den Teller. Die Serviette sah aus wie ein schwer mißhandeltes Lebewesen, dem man aus Zorn wegen seiner eigentlich überflüssigen Dienste den Garaus gemacht hat.

Zwischen der eingenommenen Mahlzeit und dem Rauchen pflegte der Herr Rat sich einer Erholungspause hinzugeben. Diese füllte er damit aus, daß er sein Taschenmesser hervorzog, es sorgfältig an dem Tischtuch reinigte und sich dann mit einiger Umständlichkeit damit die Nägel putzte. Diesen feinsinnigen Abschluß seiner Mahlzeit nahm der alte Herr auch jetzt vor. Während er anscheinend ganz seinem Reinlichkeitsbedürfnis huldigte und auf nichts achtete, was um ihn vorging, hörte er doch in Wirklichkeit auf jedes Wort, und es entging ihm auch nicht die kleinste Rede.

„Das ist doch großartig, so ein Einfall!“ lobte der Apotheker Tiefenbrunner, indem er den Brief wieder sorgfältig in seine linke Brusttasche steckte. „Was sagen’s jetzt da dazu, Herr Patscheider?“ Fast ängstlich sah der kleine Mann auf den Kaufmann, der an seiner Seite saß.

Patscheider füllte sich zuerst sein Weinglas nach, tat einen tüchtigen Schluck daraus, schenkte sich wieder ein und erklärte dann mit lauter, fester Stimme: „Ich sag’, das ist ein Blödsinn!“

„Wieso ein Blödsinn?“ frug der Apotheker bestürzt. „Die Kunst und ein Blödsinn!“

„Nein, nit die Kunst, aber der Brief von Felix Altwirth. Das ist alles für die Katz’, was er da schreibt!“ sagte der Kaufmann bestimmt.

„Ja ... aber ...“ entgegnete der Apotheker hilflos.

„Schreiben’s dem Felix, er soll bleiben, wo er ist!“ fuhr der Patscheider in entschiedenem Tone fort. „Wenn [S. 185] er in München ein G’schäft macht, nacher ist’s gut. Bei uns da macht er doch kein G’schäft. Das kann ich ihm schon zuerst sagen.“

Den Doktor Rapp trieb es wieder, den Patscheider zu hänseln. „Also Sie täten ihm kein Bild abkaufen, Herr Patscheider, nit wahr?“ frug er anzüglich.

„Etwa Sie?“ versetzte der Patscheider trocken.

Nun mußten sie alle lachen am Stammtisch. Es war allgemein bekannt ... so tüchtig Doktor Rapp als Rechtsanwalt in jeder Hinsicht war, so wenig Zeit und Sinn hatte er für die Kunst. Im Theater war er nur höchst selten zu sehen, und eigentlich nur dann, wenn er aus Rücksichten der Repräsentation hineingehen mußte. Von der bildenden Kunst verstand er überhaupt nichts und machte auch kein Hehl daraus. Seine einzige Lektüre waren die politischen Tageszeitungen und die Neuerscheinungen auf dem Gebiete der Rechtspflege.

Literatur und Kunst waren nach der Meinung des Advokaten Doktor Valentin Rapp höchst überflüssige Dinge, mit denen sich Männer gar nicht abgeben dürften. Die boshafte Gegenfrage des Kaufmanns war daher sehr treffend und zeigte, wie genau der Patscheider seinen Gegner kannte.

Aber Doktor Rapp wußte sich zu helfen. Er parierte geschickt den Hieb, den ihm der Patscheider versetzen wollte, und sagte mit drolligem Humor: „O ja, ich schon ... Ich tät’ mir den Herrn Patscheider porträtieren lassen, und tät’ mir ihn übern Schreibtisch aufhängen, damit ich ihn nit vergess’.“

Ein allgemeines schallendes Gelächter war die Antwort. Sogar der Patscheider mußte über den Einfall lachen und verzichtete darauf, den Gekränkten zu spielen, wie er es sonst bei solchen Redensarten zu tun pflegte.

Die Herren am Stammtisch beim Weißen Hahn unterhielten sich noch lange über Felix Altwirth und seine [S. 186] Pläne. Der Professor Haidacher meinte, daß er für seinen Teil schon dafür wäre, die Angelegenheit einmal näher zu erörtern. Der Herr Professor war ein älterer Mann. Groß, glatt rasiert und ziemlich korpulent. Er war für gewöhnlich ein sehr schweigsamer Gast und hörte gleich dem Herrn Rat lieber zu, wenn die andern sprachen.

„Da gibt’s gar nichts zu erörtern!“ fiel ihm Herr Patscheider energisch ins Wort. „So was ist ein Blödsinn, und damit basta! Der Felix Altwirth soll bleiben, wo er ist!“ entschied er.

„Jetzt hören’s mir aber auf, Herr Patscheider!“ sagte da der Doktor Rapp in bestimmtem Tone. „Das geht denn doch zu weit! Wie kommen denn Sie überhaupt dazu, einem Innsbrucker Künstler seinen Heimatsort zu verbieten? Das geht doch Sie gar nichts an, wenn der Maler Altwirth daher kommen will. Das ist seine Sach’. Eine rein persönliche Angelegenheit!“ Doktor Rapp betonte jedes Wort ausdrücklich, als spräche er vor einem hohen Gerichtshof.

„Aber das ist unsre Sach’, die mit dem Kunsttempel!“ widersprach der Patscheider hitzig. „Zügeln’s ihn nur her, Ihneren Maler, dann ...“

„Aber meine Herrn, meine Herrn!“ beschwichtigte der Apotheker ängstlich. „Nur keine Aufregung! Nur keine Aufregung!“

Der Direktor Robler, ein großer, knochiger Mann mit schönem, weißem Haar und Bart, einer goldumränderten Brille und dickem Hals, der durch den niedern Umlegkragen ganz besonders voll zur Geltung kam, meinte in ruhigem, überlegenem Ton: „Ja, so fangt’s doch nit zu streiten an! Es wird ja schon bald ungemütlich!“

„Und überhaupt bin ich der Ansicht,“ ergriff jetzt der Baurat Goldrainer das Wort, „daß es immerhin als [S. 187] eine Auszeichnung für eine Stadt aufzufassen ist, wenn sich ein Künstler in ihr niederlassen will.“

„Ganz meine Ansicht! Ganz meine Ansicht!“ pflichtete ihm der Professor Haidacher bei. Die beiden Herren erhoben ihre Gläser und nickten sich gegenseitig Beifall zu.

Patscheider machte eine geringschätzige Handbewegung und sagte: „Das kennen wir schon. Auszeichnung hin oder her. Ihr werdet’s alle noch an meine Worte denken. So wird’s kommen und nit anders. Wenn der Altwirth da ist, dann haben wir einen Raunzer mehr in der Stadt. Da hätten wir alle Augenblick’ wen neuen, dem was eing’fallen ist. Das kennen wir schon! Tut’s ihn nur her, euern Maler! Nacher könnt’s schauen, wie’s ihn wieder loskriegt’s!“ sagte der Patscheider und machte ein Gesicht und eine Bewegung mit der Hand, die andeuten sollten, daß er den Fall für erledigt betrachte.

Die Herren waren alle etwas nachdenklich geworden. Später dann fing der Doktor Rapp an, die Wirtin zu necken wegen des neuen Fasses Wein, von dem sie heute am Stammtisch die Kostprobe erhalten hatten.

„Wie viel Liter Wasser haben’s denn nachgossen, Frau Buchmayr?“ frug er und hielt sein Glas gegen das Licht, um die Farbe zu prüfen.

„Naa, aber Herr Doktor!“ wehrte die Wirtin lachend. „Für Ihnen werd’ i extra den Wein wässern lassen!“

„A Sauremus ist’s!“ konstatierte der Advokat und schnalzte mit der Zunge. „Da muß Salz oder sonst ein Teufelszeug drin sein! Schlecht ist er!“ meinte er mit neckischem Ernst.

Die Wirtin wußte es schon, wie hoch sie die Frozzeleien des Rechtsanwalts zu bewerten hatte. Es verging kein Abend, an dem der Doktor Rapp nicht einen neuen Grund zu fröhlicher Nörgelei gefunden hätte.

[S. 188]

„Ja, aber, um wieder auf den Felix Altwirth zurückzukommen,“ begann der Direktor Robler dann nach langer Pause neuerdings. „Das mit dem Kunsttempel, das will mir auch nicht ganz einleuchten. Das ist doch eigentlich eine öffentliche Angelegenheit, über die noch ganz andere Faktoren zu entscheiden haben. Nicht wahr, Herr Tiefenbrunner?“

„Das stellt sich der Herr Altwirth recht einfach vor!“ sagte der Baurat Goldrainer, „das ist aber gar nicht so einfach. Nicht wahr, meine Herrn?“

„Freilich, freilich!“ beeilte sich der Apotheker beizustimmen.

Es reute ihn schon längst, daß er den Brief seines Neffen überhaupt hier öffentlich vorgelesen hatte. Das war nicht diplomatisch gewesen. Gar nicht. Er hätte die Herren doch kennen müssen und hätte es wissen sollen, daß sie in der Sache doch leicht ein Haar finden konnten, um sich gegenseitig zu befehden. Er hätte einen jeden einzelnen von ihnen vornehmen sollen, um mit ihm über die Angelegenheit zu sprechen. Das wäre das einzig Richtige gewesen.

„Und überhaupt, meine Herrn,“ sagte der Apotheker, „ist’s ja bis dorthin noch lange hin. Zuerst muß ja der Felix herkommen und sehen, wie’s ihm da g’fallt. Dann kann man über das andere reden. Nit früher.“

Der alte Rat Leonhard, der jetzt schon längst wieder seine Pfeife rauchte, legte seinen kleinen, grauen Kopf leicht zur Seite, klemmte die Pfeife fest zwischen die Zähne, zog die Nase empor, so daß sich auf ihr viele kleine Falten bildeten, und erhob warnend den Zeigefinger seiner magern, runzligen Hand ... „Es wird ihm nit g’fallen da, dem Felix. Es ist nit ’s Richtige bei uns da herinnen. Wir vertragen so was nit. So was ... was außerhalb von uns liegt, das geht uns [S. 189] gegen den Strich. Das wollen wir nit. Und das tut auch kein Gut nit, wenn’s zu uns hereinkommt! Schreiben’s das dem Felix, Herr Apotheker!“

Der alte Herr erhob seine beiden Hände nach rechts und nach links, mit den Handflächen nach auswärts wie ein Prediger, nickte bekräftigend mit dem Kopf und meinte dann noch einmal in eindringlichem Ton: „Ich hab’s g’sagt! Ich hab’s g’sagt!“

Schlussvignette, Kapitel 9

[S. 190]

Zehntes Kapitel.

D er alte Rat Leonhard hatte seine ganz bestimmten Lebensgewohnheiten und seine genau festgesetzte Tageseinteilung. Davon wich er auch nicht ab. Um keinen Preis. Diesen Gewohnheiten kam er nach mit einer Pünktlichkeit und einer Sorgfalt, die den einstigen pflichtgetreuen und exakten Beamten verrieten.

Zu den Gepflogenheiten des Herrn Rats gehörte es auch, daß er jeden Tag, wenn die Uhr vom Turm zwei schlug, durch den Torbogen schritt, der die Franziskanerkirche mit der Hofburg verbindet. Schlag zwei Uhr war der alte Herr am Ende des Burggrabens zu sehen. Bei Regen und Sonnenschein, bei Sturm und Schnee.

Täglich ging er den gewohnten Gang. Schritt langsam, fast schleichend, mit vorgebeugtem Oberkörper, die Hände auf dem Rücken und einen hellgrauen Regenschirm unter dem Arm, hinaus auf den breiten Rennweg bis hinunter zum Inn.

Er hatte einen weichen, runden Hut auf dem Kopf, der ihm tief ins Gesicht fiel. Einmal mochte der Hut ein ganz gutes Äußeres gehabt haben. Das mußte aber gewiß schon recht lange her sein. Sicher war der Hut einmal schwarz gewesen. Jetzt war er grünlich, bräunlich, grau und von einer Ungebundenheit der Form, die schon geradezu etwas Künstlerisches an sich hatte.

Dazu trug der Herr Rat einen langen, tiefbraunen Überrock, der auch vor undenklichen Zeiten einmal modern gewesen war. Jedes Jahr trug der Rat Leonhard denselben Hut und denselben Mantel. Man kannte ihn in Innsbruck gar nicht anders als mit diesen Kleidungsstücken. Nur während der heißen Sommermonate hatte der Herr Rat einen Hut und einen Überzieher von ganz hellgrauer Farbe. Die waren aber beide so alt und unmodern wie ihre Kollegen von der kälteren Jahreszeit.

[S. 191]

Zwei Hüte und zwei Überröcke, die genügten dem alten Herrn vollständig für eine lange Reihe von Jahren. Von seinem Regenschirm trennte er sich nie. Nicht im Sommer und nicht im Winter, weder bei Schneegestöber noch bei strahlend blauem Himmel.

Und tagtäglich wanderte der Herr Rat denselben Weg hinunter zum Inn, bis zu der schmalen Brücke, dem sogenannten Kreuzersteg, die nach Sankt Nikolaus hinüberführt. Der alte Herr schlich langsam und bedächtig seines Weges und achtete kaum auf die Grüße der Leute, die ihn als einen alten Innsbrucker nun schon jahrzehntelang gut kannten. Kaum, daß er flüchtig den gebotenen Gruß erwiderte. Er liebte es gar nicht, wenn man ihn kannte, und fühlte sich durch solche Begegnungen sofort in seiner Gedankenwelt gestört.

Auf dem Innsteg blieb der Herr Rat stehen und sah eine Weile dem Spiel der Wellen zu. Dann erst beschloß er, seinen Spaziergang fortzusetzen. Von hier aus schlug der alte Herr die verschiedensten Wege ein. Je nach dem Wetter. Aber am liebsten ging er hinauf zur Weiherburg, vorüber an der Sankt Nikolauskirche, vorbei an dem ansehnlichen roten, breiten Schloßbau von Büchsenhausen, und dann noch weiter hinauf, immer in sachter Steigung bis zur Weiherburg. Bis zu diesem entzückenden kleinen Schlößchen mit seinem spitzen Turm und mit der prachtvollen Fernsicht auf die Stadt und auf die Berge des Unterlandes. Herrlich baut sich dort gegenüber das Kellerjoch und das südliche Mittelgebirge mit der Kuppel des Patscherkofels auf. Und rechts von ihm im Hintergrund erhebt sich in ihrer vornehmen Ruhe die stolze Königin der Innsbrucker Gebirgswelt, die Serles.

Es ist ein wundervoller Fleck Erde, auf dem dieses kleine, bescheidene Schlößchen thront. Der alte Rat Leonhard liebte den Ausblick da droben und erfreute sich oft und oft daran, und immer mit dem gleichen frommen [S. 192] Gefühl der Andacht, die ihn angesichts dieser herrlichen Natur stets wieder von neuem ergriff.

Der alte Herr ging immer allein und konnte es gar nicht leiden, wenn sich ihm ab und zu einmal ein Bekannter auf seinem Weg anschloß. Er wollte allein sein ... allein mit der Natur und mit seinen Gedanken. Er wollte allein genießen und allein sehen.

Und er sah viel, der alte Herr. Viel mehr als andere Leute. Und er wußte auch viel, obwohl er nur für sich lebte und sich anscheinend um nichts kümmerte, als um seine eigene Person. So wußte er doch vieles, was um ihn vorging. Wußte es besser zu deuten und zu beurteilen als die andern.

Der alte Rat Leonhard ging fast täglich diesen Weg zur Weiherburg hinauf. Sommer und Winter. Und ganz besonders gern im Winter. Da brannte die liebe Frau Sonne so herrlich warm, daß die Eiszapfen an den Dächern der Häuser und Villen, die verstreut am Wege lagen, zu tauen begannen und daß der festgefrorene Schnee unter den Füßen nicht so unbarmherzig knirschte, sondern den Schritten der Menschen nachgab wie das weiche Fell eines Eisbären.

Es war hier oben gleich einer trostvollen Verheißung der Natur, daß dieser harte, starre Mantel aus Eis und Schnee, der alles in grausame Kälte hüllte, Berge und Stadt, Gärten und Wiesen, der dem breiten Fluß drunten im Tal einen immer dichter werdenden Eispanzer anzulegen drohte, schwinden werde ... daß all dies gänzliche Absterben in der Welt durch ein jähes, warmes Wunder plötzlich und über Nacht zu neuem treibendem und keimendem Leben erwachen werde. Und deshalb liebte der alte Herr diese Gegend von Innsbruck ganz besonders, weil dort droben der Süden über der Stadt grüßte. Der herrliche, wärmende und das Frühjahr verkündende Süden.

[S. 193]

In einem Häuschen in der Nähe der Weiherburg, das mit seinem zierlichen Garten und seinem putzigen Balkon so niedlich war wie ein Puppenheim, wohnte der Maler Felix Altwirth seit zwei Jahren. Und die kleine dreijährige Dora mit dem goldroten Lockenhaar und den ungewöhnlich großen, blauen Augen spielte in dem Garten. Spielte und sang und rodelte im Winter auf einem kleinen Schlitten die Anhöhe hinunter, die von der Weiherburg zu ihrem Heim führte.

Fast täglich sah der alte Herr Rat das Kind. Und sie kannten sich auch gut, diese beiden. Wenn die kleine Dora den alten Herrn kommen sah, dann lief sie ihm jedesmal entgegen, hüpfte fröhlich an ihm empor und fragte „Hast du mir was mitgebracht, Onkel Rat?“

Und dann untersuchte das freche kleine Persönchen mit ihren weichen Patschhändchen die unförmigen großen Manteltaschen des Herrn Rates. Der alte Herr blieb geduldig stehen und ließ sie gewähren. Ja, er half ihr sogar dabei, daß sie besser hineinlangen und die Überraschung finden konnte, die er für sie hatte. Eine Orange, ein Stück Schokolade oder gebratene Kastanien. Mit leeren Händen kam der alte Rat Leonhard jetzt nie mehr an dem kleinen Häuschen vorbei. Nie mehr, seit jener Freundschaftsbund zwischen ihm und dem Kind gegründet wurde.

„Warum hast du immer den garstigen Schirm mit, Onkel Rat?“ hatte ihn einmal das Kind gefragt. „Es regnet doch gar nicht. Da brauchst du ihn nicht. Wart’, gib mir den Schirm, ich will damit spielen.“

Und lächelnd tat ihr der alte Herr den Willen. Er lächelte tatsächlich, der alte Junggeselle mit dem stets verdrossenen Mopsgesicht. Lächelte und sah dem kindlichen Spiel des kleinen Mädchens zu, wie sie eifrig plappernd mit seinem Schirm auf und ab lief, stets [S. 194] erzählte und mit der Spitze des Schirmes Figuren in die Erde zeichnete.

„Weißt du, das ist ein Bild. Ein schönes Bild!“ erklärte sie dann wichtig. „Das hab’ ich gemalt, ganz wie der Papa malt, nur noch viel schöner. Und das mußt du jetzt kaufen!“ Und plötzlich sah das Kind nachdenklich zu dem alten Manne auf und sagte: „Kauf! Du mußt es kaufen, Onkel Rat, damit ich Geld bekomme! Dann bring’ ich es der Mama, und dann lacht die Mama. Und meine Mama ist so lieb. So lieb ... und ich hab’ sie so lieb!“ erklärte das kleine Mädchen und machte mit beiden Armen einen großen Kreis, um anzudeuten, wie lieb sie ihre Mama habe. „Hast du meine Mama auch lieb, Onkel Rat?“ fragte sie dann den alten Herrn und sah ihn forschend an. „Zeig, wie lieb du meine Mama hast!“

Der Rat Leonhard mußte unwillkürlich lachen über die Rede des Kindes. Dabei fuhr er mit ungeschickten Händen über das blonde Lockenköpfchen. Die alten Hände des Rates Leonhard waren es nicht gewöhnt zu liebkosen. Als er mit seinen plumpen Fingern das erstemal streichelnd über das Kinderköpfchen fuhr, fast ängstlich und zaghaft, als könne er das kleine Ding irgendwie verletzen, da durchrieselte es den alten Herrn ganz merkwürdig. Eine Rührung überkam ihn, ein nie gekanntes Gefühl, das er auch schleunigst niederzukämpfen trachtete.

Das Kind hatte den alten Herrn liebgewonnen und wartete täglich am Gartentor, bis es seine gebeugte Gestalt den Berg herauf kommen sah. Dann lief es ihm entgegen und begleitete ihn ein Stück des Weges. Hand in Hand gingen sie dann nebeneinander her, und das fröhliche, sorglose Kind zwitscherte und plauderte und erzählte dem alten Herrn alles, was ihm gerade durch den Sinn kam.

[S. 195]

Fast ein Jahr schon dauerte die Freundschaft. Von Tag zu Tag freute sich der alte Herr Rat auf das Wiedersehen mit dem Kinde. Freute sich auf den Lichtblick, der in sein einsames Dasein fiel.

Von Felix Altwirth und dessen Frau bekam der Rat Leonhard nur wenig zu sehen. Aber er wußte durch die Erzählungen des Kindes ziemlich genau Bescheid, wie es bei dem kleinen Mädchen daheim zuging ...

Gleich nach seiner Übersiedlung von München war Felix Altwirth am Stammtisch beim Weißen Hahn aufgetaucht und hatte auch seine junge Frau den Herren dort vorgestellt. Felix Altwirth war ziemlich kühl aufgenommen worden. Er war ein Fremder geworden in diesem Kreis ... einer, mit dem sie nicht recht wußten, was beginnen. Und Felix wiederum hatte das beklemmende Gefühl, daß die Herren ihn als Künstler nicht einzuschätzen verstanden, daß er für sie trotz der Erfolge, die er doch in seiner Kunst zu verzeichnen hatte, derselbe Felix Altwirth geblieben war, der arme Schlucker und verbummelte Student, auf den sie mehr oder weniger geringschätzig herabsahen.

In Wirklichkeit verhielt sich die Sache jedoch anders. Die Herren am Stammtisch wollten gut und entgegenkommend gegen Felix sein, aber nicht einer von ihnen fand den richtigen Ton, der über das beklemmende Gefühl hinweggeholfen hätte, das sie schließlich in ganz gleicher Weise beherrschte wie den jungen Künstler.

Adelens Gegenwart mochte vielleicht auch daran Schuld tragen. Die junge Frau paßte so gar nicht in dieses Milieu. Sie, die den freien, herzlichen und ungezwungenen Ton der Münchener gewöhnt war, fühlte sich durch die wortkarge Art der Herren beleidigt. Sie verstand diese Eigenart nicht. Woher sollte sie es auch wissen, daß die Herren sich mit jedem Fremden, der in ihre Kreise kam, erst abfinden mußten. Daß sie ihn zuerst von ferne beobachten [S. 196] mußten, ehe sie ihn näher an sich herankommen ließen. Adele hatte den Eindruck, als ob eine persönliche Abneigung gegen sie vorhanden sei, als ob man sie in diesen Kreis nicht aufzunehmen wünschte.

Dieser Eindruck verstärkte sich bei ihr noch mehr durch die Haltung der Damen, denen sie vorgestellt wurde. Da war auch nicht eine einzige, die für die Fremde ein warmes Wort des Willkommens gefunden hätte. Nicht eine einzige, die sie mit guten Worten in ihr Heim geladen hätte. Die Professorin, die in solchen Fällen sonst stets die warmherzigste unter allen gewesen, war durch ihre Erfahrung mit Frau Sophie Rapp gewitzigt worden und zog es vor, gleich den andern Damen eine gemessene Zurückhaltung zu bewahren.

Nur bei der Familie des Arztes Doktor Max Storf war eine Art Freundschaftsverkehr zustande gekommen. Aber dieser Verkehr war auch nur äußerst oberflächlich und kam nie über das Niveau der gegenseitigen Anstandsbesuche hinaus. Auch zwischen Felix und Max war die alte Jugendfreundschaft nicht mehr wie früher. Dazu mangelte es dem vielbeschäftigten Arzt an Zeit. Und auch die beruflichen Interessen der beiden waren so verschiedener Art, daß sich die zwei Freunde nicht mehr in der innigen Weise zusammenfanden, wie das früher der Fall gewesen war.

So waren denn Felix und Adele so ziemlich allein auf sich selber angewiesen. Für Felix war die Heimat, die er mit so heißem Verlangen ersehnt hatte, eine schwere Enttäuschung geworden. Er war ein Fremder geworden in der Heimat ... einer, den man dort leben ließ, aber ohne daß er Anteil nehmen durfte an dem Aufstreben und Gedeihen der Stadt.

Adele erkannte es schon nach ganz kurzer Zeit, daß die Übersiedelung aus der lieben alten Kunststadt an der [S. 197] Isar ein Unglück für Felix war. Sie teilte nicht die Begeisterung ihres Mannes für die herrlichen Naturschönheiten seiner Heimat. In ihr wurde jedes erhebende Gefühl durch die kalte, frostige Art der Menschen, die sie umgaben, ertötet. Und dann drückten sie schwere Sorgen. Die Sorge ums tägliche Brot war es, die mit voller Wucht auf der jungen Frau lastete.

Sie hatte darauf gerechnet, daß sie auch in Innsbruck Musikunterricht werde geben können, daß sie gerade so, wie sie es in München getan hatte, die Hauptlast des Hausstandes tragen würde. Aber auch darin hatte sie sich getäuscht. Es fanden sich keine Schüler für die unbekannte Münchener Pianistin. Und der Umstand, daß sich Adele überhaupt mit dem Plane trug, für Geld Unterricht zu erteilen, machte sie für die Damen der Innsbrucker Gesellschaft von vornherein unmöglich.

Frau Therese Tiefenbrunner und ihr Gatte waren die einzigen, die dem jungen Künstlerpaar mit Freundschaft und Wärme entgegenkamen. Sie taten alles, was sie konnten; und trotzdem wurde in Felix bald wieder der alte Groll gegen seine Verwandten rege, und auch in Adele bäumte sich alles gegen die Art der Apothekerin. Bald kostete es sie die gleiche Überwindung und die nämliche Selbstbeherrschung wie ihren Mann, gut, freundlich und dankbar gegen die Tante zu sein.

Es verging fast kein Tag, an dem die Apothekerin nicht den weiten Weg bis zur Weiherburg hinaufkeuchte. Es wurde ihr recht hart. Frau Therese Tiefenbrunner hatte es stark mit der Atemnot zu tun. Aber sie keuchte unentwegt über die Anhöhe und langte dann ganz ermattet und erschöpft oben an.

Sie kam selten mit leeren Händen. Seit sie mit scharfem Kennerblick es bemerkt hatte, daß bei dem jungen Paar Sparhans Küchenmeister war, seitdem schleppte sie immer [S. 198] noch einige Päckchen mit sich herauf. Allerhand brachte sie, Kaffee, Fleisch, Zucker, Kuchen, Schürzen oder ein Kleidchen für das Kind, und was ihr sonst gerade einfiel. Sie gab und wollte geben. Aber sie tat es in einer Weise, die den feinen Sinn der jungen Frau verletzte. Frau Adele hatte das Gefühl, Almosen zu empfangen, und ihr ganzer Stolz bäumte sich dagegen. Die Art und Weise, wie sie die gut gemeinten Geschenke der Apothekerin aufnahm, kränkte wiederum die Geberin.

So kam es, daß Tante und Nichte sich bald schroff gegenüberstanden. Umsomehr, da Adele sich einmal in ganz energischer Form die taktlosen Einmischungen der Apothekerin in ihren Haushalt verbeten hatte.

Nach und nach kam die Apothekerin seltener, aber sie dehnte ihre Besuche doch immerhin noch so lange aus, stellte so eingehende Fragen und besah sich alles im Haushalt mit so prüfenden Blicken, daß Adele jedesmal nach einem solchen Besuch einem Weinkrampf nahe war.

Die Frau Apotheker hatte es bald losgehabt, daß es mit dem Einkommen ihres Neffen nicht weit her war. Mit dieser Erkenntnis war aber auch der Nimbus, der den jungen Maler in der Fremde umgab, für sie geschwunden. Felix war ihrer Meinung nach ein Mensch, der ein wenig einträgliches Gewerbe betrieb. Ein Mann, der stets in allen sieben Himmeln schwebte und der keinen festen Boden unter sich hatte. Einer, dem man forthelfen mußte, wollte man ihn nicht zugrunde gehen lassen.

Mit Adelens Art konnte sich Frau Therese Tiefenbrunner gar nicht zurecht finden. Eine Frau wie diese war ihr in ihrer Praxis überhaupt noch nicht vorgekommen. Die Apothekerin gestand es sich schon nach kurzer Zeit ganz ehrlich ein, daß sie die junge Frau nicht leiden [S. 199] konnte. So ehrlich war sie. Und trotzdem versuchte sie es nach Kräften, gut mit ihr zu sein, ihr mit Rat und Tat zu helfen, wo sie nur konnte. Frau Therese war fest davon überzeugt, daß die schlechte Geschäftslage, in der sich Felix befand, zum großen Teil die Schuld seiner Frau sei.

„Siehst, Adele ...“ meinte sie, als sie wieder einmal bei dem jungen Paar zu Besuch weilte, „das tät’ ich an deiner Stell’ anders machen wie du. Ich muß schon sagen, ganz anders.“

Die junge, hochgewachsene, schlanke Frau sah ängstlich auf die Tante, die in ihrer ganzen Breite in dem einzigen bequemen Lehnstuhl saß, den der bescheidene Haushalt aufzuweisen hatte.

Frau Tiefenbrunner saß breitspurig vor Adele und hielt sich steif aufrecht. Dabei zog sie den ohnedies dicken Hals vollständig ein und schob die Achseln hoch. Sie dachte, daß sie in dieser Haltung besonders imponierend aussehe. Ein feistes Doppelkinn bildete sich durch die zusammengezogenen Fettwülste des Halses. Die Lippen klemmte die Apothekerin fest gegeneinander und sah mit runden, vorwurfsvollen Augen auf die junge, blonde Frau.

„Wie anders machen? Was meinst du eigentlich, Tante?“ frug Adele mit ihrer tiefen, weichen Altstimme, die so schmelzend klang wie Glockenton aus edelstem Metall.

Frau Therese lehnte sich steif zurück und kreuzte die dicken Arme unter dem Busen. „Ich mein’, das mit dem Felix seiner Malerei!“ fuhr sie fort. „Das ist doch gar nicht klug, wie er jetzt malt, wenn er nichts verkaufen kann davon!“ sprach sie in ihrer langsamen Redeweise, Wort für Wort betonend.

„Doch, Tante, Felix verkauft schon. Erst in der vorigen [S. 200] Woche wieder hat er ein Bild in München verkauft!“ erzählte Adele.

„So, in München, das freut mich. Wieviel hat er denn da verdient dabei?“ erkundigte sich die Apothekerin nach einer kleinen Pause, während der sie ihre Augen forschend überall im Zimmer herumschweifen ließ, ob sie nicht irgendein Zeichen von Unordnung entdecken könnte.

„Zweihundertundfünfzig Mark ...“ berichtete Adele. Die junge Frau ärgerte sich innerlich, daß sie sich noch immer nicht so weit gebracht hatte, der Tante ihres Mannes energische Antworten zu geben. „Es war eine kleinere Landschaft ...“ fügte sie entschuldigend hinzu.

„So!“ Frau Therese nickte sehr verständnisvoll mit dem Kopf. „Das ist aber nicht viel, zweihundertundfünfzig Mark. Gar nicht viel. Da werdet ihr nicht lange auskommen damit in Innsbruck, wo die Sachen alle so teuer sind. Zum Beispiel der Blumenkohl, den hab’ ich neulich um dreißig Kreuzer haben müssen. Wieviel hast denn du bezahlt dafür?“ forschte sie, und ein verstecktes Mißtrauen lauerte in ihren Augen.

Wenn die Apothekerin von Wirtschaftsfragen anfing, dann überkam ein Gefühl tiefster, innerster Hilflosigkeit die junge Frau. Adele verstand nicht viel vom Wirtschaften. Es fehlte ihr der Sinn dafür und, wie sie sich ausdrückte, auch die Begabung. Die junge Frau war sparsam. Sie überlegte sich jede, auch die kleinste Ausgabe. Aber sie konnte sich um keinen Lohn der Welt dazu bringen, ihren Kopf nur mit Haushaltungssorgen anzufüllen. Und schon gar für die verschiedenen Preise der Waren hatte sie nicht das geringste Gedächtnis. Sie vergaß alles sofort wieder.

Adele empfand das selber wie einen Mangel. Dieser Fehler war ihr eigentlich erst jetzt, da sie gewissermaßen unter der ständigen Kontrolle der Tante ihres Mannes [S. 201] stand, so recht zum Bewußtsein gekommen. Die junge Frau fühlte es auch, daß Frau Therese Tiefenbrunner sie durchschaute und sie innerlich wegen dieses Mangels verurteilte. Adele lenkte daher stets das Gespräch mit einiger nervöser Hast von der Hauswirtschaft auf einen andern Gegenstand. So auch jetzt wieder.

„Ich habe in letzter Zeit keinen Blumenkohl gekauft, Tante,“ entgegnete die junge Frau. „Und was das Geld anbetrifft, da hast du ganz recht. Es ist wenig. Felix sollte eben hier in seiner Heimatstadt Anwert finden. Es ist doch einfach ein Skandal, daß sich gar niemand um ihn kümmert!“ sagte sie erbittert.

„Was das Bekümmern anbelangt,“ entgegnete die Apothekerin in ihrer ruhigen Weise, „so kann ich dir sagen, daß das gar nicht so schlimm ist. Die Leute müssen eben erst etwas Gemaltes sehen vom Felix. Dann werden die Innsbrucker schon kaufen. Die sind nicht so, wie du dir einbildest. Die haben Geld und haben auch ein Kunstverständnis. Aber natürlich, die Katz’ im Sack kaufen, das kann man von keinem Menschen nicht verlangen. Von gar keinem!“ fügte sie mit Nachdruck hinzu.

Frau Tiefenbrunner fühlte sich stets persönlich gekränkt, wenn die junge Frau sich über die Stadt und deren Verhältnisse im ungünstigen Sinne äußerte.

„Das verlangen wir auch nicht, Tante,“ meinte Frau Adele. „Wir verlangen nur, daß Felix endlich einmal die Möglichkeit geboten wird, seine Bilder auszustellen. Aber es ist ja hier geradezu, als lebten wir wie Ausgestoßene, wie ...“

„Du, Adele, tu’ mir nicht immer so schimpfen über Innsbruck! Das möcht’ ich mir schönstens verbeten haben. Du bist eben keine Hiesige nicht und verstehst das alles halt nicht besser!“ sagte Frau Tiefenbrunner entschuldigend.

[S. 202]

Adele, die früher vor der Tante gestanden war, hatte sich jetzt auf einen Hocker der Apothekerin gegenüber gesetzt und ihren Kopf nachdenklich in ihre schlanken, weißen Hände gestützt. Diese weißen, untadeligen Hände, die so wenig nach Arbeit aussahen, waren der Frau Therese Tiefenbrunner ein großer Dorn im Auge. So oft sie diese Hände nur sah, schaute sie sie fest und lange an. Sie wollte wenigstens durch ihre Blicke Adele darauf aufmerksam machen, daß es sich für deren Stand absolut nicht schicke, so feine, gepflegte Hände zu haben. Adele hatte zu arbeiten, zu putzen, zu kochen und zu scheuern. Auf diese Weise hätte sie das Wohlgefallen der Apothekerin gefunden.

Überhaupt gefiel Frau Therese Tiefenbrunner die ganze Erscheinung der jungen Frau nicht. Frau Adele war schlank von Gestalt, graziös in jeder Bewegung und von der weichen Biegsamkeit eines sehr jungen Mädchens. Sie hatte so gar nichts Frauenhaftes an sich. Auch ihre Kleidung, so einfach und bescheiden sie war, verriet den künstlerischen Anstrich in Farbe und Schnitt. Adele sah jugendlich aus und liebte es, diesen Eindruck noch zu erhöhen.

Die junge Frau hatte ein blasses, ernstes Gesicht. Sie besaß eine herbe Schönheit, die aber erst, wenn man sie näher kannte, zur vollen Geltung kam. Nur selten lösten sich die schmalen, streng geschlossenen Lippen zu einem weichen Lächeln. Das war dann aber von einer wunderbaren Innigkeit und Wärme, verklärte ihr ganzes Wesen und brachte in die hellgrauen Augen, die von dunkeln Wimpern beschattet waren, einen feuchten, bezaubernden Glanz. Mit ihrem seidenweichen, aschblonden Haar und der stets leichtgesenkten Kopfhaltung machte Frau Adele dann den Eindruck einer Madonna, einer Gottesmutter in der Auffassung eines germanischen Künstlers.

[S. 203]

Die Apothekerin hatte wenig Sinn für die herbe Schönheit der jungen Frau. Sie fand „gar nichts Besonderes“ an ihr und konnte es nicht begreifen, daß sich der Felix in der großen Stadt keine bessere und schönere „aufgegabelt“ hatte. Sie fand Frau Adele kalt, unfreundlich, undankbar und leichtsinnig. Jedenfalls gar nicht geeignet, den flatterhaften Sinn ihres Mannes zu bändigen und ihn auf vernünftige Bahnen zu leiten. Dabei war Frau Adele in den Augen der Apothekerin auch noch hochmütig und ungelehrig, wollte nichts annehmen, was man ihr sagte, und verstand alles immer viel besser.

Es war ein später Nachmittag im Dezember, als sich die beiden Frauen in dem kleinen Wohnzimmer gegenübersaßen. Eine große Hängelampe sandte ihren Schein durch die Stube. Und der Schein fiel auch auf das goldlockige Kind, das in einem Winkel saß und mit einer Puppe spielte. Es war einfach, aber gemütlich in dem nicht sehr hohen Zimmer. Das breite Doppelfenster hatte lichte Vorhänge. Ein Blumentischchen aus weißlackiertem Holz mit blühenden Geranienstöckchen stand unmittelbar vor dem Fenster, und neben dem Fenster hing ein Vogelkäfig, in dem ein gelber Kanarienvogel zwitscherte, im lustigen Wettkampf mit dem goldlockigen kleinen Menschenkind.

Ganz besonders hell und licht war es hier drinnen bei Tag, wenn die Sonne ihre glänzenden Strahlen sandte. Da lachte und grüßte es durch die Fenster herein und lockte hinaus ins Freie zu Wanderungen durch das Tal und über die Berge.

In der Mitte des Zimmers stand ein viereckiger Speisetisch mit einer einfachen Decke, in die buntgewirkte Blumen eingewebt waren. Eine große Blumenvase thronte auf dem Tisch, stets gefüllt mit Blumen oder verschiedenfarbigen Waldzweigen. In einer Ecke, knapp [S. 204] neben dem breiten Doppelfenster, war der bequeme Lehnstuhl, in dem Frau Tiefenbrunner Platz genommen hatte. Davor stand ein kleiner Teetisch, ein Hockerl und noch ein Stuhl. Ein Teppich, ein Büfett, ein Klavier und einige Bilder an den Wänden vervollständigten die ganze Einrichtung.

Eine geraume Weile hindurch herrschte tiefe Stille zwischen den beiden Frauen. Das Ticken der kleinen Wanduhr war deutlich vernehmbar und tönte lauter und, wie es der nachdenklich sinnenden jungen Frau erschien, auch rascher als sonst ... als wollte es der kommenden Zeit entgegeneilen. Ob diese Zeit wohl eine bessere für sie werden würde?

Adele Altwirth dachte es mit schwerem Herzen. Sie dachte an die sorgenvollen Tage und Monate, die sie hier in dieser Stadt hatte erleben müssen. Denn wie schlecht es ihnen eigentlich erging und schon ergangen war, davon hatte die Frau Therese Tiefenbrunner doch keine genaue Kenntnis. Felix und Adele hielten mit der vollen Wahrheit stets zurück aus Stolz und aus Furcht vor neuen demütigenden Gaben, vor bittern Reden und Vorwürfen.

Da waren Tage gewesen, an denen das junge Paar ängstlich und mit bangem Zagen die letzten Geldmünzen zusammengesucht hatte ... Tage, an denen sie einander ratlos gegenüberstanden und nicht wußten, wie es in der nächsten Zeit gehen würde. Sie lebten ja so bescheiden, begnügten sich abends mit Brot und Käse und teilten gemeinsam eine kleine Flasche Bier. Es war ja so wenig, was sie zum Leben benötigten. So wenig ... Und dieses karge Brot war getrübt durch die Sorge für den morgigen Tag.

Tatsächlich von der Hand in den Mund lebten sie. Sie mußten oft um jede kleine Gabe der Apothekerin froh sein und waren es auch, waren dankbar dafür und [S. 205] bäumten sich doch wieder dagegen auf, da sie sich innerlich schwer gedemütigt fühlten. Sie schämten sich voreinander, schämten sich, daß sie so tief gesunken waren.

Frau Therese Tiefenbrunner hatte von all dem keine Ahnung. Felix und Adele verstanden es gut, ihre große Armut selbst vor diesen scharfen Blicken zu verstecken. Sie schämten sich dieser Armut und wären beide mit ihrem Kinde eher zugrunde gegangen, als daß sie die Wahrheit zugestanden hätten. Nur nicht hineinsehen lassen, wie’s eigentlich stand! Um keinen Preis. Niemanden! Nicht einmal die Tante.

Bis jetzt war stets, wenn die Not am ärgsten war, eine Rettung gekommen. Allerdings von außen her. In München wurden immer noch Bilder von dem jungen Maler gekauft. Nicht viele, aber der Ertrag war doch so gewesen, daß ihnen stets für den Augenblick geholfen wurde. Dann aber ging die Sorge und das Leben ins Ungewisse hinein von neuem los.

Auf die Schaffenskraft des jungen Künstlers hatte dieses nervenaufreibende Dasein eine unheilvolle Wirkung. Die schwere Enttäuschung, die ihm die Heimat brachte, der Kampf ums tägliche Brot für sich und die Seinen, das drückende Gefühl, jetzt noch als herangereifter Mann ebenso abhängig zu sein von der Gnade der Verwandten wie früher ... all dieses wirkte lähmend auf Felix Altwirth und raubte ihm die Lust zum Schaffen.

Oft ging er verzweifelt in seinem kleinen Arbeitszimmer, das ihm als Atelier diente, auf und ab und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. „Ein Lichtstrahl, Adele! Nur ein einziger Lichtstrahl in dieser grauenhaften Öde!“ klagte Felix dann vollkommen entmutigt. „Ein einziger Lichtstrahl, und ich bin gerettet, ich kann wieder arbeiten. Ich werde ja verrückt hier. Keine Anerkennung, keine Stimmung! Nichts! Ich weiß es schon bald selber nimmer, daß ich ein Künstler bin.“

[S. 206]

„Wir wollen wieder nach München zurück, Felix. Bald ...“ versuchte die junge Frau den aufgeregten Mann zu trösten.

„Um Gotteswillen, München, die Großstadt! Ich brauche Erholung, Erfolg, Anerkennung! Von was würden wir denn leben dort? Von was übersiedeln? Das kostet Geld. Wir haben kein Geld, Adele!“ Wie ein Rasender lief Felix im Zimmer umher und raufte sich die Haare. Er war hilflos gleich einem Kind.

„Ich will mit der Tante sprechen, ihr anvertrauen ...“ meinte Adele.

„Um Gotteswillen!“ rief Felix entsetzt. „Willst du mich denn um alles bringen, was ich habe! Auch um meine Ehre, um den letzten Rest von Ansehen, den ich noch genieße! Soll ich mich demütigen, bitten, betteln? Ist es nicht genug, daß du von dieser protzigen Frau dich wie ein Schulmädel mußt behandeln lassen? Nein! Eher gehe ich zugrunde, als daß ich das tue!“

Und Frau Adele schwieg, blieb ruhig und stark und aufrecht, wie sie es bisher gewesen. Nie hatte sie ihrem Manne Vorwürfe deswegen gemacht, daß sie von München hatte fortziehen müssen. Es war ihr schwer geworden. Recht schwer. Aber sie hatte geschwiegen und seinem Wunsche gehorcht.

Sie hatte nicht fröhlich werden können in Innsbruck. Ohne Licht und Wärme schien ihr diese Stadt, dumpf und grau und traurig und öde. Und dieses war auch der erste Eindruck gewesen, den sie von Innsbruck bekommen hatte.

Es war damals ein klarer, blauer Frühlingstag gewesen. Warm und lau die Luft. So mild und doch wiederum so drückend, wie im Inntal der Südwind den nahenden Frühling anzumelden pflegt. Gleich einem schweren Alp legte es sich auf die Sinne der jungen Frau, umspannte ihren Kopf wie mit eisernen Klammern, [S. 207] so daß ihr das Sehen schwer wurde. Wie im Traum wandelte sie befangen an der Seite ihres Mannes, traurig und müde. Es drückte sie alles, die Luft, die Sonne, die Fremde und die Sehnsucht nach der Isarstadt.

Und Felix war froh gewesen, so froh. Sie hatte ihn selten so heiter gesehen. Überall mußte sie mit ihm hingehen. Durch die alte Stadt zum Goldenen Dachl. Hinüber nach Sankt Nikolaus und in die Kothlacken. Hinunter am Saggen und hinaus nach Pradl und über die Felder hinüber nach Wilten. Mehrere Stunden dauerte die Wanderung, und die junge Frau konnte sich kaum mehr weiterschleppen vor Müdigkeit. Er wollte ihr alles zeigen von seiner geliebten Heimat. So viel wie möglich schon am ersten Tag. Und in immer größeres Entzücken geriet er, wenn er wieder einen neuen Ausblick auf die wundervolle Landschaft hatte, in der die Stadt lag.

„Schau, Adele, ist das nicht großartig? Schau hinauf ins Oberinntal! Siehst du die steile Felswand? Das ist die Martinswand, und gleich dahinter geht’s nach Bayern. Da kannst du dann hinaufsteigen. Zu Fuß wollen wir wandern nach München. Das wird herrlich sein. Und siehst du, da drunten im Unterland den breiten Bergrücken in der Ferne? Das ist das Kellerjoch, und da drüben an der Nordkette, das ist das Brandjoch und da die Frau Hitt und da ...“

„Ja, Felix, ja ...“ sagte sie müde. „Und das, was ist das?“ Sie deutete auf das große, ansehnliche Gebäude des Klosters Wilten und auf die knapp daneben stehende Pfarrkirche von Wilten. Breit und wuchtig stand der alte Bau in dem Talkessel von Innsbruck, umgeben von einer einzigartigen, grandiosen Natur, von einer Natur voll ernster Majestät und unnahbarer Vornehmheit.

Vom Turm der Wiltener Pfarrkirche tönte dumpfes Glockengeläute, langsam und schwer und unaufhörlich. Schon den größten Teil des Weges, den sie über die [S. 208] Felder von Pradl kommend zurückgelegt hatten, mußte Adele immer auf dieses Glockengeläute hören. Je näher sie kamen, desto mehr bedrückte es die junge Frau. Es erschien ihr so unsagbar traurig, wie ein Grabgeläute, und beklemmte sie gleich einer düsteren Vorbedeutung.

Dieses Gefühl der seelischen Schwere hatte Adele auch nie mehr verloren, seit sie in Innsbruck lebte. Wenn die Glocken der Stadt zu ihr herauftönten in ihr kleines, sonnenbeschienenes Heim, dann stiegen ihr heiße Tränen in die Augen. Tränen des Heimwehs, der Sehnsucht nach dem heitern Glockenklang der Türme von München; Tränen einer großen, unbestimmten Angst vor der Zukunft ...

Die kleine Dora saß noch immer am Boden und herzte ihre Puppe. Die ungewohnte Stille, die in dem Zimmer herrschte, machte das Kind erstaunt aufschauen. Unruhig rutschte sie hin und her und fing nun laut mit sich selber zu plappern an. Aber nicht lange, dann lief sie hin zu der Mutter, die noch immer ganz versunken ihren Gedanken nachhing, und umschlang die Knie der jungen Frau.

„Mutti, schon wieder traurig? Dora hat dich lieb! So lieb!“ Weit breitete das goldhaarige kleine Mädchen seine dünnen Ärmchen aus und küßte stürmisch die leise zuckenden Lippen der Mutter. Die Erinnerungen hatten Adele wehmütig gemacht. Beinahe hätte sie ihre Beherrschung verloren und in Gegenwart der Tante geweint.

Die Apothekerin sah auch nachdenklich aus. Aber es war eine andere Gedankenwelt, in der sie lebte. „Ich hab’ mir’s jetzt gerade überlegt, wie man das mit die Bilder vom Felix machen könnte!“ sagte Frau Therese Tiefenbrunner über eine Weile. „Das geht nicht so weiter mit euch. Das seh’ ich schon selber ein. Ausstellen muß er schon können, der Felix. Da darf halt jetzt der Simon, mein Mann, nicht mehr nachgeben. Ich werd’ [S. 209] das schon veranlassen, daß er nicht mehr nachgibt. Es ist halt ein Kreuz! Aber du weißt ja, daß dem Patscheider, der da einen großen Einfluß hat, die Bilder vom Felix nicht gefallen tun.“

„Das ist ja das Unerhörte!“ brauste jetzt Adele auf. „Daß von diesem Menschen soviel abhängt!“

Die junge Frau, die das Kind zu sich auf den Schoß genommen hatte, stellte es nun in ihrer Erregung wieder auf den Boden. Erschrocken und scheu sah das kleine Mädchen auf Adele. Dann holte es sich die Puppe und ließ sich zu den Füßen der Mutter nieder, als fühlte sie es, daß schon ihre Nähe allein der Mutter eine Beruhigung sein müsse.

„Und noch dazu kennt er überhaupt kein Werk von Felix!“ fuhr Frau Adele fort.

„Wohl, kennen tut er schon etwas!“ berichtete die Frau Tiefenbrunner. „Vorig’s Jahr, da hat doch der Felix in einem Schaufenster drunten in der Stadt etwas ausg’stellt g’habt. Ich glaub’, es war ein Weibsbild.“

„Ja, eine Studie, eine Aktzeichnung war’s. Die konnte doch unmöglich wirken hinter der blanken Spiegelscheibe!“ verteidigte Adele das Werk ihres Mannes.

„Was das anbelangt, das entzieht sich meiner Beurteilung. Ich weiß nur, daß der Patscheider sich allzeit gewehrt hat gegen eine Ausstellung, und daß der Simon gemeint hat, daß das nackte Frauenzimmer daran schuld sei. Der Felix soll halt nimmer solche Sachen malen. Er muß doch bedenken, daß wir hier alles anständige Frauen sind!“

Adele Altwirth hatte es schon längst aufgegeben, über Kunst und Kunstbegriffe, über Erlaubtes und Unerlaubtes in der Kunst mit Frau Tiefenbrunner zu sprechen. Sie wußte, daß jedes Wort vergebens gewesen wäre. Und sie war gerecht genug, es einzusehen, daß die kleinliche Umgebung, in der die Tante lebte, auch ein Verstehen [S. 210] ihrerseits unmöglich machte. Sie verargte es der Apothekerin nicht. Um so weniger, da sie bestimmt wußte, daß selbst die Äußerung, die sie soeben von ihr gehört hatte, nur das Echo einer fremden Meinung gewesen war.

Was Adele empörte, war, daß der Einfluß eines Ignoranten, dem jeder Begriff und jedes Verständnis für Kunst fehlte, ein so mächtiger sein konnte. Frau Adele erfaßte die ihr günstig scheinende Gelegenheit, um der Tante wieder einmal tüchtig zuzureden, sie möchte doch die Ausstellung erwirken. Oft hatte sie es ja schon getan, und Frau Tiefenbrunner hatte auch stets ihren Mann in diesem Sinne bearbeitet. Aber der Erfolg bei dem Kaufmann Patscheider war immer ein negativer gewesen.

„Wir können das verrückte Zeug nit brauchen, Herr Tiefenbrunner!“ hatte der Patscheider den Apotheker brüsk abgewiesen. „Lassen Sie’s Ihnen g’sagt sein, so was ist nix für uns. Wir sind zu g’sund dazu!“ Und kleinlaut war dann der Apotheker zu seiner Frau gekommen und hatte ihr das Resultat seiner Unterredung mitgeteilt.

„Wann halt ich selber einmal mit dem Patscheider reden tät’!“ sagte Frau Tiefenbrunner nachdenklich. „Vielleicht nutzt es mehr, wenn ich red’!“ meinte sie gutmütig.

„Ja, Tante, tu’ das! Ich bitte dich darum!“ sagte Adele fast flehend.

Sie hatte in diesem Punkt vollste Zuversicht auf die Apothekerin und traute ihrem Geschick entschieden mehr als jenem des Herrn Simon Tiefenbrunner.

Schlussvignette, Kapitel 10

[S. 211]

Elftes Kapitel.

F rau Therese Tiefenbrunner brachte es tatsächlich zustande, daß der Herr Patscheider seine Mithülfe zusagte. In einem der größten Säle wurde endlich die Ausstellung veranstaltet.

Felix schwelgte in Glückseligkeit. Auf den Rat seiner Frau war er mit der Wahl seiner Werke sehr vorsichtig gewesen. Es waren hauptsächlich Landschaften und einzelne Porträtstudien. Lauter gute und wertvolle Bilder. Bilder, die ein großes Können, eine feine Beobachtung und kühne Auffassung verrieten. Aber sie gefielen dem Patscheider trotzdem nicht. Weder ihm, noch den meisten der andern, die zur Besichtigung der Ausstellung sich eingefunden hatten.

„Es ist doch ein verrücktes Zeug!“ behauptete der Patscheider. „Wär’ er g’scheiter in München blieben, er paßt nit herein zu uns!“

Auch die Kritik der Lokalblätter verhielt sich kühl und ablehnend, und der Erfolg, den die Ausstellung hatte, war gleich Null.

Ein einziges Bild wurde verkauft, und das am allerletzten Tag der Ausstellung, da Felix und Adele schon jede Hoffnung auf einen materiellen Ertrag aufgegeben hatten.

Das Bild war eine feine Landschaft, und der Erlös daraus sicherte die Existenz des jungen Künstlerpaares für die nächsten Monate. Es war ein großer Freudentag für Felix und Adele. Ein Tag, an dem ihnen die Hoffnung auf kommende bessere Zeiten wieder Kraft und Mut verlieh.

Der alte Rat Leonhard war der Käufer dieses Bildes gewesen. Es gefiel ihm zwar nicht, aber er kaufte es trotzdem. Er kaufte es, weil es das teuerste unter allen Bildern war. Er wußte auch nicht, was er damit anfangen [S. 212] sollte. Aufhängen mochte er es nicht, und er hätte auch keinen Platz dafür gehabt. Um es in einen Kasten zu legen, dafür war das Bild entschieden zu groß. Die Frage der Aufbewahrung kostete dem alten Herrn viel Kopfzerbrechen. Fast soviel, als es ihm Selbstüberwindung und schwere Seelenkämpfe verursacht hatte, sich zu dieser entscheidenden Tat aufzuraffen.

In dem geheimsten Winkel seiner Seele war der Herr Rat nämlich ein alter Geizhals. Er sparte, sparte für sich selbst und gönnte sich nur das Allernotwendigste. Für so etwas wie Kunst hätte er unter normalen Umständen keinen Kreuzer übrig gehabt. Aber der alte Herr Rat war nicht mehr ganz geistig normal. Wenigstens fing er das jetzt selber zu glauben an, nachdem er sich zu dieser kühnen Tat durchgerungen hatte.

Er kaufte das Bild einzig und allein wegen seines kleinen goldblonden Lieblings und freute sich schon im vorhinein auf das glückliche Jauchzen des Kindes ... „Papa hat ein Bild verkauft, Onkel Rat! Denk nur einmal, so viel Geld!“ Und dann würde sie ihre zierlichen, magern Ärmchen auseinanderbreiten, wie das ihre Art war, um damit zu zeigen, daß ihre Eltern eine ganze Welt von Geld ihr eigen nannten ...

Das kleine Mädchen war es auch, das unbewußt die ganze Not ihrer Eltern dem alten Herrn verriet. Dora war eine kleine Plaudertasche. Sie mußte immerzu plappern. Alles Mögliche und Unmögliche. Der Rat Leonhard kannte gar bald alle ihre Spielsachen, wußte, wie ihre Puppen hießen, und erhielt jeden Tag genauen Bericht über die eingenommenen Mahlzeiten. Ohne daß er sie fragte, erzählte es ihm das Kind.

Dieses Redebedürfnis des kleinen Mädchens mochte wohl daher stammen, daß Dora fast den größten Teil des Tages sich selber überlassen blieb. Die gedrückte Stimmung, in der die Eltern lebten, ließ sie nicht dazu [S. 213] kommen, sich viel mit ihrem Kinde zu beschäftigen. Felix schon gar nicht. Der war zu nervös, zu aufgeregt und zu verzweifelt, um dem Kinde viel Beachtung zu schenken. Und Adele, die von Natur aus ohnedies sehr schweigsam war, hing jetzt viel ihren eigenen sorgenvollen Gedanken nach. Sie spielte wohl mit dem Kinde, aber Dora fühlte es instinktiv, daß ihre Mutter nie ganz bei der Sache war ... daß es ihr nicht Freude machte wie dem Onkel Rat, wenn sie immerzu ihre kindlichen Fragen stellte und drauflos plapperte.

Vor der Tante Therese hatte Dora eine Art Scheu. Sie ging ihr nicht zu. Und Frau Therese, die nie ein eigenes Kind gehabt hatte, verstand es auch nicht, sich mit Dora abzugeben.

Der alte Rat Leonhard aber verstand das viel besser und lebte mit dem kleinen Mädchen in ihrem Phantasiereich. Redete mit ihr in ihrer eigenen Sprache, interessierte sich für ihren Gedankenkreis, lachte mit ihr und tat, was sie ihn hieß.

So wurde der alte Herr der einzige Spielgefährte des Kindes. Immer länger wurden die Ständchen, die er droben auf dem Weg zur Weiherburg mit dem kleinen Mädchen abhielt. Es war schwer zu sagen, wer von den beiden sich mehr auf diese tägliche Zusammenkunft freute.

Adele sah es gerne, daß ihr Kind so viel Anwert bei dem alten Sonderling gefunden hatte. Aber davon, daß Dora zur Verräterin ihrer verschämten Armut wurde, hatte die junge Frau keine Ahnung ...

Das Geld, das Felix durch den Verkauf seines Bildes eingenommen hatte, ging zur Neige. Die alte Not hielt Einkehr in dem kleinen, sonnigen Häuschen und lastete noch drückender und schwerer auf Felix und Adele.

Es kamen Tage, an denen Adele ihrem Kind das Brot vorzählen mußte. Sie mußte sich jedes Stückchen [S. 214] Brot, jeden Schluck Milch, den sie Dora gab, berechnen, um mit dem wenigen Geld, das sie noch übrig hatten, so lange als möglich wirtschaften zu können.

„Mutti, warum gibst du mir jetzt so wenig Brot?“ fragte das Kind einmal und sah betrübt auf die dünne Scheibe, die sie in ihren Händchen hielt. „Ich hab’ mehr Hunger, ich will noch ein Brot.“

Und Adele schnitt ein größeres Stück für das Kind herunter. Sie konnte den Klageton nicht hören. Jetzt noch nicht. Auf sich selbst vergaß die junge Frau. Es war lange her, seit sie sich das letztemal sattgegessen hatte. Aber das machte nichts, wenn nur Felix und das Kind genug hatten.

„Mutti, gibst du mir nicht gerne Brot?“ frug Dora und sah mit großen, forschenden Augen in das ernste Gesicht der Mutter.

„Doch, mein Liebling, mein Schatz, mein süßer!“ versicherte Adele und küßte mit stürmischer Zärtlichkeit ihr kleines Mädchen. Dabei fielen ihr heiße Tränen über das blasse Gesicht.

„Warum weinst du denn?“ fragte die kleine Dora. „Hast du wieder kein Geld?“

„Nein, Schatzi, bald gar keines mehr. Wir müssen den lieben Gott bitten, daß er uns wieder welches schickt!“ sagte Adele.

Das kleine Mädchen nickte verständig mit dem goldlockigen Köpfchen. Dann biß sie heißhungrig in das große Brotstück. Die Luft da droben auf der Weiherburg ist besonders frisch und macht kleinen Kindern einen gesunden Appetit. Ernst und nachdenklich sah Dora mit ihren großen blauen Augen auf die Mutter, die noch immer leise vor sich hin weinte ...

„Du, Onkel Rat,“ sagte Dora am Nachmittag desselben Tages zu dem alten Herrn, „hast du Kuchen mitgebracht?“

Der Rat Leonhard mußte bei solchen Fragen des [S. 215] Kindes stets laut lachen. Dora stellte diese Fragen in einem so drollig gebieterischen Ton und machte dabei ein so ernstkomisches Gesichtchen, daß der alte Rat ein lautes Lachen nicht unterdrücken konnte.

„Nur zwei Orangen,“ sagte er dann, „in jedem Sack eine. Such’ sie dir nur!“

Das kleine Mädchen besorgte das Suchen mit einer Gründlichkeit und mit einem Eifer, daß die Manteltaschen des Herrn Rat Gefahr liefen, aufgerissen zu werden.

„Morgen mußt du viel Kuchen mitbringen, Onkel Rat!“ sagte das Kind. „Die Mama hat kein Geld, weißt du, und kann mir kein Brot mehr geben. Und der liebe Gott hat kein Geld geschickt, und ich hab’ Hunger!“ erzählte Dora und sah mit ihrem zarten Gesichtchen, das so weiß und rosig war wie die feinste Blüte eines Apfels und einen ungewöhnlich innigen Ausdruck besaß, ernsthaft zu dem alten Herrn empor.

Bei der Rede des Kindes war der Rat Leonhard tief erschrocken. Stand es wirklich so schlimm bei den Altwirths? Hunger ... das Kind hatte Hunger. Ganz verstört war der alte Herr geworden. Er konnte sich für den Augenblick gar nicht fassen und hörte nur zerstreut auf die Neuigkeiten, die ihm Dora noch mitzuteilen hatte. Lauter liebe, kleine Angelegenheiten von den Puppenkindern waren es.

„Bringt dir die Tante Therese nie Kuchen?“ forschte dann der Rat Leonhard.

„Oh ja, manchmal schon, aber ich darf sie nicht bitten. Mama hat’s verboten.“

„Und mich, mich darfst du schon bitten?“

Das Kind schüttelte das Köpfchen und sah schalkhaft zu dem alten Manne auf. „Weißt du, das weiß die Mama ja gar nicht. Die weiß nicht, was ich dir erzähle. Darum tu’ ich’s ja!“ lachte Dora listig.

[S. 216]

Am nächsten Tag brachte der Rat Leonhard einen großen Gugelhupf mit und am übernächsten Tag eine mächtig große Torte. „Sagst der Mama, ich hab’ so viel Bäckerei geschickt bekommen von meiner Schwester, daß ich sie nicht allein essen kann!“ trug er dem Kinde auf. Der Rat Leonhard besaß zwar gar keine Schwester, aber das konnte Frau Adele doch nicht wissen.

Adele war aber trotzdem mißtrauisch geworden, hatte Verdacht geschöpft und unterzog ihr kleines Töchterchen einem Verhör. Und mit hochrotem Gesichtchen hatte dann die kleine Sünderin ihre Schuld gebeichtet.

„Ja, Mutti, wenn uns der liebe Gott doch kein Geld schickt ...“ hatte sie entschuldigend hinzugefügt. „Der Onkel Rat ist so gut und kann schon Kuchen bringen.“ —

In den nächsten Tagen machte sich der Rat Leonhard abends nach dem Stammtisch beim Weißen Hahn an den Apotheker Tiefenbrunner heran. Das war ganz gegen seine Gewohnheit. Denn für gewöhnlich pflegte sich der alte Herr mit einem kurzen Gruß und beinahe fluchtartig vom Stammtisch zu entfernen, damit es ja keinem der Herren einfiele, ihn etwa ein Stück des Weges zu begleiten.

Heute aber wartete der Rat Leonhard sogar auf den Apotheker und war freundlich mit ihm. Sprach mit ihm, bis sie aus dem Lokal gegangen waren. Dann blieb der Rat stehen und sagte: „Begleiten jetzt Sie mich oder muß ich mit Ihnen gehen?“ Der Entschluß, einen kleinen Umweg zu machen, kam den alten Sonderling noch im letzten Augenblick recht hart an.

„Aber ich bitte, ich bitte!“ beeilte sich Simon Tiefenbrunner zu versichern. „Ich gehe gern mit Ihnen. Es tut mir gut, so ein kleiner Rundgang in der Nacht.“ Innerlich war der Apotheker jedoch gar nicht so begeistert von dem „kleinen Rundgang“. Er sehnte sich ganz gewaltig nach Hause ins Bett.

[S. 217]

Der Rat Leonhard wohnte ziemlich weit droben in Wilten. Er liebte es, seinen Heimweg stets so einzurichten, daß er beim Gerichtsgebäude, der Stätte seines einstigen Wirkens, vorüberkam. Teilweise aus Anhänglichkeit und teilweise aus Gewohnheit.

Wenn der Herr Rat einmal auf der Straße neben einem Menschen zu gehen hatte, so pflegte er dieses ungewohnte Ereignis stets mit allerhand vorbereitenden Zeremonien einzuleiten. So einen Menschen neben sich gehen zu hören, mit ihm Schritt halten zu müssen und ihn gar noch in ein Gespräch zu verwickeln, das war dem alten Herrn im höchsten Grade zuwider. Aber es mußte heute eben sein. Damit hatte er sich abzufinden.

Der Herr Rat und der Apotheker Tiefenbrunner wanderten eine Weile schweigend nebeneinander her. Gingen durch die engen Gäßchen, die vom Weißen Hahn auf den Marktplatz führten, und sprachen kein Wort. Das heißt, der Apotheker wartete geduldig auf das, was ihm der Rat zu sagen haben würde. Denn daß es etwas ungewöhnlich Wichtiges sein müsse, das wußte Simon Tiefenbrunner sofort.

Der alte Rat Leonhard hatte aber vorderhand keine Zeit zum Reden. Er mußte sich zuerst damit vertraut machen, daß ein Mensch neben ihm ging, mit dem er sich jetzt zu unterhalten hatte. Daher wanderte der alte Herr schweigend dahin. Die Hände auf dem Rücken und den Kopf in der Höhe, als habe er angelegentlich den Mond zu studieren. Der goß sein mildes Licht auf die hohen, schwarzgrauen Häuser und ließ die dunkeln Scheiben der Fenster ab und zu aufleuchten, als ob dahinter die Geister jener Menschen, die hier in alten Zeiten einmal gehaust hatten, im fahlen Schimmer ihr nächtliches Spiel trieben.

Nachdem der alte Herr mit seinen eingehenden Betrachtungen des Mondes zu Ende war, fing er plötzlich [S. 218] mit der Nase zu schnauben an. Schnaubte und pustete und spuckte um sich, als befände er sich in der höchsten Erstickungsnot. Manchmal unterbrach er diese sonderbare Beschäftigung dadurch, daß er sich plötzlich um seine eigene Achse drehte. Einmal, zweimal und dreimal, wie ein Kreisel. Dabei neigte er stets seinen Kopf auf eine Seite und schielte ganz ingrimmig und erbost zum Mond hinauf, als habe dieser ein Verbrechen begangen, das nun den alten Herrn aus seinem seelischen Gleichgewicht brachte.

Der Apotheker, der an alle Eigenheiten des Herrn Rates gewöhnt war, fand nichts Außerordentliches mehr an diesen Rundtänzen mit Spucken und Hustenanfällen. Dieses Spucken und Hüsteln hielt an, bis die beiden schon ein Stück des Weges über den Marktgraben zurückgelegt hatten.

Da blieb der Herr Rat plötzlich stehen, sah nach rechts und sah nach links, steuerte dann mit dem Aufgebot seiner ganzen Energie hastig auf einen Laternenpfahl los, lehnte sich dort mit dem Rücken an und rieb den Rücken an dem Pfahl aus Leibeskräften. Es mußte den Rat Leonhard offenbar ganz gehörig am Rücken jucken, weil er gar nicht mehr mit Reiben aufhören wollte.

Der Apotheker, der geduldig auf den Rat wartete, bis dieser ihm endlich seine Mitteilungen machen würde, dachte unterdessen mit großer Sehnsucht an sein Heim, das er draußen am Innrain hatte, und überlegte, unter welchem Vorwand er wohl am ehesten dem Herrn Rat entwischen könnte.

Aber es gab kein Entrinnen. Der alte Herr, der jetzt ersichtlich alle einleitenden Zeremonien beendigt hatte, fing nun auf einmal ganz unvermittelt zu reden an. „Sie müssen Ihnen um Ihnere Verwandten besser kümmern!“ sagte er in seiner mürrischen Art. „Der Altwirth, der hat kein Leben nit. Verdient nix und [S. 219] hat nix. Von was soll er denn leben?“ fragte der alte Herr brüsk.

Der kleine Apotheker befand sich wieder einmal in einem Stadium ratlosester Verzweiflung: „Den Felix meinen Sie?“ stotterte er verlegen. „Ja ...“

„Ja, ich weiß schon, was Sie sagen wollen. Ich weiß schon, ich weiß alles! Ich weiß überhaupt alles!“ unterbrach ihn der alte Herr mürrisch. „Aber ich sag’ Ihnen, daß das mit den Altwirthischen nit so weiter gehen kann. Verstehen’s mich? Kann , hab’ ich g’sagt! Die haben ja bald nix mehr zum Leben!“ Und wiederum blieb der alte Herr stehen und sah so sprühgiftig auf den kleinen Apotheker, als hätte er gute Lust, diesen schon in der nächsten Minute anzufallen und tüchtig zu beuteln, um seiner Empörung einigermaßen Luft zu verschaffen.

„Aber ich bitte, Herr Rat, ich ...“

„Ja, ja, ja!“ unterbrach ihn der alte Herr grimmig. „Alles Entschuldigungen, alles Ausflüchte! Der Maler Altwirth braucht Geld, sag’ ich Ihnen, und das muß er kriegen! Das geht nit, daß man ihn mit Weib und Kind verhungern laßt! Das ist keine Wirtschaft nit!“ Der alte Herr stieß plötzlich seinen grauen Regenschirm, von dem er unzertrennlich war, mit voller Wucht auf das Steinpflaster, daß es klirrte. Und immer wieder stieß er den Schirm gegen das Pflaster und machte dabei ein ganz verbissenes, obstinates Gesicht. „Unerhört ist das da, sag’ ich Ihnen! Hocken auf ihre Geldsäck’ die Leut’ und kümmern sich an Schmarrn um einen Künstler!“ rief der alte Herr aufgebracht.

In seiner furchtbaren Empörung hustete und spuckte der Herr Rat in so grimmiger Weise um sich, daß der Apotheker, so schnell er konnte, einige Schritte nach rückwärts machte, um von diesem Zornausbruch seines Begleiters nicht getroffen zu werden ...

Noch in derselben Nacht weckte der Apotheker seine [S. 220] Gattin Therese und berichtete ihr den Vorfall. Frau Therese Tiefenbrunner setzte sich schlaftrunken in ihrem Bette auf. Sie verstand es zuerst gar nicht, was der Simon ihr erzählen wollte. Sie rieb sich die Augen aus, knöpfte ihre Nachtjacke auf und dann wieder zu, machte sich ihre Haare zurecht, die sie unter einer weißen, gehäkelten Haube trug, und schüttelte verständnislos den Kopf. Dann aber hatte sie den Sinn der Rede mit einem Male erfaßt, und ein ehrlicher Zorn bemächtigte sich ihrer.

Das war eine Gemeinheit, eine Unverschämtheit! Zum Rat waren sie gelaufen, der Felix und die Adele, und hatten sich über die Verwandten beklagt. So was! Sicher war es nur die Adele gewesen, das eingebildete Frauenzimmer, das hochnasige! Als ob die nicht zur Tante hätte kommen können und sie bitten. Ein Wort nur hätte genügt! Aber nein, zu stolz, zu eingebildet war sie dazu. Nachrennen sollte man ihr wohl und ihr das Geld noch nachtragen! So eine unverschämte Gemeinheit! Kein Auge konnte die Apothekerin mehr schließen in dieser Nacht vor lauter Wut.

In heller Empörung lief sie gleich am frühen Morgen hinauf zu Felix und Adele und machte ihnen einen fürchterlichen Krach. Es waren harte Worte, die sie den beiden sagte, Worte, die so wehe taten, daß sie mit nichts mehr gut zu machen waren.

Es war das Mundwerk der echten Kothlacknerin, das da zum Vorschein kam. Beide Arme in die Hüften gestemmt und hochrot vor Zorn im Gesicht, so pflanzte sich die Apothekerin vor dem jungen Paar auf und schrie Felix mit lauter Stimme an.

Ganz schrill klang diese sonst so behagliche, fettige Stimme, und rasch und überstürzend kamen die Worte aus dem Munde der Frau Therese Tiefenbrunner ... „Was glabst denn du, ha? Vom Dreck hab’ i di außer [S. 221] zogen, di und dei’ Muatter! Nix hast g’habt! Nix bist! Alles, was du bist und hast, verdankst du mir und mein’ Mann! An Herrn haben wir aus dir g’macht, an Maler, an feinen! Freilich, daß der Herr Neffe nix zu arbeiten braucht! Warst a Schreiber g’worden oder a Schuster oder a Schneider, dös war g’scheiter g’wesen! Da hattest immer an Arbeit g’funden. Oder warst an Apotheker g’worden! Aber natürlich, dös hat ihm nit gepaßt, dem Herrn, dem noblen! Arbeiten, dös ...“

„Hinaus! Auf der Stelle hinaus aus meinem Zimmer!“ rief nun Felix in höchster Erregung. „Ich werf’ dich hinaus, wenn du nicht freiwillig gehst! Ich ...“

„Felix, lieber Felix, ich bitte dich!“ Es war Adele, die sich ins Mittel legte. „Sie meint’s ja nicht so! Schau, sie ist ja nur zornig. Es reut sie ja alles wieder, was sie gesagt hat. Nicht so bös sein. Nicht so bös reden. Es muß ein Mißverständnis vorliegen. Irgendetwas, das ...“

„Gar kein Mißverständnis liegt vor!“ sagte die Apothekerin, die jetzt bedeutend ruhiger geworden war. Die vernünftige Sprache der jungen Frau hatte auch ihr wieder die Besinnung gegeben.

Adele hatte schmeichelnd und wie schützend ihren Arm um den Hals des Gatten gelegt und umschlang ihn nun mit beiden Armen weich und innig, als wollte sie durch ihre warmherzige Güte das bittere Weh dieser Stunde aus seinem Leben bannen.

Mit guten Worten und viel Zureden erreichte sie es auch, daß der endgültige Bruch zwischen Tante und Neffe verhindert wurde ...

Frau Adele hatte sich durch ihre Vermittlung kein besseres Leben eingetauscht. Wohl hatte sie jetzt nicht mehr mit der Not zu kämpfen. Frau Tiefenbrunner sorgte gut und anständig für die Altwirths. Sie gab ihnen alles Geld, das sie zu ihrem Unterhalt brauchten, und sie bestand darauf, daß sie es nahmen.

[S. 222]

Es war hart für die Altwirths, diese Gaben von der Apothekerin anzunehmen. Sie fühlten es tief. Es demütigte sie beide, und doch forderte es die Not und der Selbsterhaltungstrieb, daß sie es taten.

„Wir werden es ihr zurückzahlen, wenn wir einmal Geld haben!“ versuchte die junge Frau ihren Gatten zu trösten.

Felix aber schüttelte traurig den Kopf: „Wir werden nie Geld haben, Adele. Gar nie!“ sagte er niedergeschlagen. „Es ist wie ein Fluch, der auf mir lastet.“

Diese tiefe Melancholie wechselte bei Felix mit den Ausbrüchen wildester Verzweiflung. Dann wurde er hart und ungerecht auch gegen Adele. Überhäufte sie mit Vorwürfen und bedachte nicht, daß es gerade ihm nicht zukam, ihr Vorwürfe zu machen.

„Hätte ich doch nie geheiratet!“ fing Felix dann wohl zu klagen an. „Wie frei wäre ich! Könnte herumwandern, ungebunden, nicht gefesselt und gedemütigt, wie ich es jetzt bin. Die Ehe ist nichts für einen Künstler. Sie ist ein Hemmnis und ein Unglück. Ein Künstler muß frei sein! In erster Linie frei! Nur dann, als freier, ungebundener Mann, kann er sich entwickeln, kann schaffen und arbeiten. Und wenn er Not leidet, so darbt er für sich allein. Jetzt habe ich für drei zu sorgen ... für drei zu arbeiten. Eine Fessel ist es, eine Zuchthauskette, die ich durchs Leben schleifen muß!“

In immer größere Wut redete sich Felix hinein. Er war von all dem, was er sagte, überzeugt. Wenigstens für den Augenblick. Wenn diese Verzweiflungsanfälle und der Zorn über sein unverdientes Schicksal verraucht waren, dann war er wieder lieb und gut zu Adele und weich und biegsam wie Wachs.

Die Witwe Altwirth, seine Mutter, hatte ihr Kind genau gekannt. Ihre große Sorge um ihn war nicht unbegründet gewesen. „Ist a guater Bua, aber a schwacher [S. 223] Mensch ...“ hatte sie von ihm noch wenige Stunden vor ihrem Tod gesagt. „Er braucht a Leitung, a starke Hand ...“

Adele besaß diese starke Hand nicht. Darin hatte Frau Therese recht. Adele war zu nachgiebig, zu rücksichtsvoll und aufopfernd. Sie vergaß sich selber ihrem Gatten zuliebe. Sein Wille war bestimmend für sie. Jetzt erst sah sie es ein, daß sie damals, als sie ihr kleines, sicheres Heim in München aufgab, um einer unsicheren Existenz entgegenzugehen, den größten Fehler begangen hatte.

Sie hätte nicht nachgeben dürfen. Sie hätte ihrem innersten Gefühl, das sie bleiben hieß, folgen müssen. Hätte mit ruhiger Sicherheit ihren Willen den Plänen ihres Gatten entgegensetzen sollen.

Jetzt, da es zu spät war, reifte in Adele diese Erkenntnis. Jetzt erst, da die graue Sorge die Gatten immer mehr entfremdete, statt sie inniger zueinander zu führen, kam die junge Frau zu der Überzeugung, daß es ein schwerer Irrtum von beiden gewesen war, sich fürs Leben aneinander zu ketten.

Adele war gerecht genug, in all den Vorwürfen, die Felix in seiner Erregung gegen sie schleuderte, auch die Wahrheit zu erfassen. Sie wußte, daß er in vielem recht hatte, und trotzdem sträubte sie sich in tiefster Seele gegen diese Auffassung. Sie war ihm gefolgt, bewußt, als freies, erkennendes Weib. Eine Gefährtin wollte sie ihm sein und war ihm eine Last geworden.

Ihr ganzer Frauenstolz bäumte sich dagegen auf. Fort wollte sie von Innsbruck. Fort mit dem Kind, wieder zurück nach München. Allein sein wollte sie und Felix wieder jene Freiheit geben, nach der er sich sehnte.

Als sie aber einmal davon sprach, da bat er sie so mild und weich: „Geh nicht von mir, Adele! Ich bitte dich. Du bist mir ja das Liebste auf Erden, du und das Kind. Bleibe bei mir! Ich bin ein Narr! Ich weiß, [S. 224] daß ich dir weh getan. Ich will dir nicht weh tun, Adele. Verzeih es!“

Die junge Frau erkannte es immer deutlicher ... sie durfte den Gatten nicht verlassen. Jetzt nicht ... er war haltlos. Wenn sie ihn jetzt aufgab, jetzt nicht zu ihm hielt, dann verlor er die letzte Stütze im Leben ...

So litt Adele schweigend und für sich allein. Aber oft und oft fragte sie sich in den bittern Stunden ihrer seelischen Einsamkeit ... War das die Ehe, ihre Ehe? ... War dieses das Endziel einer großen Liebe, die sie und ihren Gatten als Mann und Weib zusammengeführt hatte ... das Endziel, daß sie schließlich in seelischer Qual einander bekämpfen und aufreiben sollten? ... Kameraden hätten sie werden sollen und waren sich immer mehr zu Gegnern geworden ...

Aber Adele hielt an sich. Sie wollte tapfer sein ... ausharren, so lange es ging. Der Gedanke an ihr Kind und ein starkes Pflichtbewußtsein gab ihr Kraft und Lebensmut. Innerlich jedoch entfremdete sich das Weib in ihr dem Gatten. Sie war keine Kampfnatur. Sie liebte den Frieden um des Friedens willen. Sie stritt und kämpfte nicht mit Felix; aber alles Unrecht, das er ihr in seinen quälenden Vorwürfen antat, traf sie mit überwältigender Macht und Wucht, zerstörte die starke Liebe, die sie zu dem Manne fühlte, und zehrte an ihrem Lebensmark.

Felix merkte die innere Wandlung nicht, die sich mit der jungen Frau vollzog. Und hätte er sie gesehen, so hätte er sie nicht richtig zu deuten gewußt. Er besaß den Egoismus des Künstlers, jene Art, die keinem andern Menschen außer sich selber das Recht zugesteht, seelische Stimmungen zu haben und diesen nachzuhängen.

Und je deutlicher dieser selbstische Zug bei Felix zum Vorschein kam, desto fremder wurde er der Seele seines Weibes. Ihre ganze Kraft nahm sie zusammen, um [S. 225] dem Manne noch dasjenige zu sein, was sie ihm ehrlich sein konnte ... ein guter und treuer Kamerad.

Sie stand für Felix ein und verteidigte ihn gegen alle hämischen Angriffe der Tante, die immer mehr an ihm auszusetzen und zu bemängeln fand. Und unerschütterlich und fest glaubte Adele an die hohe Künstlerschaft ihres Gatten. Ein fast heiliger Glaube war es, der sie erfüllte. Der Glaube, daß trotz aller Not das Große in ihm, seine Kunst, sich unfehlbar Bahn brechen müsse.

Dieser unerschütterliche, feste Glaube an die Kunst ihres Mannes war es auch, der Adele einmal so weit brachte, daß sie in hoher Empörung Frau Tiefenbrunner die Tür wies. Stolz und aufrecht hieß sie die Apothekerin nie mehr wieder kommen, nie mehr im Leben die Schwelle ihres Hauses betreten.

Adele Altwirth wußte genau, was sie tat. Sie wußte, daß sie sich und die Ihren nun endgültig einem bitteren, ungewissen Schicksal ausgeliefert hatte. Sie wußte, daß die Not nun lauerte, düster und grausam ...

Schlussvignette, Kapitel 11

[S. 226]

Zwölftes Kapitel.

W ieder einmal stand Frau Sophie Rapp an der Spitze einer öffentlichen Veranstaltung. Schon seit Monaten wurden Vorbereitungen dazu getroffen, Damenkomitees gebildet und Sitzungen abgehalten. Es sollte eine große Feier werden, ein Wohltätigkeitsbazar, und die besten Kreise der Stadt waren daran beteiligt. Auch Frau Patscheider und Frau Professor Haidacher hatten führende Rollen. Die Apothekerin und noch einige Damen machten sich dadurch sehr verdient, daß sie buchstäblich von Haus zu Haus gingen und Geld und Gaben sammelten für den guten Zweck. Ganz Innsbruck stand bereits im Zeichen dieses gesellschaftlichen Ereignisses, das den Höhepunkt des Karnevals darstellen sollte.

Die Apothekerin konnte sich nicht genug tun, anläßlich ihrer Besuche droben bei den Altwirths immer und immer wieder von dieser Festlichkeit zu erzählen. Es interessierte da oben in dem einsamen Häuschen zwar niemanden. Weder Felix noch Adele.

In Felix weckten diese Erzählungen nur neue Verbitterung. Sie brachten es ihm noch mehr zum Bewußtsein, daß da, wo alle waren, für ihn, den Künstler, kein Platz mehr übrig blieb. So fremd und unbeachtet ging er nun schon seit zwei Jahren in seiner Vaterstadt herum. Und wenn man Feste feierte in der Stadt, so drangen nur ganz verschollene Töne zu dem Maler und seiner Frau herauf.

Es war nicht Böswilligkeit und kein absichtliches Versehen, daß man Felix und seine Frau ausschloß. Man dachte gar nicht an das junge Künstlerpaar. Man wußte, daß Felix Altwirth sich in Innsbruck niedergelassen hatte, daß er zurückgezogen lebte, Bilder malte, die er einmal [S. 227] ausstellte und die niemandem gefielen. Mehr wußte man nicht von ihm und wollte auch nicht mehr wissen.

Auch Frau Sophie Rapp interessierte sich jetzt nicht mehr für den Künstler Felix Altwirth. Nicht ein einziges Mal wäre es ihr in den Sinn gekommen, ihn zu einer ihrer Veranstaltungen einzuladen. Wenn er kommen wollte, dann sollte er den Weg zu ihr nur selber suchen.

Im Grunde genommen war doch auch gekränkte Eitelkeit dabei im Spiele. Die junge, gefeierte Frau hatte es erwartet, daß Felix zu ihr kommen würde, um ihr seinen Besuch zu machen. Er war nicht gekommen. Nur einige Male war sie ihm am Weg begegnet und hatte flüchtig mit ihm gesprochen. Das war alles. Sogar seine Frau hatte ihr Felix nicht vorgestellt. Sophie kannte Frau Altwirth kaum dem Sehen nach. Sie interessierte sich auch gar nicht für sie.

Aber in dem geheimsten Winkel ihres Herzens hatte Frau Sophie Rapp stets gehofft, daß wenigstens noch ein Rest jener großen Verehrung in Felix Altwirth zurückgeblieben sei, die er einmal für sie gehegt hatte. Von jener Verehrung, die sie so warm umschmeichelt hatte und die ihn eigentlich doch hätte zu ihr führen müssen. Da Felix nicht kam, begrub sie die schöne Erinnerung an ihn. Kümmerte sich nicht um ihn und beachtete ihn nicht, wie ihn die andern nicht beachteten.

Der Apotheker Tiefenbrunner und seine Frau fingen an, sich des Neffen zu schämen. Seit er mit der Ausstellung jenen Mißerfolg gehabt hatte, seitdem hatten sie den ganzen Glauben an sein Künstlertum verloren. Sie waren beide nicht imstande, sich über seine Leistungen ein eigenes Urteil zu bilden, und es gab niemand aus ihrem Bekanntenkreise, der ihnen eine Aufklärung hätte geben können.

Was Adele sagte, das glaubte die Apothekerin schon gar nicht. Die Adele! Mein Gott! Was die Person [S. 228] verstand! Die Apothekerin zuckte mitleidig die Achseln, wenn sie einmal in ganz vertrautem Kreis sich über ihre Nichte ehrlich aussprach. Denn nach und nach fing Frau Therese Tiefenbrunner an, sich zu äußern. Es „kochte“, wie sie sich ausdrückte, wirklich zu viel in ihr. Ein ganzer Vesuv von Gift und Galle türmte sich mit der Zeit in der guten Frau auf.

Alles ging ihr bei Felix und Adele auf die Nerven. Daß der Felix nichts verdiente, daß er nicht arbeitete, daß er sich nicht nach einem andern Beruf umsah, wenn doch bei der Malerei nichts herausschaute ... So und ähnlich redete sie fortwährend auch auf Adele ein.

Die Apothekerin war, seitdem sie die vollen Lasten des Hausstandes der Altwirths trug, zu einem rechten Hauskreuz für die junge Frau geworden. Innerlich verachtete sie ja Adele vom Grunde ihres ganzen Herzens. Sie verachtete sie, weil Adele noch immer nicht in ihren Wirtschaftssorgen aufging. Weil sie trotz allem stets die Zeit fand, ihre Musik zu pflegen, geistig frisch und rege blieb und für alle künstlerischen Interessen ein tiefes Verständnis besaß.

Das ärgerte die Apothekerin und erzeugte in ihr ein häßliches, neidisches Gefühl, das wohl seine Ursachen im Unterbewußtsein der eigenen geistigen Minderwertigkeit haben mochte. Und um sich selber in ein besseres Licht zu setzen, prunkte Frau Tiefenbrunner geradezu mit der einzigen Eigenschaft, die sie vor Adele voraus hatte. Sie protzte mit ihrem gründlichen Wissen in der Kunst des Haushaltens. Die junge Frau empfand das um so peinlicher und quälender, als sie ja in vollständiger Abhängigkeit von der Apothekerin lebte.

Eine wahre Knechtschaft übte Frau Therese gegen Adele aus. Sie verlangte Rechenschaft für jeden verbrauchten Kreuzer und tat sich keinen Zwang mehr an, Adele offen und in groben, wenig gewählten Worten [S. 229] ins Gesicht zu sagen, was sie von ihr und Felix hielt.

„Ihr könnt halt auch nicht wirtschaften!“ sagte sie dann. „Der Felix, der hat das ja eben nie gelernt. Hat nie sparen können, weil er’s nicht nötig gehabt hat ... natürlich!“ Dieses eine Wort „natürlich“ betonte die Apothekerin derart, daß es geradezu Bände der Anschuldigungen gegen Felix sprach. „Der Felix hat halt immer klecksen müssen und klecksen und mit Farben herumschmieren und viel Geld verbrauchen und ...“

„Aber Tante, so hör’ doch endlich damit auf, bitte!“ hatte Adele einmal ganz entschieden geantwortet. „Ich kenne ja jedes Wort schon auswendig!“ Und angeekelt von all dem Widerwärtigen hielt sie sich mit beiden Händen die Ohren zu.

Die junge Frau brauchte wahrhaft ihre ganze Selbstbeherrschung, um die täglichen Nörgeleien der Apothekerin zu ertragen. Frau Tiefenbrunner schaute sich jetzt überall im Hause gründlich um. Da war kein Winkelchen und kein Stäubchen, das ihrem Spürsinn entging. Mit dem Aufgebot unsagbarer Überwindung ertrug Adele diese Frau, ertrug die Reden und Vorwürfe solange, bis das Maß voll war. Und das geschah so ...

Frau Therese Tiefenbrunner kam strahlend hinauf zu Adele und eröffnete ihr, es sei ihr nun gelungen, eine Arbeit für Felix zu finden. „Weißt, Adele, für das Fest, von dem ich dir immer erzähl’!“ berichtete sie mit wichtigem Ernst. „Da ist jetzt nämlich alles schon so weit fertig gestellt. Der Saal ist schon gemietet; eigentlich sind es ja, wie du weißt, mehrere Säle; und jetzt brauchen wir halt noch einen Maler zum Ausmalen.“

„Tante, du wirst doch nicht ...“ Adele war kreideweiß im Gesicht geworden. Sie zitterte und bebte am ganzen Leib. „Du wirst doch nicht ...“

Frau Therese Tiefenbrunner hatte sich in ihrer ganzen [S. 230] Breite vor Adele aufgepflanzt und sah verständnislos auf die erregte junge Frau. Etwas wie eine teuflische Freude über den Schrecken, den sie ihr offenbar verursacht hatte, kam über die Apothekerin. Sie weidete sich geradezu daran und sah mit ruhigem, aber boshaftem und schadenfrohem Blick zu Adele empor. Weil sie diese unausstehliche, hochnasige Person nur endlich einmal demütigen konnte! Sie verstand es zwar nicht, warum ihr Angebot eine Demütigung sein sollte, aber sie fühlte, daß es Adele als eine solche empfand, und das steigerte ihr inneres Behagen.

„Ich hab’ die Damen vom Komitee gebeten,“ fuhr Frau Therese mit langsamer, breiter Stimme zu reden fort, „daß sie dem Felix die Malerarbeit übertragen ... und dieser meiniger Antrag ist auch angenommen worden!“ fügte sie mit stolzer Genugtuung hinzu.

„Aber Tante, du wirst doch nicht glauben, daß Felix ...“ Adele war so erregt, daß sie mit ihren Zähnen auf die Lippen biß, um ja kein unüberlegtes Wort zu sagen. Ihre Hände krampften sich fest in die Falten ihres Kleides.

„Daß es der Felix auch tun wird, das glaub’ ich allerdings!“ versetzte die Apothekerin mit Nachdruck und sah kampfbereit zu der jungen Frau empor. Ihre dunklen Augen wurden dabei immer größer und rundeten sich wie die Augen einer fetten Henne, die einer andern ein Stückchen Futter streitig machen will. „Denn, wenn man einmal eine Gelegenheit findet,“ fuhr Frau Therese jetzt energischer werdend fort, „sich ein Geld zu verdienen, dann tut man halt eben arbeiten und nicht immer den noblen Herrn spielen und spazieren gehen und ...“

„Aber Felix ist ein Künstler!“ stieß die junge Frau fast keuchend hervor. „Begreifst du denn gar nicht, Tante, er ist doch kein Anstreicher!“

[S. 231]

„Künstler hin, Künstler her! Hör’ du mir mit der ganzen Künstlerschaft auf! Ein Anstreicher ist besser dran und überhaupt ...“

Adele Altwirth trat jetzt mit ruhiger Entschlossenheit ganz nahe vor die Apothekerin hin und sah mit stolzem Ernst zu der kleinen, gedrungenen Gestalt herab. Es lag etwas hoheitsvoll Gebieterisches in der Haltung der jungen Frau.

„Tante,“ sprach Adele mit einer unheimlichen Ruhe, „ich erkläre dir hiermit, daß ich dem Felix kein Wort von dieser unerhörten Zumutung sagen werde.“

„So? Das tust du also nicht? Und warum nicht, wenn ich fragen darf?“

„Weil Felix ein Künstler ist! Weil ihn so ein Antrag entehrt, demütigt, beschmutzt! Aber das verstehst du ja alles nicht!“ unterbrach sich Adele selbst unwillig.

„Weißt aber, was ich versteh’?“ sagte da die Apothekerin und stemmte ihre beiden Arme fest und herausfordernd in die Hüften. „Daß du a überspanntes Frauenzimmer bist, a narrisches! Jetzt weißt du’s, was du bist! Du Nocken, du eingebildete!“ fing die Apothekerin nun in ihrem schönsten Kothlacknerdeutsch zu schimpfen an.

Die lange aufgespeicherte Galle brach sich jetzt mit elementarer Kraft Bahn. Es war Frau Therese Tiefenbrunner ein dringendes Herzensbedürfnis, sich einmal Luft zu machen und ihren ganzen Ärger und ihre Enttäuschung herauszuschreien. In einem rasend schnellen Tempo, das seltsam abstach zu ihrer sonstigen langsamen, breiten Redeweise, schrie sie nun auf die junge Frau ein ... „A unverschämte Bande seid’s, alle miteinander! Bettelvolk! Tagdiab’! Die nix haben und ander’ Leut auf der Schüssel sitzen! Schamen muaß man si’ mit enk. Nix können tuat er! Gar nix kann er! Daß du’s woaßt!“ Mit hämischer Freude betonte die Apothekerin dieses noch besonders nachdrücklich: „Der Patscheider hat’s aa [S. 232] g’sagt, daß er nix kann! Alle sagen sie’s in Innsbruck! Und wahr ist’s!“

Adele stand jetzt ganz ruhig vor der Frau, die ihr in diesem Augenblick so klein, so erbärmlich und so gemein vorkam. Fast mitleidig sah sie auf Frau Therese Tiefenbrunner herab. Eine tödliche Blässe bedeckte noch immer die strengen, regelmäßigen Züge der jungen Frau. Aber die große Aufregung, in der sie sich befunden hatte, war mit einem Male vergangen und hatte einer ruhigen Überlegung Platz gemacht.

Je mehr sich die Apothekerin in Zorn schrie, je mehr sie es unternahm, Felix und Adele zu erniedrigen, desto freier, ruhiger und sicherer überlegte Adele. Und ohne die Spur einer inneren Erregung frug sie ganz ruhig: „Du glaubst also nicht an Felix, Tante?“

Frau Therese Tiefenbrunner schüttelte den Kopf, so fest sie konnte. „Naa!“ sagte sie dann. Das klang so ehrlich, so energisch, so überzeugt, daß ein Irrtum unmöglich war.

„Dann war es ein großes Unrecht von uns, daß wir Geld von dir nahmen, Tante!“ fuhr Adele mit ihrer schönen, weichen Stimme zu reden fort. „Wir glaubten, du schätztest den Künstler, du wolltest ihm helfen, über die Zeit der Not hinweg. Darum durften wir dein Geld nehmen, aber ein Almosen nehmen wir nicht!“

Ruhig und gelassen schritt Frau Adele zur Tür ihres kleinen Wohnzimmers und öffnete dieselbe. „Denk von uns, was du willst! Schlechter, als du schon gedacht hast, kannst du nicht mehr denken. Aber so erbärmlich sind wir nicht, daß wir auch nur mehr ein Stück Brot von dir nehmen würden. So, jetzt geh ... geh und komme nie wieder! Nie ... hörst du, Tante!“

Mit ruhiger, fast königlicher Haltung stand Adele vor der Apothekerin, die ganz kleinlaut und ohne ein Wort der Erwiderung zu finden an ihr vorüber durch die [S. 233] Tür ging. Schnell und hastig ging sie, und einen scheuen, flüchtigen Blick, der beinahe etwas Demütiges an sich hatte, warf sie noch auf die junge Frau.

Frau Therese Tiefenbrunner begriff den eigentlichen Grund nicht, warum Adele ihr die Tür gewiesen hatte. Sie empfand es jedoch instinktiv, daß dies jetzt ein Bruch fürs Leben war. Und da es so ruhig und vornehm geschah, hatte sie das unangenehme Gefühl eines gezüchtigten Hundes. Das empörte sie und stachelte sie auf zu namenloser Wut und tiefem Ingrimm. Das machte sie Adele und Felix hassen, wie sie noch nichts gehaßt hatte im Leben.

Je länger und je mehr sie darüber nachdachte, um so empörter wurde sie. Mochten sie verkommen, das Pack! Ihr, der Wohltäterin, hatten sie in krassem Undank die Tür gewiesen!

Überall schrie es Frau Therese Tiefenbrunner in Innsbruck herum. Stellte fest, daß Felix und Adele eine hochmütige Bagasch seien, und daß sie sich von ihnen habe lossagen müssen, da man mit „solchenen“ doch unmöglich weiter verkehren könne ...

Auch dem Rat Leonhard kam die Sache zu Ohren. Der hörte alles ruhig an, mit der unbeweglichen Miene eines Untersuchungsrichters, und erwiderte kein Wort. Er wollte sich kein Urteil bilden, der alte Herr. Wie er es hörte, sprach es gegen die Altwirths. Es würde aber doch wohl anders sein, dachte er bei sich. Der Rat Leonhard nahm sich vor, von nun an ganz besonders scharf aufzupassen auf das Paar da droben bei der Weiherburg. Jetzt war er ja der einzige Freund, den die Altwirths besaßen ...

Felix und Adele atmeten auf, wie von einem schweren Alp befreit. Gott sei gelobt! Nur nicht mehr diese Frau um sich dulden zu müssen! Danken müssen, wo man am liebsten ingrimmig geflucht hätte!... Felix fühlte [S. 234] sich erlöst. Trotz der drohenden Not befreit von schwerer Last. Einige Tage hindurch lebten die beiden in einem wahren Freudentaumel und dachten gar nicht daran, daß sie noch immer von den Gaben der Frau Therese Tiefenbrunner zehrten ...

Es war mitten im Januar, und es herrschte die größte Kälte des ganzen Winters. Hartgefrorner Schnee lag überall, glitzerte im Sonnenschein und wollte sich nicht erweichen lassen durch die verheißungsvollen Strahlen. Dichte Schneehauben hatten die Dächer der Häuser und Häuschen aufgesetzt, welche an dem zur Weiherburg führenden Abhang verstreut lagerten. Der Weg zur Weiherburg war stark vereist. Nur schrittweise konnte man da vorwärts kommen und mußte achtgeben, daß man nicht ausglitt auf dem eisigen Boden.

Der alte Rat Leonhard wanderte aber trotzdem den gewohnten Weg. Langsam und vorsichtig, Schritt für Schritt berechnend, als ob er auf Eiern ginge. Heute hielt er jedoch Einkehr in dem kleinen Häuschen, um bei den Altwirths einmal Besuch zu machen.

Das hatte er noch nie getan. Er war auch gerade kein unterhaltender Besuch. Sprach wenig und wetzte unausgesetzt auf seinem Sessel hin und her. Felix und Adele wunderten sich, was der alte Herr eigentlich bei ihnen wollte. Adele gab sich alle Mühe, die Unterhaltung, so gut es ging, in Fluß zu bringen. Aber es wollte ihr nicht recht glücken.

Endlich gab sich der alte Herr einen Ruck. „Sie werden Ihnen gewiß wundern, warum ich da bin, Herr Altwirth!“ sagte er und machte alle Anstrengung, deren er fähig war, um eine freundliche Miene aufzusetzen. „Die Sach’ ist die. Ich weiß, daß der Patscheider eine Stiftung für Tiroler Künstler errichtet, so eine Art Stipendium. Ich versteh’ die Sach’ nit, aber ich hab’ mir gedacht, vielleicht interessieren Sie Ihnen dafür.“ Der alte Herr sah mit [S. 235] einem kurzen, scharfen Blick zuerst auf Felix und dann von diesem weg zu Adele, die neben ihm saß.

Felix machte eine zustimmende Verbeugung. „Ich danke sehr, Herr Rat!“ sagte er dann. „Natürlich ...“

„Der Patscheider hat’s Geld und macht sich gerne wichtig. Sie verstehen schon!“ sprach der alte Herr, sich ziemlich jäh erhebend. „Es wird gut sein, wenn Sie Ihnen gleich bekümmern drum. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Ist a alte G’schicht’!“

Und dann begab sich der Rat Leonhard mit langsamen, schleichenden Schritten gegen den Ausgang und verbeugte sich einige Male sehr linkisch und hölzern vor Adele. Die junge Frau hielt ihm herzlich die Hand entgegen. Sie erriet es, daß ihnen an dem alten Herrn ein echter Freund erstanden war. „Wir danken Ihnen aufrichtig, Herr Rat!“ sagte sie warm. „Sie sind gut zu uns.“

Einen Augenblick sah der alte Herr scharf zu der blonden Frau empor. Es war ein fast stechender Blick, der sie aus seinen kleinen, dunklen Augen traf. Eigentlich war es heute das erstemal, daß der Herr Rat mit ihr sprach. Sonst hatte er es stets bei einem flüchtigen Gruß bewenden lassen.

Der Rat Leonhard gab auf den Dank der jungen Frau keine Antwort, sondern wandte ihr plötzlich den Rücken zu. Das geschah so jäh und unvermittelt, als habe ihn Adele durch ihren Dank beleidigt. Die junge Frau konnte sich unmöglich darüber klar werden, ob die kurze, blitzartige Musterung, der sie der alte Herr unterworfen hatte, zu seiner Zufriedenheit ausgefallen war oder nicht.

„Was ich noch sagen wollte, Herr Altwirth ...“ sprach der Rat Leonhard. „Sie werden jetzt keine Zeit haben, ha?“

„Ich? O gewiß, Herr Rat. Leider nur zu viel Zeit!“ entgegnete Felix mit ironischem Lächeln.

[S. 236]

„So! Hm! Nacher ist’s schon recht!“ meinte der alte Herr und nickte zustimmend mit dem Kopf. Dann sah er den Maler mit einem recht süßsauern Gesicht an und schluckte wiederholt krampfhaft, als ob ihm etwas im Halse stecken geblieben wäre. „Dann können’s ja gleich anfangen mit einem Porträt von mir ...“ kam es etwas gepreßt heraus. „Wissen’s, mei’ Schwester, die drängt alleweil, ich soll mich malen lassen. Ich tu’s nit gern,“ bekannte er ehrlich, „aber einmal muß es doch sein. Sagen’s mir halt, wann ich kommen soll zur Sitzung.“

Es war dem Rat Leonhard wirklich sauer geworden, Felix Altwirth diesen Auftrag zu geben. Mit Schaudern hatte er schon auf dem ganzen Weg her überlegt, ob sich nicht doch noch ein anderes Mittel finden ließe, den Altwirths zu helfen. Aber es war ihm nichts eingefallen. So entschloß er sich zu diesem äußersten, für ihn ganz besonders entsetzlichen Ausweg. Er malte es sich schon in den schwärzesten Farben aus, wie endlos und öde diese täglichen Sitzungen sein würden, und wie schmerzhaft für ihn diese fortgesetzt aufrechte Haltung wäre.

„Naa, lieber an Zahn reißen lassen!“ hatte er auf dem ganzen Weg ein- über das anderemal vor sich hingemurmelt. „Lieber zwei Zähn’ reißen lassen!“ Dann entschloß er sich aber doch dazu, allen Qualvorstellungen zum Trotz.

Es würde schrecklich werden. Er wußte es. Und noch dazu würde er stets freundlich dreinschauen müssen und nicht einmal seine geliebte Pfeife rauchen dürfen. Der Altwirth würde das in seinem Leben wohl nie begreifen können, zu welcher Tortur so eine Malerei unter Umständen werden konnte ...

Nun hatte ja Felix Altwirth wenigstens einen Auftrag und eine Arbeit, die ihm über die nächste Zeit hinweghelfen konnte. Wenn der Auftrag auch ein bescheidener [S. 237] war, so hob er doch das Selbstbewußtsein bei Felix und ließ ihn die Zukunft in rosigerem Lichte sehen.

Der wortkarge alte Herr versäumte jetzt keine Gelegenheit, bei den Sitzungen stets darauf hinzuweisen, daß Felix sich mit dem Patscheider gut stehen müsse, wenn er etwas erreichen wollte. So hart es ihn ankam, entschloß sich Felix endlich doch, dem Kaufmann seine Aufwartung zu machen.

Es war ein hohes, düsteres und kahles Haus, in dem der Patscheider wohnte. Mitten in der Stadt und nur wenige Minuten von der Hauptverkehrsader entfernt.

Geräumig, kühl und nüchtern waren die Zimmer, aber mit so viel breiter Behaglichkeit ausgestattet, so gediegen und wertvoll eingerichtet, daß sie einen beinahe vornehmen Eindruck erweckten. Nur daß ein gewisses Übermaß diesem Eindruck widersprach. Es war zu viel Reichtum mit unverkennbarer Absicht zur Schau gestellt.

Da waren schwere, geschnitzte Eichenmöbel. Und ein prunkvoller, echter Perserteppich bedeckte fast die ganze Bodenfläche des großen, viereckigen Wohnzimmers. Altes Zinn verzierte in Fülle die Gesimse der drei hohen Flügeltüren, die von diesem Zimmer nach den übrigen Räumen führten. Blinkendes Silbergerät stand auf der Kredenz, und hohe, silberne Armleuchter flankierten beide Seiten eines prachtvollen Flügels, der in der Mitte des Zimmers Platz gefunden hatte.

An den Wänden hingen große Gemälde in schweren, wuchtigen und aufdringlichen Goldrahmen. Die Bilder verrieten, daß der Besitzer wohl Geld, aber keinen erlesenen Geschmack besaß. Dieser große, zur Schau gestellte Aufwand störte den feinen Kunstsinn des Malers Felix Altwirth und machte auf ihn einen fast widerlichen Eindruck.

Johannes Patscheider ließ geraume Zeit auf sich warten, ehe er seinen Besuch empfing. Dann erst trat [S. 238] er in das Zimmer, wo Felix in beklommener Stimmung auf den Gewaltigen harrte.

Nicht ohne Bitterkeit zählte Felix Altwirth die Minuten des Wartens, die so langsam verstrichen. Ärgerte sich über diese offenbare Mißachtung dem Künstler gegenüber und begann schon zu bereuen, daß er dem ihm so unsympathischen Menschen seine Aufwartung gemacht hatte.

Das Herz schlug Felix erregt und unregelmäßig, und ein nervöses Zucken ging über sein noch immer sehr zartgefärbtes Gesicht. Dieses Herwarten wurde ihm von Minute zu Minute peinlicher und verschärfte die Demütigung, die für ihn in diesem Besuche lag.

Johannes Patscheider hielt sich unterdessen in einem Nebenzimmer auf und verzehrte in aller Ruhe und Behaglichkeit sein zweites Frühstück, Würsteln mit Krenn. Dazu trank er einen extrafeinen Südtiroler Wein. Den Besuch des Malers Altwirth empfand er als eine Belästigung, da er mit Sicherheit annahm, daß der nur zu ihm gekommen war, weil er etwas von ihm wollte. Vielleicht gar Geld. Na, sollte halt warten, der Altwirth, bis sich der Herr Patscheider gestärkt hatte. Da konnte er die Sache eher mit Gleichmut ertragen.

Von diesem sehr löblichen Gedankengang ließ er aber seinen Besucher nichts merken, nachdem er sich endlich entschlossen hatte, in das Wohnzimmer zu treten. Er begrüßte den Maler freundlich, hielt ihm die Hand entgegen und frug, indem er seine bogenförmigen Augenbrauen noch mehr in die Höhe zog: „Nun, Herr Altwirth, was verschafft mir die Ehre?“

Die beiden Herren saßen sich in den behaglichen und reichgeschmückten Lehnstühlen gegenüber. Der Kaufmann aufrecht und selbstbewußt. Felix unsicher und schüchtern. Sein feines, fast mädchenhaftes Gesicht bedeckte eine tiefe Röte innerer Erregung. Felix Altwirth war ein [S. 239] hübscher Mann, nur etwas schwerfällig und langsam in seinen Bewegungen.

„Es ist eine persönliche Angelegenheit, Herr Patscheider ...“ begann Felix jetzt die Unterredung. „Man hat mich an Sie gewiesen ... es handelt sich ... Sie wissen, ich bin Künstler ... und ... Es fällt mir schwer, Herr Patscheider ... es ist ... nämlich ... ich habe gehört, daß Sie eine hochherzige Stiftung für Tiroler Künstler ...“

„Ja, woher wissen denn Sie das?“ erkundigte sich der Patscheider jetzt wirklich erstaunt. Die ganze Zeit her hatte er den Maler mit einem leicht ironischen Seitenblick beobachtet. Rechnete er doch sicher damit, daß die Geschichte mit einem Pumpversuch enden würde. Den Kaufmann interessierte nur das eine, wieviel Geld der Altwirth von ihm verlangen würde. Jetzt aber, da Felix von dem Stipendium sprach, war der Patscheider tatsächlich verblüfft. „Es ist ja noch gar nicht zur Ausschreibung kommen!“ fuhr er fort. „Nur ein Eingeweihter kann Ihnen die Sache verraten haben!“ fügte er etwas ärgerlich hinzu.

„Ja!“ erwiderte Felix nun ebenfalls mit einem leicht ironischen Lächeln. „Es war ein Eingeweihter. Ein Freund von mir.“

„So, so, ein Freund von Ihnen? Etwa der Doktor Storf?“ forschte der Patscheider mißtrauisch.

„Nein, Doktor Storf und ich sehen einander nur noch selten. Wir sind nur mehr dem Namen nach Freunde!“ sagte Felix bitter.

„Wer kann denn das gewesen sein?“ frug der Patscheider nachdenklich. Es war ihm sichtlich unangenehm, daß Felix von der Sache wußte. Für das Stipendium hatte sich schon längst ein Bewerber gefunden. Einer, dem der Patscheider seine Gunst geschenkt hatte.

„Wie ich sehe, darf ich meinen Freund nicht verraten!“ [S. 240] meinte Felix. „Ich soll offenbar nichts von dem Stipendium wissen.“

„O ja, das können’s schon wissen!“ platzte da der Kaufmann grob heraus. Er spreizte seine Beine auseinander und trommelte mit den großen, behaarten Händen ungeduldig auf den Knien herum. „Und ich sag’s Ihnen gleich, aufs Stipendium, das meine eigene und ganz persönliche Angelegenheit ist, brauchen’s nit zu rechnen. Das ist schon so gut wie vergeben.“

„Vergeben?“ frug Felix ungläubig. „Noch ehe es zur Ausschreibung kam?“

„Wenn ich sag’, es ist vergeben, dann ist’s vergeben!“ erwiderte der Patscheider kurz und im energischen Ton. „Ich habe allein darüber zu bestimmen. Aus meinem Beutel geht’s!“

Felix biß sich auf die Unterlippe, um gewaltsam eine sarkastische Bemerkung zu unterdrücken. Der Kaufmann zog jetzt seine schwere goldene Uhr aus der Tasche, warf einen flüchtigen Blick darauf und fragte in kurzem, gebieterischem Ton: „Noch etwas?“

Auch Felix hatte sich erhoben. Die beiden Männer standen sich in einem weiteren Abstand gegenüber. Der Patscheider war um ein gutes Stück größer als Felix Altwirth und nahm sich im Vergleich zu der schlanken Erscheinung des Künstlers nur noch wuchtiger und massiver aus.

„Ja, Herr Patscheider, noch eine Bitte!“

Jetzt sah ihm der Kaufmann voll ins Gesicht. Es lag ein Gemisch von Mißtrauen, Verachtung und persönlicher Abneigung in diesem Blick. Felix fühlte es deutlich und hätte am liebsten gar nichts mehr gesagt. Und trotzdem bezwang er sich. Der alte Rat, den er in dieser Zeit schätzen gelernt hatte, sagte ihm einmal in seiner kurzen Art: „Und wenn auch der Patscheider a bissel grob sein sollt’, macht nix. Es hat ein jeder von uns einmal im [S. 241] Leben einen bittern Weg gemacht. Schlucken’s die Pill’n! Es muß sein!“

An diese Worte mußte Felix nun denken, und er wußte, daß der Rat Leonhard recht hatte und daß es ihm nicht zukam, jetzt empfindlich zu sein. „Ich wollte Sie ersuchen,“ fuhr er fort, „ob Sie mir nicht Verbindungen verschaffen könnten ... Porträtaufträge? Ich bin verheiratet, habe Frau und Kind. Ein Künstler hat, wie es scheint, hier selten Gelegenheit, Bilder zu verkaufen ...“

„Das finde ich nicht!“ unterbrach ihn Johannes Patscheider und spielte ungeduldig mit seiner goldenen Uhrkette. „Im Gegenteil. Mehr wie genug wird gekauft hier!“

„Dann habe ich eben wenig Glück ...“ sagte Felix leise.

„Das kann schon sein. Das geb’ ich gern zu. Und ich weiß auch nit, ob Sie mit dem Porträtieren mehr Glück haben werden.“

„Deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen, Herr Patscheider. Ein Wort von Ihnen ...“

„Ein Wort von mir nützt Ihnen einen Schmarrn!“ polterte jetzt der Patscheider los. „Wären Sie geblieben, wo’s g’wesen sein! Das wär’ g’scheiter g’wesen. Wir haben keinen Mangel an Malern in Tirol. Und die z’erst da waren, die haben ’s erste Recht. Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben soll, dann ist’s der, daß Sie wieder schauen sollen, so schnell als möglich fortzukommen von da! Ihnere Malerei g’fallt uns einmal nit! Da kann man nix machen!“

Felix zitterte am ganzen Körper bei den rohen Worten dieses Mannes, der in seiner breiten Wucht da vor ihm stand. Felix Altwirth hielt seinen Hut in der rechten Hand und trat jetzt einige Schritte näher an den Kaufmann heran. „Ist das alles, was Sie einem Künstler zu sagen haben, Herr?“ frug er mit bebender Stimme.

[S. 242]

„Ja!“

„Auch dann, wenn dieser in bitterster Not wäre?“

„Ach was, lassen’s mir jetzt mei’ Ruh’!“ sagte der Patscheider ungeduldig und mit einer verächtlichen Handbewegung.

Aber Felix gab nicht nach. Er war so gereizt, daß er sich kaum mehr halten konnte. „Da könnte ich also von Ihnen aus verrecken wie ein Vieh!“ stieß er hervor.

„Ja, von mir aus verrecken’s!“ sagte der Patscheider gleichgültig.

Da trat Felix Altwirth ganz dicht an den Kaufmann heran und warf ihm in namenloser Empörung und mit voller Wucht den Hut, den er in der rechten Hand trug, mitten ins Gesicht.

„Hund!“ stieß Felix keuchend vor Zorn hervor. „Das will ich dir heimzahlen!“ ... Und dann rannte er wie von Sinnen in atemloser Hast über die Treppe hinunter und warf krachend die schwere Haustür ins Schloß ...

Eine furchtbare Verbitterung war über Felix Altwirth und seine Frau gekommen. Noch mehr über Felix. Ein Haß, ein bodenloser Haß gegen alles, was um ihn war, bemächtigte sich seiner.

Er haßte alles, sogar den alten Rat Leonhard, der es doch so gut mit ihm meinte. Er weigerte sich, auch nur einen einzigen Pinselstrich mehr an dem Porträt zu machen. Er konnte jetzt nicht daran arbeiten. Um keinen Preis. In seiner krankhaften Erregung verdächtigte er den alten Herrn, daß ihn dieser mit Absicht zu dem Kaufmann Johannes Patscheider geschickt habe, um ihn zu demütigen.

Es war eine Art Verfolgungswahn, in dem Felix Altwirth lebte. Er glaubte es fest und steif, daß sich in Innsbruck alles gegen ihn verschworen habe, und daß man es darauf abgesehen habe, ihn systematisch zu demütigen und zugrunde zu richten. Überall um sich [S. 243] her witterte er Verrat und vergiftete durch seinen Argwohn auch die reine, vertrauungsvolle Seele Adelens, so daß diese nur noch mit dem Aufgebot ihrer ganzen inneren Kraft all den schweren Prüfungen standhalten konnte.

Durch gutes Zureden versuchte sie es, den Gatten von der Haltlosigkeit seiner Befürchtungen zu überzeugen. Aber Felix verstand es meisterhaft, den Wahn, in dem er lebte, mit so vielen triftigen Gründen zu rechtfertigen, daß selbst Adele stutzig wurde und innerlich zu zweifeln begann.

Felix Altwirth lebte jetzt nur mehr diesem Wahn, der ihn bis zur Raserei aufpeitschte und ein grenzenloses Gefühl des Hasses und der Rache in ihm erzeugte. Und aus diesem Gefühl heraus, aus dem Gefühl des Verkanntseins, des Elends, der Demütigung und der unbefriedigten Rachgier ging er zu der Wirtin vom Weißen Hahn und bewarb sich bei dieser um die Dekorationsarbeit des neuen Saales, der gerade fertig ausgebaut war und schon in der nächsten Zeit mit einer großen Festlichkeit eröffnet werden sollte.

Er tat es hinter dem Rücken seiner Frau und in dem bestimmten Empfinden, daß er durch diese Selbsterniedrigung des Künstlers seiner Heimat eine große Schmach zufügte.

So kam es, daß Felix Altwirth, der Künstler, im Arbeitsrock eines Anstreichers auf den Stufen einer Leiter stand und den neuen Saal beim Weißen Hahn ausmalte. Und hier, bei dieser entwürdigenden Arbeit sah ihn Frau Sophie Rapp nach langer Zeit zum erstenmal wieder.

Schlussvignette, Kapitel 12

[S. 244]

Dreizehntes Kapitel.

W ie ein Wirbelwind so eilig sauste Frau Sophie Rapp durch die weite Halle des neuen Saales, der so kahl und zugig und unlustig war, daß die junge Frau unwillkürlich fröstelnd die schöne, breite Pelzstola, die sie um den Hals geschlungen trug, enger an sich drückte. Es roch nach Farbe und Kalk in dem Raum, der hoch und düster war und wohl nur bei festlicher Beleuchtung einen gastlichen Eindruck machen konnte.

Sophie behagte es gar nicht da drinnen, und so eilig hatte sie es, daß die Wirtin vom Weißen Hahn mit dem hastigen Gang der jungen Frau kaum Schritt zu halten vermochte.

„Wissen’s, Frau Buchmayr,“ sagte die Sophie fröhlich, „viel Zeit hab’ ich nit für Ihneren Saal. Aber aus alter Freundschaft hab’ ich doch herschauen und mir die Sach’ ein bissel betrachten wollen. Schön ist er und groß ist er und kalt ist er, der Saal!“ foppte sie dann die Wirtin und schaute lachend und heiter um sich. „Und schöner einrichten müssen Sie ihn noch. Das wär’ doch gar nix!“ fügte sie in neckischem Tadel hinzu und deutete auf die vielen Farbentöpfe und Pinsel, die am Boden verstreut waren und einzelne farbige Spuren zurückließen.

Am äußersten Ende des Saales stand Felix auf einer Staffelei und malte eifrig. Er malte Blumen und Früchte in bunter Reihenfolge und kümmerte sich nicht um die Frauen, deren Stimmen durch den leeren Raum unnatürlich laut widerhallten. Nur einmal hatte er sich flüchtig umgedreht und dabei auf den ersten Blick die junge Frau Doktor Rapp erkannt. Sophie achtete nicht auf den Maler, der in einer dämmerigen Ecke des Saales arbeitete.

„Ja, freilich wird’s anders!“ verteidigte sich die Wirtin. [S. 245] „Ich hab’ ja jetzt den Maler, wissen’s schon, Frau Doktor.“

Es kam der Wirtin nun gar nicht mehr hart an, zu ihrer einstigen Kellnerin Frau Doktor zu sagen. Fast wie ein ferner Traum erschien es ihr oft, wenn sie die elegante, gut gekleidete Dame sah und daran dachte, daß diese einmal bei ihr im Dienste gestanden hatte.

Die Vergangenheit war so völlig entschwunden, daß Frau Buchmayr sich sogar durch den Besuch, den ihr die Frau Doktor Rapp machte, geehrt und ausgezeichnet fühlte. Die dicke Wirtin, die mit den Jahren noch immer schwerfälliger geworden war, ließ es sich nicht nehmen, die junge Frau selbst überall herumzuführen, um ihr eingehend alles zu erklären.

„Und Sie werden wohl doch nit fehlen, Frau Doktor, wenn wir den Saal einweihen tun. Nit wahr, das versprechen’s mir. Sie und der Herr Gemahl!“ meinte die Wirtin ungemein liebenswürdig.

„Natürlich kommen wir!“ versicherte die Sophie. „Da gibt’s nix, da muß ich dabei sein!“ lachte sie lustig. „Wann ist denn die Feier?“

„Heut’ in drei Wochen!“ sagte die Wirtin.

„Was? Schon!“ rief die junge Frau erstaunt. „Ja, ist denn bis dorthin alles fertig?“

„O ja, ich hoff’ schon!“ entgegnete die Wirtin. „Der Herr Altwirth hat mir bestimmt versprochen, daß er’s fertig macht.“

„Altwirth ... den Felix Altwirth meinen Sie?“ frug Sophie, die für einen Augenblick stutzig geworden war.

„Ja, den Maler Altwirth!“ nickte die Wirtin zustimmend. „Der malt bei mir den Saal aus.“

„Das ist doch nicht ...“ Sophie war neugierig näher gekommen und sah zu Felix Altwirth empor. Und auf einmal fing sie lustig und ausgelassen zu lachen an. „Ja, richtig ist er’s! Nein, so was! Und ich hab’ geglaubt, [S. 246] daß er ein Maler ist, und derweil streicht und pinselt er beim Weißen Hahn an die Wänd’ herum!“

Das lustige Lachen der jungen Frau gab ein fröhliches Echo in dem kahlen, getünchten, großen Raum. Verlieh ihm etwas Warmes, Belebtes und wirkte so erheiternd und ansteckend, daß Felix, der trotzig und ohne zu grüßen auf seiner Leiter stehen geblieben war, nun mit einem Male halb ärgerlich den Pinsel von sich warf und mit einem kühnen Sprung von den Stufen der Leiter auf den Boden setzte.

„Ah, da schauen’s her!“ neckte ihn die junge Frau weiter und machte ihm einen lustigen Knicks. „Und jetzt kommt er gar von seiner Höhe herunter wie ein Engerl. Aber a recht a großes, a ausgiebig’s!“ fügte sie schalkhaft hinzu. „Und beehrt mich mit einer Ansprache. Das hat er noch nie getan, der Herr Altwirth, seitdem er ein Maler geworden ist.“ Fröhlich und ungezwungen hielt sie Felix mit einer herzlichen Bewegung ihre Hand entgegen. „Grüß’ Ihnen Gott, Herr Altwirth! Das freut mich, daß uns der Zufall zusammenführt.“

Felix berührte verdrießlich und unwillig ganz leicht die fein behandschuhten Fingerspitzen und warf einen flüchtigen Blick auf die vornehme Erscheinung der jungen Frau.

Sophie trug ein eng anliegendes, dunkles Straßenkleid und einen großen, eleganten Federhut. Sie hatte sich nicht viel verändert in all den Jahren. Hübscher war sie geworden, rassig, und die volle, schöne Figur etwas zu üppig.

Mit dem scharfen, prüfenden Blick des Künstlers bemerkte es Felix. „Spotten Sie nur!“ sagte er dann ärgerlich. „Sie verhöhnen mich ja alle hier!“ setzte er mit einem gleichgültigen Achselzucken hinzu.

Frau Sophie Rapp sah ihm überrascht in das Gesicht. „Ich wollte Sie nicht kränken, Herr Altwirth ...“ sprach [S. 247] sie nun ernst. „Und es fällt mir eigentlich erst jetzt auf, daß diese Arbeit wohl nicht ganz zu Ihnen paßt.“

„Ja, das hab’ ich ihm auch g’sagt!“ bestätigte die Wirtin. „Damals, als er mich angangen hat drum. Nit wahr, Herr Altwirth?“

„Ja!“ sagte Felix trocken. „Aber lieber, als daß man verhungert, tut man eben alles!“ erklärte er laut und in bitterem Ton.

„Aber, Herr Altwirth ... Felix!“ rief da Sophie, und es lag so viel echtes Mitleid in ihrem Ausdruck, daß es dem Maler ganz warm ums Herz wurde. „So schlimm wird’s doch wohl nit sein?“

„Ja, so schlimm ist’s und noch viel schlimmer!“ kam es erregt von Felix’ Lippen. „So weit haben sie mich gebracht hier ... so weit, daß ich da oben steh’ und arbeite wie ein Handwerker.“

Sophie Rapp hatte mit ungewöhnlichem Ernst zugehört. Dann sagte sie mit einem leichten Vorwurf: „Nie sind Sie zu mir gekommen, Herr Altwirth! Haben sich nie blicken lassen bei mir, als ob ich nimmer existiert hätt’ für Ihnen!“

„Das haben Sie auch nicht mehr, gnädige Frau!“ erwiderte Felix leise und mit trotzigem Nachdruck.

Er hatte von Frau Therese Tiefenbrunner vieles gehört über Sophie. So viel, daß er sich beinahe schämte, weil er diese Frau einmal wie eine Heilige verehrt hatte. Und nie war es ihm auch nur entfernt in den Sinn gekommen, sie zu besuchen. Wozu an Vergangenes anknüpfen? Es hatte keinen Zweck, sagte er sich. Nur eine neue Enttäuschung würde es bedeuten und eine neue bittere Erfahrung mehr.

Jetzt, da er dieser Frau gegenüber stand, da sie ihm mit so viel ursprünglicher Heiterkeit und Güte über das Peinliche einer ungewöhnlichen Situation hinweghalf, tauchte in ihm etwas auf von jenem alten Gefühl, das [S. 248] er einst für sie gehegt hatte. Ein Gefühl der Dankbarkeit war es, daß sie ihm eine Demütigung ersparte.

„Das ist ja recht lieb von Ihnen!“ sagte jetzt Sophie lustig nach einer kleinen Pause des Nachdenkens. „Und deswegen sollt’ man Ihnen eigentlich bös sein. Aber ich will ein guter Kerl sein und alles vergessen. Da schlagen’s ein, Herr Altwirth! Aber herzhaft! Drucken’s nur mei’ Hand a bissel! Macht nix, wenn sie schmutzig wird!“ lachte sie, da sie bemerkte, daß Felix in einer gewissen Verlegenheit zuerst auf seine farbenbeklecksten Hände sah und dann auf den tadellos weißen Handschuh, der ihre große, gutgeformte Hand bekleidete.

Nun war das Eis bei Felix gebrochen. Frei und offen, wie er es schon lange nicht mehr getan hatte, sprach er mit Frau Sophie, die ihm teilnahmsvoll zuhörte. Es war merkwürdig ... Sie hatte jetzt auf einmal gar keine Eile mehr. Sie hatte sogar so viel Zeit übrig, daß sie Felix aufforderte, mit ihr ein bissel ins Extrazimmer zu kommen, damit sie doch wenigstens gemütlich miteinander plaudern könnten.

Die beiden Frauen gingen voraus, während Felix sich wusch und seinen Arbeitskittel gegen seinen gewöhnlichen Straßenanzug vertauschte.

Lange saßen die zwei, Felix und Sophie, dann allein nebeneinander. Recht lange. Und gleich einem alten Liebespärchen, das sich plötzlich wiedergefunden hat, plauderten sie und lachten und tuschelten sie wie vor Jahren. Felix erzählte der jungen Frau offen und unverhohlen, wie er es in früheren Zeiten getan hatte. Erzählte von seinem Leid und seinem Groll und von der ganzen Verbitterung, die ihm sein Dasein vergällte.

Mit großen, erstaunten Augen hörte die junge Frau zu. Nachdenklich stützte sie den Kopf in ihre Hand und sagte dann in einem warmen, innigen Ton: „Wenn ich [S. 249] das alles g’wußt hätt’! So viel hätt’ ich Ihnen ersparen können. Wirklich viel!“ fügte sie leise und bescheiden wie entschuldigend hinzu. „Ganz g’wiß! Aber sehen Sie, es geht noch alles! Sie werden’s sehen! Das muß einfach anders g’macht werden!“ erklärte sie in ihrer alten, resoluten Weise. „Das wär’ nit aus! Und wissen’s was, damit fangen wir jetzt gleich an!“ Dann sprang sie plötzlich von ihrem Sitz auf, lebhaft und lustig, und ergriff Felix an beiden Händen. „Jetzt schauen’s mich einmal an! Aber gut!“ forderte sie ihn auf. „G’fall ich Ihnen?“

„Natürlich, gnädige Frau!“ stimmte Felix heiter bei. „Sie gefallen ja jedem!“

„Das will ich aber gar nicht!“ lachte sie und zeigte kokett ihre blendend weißen Zähne, die gegen das tiefe Braun ihrer Gesichtsfarbe ganz besonders abstachen. „Ich will wissen, ob ich recht schön werd’, wenn Sie mich malen tun?“ frug die junge Frau und wiegte sich herausfordernd in den Hüften. „Wissen’s, extra schön, meine ich. Sonst hilft’s nix. Denn nur, wenn Sie mich so schön malen, daß die andern Weiber einen Neid kriegen, dann sind Sie ein g’machter Mann. Sie wissen gar nit, was das ausmacht, wenn die Weiber aufeinander einen Neid kriegen. A jede möcht’ doch die Schönste sein, nit wahr? Und da kommen’s g’laufen zu Ihnen, scharenweis! Und bitten tun’s Ihnen, daß Sie’s nur ja malen tun. Sie werden’s sehen, ich kenn’ meine Leut’!“

Laut und lustig lachte Frau Sophie über ihren Einfall. Dieses Lachen übte auf den Mann, der vor ihr saß, einen solchen Zauber aus, daß er unbedingt mitlachen mußte. Und dann lachten sie beide wie Kinder und hielten sich an den Händen.

Die Wirtin, die wieder einmal in die leere Stube kam, um nachzusehen, schlich leise davon und ging hinaus in die Küche, wo sie es der Köchin erzählte, daß es die [S. 250] Sophie tatsächlich scharf auf die Männer abgesehen habe. Und der Altwirth da drinnen habe schon wirklich Feuer gefangen ...

Mit einem ganz andern Humor und als ein völlig aufrechter Mann kam Felix nach Haus. Glückselig erzählte er Adele von der Begegnung, die er mit der Frau des Rechtsanwaltes gehabt hatte. Er berichtete, daß Sophie Rapp gleich morgen zu ihm kommen würde zur ersten Sitzung, und daß er sich von dem Erfolg dieses Bildes viel für seine Zukunft verspreche.

Ein leises Unbehagen beschlich Adele bei der Erzählung ihres Gatten. Sie wußte es selbst nicht, was es war, und vermochte sich keine Rechenschaft darüber zu geben. Aber es war ihr unangenehm, daß Felix mit Frau Sophie Rapp zusammengetroffen war.

Sie konnte sich nicht darüber freuen. Beinahe wäre es ihr lieber gewesen, wenn Felix sein Handwerk beim Weißen Hahn wieder aufgenommen hätte. So sehr sie sich anfangs dagegen gesträubt hatte und so ungeheuerlich sie es gefunden hatte, so enttäuscht war sie jetzt, als ihr Felix erklärte, daß er der Wirtin „den ganzen Krempel hingeworfen habe“.

„Und der Herr Rat? Was ist’s mit diesem Auftrag?“ fragte Adele leise und beklommen und sah ängstlich auf ihren Gatten.

„Der Rat Leonhard muß eben warten!“ erklärte Felix in festem Ton. „Ich bin jetzt nicht in der Stimmung ihn zu malen. Ein Künstler muß seine Stimmung ausnützen. Frau Doktor Rapp mit ihrer lustigen Art ist jetzt gerade recht für meinen Seelenzustand. Adele, du wirst sie lieb gewinnen, diese Frau. Sie ist wirklich reizend!“ schwärmte er.

Adele Altwirth saß, wie es ihre Gewohnheit war, in weicher Haltung, mit weit nach vorn gebeugtem Oberkörper, und stützte einen Arm auf das Knie. Sinnend [S. 251] sah sie auf den Gatten, und eine unbestimmte, beklemmende Angst bemächtigte sich ihrer. Felix bemerkte es trotz der freudigen Erregung, die ihn beherrschte und in der er sich vollauf nur mit sich selber beschäftigte.

„Du, Adele ... du bist doch nicht etwa eifersüchtig?“ frug er über eine Weile unvermittelt, indem er vor seiner Frau stehen blieb. Er war in dem Wohnzimmer erregt auf und ab gegangen und machte nun ein zufriedenes und erwartungsvolles Gesicht.

Adele schüttelte traurig den Kopf. „Nein, Felix ...“ sagte sie ruhig. „Ich dachte nur ... du weißt, es ist mir peinlich ... ich habe doch schon eine Anzahlung angenommen vom Rat Leonhard.“

„Ja, ja, ja,“ machte Felix ungeduldig. „Immer dieses gewaltsame Herabdrücken! Immer diese graue, graue Stimmung! Dieser Realismus! Diese unerträgliche Nüchternheit! Der Rat wird’s ja hoffentlich noch erwarten können, bis er zu seinem Bilde kommt!“

Adele erwiderte kein Wort mehr. Sie erhob sich lautlos von ihrem Sitz und ging hinaus in den kleinen Garten, wo ihr Töchterchen spielte. Und dann warteten sie beide, Mutter und Kind, und sahen die Anhöhe hinunter, über die der Rat Leonhard heraufkommen mußte ...

Es waren lustige Sitzungen bei dem Maler Altwirth, die nun folgten. Und immer länger dehnten sie sich aus. Ein regelrechter Flirt war zwischen Sophie und dem Maler entstanden. Adele sah es wohl. Sie bemerkte es nicht allein an dem völlig veränderten Wesen ihres Mannes, sondern auch an seinem Eifer, mit dem er bei der Sache war, und an der liebevollen Ausarbeitung des Werkes. Jeder Pinselstrich zeugte von einem eingehenden Studium, zeugte, daß der Künstler sein Bestes geben wollte und sein Bestes gab.

Adele Altwirth wußte es selbst nicht, was sie innerlich so unruhig machte. Denn sie war nicht nur unruhig, [S. 252] sondern in tiefster Seele unglücklich über die täglichen Besuche der jungen Frau Doktor Rapp.

War es Eifersucht? ... Adele Altwirth hatte in dem Wahn gelebt, daß sie über diese Empfindung erhaben sei. Sie hatte bisher mit ihrem Gatten in einem gegenseitigen selbstverständlichen Vertrauen gelebt. Und ihre ruhige Sicherheit fußte zum größten Teil auf der Grundlage einer gewissen Selbstachtung, auf dem Bewußtsein des eigenen Wertes.

Diese Selbstsicherheit hatte nun mit einem Male eine Erschütterung erlitten. Die auffallende Veränderung in Felix, sein ungewöhnlicher Fleiß und sein Schaffensdrang, die Freude und die Lust an seiner Arbeit und die fröhliche, strahlende Art, die sie so lange an ihm vermißt hatte, bewirkten eine zunehmende Angst in Frau Adele.

Felix war jetzt stets lieb und freundlich zu ihr. Sprach viel und hoffnungsfroh und kümmerte sich auch wieder um die kleine Dora, die in den letzten Wochen fast ganz unbeachtet von ihm geblieben war. Das Kind war ihm schon ausgewichen, und nur mit scheuen und etwas verschüchterten Augen hatte sie den Vater betrachtet, der ihr in diesen Wochen so fremd geworden war.

Sophie Rapp und Adele Altwirth wußten wenig miteinander anzufangen. Es war keine Abneigung, die sie einander fern hielt. Aber es war auch kein Gefühl der gegenseitigen Sympathie vorhanden, das eine Annäherung ermöglicht hätte. Adele war jedesmal froh und dankte es Felix, wenn er der höflichen Begrüßung zwischen den beiden Frauen ein rasches Ende zu bereiten suchte.

„Denken’s nur, Frau Altwirth,“ sagte die Sophie einmal, als sie neben der blonden Frau das kleine Atelier betrat, „Ihr Mann hat g’sagt, gleich wie er das Porträt fertig hat, will er mich noch einmal malen. Als Studie!“ [S. 253] lachte sie heiter und sah kokett nach Felix, der schweigend hinter den Damen ging.

Es war ein schönes Bild, diese beiden großen und gut gewachsenen Frauen nebeneinander zu sehen und zu vergleichen. Adele schlank, weich und edel in jeder Bewegung, blond und hell und von ruhigem, sich gleichbleibendem Ernst. Und neben ihr die üppige Gestalt der dunklen Frau, lebhaftig und lustig und feurig, wie erfüllt von verhaltener Glut.

Gerade jetzt nahm Frau Sophie mit lebhafter Gebärde ihren Hut ab. Mit beiden Armen streckte sie sich, dehnte sich, als müsse sie gewaltsam gegen eine Überfülle von Kraft kämpfen, um sie einzudämmen. Hinter ihr stand Felix und wartete darauf, ihr galant den Mantel abzunehmen.

Sein Gesicht war leicht gerötet, und ein vibrierendes Beben zuckte um seinen vollen Mund, als er sich gegen Sophie beugte. Schmiegsam und graziös neigte sich die junge Frau ihm entgegen, sah ihm nur für einen Moment mit einem glühenden Blick in die Augen und wandte sich dann vollständig ruhig wieder Adelen zu.

Adele Altwirth hatte mit klugen, beobachtenden Augen gesehen, und sie erkannte mit einem Male, was der brennende Schmerz, den sie empfand, bedeutete. Sie wußte, es war nicht nur weibliche Eifersucht, sondern die Erkenntnis, daß sie nie in ihrem Leben dieses bebende Zucken um den Mund des Gatten gesehen hatte. Und es wurde ihr klar, daß es heißes, verlangendes Begehren nach dem Weibe war, in dessen lockende Netze er sich verstrickt hatte.

Still und ruhig, aber mit wehwundem Herzen nahm Frau Adele ihr kleines Töchterchen bei der Hand und ging mit ihr fort, weit hinunter über den Berg, fast bis Sankt Nikolaus. Dort trafen die beiden mit dem alten Rat zusammen, den Mutter und Kind nun alle zwei [S. 254] gleich lieb gewonnen hatten. Sie nahmen ihn in ihre Mitte. Das Kind führte ihn bei der Hand, und Adele sprach zu ihm, als wäre der alte, wunderliche Sonderling, der mit verdrießlichem Gesicht, leise und geduckt, den Kopf leicht nach der einen Seite geneigt, einherging, ihr eigener Vater, der beste und einzige Freund, den die junge, blasse Frau besaß ...

In dem kleinen Atelier des Malers Felix Altwirth herrschte indessen eine schwüle Luft. Es war ein einfaches, schlichtes, fast ärmliches Zimmer, das sich Felix als seinen Arbeitsraum eingerichtet hatte. Einige Stühle standen da in künstlerischer Unordnung herum. Bilder und Zeichnungen, flüchtige Skizzen und Entwürfe hingen teilweise an den Wänden, teilweise waren sie in einer Ecke aufgestapelt. Ein Vorhang von hellgelbem, grobem Leinen verdeckte nur den obersten Teil des Doppelfensters. Der Flügel des einen Fensters war geöffnet. Eine laue, weiche Luft wehte herein und bewegte in leichtem Rhythmus den Vorhang.

Noch immer lagerte der Schnee auf Weg und Halde. Aber im Tal hatten die wärmenden Sonnenstrahlen ihn schon da und dort zur Schmelze gebracht. Es tropfte von den Bäumen und Dächern, und die kleinen, braunschwarzen, feuchten Zweige und Äste sahen dunkel und sehnsüchtig aus und reckten sich erwartungsvoll dem nahen Lenz entgegen.

Sophie Rapp saß in einem Lehnsessel in der Nähe des Fensters, leicht und bequem. Es war eine fast liegende Stellung. Ihren rechten Arm hatte die junge Frau als Stütze unter ihren Kopf geschoben, und ihre Augen hielt sie geschlossen, als verspüre sie ein unüberwindliches Ruhebedürfnis. In Wahrheit aber wollte sie mit Ruhe den Eindruck genießen, den sie auf Felix Altwirth machte.

Die einstige Neigung zu Felix war in Sophie wieder [S. 255] mächtig aufgelodert. Sie gab sich auch gar keine Mühe, diese neu erwachte Leidenschaft zu bezwingen. Im Gegenteil freute sie sich darüber wie über eine neue Sensation, nährte ihre Leidenschaft und tat alles, was sie konnte, um die Sinne des Mannes aufzustacheln. Sie wollte ihn reizen, bis er ihr verfallen war. Wie alle die andern, deren Liebe sie ersehnt hatte.

Felix Altwirth kämpfte tapfer gegen den Zauber, mit dem ihn Sophie umgarnte. Und mehr als einmal widerstand er den Lockungen der Sirene. Er wollte sich überwinden und seinem Weibe die Treue halten.

Trotz allen seinen Launen, trotz allen Vorwürfen, mit denen er Adele in schweren Stunden gequält hatte, war er sich ihres Wertes vollkommen bewußt. Hing mit achtungsvoller Liebe an ihr. War ihr dankbar für die Nachsicht, die sie mit ihm hatte.

Jedoch mit der sensibeln Empfänglichkeit des Künstlers war Felix Altwirth schon in ganz kurzer Frist dem Sinnenreiz erlegen, den Frau Sophie Rapp auf ihn ausströmte. Ihre Gegenwart wirkte auf ihn wie schwerer Wein, der ihm die Sinne zu umnebeln drohte.

Sie fühlte sein Beben und wußte, daß er sich nur mit dem Aufgebot seiner ganzen Kraft bezwang, um sie nicht an sich zu reißen. Und je stärker er sich zeigte, desto heißer entflammte sie, desto mehr begehrte sie ihn zu besitzen.

Es war ein stummer Kampf zwischen den beiden. Ein Kampf, in dem das Weib mit Bestimmtheit wußte, daß der Mann unterliegen würde ...

Wie Frau Sophie jetzt nachlässig in dem Lehnstuhl saß, öffnete sie ab und zu leicht die Augen und sah hinüber zu dem Manne, der anscheinend ganz vertieft in seine Arbeit war und nur den prüfenden Blick des Künstlers für sie übrig hatte. Aber Sophie sah die hektische Röte in seinem Gesicht und sah die leise bebenden [S. 256] Lippen, die er fest wie im Schmerz aufeinander preßte. Seine großen blauen Augen leuchteten in unnatürlichem Glanz, und das Herz klopfte ihm zum Zerspringen.

Da plötzlich dehnte sich Sophie langsam und müde. Dehnte die halb entblößten, vollen Arme und reckte ihre Glieder weich und biegsam und mit den geschmeidigen Bewegungen eines schönen Raubtieres.

„Ach, Felix, wenn nit Sie’s wären ...“ sagte sie dann träge, „ich tät’ wirklich nit so lang da herhalten. Es wird wirklich schon a bissel fad’. Gehen’s, kommen’s zu mir da her a bissel! Gönnen’s mir a Ruh!“ bat sie mit leiser Stimme.

Felix warf seinen Pinsel beiseite und kam zögernd näher.

„Wir müssen das Licht ausnützen, gnädige Frau ...“ sagte er stockend und sah sie mit unsicherem Blick an.

„Ja, freilich! Ich weiß schon.“ Sophie tat, als ob sie schlafen wollte, und schloß die Augen. Dann sagte sie weich: „Ich will auch gleich wieder brav sein. Nur ein bissel plauschen!“ bat sie. „Ich schlaf’ sonst ein.“

Felix holte sich einen Hocker, den er in der Nähe stehen hatte, und setzte sich in einiger Entfernung der jungen Frau gegenüber.

Da richtete sich die Sophie empor, sah Felix mit einem seltsam aufleuchtenden Blick in die Augen und lächelte. „Daß Sie mir ja nicht zu nahe kommen ...“ sagte sie fast flüsternd.

Der laue Wind vom offenen Fenster her bewegte das weiße Spitzengeriesel, das den Ausschnitt ihres Kleides leicht verhüllte. Sie trug ein hellblaues Seidenkleid, das Hals und Nacken offen ließ. In feinem Farbenton vermischte sich das zarte Blau mit ihrer sametweichen braunen Haut.

Felix Altwirth biß sich auf die Lippen. Sophie sah, [S. 257] wie er leicht die Farbe wechselte. Sie lehnte sich noch behaglicher zurück, wandte ihm ein wenig ihr Gesicht zu und schloß dann abermals die Augen.

„Felix ...“ sagte sie leise über eine Weile.

Der Maler hatte die Blicke gewaltsam auf den Boden gerichtet, um sie nicht ansehen zu müssen.

„Gnädige Frau!“

„Wie wollen Sie mich denn dann eigentlich malen? Dann ... wissen Sie, wenn dieses Bild fertig ist.“ Sie legte eine eigene Betonung auf das Wort „dann“.

„Ich will Sie gar nicht malen!“ stieß Felix erregt hervor. Seine Stimme erschien ihr etwas heiser.

„So? ...“ sagte Sophie mit einem raschen Blick auf Felix.

„Ich kann Sie nicht malen. Ich ...“

„Nicht, Felix? ...“ frug sie weich.

„Nein!“ kam es rauh zurück.

„Felix! ...“ bat das Weib, und ihre Stimme hatte einen schmelzenden Klang. „Und wenn ich Sie bitte, wenn ich ...“

„Sophie ... spiel’ nicht mit mir!“ sagte der Maler drohend. Er hatte sich, seiner Erregung kaum mehr mächtig, erhoben und war wieder zu seiner Staffelei gegangen.

Auch Sophie war von ihrem Sitz aufgesprungen. Blitzartig, wie eine Natter, schnellte sie empor und hinüber zu dem Mann. Mit festem Druck ergriff sie seine beiden Hände. Sie drängte sich an ihn ... so nahe, daß ihr heißer Atem ihm wie eine verzehrende Flamme entgegenschlug. Ihre Augen senkten sich verlangend in die seinen, und ihr üppiger, nach Küssen lechzender Mund näherte sich dem seinen.

„Ich spiel’ nit mit dir, Mann!“ stieß sie erregt hervor. „Ich liebe dich!“

[S. 258]

„Sophie!“ Wie ein Schrei kam es über die Lippen des Mannes. „Sophie!“

„Felix!“

„Du ... du ...“ stöhnte er.

Da umschlang sie ihn mit ihren kräftigen Armen.

„Ich hab’ dich ja gern ... du ...“ jubelte sie. „So gern!“

Seiner Sinne nicht mehr mächtig riß Felix Altwirth das Weib mit so rasender Glut an sich, daß es aufschrie vor Schmerz.

Sophie küßte ihn in wilder, gieriger Freude. Und unter seinen ungestümen Küssen, die ihr fast weh taten, flüsterte sie keuchend: „Ich hab’ dich lieb, Felix! Noch nie hab’ ich einen Mann so gern gehabt.“ Die Glut ihrer Leidenschaft loderte auf ihn über. Entfesselte seine Sinne, wie sie niemals entfesselt worden waren ...

Nun folgten selige Wochen für Felix und Sophie. Ein schönes, mächtiges Gefühl zufriedenen Glückes erfüllte den Künstler. Wie in einem Taumel lebte er. Lebte nur für Sophie und in Sophie. Sie war sein ganzes Denken und Empfinden, sein Begehren und seine Leidenschaft. Und in diesem Gefühl, das ihn zur höchsten Arbeitskraft anspornte, schuf er, wie er noch nie geschaffen hatte in seinem Leben.

Gleich einer Siegerin, stolz und frei und glückselig betrat Frau Sophie Rapp jetzt täglich am frühen Nachmittag das kleine Häuschen droben bei der Weiherburg. Auch in ihr war eine Wandlung vorgegangen. Was sie zum Spiel angezettelt hatte als einen neuen Zeitvertreib, das ergriff sie nun übermächtig. Erweckte ein neues, nie gekanntes Gefühl in ihr und erfüllte sie mit stillem, seligem Glück.

In dem Egoismus der Glücklichen, die nur noch für einander lebten, achteten Felix und Sophie nicht darauf, daß Adele und ihr Töchterchen jetzt stets das Haus verlassen hatten, noch ehe Sophie zu Besuch kam.

[S. 259]

Die einsame blonde Frau begleitete nun oft stundenlang den alten Rat Leonhard auf seinen stillen Wegen. Er sprach nicht viel mit ihr, der alte Herr. Aber er gab sich alle Mühe, gut und freundlich zu sein. Es berührte ihn ganz eigentümlich, daß er, der wunderliche alte Junggeselle, in dem Leben eines andern Menschen noch so viel bedeuten sollte. Er fühlte es, daß er der jungen, fremden Frau ein Halt geworden war. Der einzige Halt in ihrer Not.

Ruhig und anscheinend zufrieden schritt die hohe blonde Frau neben dem kleinen alten Herrn. Sie achtete nicht auf seine Schrullen, tat, als bemerke sie dieselben gar nicht. Sie war nur zufrieden darüber, daß sie einen Menschen gefunden hatte, schweigsam wie sie selber war und doch voll warmer, echter Teilnahme.

Adele erzählte dem alten Herrn nichts von den täglichen Besuchen der Frau Sophie Rapp, und sie sprach ihm nichts von dem Kummer, der sie drückte. Nur einmal sagte sie ihm, daß sie daran denke, fortzuziehen. Sie und die kleine Dora. Fort nach München. Sie würde sich glücklicher fühlen in der alten Heimat, meinte sie.

Da blieb der Rat Leonhard plötzlich stehen auf seinem Weg und stieß die Spitze des grauen Regenschirmes heftig in die von der Sonne erweichte Erde.

„So? Fort wollen Sie?“ fragte er, und sein Gesicht bekam einen ganz verbissenen Ausdruck. „Davonlaufen!“ Er sah die junge Frau scharf an. „Davonlaufen ist keine Kunst. Das kann a jed’s. Aber aushalten, das ist die Kunst. Das kann nit a jed’s!“

Adele Altwirth war noch ein wenig bleicher geworden, als sie sonst war. Sie wußte es nun, der alte Herr erwartete von ihr, daß sie um ihres Kindes willen bei dem Gatten bleibe. Nicht ihr Glück stellte er voran, sondern das Glück des Kindes.

[S. 260]

Der Rat Leonhard hatte ihr öfters aus den Erfahrungen seiner gerichtlichen Praxis erzählt. Sie kannte die hohen moralischen Anforderungen, die er an ernste Menschen stellte. Für ihn gab es nur eines: die Pflicht, Pflichterfüllung bis zum äußersten.

„A Kind, das ohne Vater aufwachst, ist für die Gesellschaft halb verloren!“ hatte er einmal gesagt. „Es braucht den Vater und die Mutter. Der Zusammenhang muß da sein. Sonst ist’s g’fehlt.“

Nach reiflicher Überlegung mußte Adele dem alten Rat beistimmen. So sehr sich auch ihr Innerstes aufbäumte, so sehr sie sich gedemütigt und entehrt fühlte, sie mußte aushalten ... aushalten um ihres Kindes willen.

Schlussvignette, Kapitel 13

[S. 261]

Vierzehntes Kapitel.

D ie materielle Lage bei den Altwirths hatte sich schon nach ganz kurzer Zeit gebessert. Sophie Rapp hatte recht behalten. Das Porträt, das Felix von ihr gemalt hatte, war zur Ausstellung gekommen und fand bei der Kritik und beim Publikum so viel Beifall, daß es seinem Schöpfer gleich einige neue Aufträge brachte.

Daß das alles so rasch gegangen war, dazu hatte allerdings Sophie das Wesentlichste beigetragen. Sie verstand es meisterhaft, eine Sache zu vertreten, deren sie sich einmal angenommen hatte.

So sprach sie neben andern auch mit Max Storf und äußerte ihm den dringenden Wunsch, daß er und seine Frau sich gleichfalls bei Felix malen ließen. Nicht ohne Ironie fragte sie der Arzt, woher denn plötzlich ein so reger Kunstsinn bei ihr komme?

„Das will ich dir schon sagen!“ hatte die Sophie ihm ohne die geringste Verlegenheit geantwortet. „Ich versteh’ nix von Kunst. Da hast recht!“ meinte sie. „Aber was ich versteh’, ist das, daß man einem Menschen aufhelfen soll, wenn er strebsam ist, nicht ihn noch niederdrücken!“

Max Storf war mit dieser Antwort zufrieden. Er lebte noch zu sehr unter dem Einfluß dieser Frau, als daß er ihr einen Wunsch hätte versagen können. Noch dazu, wo es sich um eine so vernünftige Sache handelte. Der Argwohn, der in ihm aufgetaucht war, verlor sich rasch wieder.

Der Arzt glaubte nicht an die unbedingte Treue von Sophie. Er verlangte sie auch nicht. Er wußte genau, daß es wider ihr Naturell war, einem Manne Treue zu halten. Er liebte sie, hing an ihr, weil sie ihm das bot, was er so lange entbehrt hatte. Mehr wollte er nicht von ihr und gab ihr auch nicht mehr.

[S. 262]

Sophie hatte dem Arzt alles, was sie von Felix Altwirth wußte, erzählt. Und Max Storf fühlte ein gewisses Schuldbewußtsein gegen den einstigen Freund, um den er sich in den letzten Jahren so gut wie gar nicht mehr gekümmert hatte. Er empfand es nun als eine Ehrensache, den Künstler wenigstens jetzt überall zu fördern, wo er konnte. So kam es, daß sich nicht nur der Arzt und dessen Frau, sondern auch seine Verwandten und Bekannten bei dem plötzlich in Aufnahme geratenen Maler um ein Porträt bewarben.

Felix Altwirth hatte bald so viel zu tun, daß ihm sein bescheidenes kleines Atelier nicht mehr genügte und er sich nach einer größeren Wohnung umsehen mußte. Die neue Wohnung müsse elegant und schön sein, riet ihm Sophie. Denn nur dann könne er darauf rechnen, daß ihm die Gunst des Publikums erhalten bleibe.

„Weißt, Felix, jetzt geht’s ja. Jetzt kommst du in die Mode. Das muß ausgenützt werden. Ich kenn’ meine Leut’. Wenn die merken, daß du noch immer ein armer Teufel bist, dann ziehen sie sich zurück von dir. Aufdrahn heißt’s da! Zeigen, daß du zu an Geld kommen bist!“

Sophie hatte recht geraten. Mit dem Einzug in das neue Heim kehrte auch der Wohlstand bei den Altwirths ein. Aber nicht das Glück. Wenigstens nicht für Frau Adele. Sie blieb die einsame, fremde Frau, die sie stets gewesen war. Und blieb es jetzt durch ihre eigene Schuld.

Die Damen der Gesellschaft, die nun nach und nach alle zu Felix Altwirth kamen, um sich von ihm malen zu lassen, waren wie umgewandelt in ihrem Benehmen gegen des Künstlers Frau. Adele empfand jedoch keine Zuneigung zu den Frauen, die sie einmal aus ihrem Kreis gestoßen hatten. Jetzt wollte sie nicht mehr eine von ihnen sein, wollte allein bleiben und nur sich und ihrem Kinde leben.

[S. 263]

Mit der Familie des Doktor Storf hatte sich in dieser Zeit wieder ein mehr herzlicher Verkehr angebahnt. Die kleine Dora kam oft, um mit Fritz und Klara, den beiden Kindern des Arztes, zu spielen. Dadurch kamen auch die beiden Frauen einander näher und lernten sich besser kennen, als bei den kühlen Anstandsbesuchen, die sie früher einander abgestattet hatten. Frau Adele fühlte es, daß sie in der kleinen verschüchterten Arztensgattin eine Leidensgefährtin besaß.

Freundliche Menschen hatten es Frau Hedwig zugetragen, daß ihr Gatte sie mit der Frau des Advokaten Rapp hinterging. Und ihre Schwester, die Frau Baurat Goldrainer, war mit aller Energie bei dem Arzt vorstellig geworden. Das hatte den Erfolg gehabt, daß Doktor Storf sich jede Einmischung in seine Privatangelegenheiten verbat und drohte, mit den Verwandten seiner Frau gänzlich zu brechen, wenn so etwas noch einmal geschehen sollte.

Frau Goldrainer hatte der ruhige Ernst ihres Schwagers einen ganz gewaltigen Respekt eingeflößt. Am meisten imponierte es ihr, daß sich Max gar nicht aufs Leugnen verlegte. Ihr eigener Mann pflegte in solchen Fällen stets so lange zu lügen, bis er überführt war. Da Max Storf gar keinen Versuch zu seiner Rechtfertigung unternahm, war die Frau Baurat fast geneigt zu glauben, daß alles wirklich leeres Gerede von den Leuten sei.

Schließlich hatte man bis jetzt weder den Arzt noch Sophie ertappen können. Kein Mensch hätte es beschwören können, ob die Beziehungen, in denen diese beiden zueinander standen, mehr als ein bloßer Flirt waren.

In diesem Sinne sprach die Frau Baurat auch zu ihrer Schwester. Sie sprach gut zu ihr und vernünftig. „Weißt Hedwig,“ meinte sie, „mach dir nix draus, wenn er auch a bissel außigrast, dein Mann. Solang er gut ist mit dir [S. 264] und den Kindern, geht’s schon. Laß ihm jetzt sei’ Ruh’! Er kommt schon wieder zu dir z’rück. Kümmer’ dich nit!“ riet sie ihr. „Was du nit weißt, macht dir nit heiß.“

Die Frau Baurat sprach aus dem Schatze einer reichen Erfahrung, nur daß sie jene Weisheit, die sie jetzt der Schwester vortrug, selber nicht befolgt hatte. Aber auch Frau Hedwig tat nicht, wie ihr die Schwester riet.

Etwas wie Eifersucht war in der kleinen Frau rege geworden. Jetzt, nachdem sie den Gatten verloren hatte, nachdem sie es wußte, daß er nicht mehr ihr, sondern einer andern zu eigen war, empfand sie den brennenden Schmerz eines erlittenen schweren Unrechtes. Sie forschte nicht der Ursache nach, die Max Storf in die Arme einer andern Frau getrieben hatte. Sie dachte nicht mehr an sein ehrliches Streben, ihr nahe zu kommen, sondern sie fühlte nur die Kränkung, die für sie in seiner Untreue lag.

Und aus diesem Gefühl heraus tat sie wiederum das Gegenteil von dem, was sie hätte tun müssen. Sie verfolgte den Gatten mit ihrem Argwohn. Sie schlich ihm nach, heimlich in der Nacht, bis an die Villa des Rechtsanwaltes. Dort sah sie, wie er durch die unverschlossene Gartentür ging, wie die Haustür leise von innen geöffnet wurde und sich hinter ihrem Gatten ebenso unhörbar wieder schloß ...

Nun hatte Frau Hedwig die Gewißheit, und sie trug ihr Leid nicht aufrecht und schweigend wie Adele Altwirth, sondern weinte um ein Glück, das sie in Wahrheit nie besessen hatte.

Aus der schüchternen kleinen Frau Hedwig war eine schwermütige Kranke geworden. Und wie eine Kranke behandelte sie auch ihr Gatte. Er hörte geduldig und mit Nachsicht auf ihre Klagen und auf die sich fortwährend wiederholenden bitteren Vorwürfe. Hörte sie [S. 265] an ohne Widerrede, wie der Arzt die Stimmungen seines Patienten erträgt.

Max Storf ließ sich nicht auf Erörterungen ein. Er wußte, daß sie zu nichts anderem führen würden, als zu peinlichen Auftritten. Frau Hedwig aber weinte ... weinte und litt. Sie sehnte den Tod herbei, der sie von einem Leben befreien sollte, das für sie nie einen wirklichen Wert gehabt hatte.

Einmal war es zur Aussprache gekommen zwischen Hedwig und Adele. Das geschah, als Adele die kleine Dora vom Spiel abholte. Da traf sie wie jetzt fast immer die Arztensfrau mit verweinten und ganz verschwollenen Augen.

Mit warmem Mitleid ergriff Adele die Hand der kleinen Frau und drückte die zarte Gestalt mit sanfter Energie auf die weichen Kissen einer Ottomane, die in dem behaglich eleganten Wohnzimmer des Arztes stand. Dann setzte sie sich neben Hedwig. Der matte Schein einer großen Hängelampe, die mit einem rosafarbenen Seidenschirm verhüllt war, fiel auf die blassen Gesichter der beiden Frauen. Färbte ihre Wangen mit zartem Rot, machte das fahle Gesicht Frau Hedwigs lebhaft und milderte die ernsten, fast strengen Züge der blonden Adele.

„Frau Hedwig,“ fing Adele nun mit ihrer vollen, weichen Stimme zu reden an, „ich will nicht aufdringlich sein, will Sie nicht fragen um den Kummer, der Sie drückt. Aber ich will und muß einmal reden mit Ihnen. So oft ich Sie sehe, haben Sie verweinte Augen. Immer weinen Sie. Das ist nicht recht! Und mag Ihr Leid auch noch so groß sein, Frau Hedwig, glauben Sie mir, auch das schwerste Leid gibt Kraft, macht stark! Man kann es tragen, wenn man nur will.“

Hedwig Storf hatte bei der Rede Adelens leise und still in sich hinein geweint und ihr Gesicht mit beiden Händen verdeckt.

„Ich kann mir nicht helfen!“ sagte sie jetzt schluchzend. [S. 266] „Ich muß weinen, es drückt mich so! Wie eine Zentnerlast drückt’s mich!“ gestand die kleine Frau zaghaft.

„Was drückt Sie so?“ frug Adele und fuhr ihr mit leichter Hand über das dunkle Haar.

Es lag etwas mütterlich Liebkosendes in der Art, wie sie die kleine, schüchterne Frau zu trösten versuchte. Sie hatte das bestimmte Gefühl, daß es Frau Hedwig gut tun würde, wenn sie sich einmal aussprechen könnte. Und deshalb frug sie.

Hedwig schluchzte laut auf. „Es ist das Schlimmste, das eine Frau treffen kann, wenn der Mann keine Lieb’ nit hat!“ stieß sie erregt hervor.

„Hat er das nicht, Frau Hedwig?“ frug Adele weich.

„Nein!“ Hedwig schüttelte traurig den Kopf. „Die andere, die Sophie Rapp, die Person ...“ fing sie jetzt in krankhafter Erregung zu schimpfen an, „die ist’s! Ich hab’ ihn selber zu ihr gehen sehen. Ich ...“

Da nahm Adele die Hand der kleinen Frau tröstend in die ihrige. Die beiden so ungleichen Frauen saßen jetzt ganz eng aneinander gedrückt. Hedwig blaß und schüchtern und trostsuchend. Die andere gerade und aufrecht, selbstbewußt und voll Würde. Eine lange, lange Pause entstand. Keine der beiden Frauen sagte ein Wort. Und so still war es in dem dämmerig beleuchteten Zimmer, daß es Hedwig vorkam, als könnte sie von der Frau, die ihr zur Seite saß, den lauten, kräftigen Schlag des Herzens hören.

Da plötzlich frug Adele, und ihre Stimme klang leise, fast flüsternd: „Glauben Sie, daß nicht auch andere Frauen das gleiche Leid erdulden müssen?“

Frau Hedwig sah erstaunt zu ihr auf.

„Sie sagen das so seltsam, Frau Altwirth ...“ sprach sie. Dann über eine Weile fuhr sie nachdenklich fort: „Ich hab’ g’hört ... sollt’ es wahr sein ... daß die Frau Rapp ...“ Mit großen, fragenden Kinderaugen sah sie [S. 267] zu der blonden Frau auf. „Aber das kann ja nit wahr sein. Da müßten Sie ja schrecklich unglücklich sein!“ sagte Hedwig naiv.

Und wieder herrschte tiefes Schweigen in der dämmerigen Stube.

„Wer sagt Ihnen, daß ich es nicht bin?“ frug Adele kaum hörbar.

„Ja ... aber ... aber ...“ stotterte Frau Hedwig verwirrt. „Ich begreif’ nit ... Ich begreif’ Sie nit ...“

„Begreifen nicht, daß ich nicht auch weine und mich aufreibe wie Sie?“ sagte Adele mit wehmütigem Lächeln. „Nicht wahr?“

Frau Hedwig nickte stumm und sah noch immer ganz verwundert und bekümmert zu der andern empor.

„Weil ich mehr Lebensmut besitze, als Sie, Frau Hedwig!“ fuhr Adele in bestimmtem Ton fort. „Mehr Mut und ... verzeihen Sie ... mehr Stolz!“

„Stolz?“ frug Frau Storf verständnislos.

„Ja, auch das merken Sie sich, Frau Hedwig! In dem Augenblick, wo die Frau aufgehört hat, für den Mann als Weib zu existieren, in jenem Augenblick muß ihre Würde einsetzen. Man weint und bettelt nicht um eines Mannes Liebe. Man trägt es ... fügt sich drein, und dann steigt man im Wert. Und das ist auch etwas, Frau Hedwig! Glauben Sie mir!“

Frau Hedwig Storf ließ ihr zierliches, schön geformtes Köpfchen hängen. Wie ein kleines, trauriges Vogerl, so kam sie der jungen blonden Frau vor. Es war etwas Rührendes, kindlich Vertrauensvolles in dem Wesen der kleinen Frau, als sie zu Adele aufblickte in stummer Bewunderung.

Sie konnte den Sinn der Rede nicht ganz erfassen. Dafür war sie innerlich zu unklar und zu verwirrt. Aber fortwährend hatte sie nur den einen Gedanken ... wenn die Sophie wirklich den Maler Altwirth liebte, dann ... [S. 268] dann ... konnte doch noch alles gut werden in ihrer Ehe. Dann konnte ihr eigener Mann wieder zurückfinden zu ihr. Dann ... Und aus diesem Gedankengang heraus bat sie jetzt Adele, sie möge die Vermittlerrolle übernehmen zwischen ihr und dem Gatten.

„Denn wissen’s, Sie sind g’scheit. Sie packen die Sach’ sicher besser an wie meine Schwester ...“ bat sie leise.

Es lag so viel vertrauensvolle Zuversicht in ihrer Bitte, daß Adele nicht ablehnen mochte. Sie freute sich über den guten Erfolg, den ihre Worte bei der jungen Arztensfrau gehabt hatten. Und sie bemerkte es auch mit Befriedigung, daß Frau Storf von jener Zeit an mehr an sich hielt und viel ruhiger und gefaßter wurde ...

Frau Adele Altwirth zerbrach sich nicht lange den Kopf darüber, auf welche Art sie die übernommene Mission zur Ausführung bringen sollte. Sie überließ es dem Zufall. Der würde ihr schon helfen.

Felix Altwirth und Max Storf waren einander auch etwas näher gekommen. Der Arzt suchte den ehemaligen Jugendfreund auf, so oft er konnte. Er zeigte sich bei jeder nur möglichen Gelegenheit öffentlich mit ihm und versuchte es redlich, das alte, innige Freundschaftsverhältnis, das die beiden einmal vereint hatte, wieder herzustellen.

Aber trotz aller Bemühungen schien es, als ob der Riß, den diese Freundschaft erlitten hatte, nicht wieder gut zu machen sei. Felix konnte es nicht verwinden, daß auch Storf zu jenen gehört hatte, die ihn in den Zeiten der Not ruhig seinem Schicksal überließen. Dann war noch ein Grund vorhanden, der ein vollständiges Vertrauen bei Felix nicht aufkommen ließ. Und dieser Grund war Sophie.

Max Storf hatte sich in seinem Innern schon längst damit abgefunden, daß er nicht der einzige war, der sich Sophiens Gunst erfreuen durfte. Ihm war es [S. 269] gleichgültig, ob Felix oder ein anderer ihre Liebe genoß. Er hegte deshalb auch keinen Groll gegen Felix, und Sophie war rasch in seinen Gedanken vollständig ausgeschaltet, wenn er sich in Gesellschaft des Malers befand.

Bei Felix Altwirth jedoch stand die Sache anders. Er wußte es noch immer nicht mit Bestimmtheit, wie die Beziehungen zwischen Sophie und Max Storf eigentlich beschaffen waren.

Als er Sophie einmal deswegen zur Rede stellte, lachte sie ihn aus. „Aber Felix, Schatz! Was glaubst du denn? Jetzt, wo ich dich hab’!“ sagte sie und nestelte sich zärtlich an ihn. „Da gibt’s doch überhaupt keinen andern Mann mehr für mich auf der Welt!“ log sie ihm dreist ins Gesicht.

Felix jedoch, der mißtrauisch geworden war, gab nicht nach. Für ihn war Sophie bald wieder zu jenem hohen Ideal geworden, das sie in seinen Jugendjahren gewesen war. Er hörte wohl das Gerede der Leute. Aber alles in ihm sträubte sich, daran zu glauben. Nur ab und zu tauchten Zweifel über ihre Treue in ihm auf. Der Gedanke, daß dieses Weib, das er mit so verzehrender Glut liebte, auch einem andern zu eigen sein könnte, machte ihn rasend.

„Du darfst niemandem gehören, Sophie, nur mir!“ forderte er im drohenden Tone. „Ich ertrag’s nicht. Hörst du?“

„Aber Schatz!“ lachte die Sophie ausgelassen. „So eifersüchtig bist du! Da könnt’ man sich ja völlig fürchten vor dir!“ sagte sie schmeichelnd und zog ihn mit sanfter Gewalt zu sich nieder.

In dem Atelier des Malers standen jetzt weiche Polstermöbel, tiefe Lehnsessel, in die man sich versenken konnte. In einem dieser wohlig weichen Sessel hatte Sophie Platz genommen und Felix zärtlich zu sich gezogen, so daß er vor ihr auf den Knien zu liegen kam. Dann bettete [S. 270] sie seinen Kopf in ihren Schoß und zauste ihm mit ihren beiden Händen spielerisch das volle blonde Haar.

Felix machte sich gewaltsam los von ihr. „Fürchten, ja, das kannst du dich auch, wenn ...“ rief er leidenschaftlich.

„Wenn? ...“ frug sie innig und hielt ihm ihre vollen Lippen zum Kusse hin.

„Weib!“ sagte Felix schwer atmend. „Du ... du hast mich ja ganz in deiner Hand! Du ...“

Sophie hielt nun den Kopf des Malers in ihren Armen, so daß er das erregte Klopfen ihres Herzens hören konnte.

„Ich mach’ mit dir, was ich will ...“ sagte sie leise und flüsternd. „Du bist mein ... ganz mein!“ Fest und innig hielt sie den Mann umschlungen und küßte ihn lange und mit heißer Glut.

Völlig betäubt erhob sich Felix über eine Weile. Er hatte das bestimmte Gefühl, Wachs zu sein in den Händen dieses Weibes ... alles tun zu müssen, was sie wollte ... als Sklave ihrer Liebe, als ein unfreier Mensch in seinen Handlungen.

„Sophie, spiel’ nicht mit mir ...“ bat er sie jetzt fast schüchtern. „Es könnt’ ein Unglück geschehen. Du bist mir alles! Mein Gott und mein Schicksal! Mein Leben und meine Kunst!“

Und Sophie verstand es, ihn so zu beruhigen, daß er alle seine Zweifel über Bord warf und auf ihre Treue geschworen hätte.

In den Stunden, in denen sich Felix der Verwirklichung seiner großen Arbeiten widmete, da war es immer und immer wieder Sophie, die ihm den Ansporn gab. Sie war ihm Modell geworden. Ohne sie konnte er sich keines seiner Werke denken.

Er malte sie so, wie er sie kannte. Ihre Glut, ihre Leidenschaft und die Rätsel ihres Wesens, die sie ihm auferlegte, alles fand sich in seinen Studien wieder. [S. 271] Und wenn er eine blonde, helle Frau malte, so gab er den Augen die zehrende, verlockende Sehnsucht ihres Blickes. Es war sie, ihr Körper, ihr Gesicht und ihre Seele, die ihn stets aufs neue fesselten ...

Doktor Storf war wieder einmal zu Felix gekommen und hatte diesen nicht angetroffen. Das Dienstmädchen führte ihn, wie sie das stets zu tun pflegte, in das Atelier des Malers. Herr Altwirth müsse bald kommen, sagte sie.

Der Arzt hatte Platz genommen und blätterte interessiert in den zahlreichen Skizzenbüchern, die verstreut auf den Tischen herumlagen. Max Storf sah, daß es fast durchwegs dieselbe Frauengestalt war, die den Künstler begeistert hatte. Er glaubte diese Frau gut zu kennen, und unwillkürlich mußte er lächeln über die schwärmerische Bewunderung für sie, die ihm aus den künstlerischen Entwürfen entgegenglühte.

Max Storf saß bequem mit übereinander geschlagenen Beinen in einem der weichen Polsterstühle und hatte sich so sehr in ein Skizzenbuch vertieft, daß er es gar nicht bemerkte, wie Adele Altwirth schon seit einiger Zeit das Atelier betreten hatte und ihn mit ruhigem Blick beobachtete.

Als er zufällig aufschaute, sah er die junge Frau in der Mitte des Raumes stehen. Der fahle Schein des Tageslichtes fiel durch die hohen Fenster, fiel auf ihre schlanke Gestalt und ließ ihr weiches, aschblondes Haar hell aufleuchten.

Adele Altwirth trug ein schlichtes, weißes Kleid, das, so einfach es auch war, doch so sonnig und freudig wirkte, daß Doktor Storf einen Augenblick wie geblendet auf die junge Frau starrte. Dann erhob er sich leicht verwirrt, um sie zu begrüßen.

Frau Adele und Doktor Storf kannten sich nur ganz flüchtig. Wenn sie sich sahen, war die Begegnung bloß [S. 272] oberflächlich gewesen. Max Storf hatte sich auch nie sonderlich für die junge Künstlersfrau interessiert. Sie war ihm zu ernst und zu gemessen. Er liebte nicht die stolze Würde bei den Frauen. Seiner Ansicht nach sollten die Frauen heiter sein; denn sie waren dazu ausersehen, den Ernst des Mannes mit ihrem Frohsinn zu vertreiben.

Auch Adele hatte für den Arzt erst seit ihrer Unterredung mit Hedwig mehr Interesse gewonnen. Und eingedenk der Zusage, die sie Hedwig gegeben hatte, wollte sie jetzt die Gelegenheit benützen, um mit Doktor Storf zu sprechen. Vielleicht würde ein solcher Anlaß nicht so bald wiederkehren.

Sie trat mit raschem, leichtem Schritt auf den Arzt zu und bat ihn, Platz zu behalten, Felix müsse jeden Augenblick kommen, versicherte sie. Einstweilen müsse Max Storf sich eben mit ihrer Gesellschaft begnügen.

Ein feines Lächeln begleitete ihre Worte. Adele erriet es mit dem sichern Empfinden der sensitiven Frau, daß Max Storf nicht viel von ihr hielt. Daher lächelte sie jetzt, da sie seinen verwunderten Blick bemerkte, und dieses ironische Lächeln verwirrte den Arzt und machte ihn unsicher in seiner Haltung gegen sie.

Mit erzwungener Höflichkeit, die nicht ohne Verlegenheit war, sagte er daher: „Aber ich bitte, gnädige Frau, es ist mir doch eine Auszeichnung.“

Adele lehnte sich leicht in den Stuhl zurück, auf dem sie sich ihrem Gast gegenüber niedergelassen hatte, und meinte in gleichgültigem Ton: „Ich habe Sie eigentlich bei einer großen Unterhaltung gestört, Herr Doktor. Nicht wahr? Sie sahen vorhin so vergnügt aus, als ich ins Atelier kam.“

Max Storf schaute überrascht zu der jungen Frau hinüber, und sein schönes, stark gebräuntes Gesicht verfinsterte sich für einen Augenblick.

„Wie meinen gnädige Frau?“ frug er höflich. Er [S. 273] hatte ein unbehagliches Gefühl, als ob sich Adele über ihn lustig machen wollte.

„Ich meine, daß Sie das Original dieser Studien eigentlich gut kennen müßten ...“ steuerte nun Adele geradewegs auf ihr Ziel los.

„Allerdings, die meisten dieser Damen scheinen Bekannte zu sein ...“ antwortete Storf ausweichend.

„Scheinen, Herr Doktor? Nur scheinen ...“ fragte Adele mit leisem Spott.

Doktor Storf hatte sich ärgerlich erhoben und machte ein paar Schritte gegen eines der beiden Fenster, das offen stand.

Die schöne Wohnung der Altwirths lag jetzt droben in Wilten, in der Nähe der beiden großen Kirchen, deren ernstes Glockengeläute Adele damals in den ersten Tagen ihres Innsbrucker Aufenthaltes so traurig gestimmt hatte. Von den beiden Fenstern des geräumigen Ateliers hatte man den Blick auf einen großen, parkähnlichen Garten und über die Bäume der Gärten hinweg auf das Mittelgebirge mit seinen dichten Bergwäldern, verstreuten Wiesen und Häusern und auf den dicken, behaglichen Kugelkopf des Patscherkofels.

Max Storf sah hinaus auf die kleine Straße, die unten vor dem Park vorüber führte. Dann wandte er sich plötzlich um und richtete seinen forschenden Blick auf Frau Adele ... Was wollte diese Frau eigentlich von ihm? Warum machte sie sich lustig über ihn? ... frug er sich selbst in unangenehmer Stimmung.

„Sie kennen Frau Doktor Rapp doch sehr gut ...“ fuhr Adele nach einer Weile ungezwungen zu plaudern fort. „Und sie ist so unverkennbar in allen diesen Skizzen, so meisterhaft in der Wiedergabe ...“

„Ja, meisterhaft ist das richtige Wort!“ stimmte jetzt Doktor Storf eifrig bei. Er war froh, daß er einen Ausweg gefunden hatte, um sich geschickt aus der Affäre zu [S. 274] ziehen. „Ganz richtig, es ist seltsam, wie viele feine Details Felix an dieser Frau entdeckt hat. Mit ganz andern Augen sieht man sie da auf einmal ...“

„Künstler idealisieren!“ unterbrach ihn Adele schroff. „Sie sehen vieles anders als wir.“

Durch ihren kalten, abweisenden Ton aufmerksam gemacht, kam Doktor Storf, der sich, während er sprach, mit dem Rücken gegen das Fenster gelehnt hatte, wieder näher und sah interessiert auf die blasse, schlanke Frau mit den strengen Zügen.

„Das heißt,“ widersprach er scherzhaft, „die gnädige Frau räumen dem Gatten mehr Recht ein ... weil er Künstler ist?“

Adele fühlte den Stachel, der trotz des scherzhaften Tones in dieser Rede verborgen war.

„Es liegt eine gewisse Rechtfertigung in diesem Titel!“ sagte sie ernst. „Man kann eine Sache, die unbegreiflich scheint, eher verstehen.“

„Und diese ...“ frug Max Storf zögernd, „diese erscheint Ihnen unbegreiflich, gnädige Frau?“

Adele neigte zustimmend ihr Haupt. „Ja!“ sagte sie einfach und sah ihm dabei fest in die Augen.

Max Storf hatte sich wieder auf seinen Platz gesetzt und blätterte nachdenklich in den Skizzenbüchern. „Warum sprechen Sie so zu mir?“ frug er dann über eine Weile, ohne Adele anzusehen.

„Weil ich Mitleid habe mit Ihrer Frau!“

„Und Sie ... Haben Sie mit sich selber kein Mitleid?“ frug der Arzt sehr ernst.

„Nein!“ sagte sie leise. „Ich kann es tragen. Das ist anders.“

Nun trat eine große Pause ein. Adele saß schweigend da, in ihrer leichten, nachlässigen Haltung, den Kopf gesenkt und die Arme auf die Knie gestützt. Max Storf betrachtete sie jetzt mit einer Art neugierigen Interesses. [S. 275] Sie kam ihm mit einem Male anders vor. Nicht kalt und verschlossen, sondern weich, nachsichtig und verstehend.

„Dann lieben Sie Felix nicht!“ unterbrach Max Storf unvermittelt das Schweigen. Er sagte es in einem so bestimmten Ton, als gebe es keinen Widerspruch.

Adele war jäh zusammengezuckt. Wie ein plötzliches Erkennen kam es über sie. Sie gab keine Antwort und starrte fest vor sich hin. Max Storf sah, daß sie noch blässer geworden war und daß sie ihre schmalen, streng geschlossenen Lippen noch mehr aufeinander preßte.

„Eine Frau, die liebt, nimmt den Kampf auf um den geliebten Mann, wenn sie nicht ganz ohne Leidenschaft ist!“ fuhr Max Storf ernst zu reden fort. „Verzeihen Sie mir, gnädige Frau, aber Sie tragen selbst die Schuld daran, daß ich so zu Ihnen spreche!“ fügte er hinzu.

Adele Altwirth sah mit einem vollen Blick ihrer grauen, beseelten Augen zu dem Arzte auf.

„Warum sprechen Sie von mir?“ frug sie dann. „Es handelt sich doch gar nicht um mich!“ sagte sie abweisend.

„Nein, sondern wohl um mich ...“ pflichtete er nachsichtig lächelnd bei. „Ich soll als das räudige Schaf ...“

„Können wir nicht ernst bleiben, Herr Doktor?“

„Ja. Aber dann sprechen wir von Ihnen, gnädige Frau!“ sagte Max Storf fest.

Wiederum herrschte eine Weile tiefes Schweigen zwischen den beiden. Dann sagte Adele nachdenklich: „Was hat diese Frau nur an sich, daß sie alle Männer wie im Sturm erobert?“

„Dasjenige, was den einen fehlt und was die andern in falschem Stolz zu überwinden trachten ... Leidenschaft!“ erwiderte Max Storf bestimmt.

„Ja ... das mag es wohl sein ...“ sprach Adele mit einem träumerischen Blick. Dann erhob sie sich und reichte dem Arzt die Hand. „Und nun haben Sie dasjenige mit mir getan, was ich eigentlich Ihnen tun wollte. Sie [S. 276] haben mich auf die richtige Bahn gewiesen. Ich fürchte nur, Sie kommen zu spät ...“ fügte sie leise hinzu.

Es klang Traurigkeit in ihren Worten. Eine Resignation, die zu hören dem Arzt wehe tat. Max Storf war gleichfalls aufgestanden und führte die Hand der jungen Frau ehrfurchtsvoll an seine Lippen.

„Sie sind mir doch nicht böse, Herr Doktor?“ frug Adele warm.

„Nicht im mindesten, gnädige Frau!“ versicherte der Arzt. „Ich habe allen Grund, dankbar zu sein.“

„Dankbar? Wieso?“

„Weil ich in die Seele einer reinen Frau schauen durfte!“ entgegnete Max Storf mit Nachdruck. „Ich habe Sie jetzt erst kennen gelernt.“

Adele Altwirth überkam ein Gefühl des Dankes. Es war lange her, seitdem sie ein gutes, anerkennendes Wort gehört hatte. Es tat ihr wohl. So wohl, daß wieder nach langer Zeit jenes strahlende Lächeln ihr Gesicht verklärte, das ihr ganzes Wesen so warm und innig erscheinen ließ ...

Max Storf und Frau Adele sprachen von dieser Zeit an oft und gern miteinander. Sie wichen einander nicht mehr aus wie früher, sondern freuten sich darauf, sich zu sehen und wie alte, gute Freunde zu plaudern. Es lag eine Reinheit in dieser Freundschaft. Eine Reinheit, die auf der Grundlage einer gegenseitigen Wertschätzung beruhte. Sie waren beide glücklich darüber. Glücklich, daß sie sich gefunden hatten und einander etwas bedeuteten im Leben.

Schlussvignette, Kapitel 14

[S. 277]

Fünfzehntes Kapitel.

D runten am Saggen, in dem vornehmen Villenviertel Innsbrucks, wohnte Doktor Valentin Rapp mit seiner Frau nun schon seit einigen Jahren in einer kleinen Villa, die er sich nach seinem Geschmack hatte bauen lassen. Das erste Stockwerk dieses Hauses hatte der Rechtsanwalt für sich behalten, während er das Erdgeschoß vermietet hatte.

Es war ein entzückendes kleines Haus in freier, herrlicher Lage, mit einem großen Garten ringsherum, den der Rechtsanwalt in den Stunden seiner Erholung selbst bebaute und pflegte. Da stand er oft wie ein Arbeiter, hemdärmelig mit Spaten und Schaufel. Wühlte in der Erde, setzte Blumen und Sträucher ein und legte sich auch eine kleine Obstzucht an. Valentin Rapp hatte viel Liebe zur Natur und fühlte den gesunden Trieb zu körperlicher Betätigung in sich.

So sehr sich der Rechtsanwalt in früheren Zeiten gegen eine Verheiratung und gegen ein eigenes Heim gesträubt hatte, so viel Sinn und Verständnis für die Ausgestaltung eines solchen bewies er in den Jahren seiner Ehe. Er liebte sein Heim, das für ihn so viel trauliches Glück barg, schmückte es mit Liebe und Hingebung aus und hielt es wie ein Heiligtum.

Vor diesem kleinen Reich, wie er seinen Besitz nannte, mußte die Sorge Halt machen. Dort durften Mißgunst und hämischer Neid nicht einkehren. Mit aller Energie hatte sich der Rechtsanwalt Ruhe vor dem Gerede der Leute verschafft. Er wollte sein Glück und sein Leben genießen, wie es sich ihm darbot. Nicht in quälende Zweifel verloren und ohne Trübung wollte er die Stunden der Ruhe und Erholung ausnützen.

Doktor Rapp hatte es noch nie bereut, daß er die Sophie zur Frau genommen hatte. Er freute sich über sie. War stolz auf ihre Fähigkeit, sich den veränderten [S. 278] Lebensbedingungen so geschickt anzupassen, und war selig über das Maß der Liebe, das sie ihm noch immer gewährte.

Wohl war auch zu ihm das Gerücht gedrungen von der Untreue seiner Frau. Aber Valentin Rapp glaubte den Leuten nicht. Er wußte, wie viel Unheil Mißgunst und Neid in den Ehen der Menschen anzurichten vermochten. Er wußte, daß es in solchen Fällen galt, reinen Tisch zu halten und Freunden die Tür zu weisen, die an seinem Glück zu zweifeln wagten.

Er hielt sich für einzig dazu berechtigt, über Sophie zu urteilen, und er hielt sich auch für den einzigen Menschen, der imstande war, Sophiens Charakter und ihre Liebe richtig einzuschätzen.

Dem Rechtsanwalt war es kein Geheimnis, daß seine Frau viel Verehrung und Bewunderung genoß, und er freute sich darüber. Es war ihm willkommen, wenn man ihr huldigte. Es bedeutete für ihn eine Genugtuung, sich um den Besitz dieser schönen Frau beneidet zu wissen.

Auch ihr kokettes Spiel mit den Männern kannte er von früher her, wußte, daß sie damals rein geblieben war, und mißtraute ihr auch jetzt nicht. Gerade dieses kokette Spiel war es ja gewesen, das ihn damals so gereizt und ihn so weit gebracht hatte, daß er Sophie heiratete.

Warum sollte er von ihr verlangen, daß sie jetzt, da sie seine Frau geworden war, anders werden müsse ... hausbacken und nüchtern? Warum sollte sie ihrem Naturell Gewalt antun?

Der Rechtsanwalt hatte einen felsenfesten Glauben an die Treue seiner Frau. Schon deshalb, weil er sich immer und zu jeder Zeit von ihrer Liebe umsorgt fühlte und sich daher auch für den Mittelpunkt ihres ganzen Lebens halten konnte. Sophie war klug genug, diesen Glauben immer mehr zu stärken durch eine liebevolle, [S. 279] fast sklavische Hingebung und durch vollständige Unterordnung unter den Willen und die Launen ihres Mannes.

Diese Frau verstand es, gut und nachgiebig und sanft zu sein und demütig. So schmeichelte sie seinem Ehrgeiz und seiner Selbstherrlichkeit und befestigte in ihm auf diese Art das eingebildete Bewußtsein, daß er Herr über sie sei, während er in Wirklichkeit ein Werkzeug war in ihren Händen wie alle die andern.

Immer wieder zeigte sie es ihm und sagte es auch mit Worten, daß sie ihm dankbar war für die Lebensstellung, die seine Liebe ihr gegeben hatte. Und darin sagte sie die Wahrheit. Sie war ihm dankbar. Liebte ihn deswegen und ertrug willig und ohne Murren die vielen kleinen Launen, die sich mit der Zeit bei dem alternden Manne einstellten. Sie umgab ihn täglich mit so zahlreichen kleinen Zärtlichkeiten, daß er ohne besondere Illusion in der Überzeugung leben konnte, ihr einziger Geliebter zu sein.

Manchmal, in den ersten Jahren ihrer Ehe hatte ihn ihr heißes Aufflammen erschreckt und ein wenig besorgt gemacht. Dann aber war sie ruhiger geworden, steter und gleichmäßiger. Und Doktor Rapp war es zufrieden. Er glaubte, daß es ihm gelungen sei, ihr aufloderndes Temperament in ruhigere Bahnen zu leiten, und war froh, diese Klippe so geschickt überwunden zu haben.

Dann kamen die guten Freunde und sprachen ihm von der Untreue der Frau, und Valentin Rapp wurde unruhig. Ein leises Mißtrauen blieb zurück. Sophie fühlte es und verscheuchte mit ihrer Liebe die aufkeimenden Zweifel und machte ihn so sicher, daß er resolut und fest allen die Tür wies, die ihm von seiner Frau nachteilig sprechen wollten.

„Haben Sie sie gesehen?“

„Nein!“

„Nicht? Dann sind es nur Vermutungen. Auf bloße [S. 280] Vermutungen hin fällt man kein Urteil, auch wenn der Schein dafür spricht!“ sagte er entschlossen. „Kommen’s wieder, wenn Sie was Gewisses wissen. Nit früher!“ setzte er lakonisch hinzu.

Durch diese unerschütterliche Festigkeit hatte sich der Rechtsanwalt Ruhe verschafft. Die Leute gaben es auf, ihn zu warnen. Und Sophie ihrerseits war zu schlau, um sich bei der Tat erwischen zu lassen. Wie ein Aal entglitt sie immer und immer wieder selbst den schärfsten Beobachtern. Niemand konnte es mit Bestimmtheit beweisen, daß sie untreu war. Nur die beiden Frauen, Hedwig und Adele. Und diese zeugten nicht gegen sie.

Es war zum erstenmal, daß Sophie Rapp so frei und ungeniert mit einem Manne verkehrte wie jetzt mit dem Maler Felix Altwirth. Diesmal hatte sie den Kopf verloren, sagten die Leute. Und neuerdings machten sie den Gatten aufmerksam, daß seine Frau ein Verhältnis mit dem Maler habe.

„So?“ fragte der Rechtsanwalt kurz und stocherte gleichgültig mit dem Spaten in der weichen Gartenerde herum. Er war wieder einmal bei seiner Lieblingsarbeit und stand in gebückter Haltung hemdärmelig und ohne Weste im Garten.

Neben ihm war ein alter Herr, ein Rechtskollege, der gekommen war, um sich mit dem Doktor Rapp in einer besonders schwierigen Prozeßsache zu beraten, deren Vertretung sie beide gemeinsam übernommen hatten. Bei dieser Gelegenheit hielt es der befreundete Advokat für seine Pflicht, dem Kollegen ein Wort der Warnung zu sagen.

„Woher wissen’s denn das so g’wiß, Herr Kollege?“ frug Doktor Rapp sarkastisch. „Meinen’s, wenn eine schöne Frau sich gern von einem Künstler malen laßt, muß gleich was Schlechtes dahinter stecken? Naa, naa! Meine Frau kenn’ ich besser wie Sie alle miteinander. [S. 281] Und auf Indizienbeweise hin wird nicht verurteilt!“ sagte Doktor Rapp unerschütterlich.

„Manchesmal doch, Herr Kollege!“ widersprach der andere mit leichtem Nachdruck.

Die Warnung hatte trotzdem einige Wirkung bei dem Rechtsanwalt hinterlassen. Eben weil sie von ernster und, wie er annehmen mußte, auch wohlmeinender Seite kam, dachte er darüber nach. Und als Sophie sich ganz kurze Zeit darauf in dem Garten zu ihm gesellte, frisch, lebendig, heiter und unbefangen wie immer, sah er ihr forschend und mit etwas Mißtrauen in die Augen.

Es war ein lauer Sommerabend. Vom Inn herüber, in dessen Nähe die Villa des Rechtsanwalts lag, kam eine erquickende Luft. Es war ruhig und still da draußen. Kein Lärm, kein Wagengerassel der inneren Stadt drang in diese Ruhe, und kein lautes, mißtöniges Stimmengewirr von vorüber wandernden Menschen. Nur einzelne Liebespärchen schritten eng aneinander geschmiegt durch die einsame Villenstraße, und ganz von ferne hörte man das dumpfe Rollen des Bahnzuges. In den Bäumen der sorgsam gepflegten Gärten sangen die Vögel ihr andächtiges Abendlied, zwitscherten schmelzend von Liebe und Frieden.

Sophie Rapp trug ein helles Sommerkleid und darüber ein weißes, zartes Spitzenschürzchen. Eine grellrote Schleife in dem dunkeln Haar verlieh ihrem Rassegesicht einen eigenen künstlerischen Reiz. Ganz unbefangen frug sie den Gatten, ob er das Abendbrot in dem Sommerhäuschen einzunehmen wünsche, das am andern Ende des Gartens stand.

Der Rechtsanwalt nickte stumm und sah ernst auf seine Frau. Sophie stutzte ein klein wenig. Sie dachte über die Ursache seiner plötzlichen üblen Laune nach und erriet sofort, daß diese Veränderung mit dem Besucher in irgendeinem Zusammenhang stehen mußte.

[S. 282]

„Du hast Besuch gehabt, Manni?“ fragte sie und legte ihren Arm zärtlich in den seinen. „Schau, wirf einmal die Schaufel da weg und ruh dich ein bissel aus! Du schaust ja so müd’ drein. Wir wollen ein bissel im Gartenhaus sitzen und plauschen!“ forderte sie ihn munter auf.

Doktor Rapp warf die Schaufel beiseite, daß sie klirrte, und folgte seiner Frau in das lauschige, behaglich ausgestattete Sommerhaus.

„Du ... Sophie ...“ fing er dann mißmutig an.

„Ja, Mannderl, was gibt’s denn?“ lachte Sophie und schälte ihm eine große, saftige Birne, die das Dienstmädchen auf einem Teller gebracht hatte. „Ist die nit herrlich?“ fragte sie, ihm die Birne zur Ansicht hinhaltend. „Die mußt du gleich kosten. Noch vor dem Essen. Damit du mehr Hunger kriegst.“ Dann steckte sie ihm eine Scheibe in den Mund und biß selbst von der Frucht ab. Übermütig lachte sie: „Gut war’s! Gelt?“

Der Rechtsanwalt hatte auch lachen müssen, denn bei der Teilung hatte sie den Löwenanteil abbekommen. „Kannst mir noch eine in den Mund stecken!“ sagte er jetzt, schon bedeutend freundlicher gestimmt.

„So ist’s recht!“ Sie nickte zufrieden mit dem Kopf und sah ihn dann neckisch an. „Gelt, Manni, der hat wieder einmal g’schimpft über mich?“ Sie deutete mit dem Finger nach dem hohen eisernen Gartentor, durch das der Besucher verschwunden war.

„G’schimpft nit!“ sagte der Advokat, an der Birne kauend, die sie ihm nun zum Abbeißen hinhielt. „Er hat nur gemeint, ich soll dich warnen ...“

„Das heißt, er wollte dich warnen, nicht mich!“ korrigierte sie ihn. „Mit wem hat er mich denn schon wieder im Verdacht?“ forschte sie und lachte dabei ausgelassen.

„Mit Felix Altwirth, dem Maler.“

Nun platzte Sophie geradezu vor Lachen. Konnte sich [S. 283] gar nicht mehr halten vor lauter Übermut. „Nein, so was, Schatz! Ist das ein Esel, dein Kollege! Das ist ja köstlich! Und so was will ein Menschenkenner sein! Ach, und du, du Dummerl, du lieb’s, du ungeschickt’s, du blödes, du hast’s ihm geglaubt! Ach du!“ Sie fiel ihm wie närrisch um den Hals und küßte ihn so heftig, daß er ihr sanft wehren mußte, da er keine Luft mehr bekam.

„Fressen könnt’ eins so ein Mannsbild, so ein dummes, vor lauter Lieb’!“ sagte sie und preßte sich innig an ihn. „Und immer wieder glaubt er so einen Schmarrn, so einen unsinnigen! Ich lauf’ dir schon noch davon, dir!“ drohte sie ihm scherzhaft. „Wenn du so eifersüchtig bist! Aber naa!“ meinte sie dann schalkhaft. „G’scheiter nit!“ Sie sah ihn sehr verliebt an. „Da müßt’ ich dich ja mitnehmen, dich Tschapperl, dich!“

Und alle Bedenken, die Valentin Rapp gehabt hatte, waren mit einem Male wie weggeblasen. Er lachte nun auch recht herzlich und schämte sich vor ihr, daß er so mißtrauisch gewesen war.

Ganz zaghaft warnte er sie dann: „Aber weißt, Sophie, vorsichtig mußt schon ein bissel sein mit deine Atelierbesuch’. Es ist wegen die Leut’. Ich hab’ ja nichts dagegen, wenn dich der Altwirth malt. Aber schön muß er mein Weiberl machen!“ sagte der Rechtsanwalt verliebt und küßte mit zufriedenem Behagen den vollen Mund des jungen Weibes ...

Es war noch immer der gleiche Sinnenrausch wie vordem, in dem Sophie den alternden Mann gebannt hielt. Sie bezauberte ihn stets aufs neue, belustigte und erheiterte ihn durch ihre losen Einfälle und den ihr eigenen gesunden Mutterwitz und verblüffte ihn öfters durch ungekannte und unberechenbare Seiten ihres Charakters.

Daß sich Sophie jetzt auf einmal so sehr für die Kunst [S. 284] begeisterte, hielt Valentin Rapp für eine kindliche Freude und gönnte ihr das Vergnügen, sich von einem Maler verehrt zu wissen. Ja, er freute sich mit ihr, wie schön sie auf den Bildern geworden war, als sie ihn einmal gewaltsam mit in Felix Altwirths Atelier schleppte. Dort konnte sie der Gatte in verschiedenen Skizzen bewundern.

Da Doktor Rapps Kunstverständnis gleich Null war, konnte er die Bilder nicht so einschätzen, wie das Storf getan hatte. Er sah nur, daß die Skizzen gut ausgefallen waren und daß seine Frau darauf in Schönheit prangte. Aus diesem Gefühl heraus beglückwünschte er den Maler zu seinen Erfolgen und meinte anerkennend, daß Felix bald größere Werke zur Ausstellung bringen möge.

„Ja ...“ erwiderte der Künstler nicht ohne eine leichte Anzüglichkeit in seinem Ton. „Wenn ich dann aber wieder keine Anerkennung finde, wie das erstemal? Ich könne ja überhaupt nichts, sagten damals die Leute.“

„Ach was!“ mischte sich Sophie resolut ein. „Damals und jetzt! Das ist ein Unterschied! Jetzt ist es anders! Heute sind Sie wer! Und das blöde Gewäsch, den Unsinn, den hat ja nur der Patscheider aufgebracht. Sonst niemand.“ —

Seit jenem Atelierbesuch bei dem Maler Altwirth waren auch die letzten Reste eines Mißtrauens gegen Sophie in der Seele des Rechtsanwaltes geschwunden. Er hatte die beiden genau beobachtet und hatte nicht das geringste Zeichen eines näheren Einverständnisses, das auf Liebe hätte schließen lassen, entdeckt. Das, was er sah, war Freundschaft und eine herzliche Kameradschaft. Valentin Rapp war überzeugt, daß seine Frau den Maler nur förderte, weil das ihrem warmherzigen und impulsiven Temperament entsprach.

Daß Sophie warmherzig sein konnte, dankbar, anhänglich und hilfsbereit, dafür hatte der Rechtsanwalt schon viele Beweise erlebt. Ganz besonders rührte es [S. 285] ihn immer wieder, wenn seine Frau von Zeit zu Zeit nach Rattenberg hinunter fuhr, um ihre alte Pflegemutter aufzusuchen. Mit voll beladenen Armen wanderte sie dann jedesmal ins Unterland und brachte der Ennemoserin alles dasjenige, womit sie glaubte, ihr eine Freude bereiten zu können.

Sie hätte die alte Frau gerne zu sich ins Haus genommen. Aber die Ennemoserin sträubte sich dagegen mit aller Entschiedenheit. Ein einzigesmal war die alte Frau nach Innsbruck zu Besuch gekommen. Sie fühlte sich jedoch äußerst unbehaglich in dem feinen Haus ihrer Pflegetochter und war froh darüber, daß sie schon nach wenigen Tagen wieder heimfahren konnte ins Unterland, in ihr kleines, blumengeschmücktes Felsennest.

Wenn Frau Sophie Rapp in Rattenberg war, dann versäumte sie es niemals, auch hinüber zu wandern ins Kloster zu Mariathal, um ihre alte, liebe Schwester Salesia wiederzusehen. Jetzt freilich hatte sie diese Besuche einstellen müssen. Die alte Schwester war seit ein paar Jahren versetzt worden, nach Schwaz ins „Schwarze Damenstift“. Die Sophie hatte es ihrem Gatten mit großer Empörung erzählt und war so wütend gewesen über die Veränderung, daß Doktor Rapp vor Belustigung fast einen Lachkrampf bekam.

Es war aber auch zu komisch, sich die alte, dicke Schwester Salesia vorzustellen, wie sie herumhumpelte bei all den vielen weiblichen Sträflingen in dem Schwazer Frauenzuchthaus, dem der Volksmund den Übernamen des Schwarzen Damenstiftes aufgebracht hat. Die heitere, asthmatische alte Schwester Salesia, an die sich der Rechtsanwalt noch gut erinnern konnte, paßte auch seiner Ansicht nach gar nicht dahin. Die bloße Vorstellung davon erweckte immer wieder neue Heiterkeit in ihm.

Sophie war so erzürnt über den Verlust der Schwester Salesia, daß sie mit dem Gatten ernstlich zu zanken [S. 286] anfing, weil dieser noch dazu schlechte Witze machte. „Und jetzt lachst du mich auch noch aus!“ sagte sie vorwurfsvoll und hatte tatsächlich Tränen in den Augen. „Statt daß ich dir erbarmen tät’, weil ich jetzt das liebe alte Weibele nimmer sehen kann. Denn dahinein kann ich doch unmöglich auf Besuch gehen!“ sagte sie und hatte schon wieder den Schalk in ihrem rassigen, dunklen Gesicht. „Und ich möcht’ sie auch nit sehen, so eing’sperrter unter die grauslichen Weibsbilder. Pfui Teufel!“ entrüstete sie sich. „Wie man nur auf so einen Gedanken hat kommen können! Die paßt ja nur nach Mariathal zu die Blumen im Garten und ...“

„Sie wird da drunten in Schwaz schon auch bei die Blumen sein!“ tröstete der Rechtsanwalt seine Gattin. „Sei ganz ruhig, die hat schon ein stilles Pöstele als Sakristanin in der Kirch’ oder bei die Blumen im Garten. Da wird sie halt irgendwo herumhatschen, dei’ Alte.“

Diese ehrliche Trauer um die einstige Erzieherin gefiel dem Advokaten ganz besonders gut bei seiner Frau. Und gerade deshalb, weil man dieses tiefere Gefühl der Sophie nicht zugetraut hätte, weil ihr loses, flatterhaftes Wesen, die leichtsinnige Art ihres Benehmens in so seltsamem Gegensatz zu diesem Ernst standen, deshalb liebte ihn Doktor Rapp an seiner Frau und schätzte ihn hoch ein ...

Einmal begab es sich, daß der Rechtsanwalt auch Gaudenz Keil, den Karrner, und die Benedikta Zöttl kennen lernte. Droben im Oberinntal, in der Nähe von Zirl, hatte es in einem Karrnerlager eine arge Messerstecherei gegeben. Im jähen Zorn hatten zwei Karrner blindwütig aufeinander losgestochen. Der eine von ihnen war tödlich verwundet liegen geblieben, den andern hatten die Gendarmen abgeholt und nach Innsbruck aufs Gericht geliefert.

Bei der Verhaftung hatte sich das Karrnerweib ganz [S. 287] rabiat gebärdet, hatte die Gendarmen angefaucht wie ein gereiztes Raubtier und sich schließlich auf sie gestürzt, um ihnen ins Gesicht zu schlagen und sie zu kratzen. Den Gendarmen war nichts anderes übrig geblieben, als beiden, Mann und Weib, die Handschellen anzulegen und sie gemeinsam einzubringen.

Den ganzen Vorfall hatte der Rechtsanwalt seiner Frau erzählt. Er wußte, daß sie sich für alles, was Karrnerleute betraf, riesig interessierte.

Sophie hatte aufmerksam und mit glänzenden Augen zugehört. Es war ihr bei der Erzählung des Gatten, als sähe sie den Streit leibhaftig vor sich und als könnte sie die Karrnerin in ihrer leidenschaftlichen Wut unmittelbar beobachten.

Dann war es ihr mit einem Male ganz seltsam zumute. Es war ihr, als müsse es die Benedikta gewesen sein, die wie ein Raubtier auf die Gendarmen losgegangen war. Ganz leise und mit klopfendem Herzen frug Sophie ihren Gatten nach den Namen der Karrnerleute und sah ihm erregt und mit atemloser Spannung ins Gesicht. „Wie heißen denn die Karrnerleut’, Mannderl? Weißt nit?“

Valentin Rapp schaute verwundert auf seine Frau. „Aha!“ sagte er dann heiter, „Karrnerblut! Hat’s dich wieder! Gelt? So was interessiert uns halt!“ scherzte er.

„Wie heißen sie?“ frug Sophie dringend und ohne auf seinen Scherz einzugehen. In gespannter Erwartung schaute sie auf den Gatten.

„Ich weiß es nicht, Sophie. Ich hab’ mich nicht danach erkundigt!“ gestand er ehrlich. „Aber ich werd’ nachfragen bei Gericht und ...“ fügte er lustig hinzu, „dir zulieb’ die Verteidigung der Karrner übernehmen.“

Sophie schüttelte heftig den Kopf.

„Nein!“ sagte sie gepreßt. „Nit von ihm.“

[S. 288]

„Aber von ihr, gelt, Weiberl?“ neckte sie der Rechtsanwalt.

„Ja!“ erwiderte Sophie ernst. „Wenn es die Benedikta Zöttl ist. Dann schon.“

Es war tatsächlich der Gaudenz Keil, der in viehischem Jähzorn das Messer gegen seinen Kameraden gezogen hatte. Die Sophie frohlockte, als sie es hörte. Ganz unbändig vor Freude war sie darüber, daß der Gaudenz im Gefängnis saß.

„Wirklich, Mannderl? Ist’s wahr? Gaudenz Keil heißt er?“ fragte sie immer und immer wieder. „Wie sieht er denn aus? Und was sagt er denn? Das g’schieht ihm recht! G’hängt soll er werden ... der ...“ grollte sie. Ihre Augen hatten einen tiefen, feurigen Glanz. Sie haßte ihren ehemaligen Feind noch mit der gleichen Leidenschaft, wie sie es als Kind getan hatte.

„Ja ...“ sagte der Rechtsanwalt. „Und sie ist die Benedikta Zöttl.“ Etwas verlegen und unsicher sah er dabei auf seine Frau.

Sophie merkte es ihm an, daß er über die neu aufgetauchte Verwandtschaft wenig erbaut war. „Hast du mit ihr gesprochen?“ fragte sie den Gatten.

Valentin Rapp nickte. „Ja. Ich habe die Verteidigung übernommen!“ sagte er fast barsch.

Sophie fiel ihm um den Hals und küßte ihn stürmisch. „Mannderl, gut’s!“ lobte sie ihn und fuhr ihm streichelnd über sein rotes, aufgedunsenes Gesicht. „Und jetzt hab’ ich noch eine Bitt’ ... Du? ... Ja? ... Darf ich?“

„Was?“ fragte der Gatte kurz.

„Ich möcht’ reden mit ihr ...“ bat sie schüchtern.

„Muß es sein?“ fragte der Rechtsanwalt. „Ich möcht’ mir die Leut’ nit ins Haus zügeln.“

Sophie biß sich auf die Lippen. Die Rede tat ihr wehe.

„Nein!“ sagte sie dann traurig. „Wenn du nit willst ...“

„Na, also in Gottes Namen, red’ halt mit ihr!“ willigte [S. 289] Valentin Rapp ein. „Und der Karrner ... willst du den auch sehen?“ fragte er über eine Weile.

„Den!“ Sophie drehte sich blitzschnell um und sah den Gatten sprühend an. „Wenn er am Galgen hängt, ja! Sonst nit!“ —

Es war eine ganz kurze Szene des Wiedererkennens, die sich zwischen Mutter und Tochter abspielte. Apathisch, ohne Freude und ohne Liebe begrüßte die Karrnerin die junge Frau. Sie saß in einen Winkel gekauert und ganz in sich versunken da, als Sophie in Begleitung ihres Gatten, der ihr die Erlaubnis des Gerichtes für diesen Besuch erwirkt hatte, die Zelle des Gefängnisses betrat.

Ein altes, verhuzeltes, braunes, runzeliges Weib war die Benedikta geworden. Die Sophie fühlte einen ausgesprochenen körperlichen Widerwillen, als sie ihr die Hand zum Gruße bot. Beinahe reute es sie, daß sie sich von Neugierde hieher hatte treiben lassen.

„Grüß Gott!“ sagte die junge Frau leise, und ihre Stimme klang etwas gezwungen und unsicher. „Kennst du mich, Benedikta Zöttl?“ frug sie.

Die Karrnerin nickte gleichgültig. „Die Sophal ...“ sagte sie tonlos. „Freilich. Kenn’ di schon. Hab’ di oft g’sehen. Hab’ dir aufgepaßt, wenn der Gaudenz nit dabei war!“ kicherte das Weib leise und schadenfroh in sich hinein. „Unseroans freut si aa, wenn’s a noble Tochter hat!“ meinte sie. „Aber der Gaudenz hätt’s nit wissen dürfen ... der ...“

„Mag er mich noch immer nit?“ forschte die Sophie und sah sich schaudernd in dem engen Raum der Zelle um. Eine mäßig große Pritsche war da an die Wand gerückt, und das stark vergitterte Fenster, durch welches das Tageslicht hereinfiel, war so hoch oben angebracht, daß man es nicht einmal mit den Händen erreichen konnte. Eine bange, abergläubische Furcht überkam die [S. 290] junge Frau, und fest schmiegte sie sich an den Gatten, der neben ihr stand.

„Er mag di nit!“ bestätigte die Karrnerin gleichgültig und zog die magern Achseln empor. „’s macht aa nix. Ist guat so!“ nickte sie mit dem Kopfe. „Hast an braven Mann kriagt! An noblen, ha?“ Ein stechender Blick aus den schwarzen Augen des Weibes traf den Rechtsanwalt. „Hast es g’schickt g’macht, Madel! Besser wie i!“ lobte sie dann.

Sophie stand schweigend vor der Karrnerin und hielt sich fest an dem Arm ihres Gatten. Sie schämte sich ein wenig über das Lob der Benedikta.

„Aber der Gaudenz woaß nix davon!“ berichtete das Weib kichernd und wiegte sich schaukelnd hin und her. Sie hielt ihre Knie umschlungen und sah listig und schlau zu dem Rechtsanwalt auf. „Er kennt sie nit amal mehr!“ erzählte sie Doktor Rapp und deutete mit dem Kopf auf Sophie. „Niemand kennt sie. Koans von die Kinder woaß eppas von ihr!“ lachte sie schadenfroh.

Sophie atmete befreit auf. Es war ihr recht, daß sie niemand kannte und niemand von den Karrnerleuten etwas von ihr wußte.

Eine ganze Weile saß die Karrnerin schweigend da und stierte stumpfsinnig vor sich hin. Dann sah sie plötzlich zu Valentin Rapp auf und fragte: „Wird er g’hängt, der Gaudenz, ha?“ Es lag eine heiße Angst in ihrem Blick.

„Die Anklage lautet auf Totschlag ...“ sagte der Rechtsanwalt ausweichend.

„Totschlag! Dann ist er hin, der Hund!“ stieß die Benedikta wild hervor. „Recht ist’s! Hat ihn alleweil erzürnt, den Gaudenz!“

Darauf sank sie wieder in sich zusammen, und ihr Gesicht wurde ganz eingefallen vor sorgenvollem Gram. „Der Gaudenz ...“ kam es stöhnend über ihre Lippen. Es war ein weher Schmerz, der in diesem Ton lag.

[S. 291]

„Totschlag ist nit Mord!“ versuchte sie der Rechtsanwalt zu trösten. „Er wird Zuchthaus kriegen.“

„Eing’sperrt ...“ Das Weib atmete erleichtert auf. Dann wiederholte sie leise: „Eing’sperrt ... fort ... alloan ... Was nutzt’s mi ... hab’ ihn nimmer, den Gaudenz!“

„Hast ihn so gern ... Mutter?“ frug Sophie fast flüsternd. Ein weiches Erbarmen gab ihr diese Anrede als etwas Selbstverständliches in den Mund.

„Gern?“ Die Benedikta flammte auf. „Jahr und Tag bin i mit ihm gezogen!“ sagte sie leidenschaftlich. „Und hab’ Kinder g’habt von ihm, oans nach dem andern. I werd’ ihn wohl gern g’habt haben!“ fügte sie dann wieder gleichgültig werdend hinzu.

„Und jetzt?“ frug Sophie weiter.

Die Karrnerin duckte sich noch enger in ihrem Winkel zusammen.

„Den ... dein’ Vater ... weißt ...“ sagte sie zögernd, „den hab’ i gern g’habt. So gern ... Nachg’rennt bin i ihm wie a Hunderl, Tag und Nacht ... Hab’ g’moant, i kann nit leben ohne ihn ... bis er mich sitzen hat lassen ... verschwunden ist ... Nacher ist der Gaudenz kommen ... Du woaßt’s ja, warum er di nit mögen hat ... Und wenn der Gaudenz stirbt ... nacher ist alles aus ...“ sprach sie tonlos.

Es lag eine unsagbare Traurigkeit in ihrem Wesen, die so trostlos war, daß sie nicht nur Sophie, sondern auch den Rechtsanwalt bedrückte. Valentin Rapp mahnte zum Aufbruch. Ohne Rührung und ohne Schmerz trennten sich Mutter und Tochter, um sich nie mehr zu sehen im Leben ...

Nach einigen Wochen der Haft verließ Benedikta Zöttl das Gefängnis zu Innsbruck. Valentin Rapp hatte ihr eine größere Summe Geldes ausgehändigt. Die Benedikta starrte gleichgültig auf das Geld. Kaum, daß sie [S. 292] dem Rechtsanwalt dafür dankte. Aber dieser verstand ihre Art und wußte, daß die Karrnerin nur mehr ein einziges Empfinden hatte, das sie vollständig beherrschte. Das war die Angst um Gaudenz Keil, den Karrner ...

Seit ihrer Begegnung mit der Mutter hatte Sophie Rapp Schluß gemacht mit ihrer Vergangenheit. Die Erinnerung an ihre trübe Kindheit, an die Jahre des Elends und der rohen Grausamkeit hatten die junge Frau seelisch so gedrückt, daß es ein paar Wochen brauchte, bis sie ihre unbefangene Heiterkeit wiederfand.

Und als ihr Gatte ihr erzählte, daß Gaudenz Keil zu schwerer Zuchthausstrafe verurteilt worden war und daß die Benedikta gleich nach dem Urteil spurlos verschwunden sei, da atmete Sophie auf wie von schwerer Last befreit.

Sie fühlte sich jetzt, nachdem sie von diesen Menschen ganz losgelöst war, zu denen sie einmal gehört hatte, aufs neue dem Dasein zurückgegeben. Fühlte, daß die alte, sprühende Lebenslust wieder Einkehr hielt bei ihr, daß sie wie früher frei und ungezwungen scherzen und lachen konnte und dem Glück ihrer Liebe leben durfte, das ihr ein gütiges Schicksal beschieden hatte.

Schlussvignette, Kapitel 15

[S. 293]

Sechzehntes Kapitel.

I n dem stillen, behaglichen Heim des Apothekers Tiefenbrunner herrschte heute ein reges Leben. Es war nicht oft der Fall, daß Frau Therese Gäste bei sich sah. Nur einmal oder zweimal im Jahr. Da bat sie alle jene Damen zu sich, denen sie eine Einladung schuldete.

Von Zeit zu Zeit kamen die Damen bald bei dieser und bald bei einer andern Bekannten zusammen. Es war immer derselbe Kreis von Damen, und es waren stets die gleichen Meinungen und Lebensauffassungen, die da geäußert wurden. Gute, gesunde Ansichten, allerdings etwas rückständig und spießbürgerlich. Das konnte auch gar nicht anders sein. Neue Elemente hatten so gut wie gar keinen Zutritt in diesem exklusiven Zirkel.

Ab und zu traf man bei der Frau Professor Haidacher eine fremde, unbekannte Dame. Die wirkte dann jedesmal wie eine Erscheinung aus einer andern Welt, die man kaum vom Hörensagen kannte.

Die Professorin war nicht so wählerisch in ihrem Umgang. Sie liebte es, mit neuen Menschen bekannt zu werden und ihre Ansichten kennen zu lernen. Wenn Frau Haidacher einmal eine wirklich nette Frau traf, so führte sie dieselbe gerne in ihrem Bekanntenkreis ein. Meistens waren das die Frauen von Berufskollegen ihres Gatten oder die Offiziersdamen der Garnison.

Frau Haidacher hatte die Hoffnung noch immer nicht aufgegeben, einen freieren und frischeren Zug in ihren Gesellschaftskreis zu bringen. Ein jeder dieser Versuche scheiterte jedoch stets kläglich. Die Damen waren wohl immer artig und freundlich gegen die Fremden, bewahrten aber doch eine so steife Zurückhaltung, daß ein herzlicher Ton unmöglich aufkommen wollte.

So kam es, daß Frau Haidacher gezwungen war, [S. 294] ihren Bekanntenkreis in zwei Teile zu trennen. Der eine bestand aus den Vertreterinnen der alten Familien der Stadt, der andere aus denen der eingewanderten Familien. Diese völlig verschiedenen Elemente einander näher zu bringen, sie gesellschaftlich zu vermischen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Sie lebten so ganz und gar getrennt voneinander, daß sie sich selbst nach vielen Jahren des gemeinsamen Aufenthaltes kaum dem Namen nach kannten.

Bei Frau Therese Tiefenbrunner war man stets vollkommen sicher, nur ganz intime Bekannte zu treffen. Frauen, von denen man alles haarklein wußte, deren Gesinnung einem genau vertraut war, die zu einem paßten und deren Familien, Väter, Großväter und Urgroßväter Innsbrucker waren und zum Teil eine Rolle in dieser Stadt gespielt hatten.

Es waren die Angehörigen der Patrizierfamilien Innsbrucks, die sich da trafen. Frauen, die stolz waren auf ihre bürgerliche Abkunft und die ihre gesellschaftliche Stellung um keinen Adelstitel vertauscht hätten. Sie waren Bürgerinnen, Töchter altangesehener Familien. Als solche fühlten sie sich, wollten nicht mehr sein und strebten nach keinem auch noch so hoch stehenden Bekanntenkreis. Die Gesinnung dieser Frauen war vererbt, pflanzte sich fort von den Eltern auf die Töchter und wurde von den Männern dieser Frauen bestärkt und genährt.

Ein stolzer Zug von Freiheit und Unabhängigkeit lebte in diesen Männern. Sie waren Männer, die aufrecht gingen, ohne Strebertum, selbstbewußt, zufrieden und selbstherrlich. Sie alle liebten die alte Stadt am Inn mit ehrlicher, aufrichtiger Begeisterung. Liebten sie, weil es ihre Heimat war, ein deutsches, berggekröntes Juwel, wie ein zweites wohl nicht mehr zu finden war. Und sie hielten diese Stadt hoch, ehrten sie und vertraten ihre Interessen nach bestem Wissen und Gewissen.

[S. 295]

Diese starke Gesinnung der Männer spiegelte sich wider in der Art der Frauen. Da gab es keine unter ihnen, die auch nur das leiseste Verlangen gehabt hätte, aus ihrem Kreis herauszukommen. Sie waren zufrieden miteinander, klatschten manchesmal ein wenig unter sich und belächelten mit Nachsicht ihre Schwächen und Eigenheiten. Aber sie hielten fest und unerschütterlich zusammen und duldeten kein Eindringen eines fremden Elementes.

Wenn Frau Therese Tiefenbrunner eine Einladung gab, dann verursachte das jedesmal eine kleine Umwälzung in ihrem Hausstand. Die Tiefenbrunners hatten eine altmodische, aber recht gemütliche Wohnung am Innrain. Die Zimmer waren klein und für große Gesellschaften nicht geeignet. Da aber Frau Tiefenbrunner den Ehrgeiz besaß, genau so viele Damen auf einmal bei sich zu sehen, wie das die andern taten, so mußte jedesmal eine Umgestaltung ihrer Wohnräume stattfinden.

Da wurde gerückt und geändert, und die Möbel wurden umgestellt, bis der nötige Platz für so viele Menschen gefunden war. Alle die überflüssigen kleinen Gegenstände, die Tischchen, Truhen, Blumenständer und Vogelkäfige, welche die Zimmer so behaglich erscheinen ließen, mußten weichen, um nur der notwendigsten Einrichtung Platz zu machen.

Trotzdem waren die Damen so eng aneinander gepfercht wie die Sardinen in der Büchse. Sie unterhielten sich aber ganz vortrefflich, schwatzten und lachten miteinander, tranken Tee oder Kaffee und verzehrten den herrlichen Kuchen, den die Apothekerin selbst gebacken hatte.

Ungefähr zwanzig Damen hatte Frau Tiefenbrunner zu sich gebeten. Sie saßen alle um einen großen runden Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand. Und vor ihnen lagen wahre Berge der verschiedensten Bäckereien [S. 296] und delikaten Brötchen. Auf dem Büfett, das in seinem behaglichen Ausbau fast eine ganze Wand einnahm, standen große verkorkte Flaschen neben fein geschliffenen Weinkelchen und harrten geduldig des Augenblicks, in dem sie zur Erhöhung der allgemeinen Stimmung beitragen durften.

Ein fröhliches Plaudern und Lachen erfüllte den nicht sehr hohen viereckigen Raum des Zimmers. Wenn die Damen unter sich waren, dann konnten sie fast ausgelassen lustig sein, und von der ihnen sonst eigenen steifen Zurückhaltung war nichts mehr zu bemerken.

Frau Therese Tiefenbrunner strahlte vor innerer Zufriedenheit. Sie war froh, wenn es ihren Gästen gut bei ihr gefiel und diese den dargebotenen Genüssen nach Herzenslust zusprachen. Immer wieder bot sie den Damen an und nötigte sie mit etwas ungeschickter Aufdringlichkeit zum Essen und Trinken.

„Aber so essen’s doch! Nehmen’s doch, Frau Patscheider!“ Die Apothekerin hielt der Frau Patscheider, die neben ihr saß, eine große Platte belegter Brötchen hin. Das Dienstmädchen hatte sie gerade wieder neu gefüllt auf den Tisch gestellt.

„Ich bitt’ Ihnen, Frau Tiefenbrunner,“ lachte die Frau Patscheider, „ich kann ja schon bald nimmer schnaufen vor lauter Essen!“ Und sie biß herzhaft mit ihren gesunden weißen Zähnen ein großes Stück von dem Kuchen herunter, den sie in der Hand hielt.

„Kochen kann sie, unsre Apothekerin! Das muß man ihr lassen!“ rühmte die Frau Direktor Robler. „Nirgends in der ganzen Stadt kriegt man so einen guten Kuchen zu essen.“

„Und die Bröterln! Die erst!“ sagte die Frau Professor Haidacher und nickte der Apothekerin lustig zu. „So was Feins! Ich halt’ mich am liebsten bei die Bröterln auf. Her damit!“ kommandierte sie heiter. [S. 297] Die Apothekerin reichte ihr dienstbeflissen die Platte über den Tisch.

Zur Feier des Tages hatte Frau Tiefenbrunner ein schwarzes Kleid von ganz besonders schwerer Seide angezogen und sah darin sehr vorteilhaft aus. Es war merkwürdig mit Frau Therese Tiefenbrunner. Die Zeit vermochte ihr nichts anzuhaben. Blieb bei ihr stehen und ließ sie aussehen wie vor zehn Jahren.

Die Frau Baurat stellte innerlich diesen Vergleich an und war der Apothekerin fast etwas neidisch. Frau Tiefenbrunner war ja niemals eine schöne Frau gewesen. Sie war stets robust und von derber Gesundheit gewesen. Eine einfache, simple Frau, die sich immer gleich blieb und an deren Äußerem das Alter keine Verheerung anrichten konnte.

Frau Goldrainer gestand es sich ein, daß sie froh gewesen wäre, wenn sie sich wenigstens noch einen Schimmer ihres einstigen blühenden Aussehens mit in das Alter gerettet hätte. Aber das lag wohl nicht in ihrer Familie, beruhigte sie sich dann selbst. Die alterten alle rasch. Auch ihre Schwester, die Frau Doktor Storf, war eine schon vor der Zeit gealterte Frau geworden. Kein Mensch hätte geglaubt, daß diese blasse, verfallene, kleine Frau kaum Mitte dreißig zählte.

Frau Hedwig Storf war seit einiger Zeit bedeutend ruhiger geworden. Ihre Schwester bemerkte es mit Befriedigung, und sie kannte auch die Ursache dieser Besserung. Doktor Storf hatte seine Beziehungen zu Sophie Rapp nun vollständig aufgegeben, und die Frau des Rechtsanwaltes schien jetzt tatsächlich nur mehr für den Maler Altwirth zu schwärmen. Der Gedanke an Felix Altwirth war es bei der Frau Baurat, der sie die Rede auf den Maler bringen ließ.

„Da fallt mir grad’ ein, Frau Patscheider,“ sagte die [S. 298] Frau Baurat, „Sie haben Ihnen ja gar noch nit einmal von dem Altwirth malen lassen!“

„Ich? Was fallt denn Ihnen ein!“ rief die Frau Patscheider entsetzt. „Da tät’ mir mein Mann schön kommen!“

„So? Warum denn?“ forschte die Baurätin neugierig.

„Mein Mann halt nix von dem Altwirth seiner Malerei!“ erwiderte die Patscheiderin ausweichend.

„Konsequent liebe ich den Mann!“ spottete Frau Haidacher mit lustigem Hohn.

„Aber Felix Altwirth ist ein großer Künstler!“ versuchte Hedwig Storf mit schüchterner Stimme den Freund ihres Gatten zu verteidigen. „Er hat jetzt so schöne große Bilder ausg’stellt!“

„Haben Sie die Ausstellung g’sehen?“ wandte sich die Frau Patscheider nicht ohne Bosheit an die Apothekerin.

„Nein!“ sagte Frau Tiefenbrunner mit Würde. „Wenn ich einmal mit einem Menschen fertig bin, dann bin ich fertig! Dann gehe ich auch nicht hin und beseh’ mir seine Kunstwerke.“ Das Wort „Kunstwerke“ betonte die Apothekerin doch nicht ganz ohne Stolz.

„Sie haben auch nix versäumt, Frau Tiefenbrunner!“ tröstete sie die Patscheiderin. „Mein Mann sagt ...“

„Aber,“ fiel ihr Frau Storf jetzt resolut ins Wort, „die Kritik ist doch ganz begeistert von den Werken!“

„Hm! Die Zeitungen!“ machte Frau Robler verächtlich. „Was die sagen, da kann man sich auch nicht darnach richten.“

„O ja!“ kam nun die Baurätin ihrer Schwester zu Hilfe. „Da muß ich schon bitten. Dazu ist die Kritik da, und die versteht’s auch!“ sagte sie mit einer Schärfe im Ton, die keinen Widerspruch zuließ.

„Die Hauptsache ist,“ stellte die Professorin fest, „daß der Altwirth jetzt ein Heidengeld verdient. Drei Bilder sollen ja schon wieder verkauft sein von der Ausstellung. Und die ist ja erst seit einer Woche.“

[S. 299]

„Was das betrifft,“ meinte nun die Apothekerin, „so ist meinem Neffen, dem Maler Altwirth, dieser Erfolg schon zu vergönnen. Es kommt halt doch immer als das heraus, als was ich es gesagt habe ...“ behauptete Frau Tiefenbrunner mit bescheidener Würde. „Und ich hab’ immer gesagt zu meinem Mann ... Simon, hab’ ich gesagt, wirst sehen, unser Felix wird noch ein großer Künstler werden. Und der Simon hat mir auch geglaubt!“ versicherte die Apothekerin.

„Ich hätt’ ihm auch nit anders g’raten, dem Siemanndl!“ flüsterte die Professorin ihrer Nachbarin boshaft ins Ohr und stieß sie leise an, so daß diese vor unterdrücktem Lachen einen leichten Hustenanfall bekam.

Frau Tiefenbrunner sah mit vorwurfsvollem Blick in dem Kreis der Damen herum, die ihr jetzt alle aufmerksam zuhörten. „Es hat da in Innsbruck Leute gegeben,“ fuhr sie in ihrer langsamen Redeweise fort, „die für die Kunst des Felix Altwirth kein richtiges Verständnis haben aufbringen können. Aber das hat nix geschadet, wie Sie sehen, meine Damen!“ meinte die Apothekerin mit nachsichtigem Lächeln. „Und was ein Künstler ist, das bleibt halt eben ein Künstler!“ fügte sie weise hinzu.

„Besonders wenn sich eine Frau Doktor Rapp für so eine Kunst zu interessieren anfangt!“ sagte Frau Patscheider boshaft. Sie fühlte, daß die Apothekerin darauf ausging, ihren Gatten in den Augen der Damen herabzusetzen.

Frau Therese Tiefenbrunner parierte den Hieb. „Was das anbetrifft,“ fing sie langsam und gemächlich an, „so muß ich da schon sagen, daß ich es nicht unschön finden kann, wenn eine Dame ...“

„Dame!“ höhnte die Patscheiderin.

„Alsdann eine Frau,“ verbesserte die Apothekerin, „sich für einen Künstler und seine Kunst begeistern tut!“ Frau [S. 300] Therese Tiefenbrunner sah forschend in dem Kreise der Damen herum, um den Eindruck zu ergründen, den ihre Rede hervorgerufen hatte.

„Begeistern!“ machte die Patscheiderin. „Die und sich für die Kunst begeistern! Verliebt ist sie, und überg’schnappt ist sie, das närrische Weibsbild! Vor lauter Lieb’!“

Die Damen lachten hellauf. Sie gönnten es der Tiefenbrunnerin, daß die Patscheiderin sie so abfahren ließ. Sie kannten ja alle den Gesinnungswechsel der Apothekerin und wußten, daß sie jetzt, da der Erfolg für Felix Altwirth sprach, sich wieder zu ihm bekannte.

„Was glauben’s, was der jetzt eing’fallen ist!“ Die Patscheiderin machte ein hochwichtiges Gesicht. „Jetzt rennt das Weibsbild mei’m Mann nach. Mei ’m Mann, sag’ ich Ihnen! Und wissen’s, warum? Weil sie sich einbildet, mein Mann, mein Mann ...“ die Patscheiderin wies, so oft sie das Wort „mein“ betonte, mit dem Zeigefinger auf ihren vollen Busen ... „soll dem Felix Altwirth eine Galerie bauen. Natürlich, damit er da drinnen alleweil seine Bildlen aufhängen könnt’!“ sagte sie eifrig. „Aber mein Mann will nix wissen von der Sach’ und sagt, daß der Altwirth spinnt. Und das ist auch a so! Dem fehlt’s im obern Stübel. Ich hab’ schon immer erzählen g’hört, daß alle Maler spinnen. Wird der keine Ausnahm’ machen!“

Die Patscheiderin hatte sich in eine förmliche Aufregung hineingeredet und sah jetzt wie eine Siegerin auf die Runde der Damen, die zum Teil laut aufschrien vor Lachen.

„A Galerie! So was!“ sagte die Frau Robler kopfschüttelnd. „Ja, ja! Unser Herrgott hat halt verschiedene Kostgänger!“ spottete sie dann.

„Wo soll denn die Galerie hinkommen?“ forschte die [S. 301] Baurätin neugierig. „Daß du davon nichts weißt?“ wandte sie sich vorwurfsvoll an ihre Schwester.

„Die kommt nirgends hin. Verlassen Sie sich drauf!“ erklärte die Frau Patscheider mit Bestimmtheit. „Wenn einmal mein Mann nein sagt, nacher bleibt’s auch dabei!“

Der Apothekerin war die Wendung, welche das Gespräch genommen hatte, entschieden unangenehm. Sie hatte einen ganz roten Kopf bekommen und meinte jetzt zu der Frau Baurat Goldrainer: „Überhaupt tu’ ich nit gerne sprechen von meinem Neffen, dem Maler Altwirth. Seitdem ich mich mit ihm überworfen hab’ ...“

„Ja, sagen’s mir einmal, Frau Tiefenbrunner,“ erkundigte sich die Frau Robler teilnehmend, „hat sie sich denn gar nit entschuldigt bei Ihnen, die Frau Altwirth?“

„Die?“ Frau Therese Tiefenbrunner blähte sich ordentlich auf in dem Bewußtsein schwer gekränkter Würde. „Die ... Wenn mir die da bei der Tür einer kommen tät’ ... wenn ...“

„Ah! Tun’s nit so, Frau Tiefenbrunner!“ lachte die Professorin. „Froh wären’s, wenn sie wieder zu Ihnen käm’ und ...“

„Da tun Sie Ihnen aber doch recht gewaltig täuschen, Frau Professor!“ sagte die Apothekerin jetzt ganz bissig. „Mit der Person will ich nix zu tun haben. Die ist an allem Schuld! Wenn die nit wär’ ...“ Frau Tiefenbrunner verdrehte, als ob sie einen großen Schmerz zu erdulden hätte, die Augen und zog dann ihr weißes Taschentüchlein heraus, um sich damit die ohnedies schon sehr trockenen Augenwinkel noch ein wenig trockener zu reiben.

„Hm!“ machte die Patscheiderin und zuckte verächtlich mit den Achseln. „Ist nit zu neiden, die junge Frau ... mit dem Mann!“

Frau Therese Tiefenbrunner wurde jetzt lebendig. Sie [S. 302] vergaß die ruhige Würde, die sie für gewöhnlich zur Schau trug, und fuhr die Patscheiderin sprühgiftig an: „Das sag’ ich Ihnen, Frau Patscheider. Mit der brauchen’s kein Mitleid nit zu haben. Das ist so ein hochnasig’s, eingebildetes Ding ...“

„Nein! Das ist nit wahr!“ warf sich die kleine Frau Storf zur Verteidigerin auf. „Frau Altwirth ist eine gute und auch eine gescheite Frau!“ versicherte sie und gab ihrer schüchternen Stimme einen festen Klang. „Die kennen Sie nur nit!“

„Ich will sie auch gar nicht kennen!“ sagte die Apothekerin obstinat. „Und was die Gescheitheit von der anbetrifft, so glaub’ ich kaum, daß sie’s jetzt gelernt hat, wie man ordentliche Kartoffel rösten tut. Der Felix, das können’s mir glauben, der hat auch sein Kreuz mit ihr. Und was für eins!“

Frau Tiefenbrunner seufzte schwer und laut hörbar, als sie von dem Hauskreuz des Felix Altwirth sprach. „Überall fehlt’s da in der Wirtschaft!“ erzählte sie weiter. „Was ich da überall hab’ nachschauen müssen! Nit glauben täten Sie mir’s, wenn ich’s Ihnen auch erzählen tät’. Keine Knöpf’ in die Hosen, Löcher in die Strümpf’ ... so große!“ Frau Tiefenbrunner beschrieb mit beiden Händen einen Kreis, der beiläufig den Umfang eines Suppentellers hatte. „Dann, wenn ich zu ihr kommen bin und bei die Pfanndeln in der Küch’ nachg’schaut hab’ ...“ Frau Tiefenbrunner machte jetzt noch nachträglich ein ganz entgeistertes Gesicht vor lauter Entsetzen. „Wenn Sie die Pfannen g’sehen hätten, Frau Patscheider ...“ wandte sie sich nun mit ihrer Erzählung an diese, „wie die ausg’schaut haben! So was täten Sie nit für möglich halten. Innen drein, da waren’s geputzt, als wenn a Katz oder a Hunderl sie ausg’leckt hätt’. Aber ausg’waschen haben die nit ausg’schaut, sag’ ich Ihnen. Und außen erst!“ Frau Tiefenbrunner schlug [S. 303] die Hände über dem Kopf zusammen. „Kohlrabenschwarz sein die g’wesen! Rußig und dreckig und ...“

„Ja mei!“ Die Patscheiderin zuckte sehr geringschätzig die Achseln und tat sehr wissend. „Das beweist noch gar nix!“ sagte sie, die Apothekerin in ihrem Wortschwall unterbrechend. „Gar nix, sag’ ich Ihnen! Deshalb kann die Frau Altwirth doch a g’scheite Frau sein, wie die Frau Doktor Storf behauptet.“

„Das mein’ ich auch!“ stimmte die Baurätin bei. „Und daß es ihr Mann so treibt mit der Frau Rapp, das find’ ich einfach eine Gemeinheit!“

„Und ich kann Ihnen sagen, Frau Baurätin,“ widersprach jetzt die Apothekerin, „daß mich in meinem ganzen Leben noch nie etwas so gefreut hat, als wie mir das vom Felix und der Sophie zu Ohren gekommen ist. Das g’schieht dem Weibsbild, der Adele, vollkommen recht! Der Simon hat’s auch g’sagt!“ fügte sie zur Bekräftigung ihrer Ansicht hinzu.

„Sie, Frau Tiefenbrunner,“ ergriff nun die Professorin das Wort, „jetzt will einmal ich Ihnen etwas sagen! Sind Sie in Ihrem Zorn und Haß nit so ungerecht gegen die junge Frau! Ich kenn’ die Frau Altwirth so wenig, daß ich eigentlich nit reden kann über sie. Aber es g’fällt mir vieles an ihr, was ich hab’ beobachten können.“

„Ja, mir auch!“ stimmte die Patscheiderin eifrig bei. Sie freute sich, daß sie die Apothekerin ärgern konnte mit ihrem Lob über die Frau des Malers. „Und wenn sie nit gerade die Frau vom Felix Altwirth wär’, dann hätt’ mein Mann nix dagegen, daß ich mit ihr verkehren tät’. So gut g’fallt sie mir!“ behauptete sie.

„Was hat denn Ihr Mann gegen den Altwirth einzuwenden?“ forschte die Professorin erstaunt.

„Es ist doch auch ein Innsbrucker!“ sagte die Frau Robler.

„Natürlich!“ stimmte die Baurätin bei. „Da kann man [S. 304] schon verkehren damit! Man weiß ja, wo er her ist!“ beruhigte sie dann selber ihr Gewissen.

„Mein Mann halt nix vom Altwirth seiner Malerei!“ sagte die Patscheiderin hochfahrend. „Das hab’ ich Ihnen schon g’sagt. Und deshalb will er auch nix weiter zu tun haben mit ihm!“ erklärte sie im bestimmten Ton.

Es trat für einen Augenblick Schweigen ein in der Gesellschaft. Die Apothekerin ärgerte sich innerlich so wütend, daß sie in ihrer Aufregung eine Schale Kaffee nach der andern hinunterstürzte. Sie wußte gar nicht, daß sie es tat, sondern schluckte und schluckte nur immer krampfhaft, bis ein lustiges Lachen der Professorin sie darauf aufmerksam machte.

„Um Gotteswillen, Frau Tiefenbrunner! Sie trinken uns ja den ganzen Kaffee weg!“ rief die Professorin neckisch und zwinkerte der Apothekerin schalkhaft zu. „Krieg’ ich noch ein Schalerl, oder darf ich jetzt einen Wein trinken?“

„Einen Wein natürlich!“ sagte die Apothekerin und erhob sich geschäftig, um dem Dienstmädchen beim Verteilen der Gläser behilflich zu sein.

Die heitere, harmlose Art der Professorin hatte bewirkt, daß Frau Therese ruhiger geworden war. Und nicht ohne Dankbarkeit schenkte sie jetzt der Frau Haidacher als der allerersten von dem guten Tropfen ein. Das war eigentlich gegen das herkömmliche Zeremoniell. Denn da ging’s in solchen Fällen strenge zu, je nach Alter und Rang der einzelnen Damen.

Die Frau Direktor Robler stocherte mit der Gabel nachdenklich in dem Kuchen herum, der vor ihr auf dem Teller lag, und sagte zu ihrer Nachbarin laut, so daß es alle hören konnten: „Der Patscheider ist doch ein recht g’scheiter Mann! Mein Mann sagt’s immer, wenn wir den nit hätten in Innsbruck, nacher wär’s g’fehlt!“ sprach sie anerkennend.

[S. 305]

„Ja, das ist wahr!“ bestätigte die Baurätin. „Viel’ haben wir nit wie den Patscheider!“

„Ja, aber der Doktor Rapp ...“ warf die Patscheiderin mit spöttischer Miene ein. „Der ist ja alleweil noch der G’scheiteste!“

„Nein. Jetzt nimmer!“ Die Frau Haidacher schüttelte ernst den Kopf. „Das mit der Sophie hat ihm doch etwas geschadet. Ist’s eigentlich nit wert, das Frauenzimmer!“ fügte sie bedauernd hinzu.

„Wär’ er ledig blieben!“ sagte die Patscheiderin bissig.

Frau Haidacher sah die Frau Patscheider einen Moment scharf an, dann meinte sie ruhig: „Ja ... für ihn wär’s auch besser g’wesen ... Aber für Ihren Mann ist’s besser so, wie’s ist!“

Die Frau Professor Haidacher spielte darauf an, daß der Einfluß und die Macht, die Valentin Rapp einmal in der Stadt besessen hatte, jetzt langsam, aber sicher im Abnehmen begriffen war ... und daß Johannes Patscheider heute mehr als je eine mächtige Stellung innehatte.

Schlussvignette, Kapitel 16

[S. 306]

Siebzehntes Kapitel.

F eierlich läuteten die Glocken der Stadt das Christfest ein. In langsamen, getragenen Tönen, mächtig und gewaltig, freudig und traurig zugleich. Denn es gab viel Trauer in den Familien der Stadt. Der Tod hatte Einkehr gehalten in den Mauern und sich seine Opfer unter den jüngsten der Menschenkinder geholt. Mit würgender Hand hatte er gewütet und die kleinen Lieblinge aus den Armen ihrer Mütter gerissen.

Es gab viel Trauer in der Stadt ... Und da, wo noch Lust und Freude herrschten, da lauerte die Angst in den Augen der Mütter, die um das Leben ihrer Kinder bangten.

Weicher Schnee fiel in dichten, großen Flocken sachte zur Erde, vermischte sich mit der unendlichen weißen Decke, die nun schon seit Wochen über das Tal gebreitet war. Eine heilige Stille, die zur Andacht stimmte, lag in der frischen Bergluft. Die kahlen Äste der Bäume seufzten mit leisem Knarren unter der neuen Schneelast und beugten ihre Arme, als wären sie dankbar für die überreiche Himmelsgabe. Wie in einem unermeßlichen weichen Teppich, so lautlos und tief sanken die Tritte der Fußgänger ein. Kein Luftzug bewegte den fallenden Schnee. Kerzengerade und dicht fielen die Flocken vom Himmel.

Mit weit ausholenden Schritten eilte Doktor Max Storf nach Wilten hinauf in die Wohnung der Altwirths. Frau Adele hatte ihn schon am frühen Morgen rufen lassen, da die kleine Dora an hohem Fieber erkrankt zu Bette lag. Mit banger Sorge harrte Adele der Ankunft des Freundes, der sie von der lähmenden Angst befreien sollte.

Als Doktor Storf das Zimmer betrat, saß Adele an dem Bettchen des Kindes und hielt dessen brennend [S. 307] heiße Händchen in ihrer eigenen Hand. Mit kurzem Gruß bot sie dem Arzt ihren Platz an.

„Herr Doktor!“ Sie sah ihm flehend in die Augen. „Sagen Sie mir die Wahrheit! Ist’s Scharlach?“

Der Arzt hatte mit ernster Miene das kleine Mädchen gründlich untersucht. Nun schüttelte er erleichtert den Kopf. „Gott sei Dank, nein!“ sagte er.

„Und? ...“ frug Adele zögernd, „sind auch keine Anzeichen? ...“

„Bis jetzt nicht. Eine heftige Angina!“ konstatierte Doktor Storf. „Ich hoffe, daß es dabei bleibt.“

Adele atmete erlöst auf. „Ich danke Ihnen, Doktor!“ sagte sie herzlich. „Ich hatte solche Angst ...“ gestand sie dann und fuhr dem Kind liebkosend über die glühenden Wangen.

„Dummes Mutti, liebes!“ sagte das kleine Mädchen dankbar. „Immer bangst du dich so! Wenn ich huste oder niese, dann wird gleich der Onkel Storf geholt!“ berichtete sie wichtig.

„Das ist schon recht von der Mama!“ gab Doktor Storf zur Antwort. „Kleine Mädchen machen öfters Dummheiten und erschrecken ihre Eltern durch schwere Krankheiten. Da ist’s gut, wenn der Doktor gleich zu dir kommt, Dora!“ scherzte er.

Die kleine Dora sah ihm mit ihren großen, fieberglänzenden, blauen Augen forschend ins Gesicht. „Du, Onkel Storf,“ fragte sie, „ist Scharlach eine böse Krankheit?“

„Ja, mein Kind! Warum fragst du?“

„Ach, weil die Elsa Müller in unserer Klasse Scharlach hat. Und da sind wir alle so erschrocken, weil wir denken, daß es sehr weh tut!“ erzählte sie bedeutungsvoll.

Die kleine Dora war jetzt schon ein großes Schulmädchen geworden und ging bereits den zweiten Winter zur Schule. Sie war aber noch immer dieselbe liebe [S. 308] kleine Plaudertasche wie früher, als Altwirths noch droben bei der Weiherburg hausten.

Nun kam Felix Altwirth ins Zimmer und erkundigte sich besorgt nach dem Befinden des Kindes. Es lag eine gereizte, nervöse Angst in seinem Wesen. Doktor Storf beruhigte ihn.

„Kannst getrost sein, Felix! Kein Grund zu Besorgnissen!“ sagte er.

„Dora! Dorele!“ schmeichelte jetzt der Vater ganz glücklich dem Kinde. „Bist ein rechter Schlingel! Dem Papa solche Angst einjagen!“ schalt er sie im Scherz. „Es sollen ja tatsächlich mehrere Scharlachfälle mit tödlichem Ausgang vorgekommen sein?“ wandte er sich dann zu dem Arzt.

„Leider!“ stimmte Max Storf bei. „Die Krankheit tritt heuer bösartig auf.“

„Am liebsten ließe ich das Kind überhaupt nicht mehr zur Schule gehen!“ sagte Felix Altwirth aufgeregt.

„Oh, Papa! Lieber Papa!“ bat die kleine Dora flehend und sah ihren Vater ganz erschrocken an. Sie hatte sich im Bettchen aufgesetzt und hielt bittend ihre beiden Hände empor. Ihr goldblondes Haar fiel ihr in weichen Locken bis auf die schmalen Schultern herab, so daß sie in dem weißen Nachtkleidchen aussah wie ein lebender kleiner Engel. In ihrem hochroten Gesichtchen zuckte es wie von verhaltenem Weinen. „Wo ich so gern zur Schule gehe!“ bat sie. „Ich will ja gewiß brav sein und ruhig und will achtgeben! Tu mir nur das nicht an!“

Adele und Max Storf beschwichtigten gemeinsam das erregte Kind und versprachen ihm, daß sie gleich wieder zur Schule dürfe, sobald sie erst ganz gesund sei.

„Man muß in solchen Fällen Fatalist sein, Felix!“ sagte der Arzt. „Es bleibt nichts anderes übrig. Die Krankheit ist ja gefährlich und höchst ansteckend. Aber [S. 309] ich kenne Fälle, wo ängstlich behütete Kinder ihr zum Opfer fielen. Kinder, die nie mit einem andern Kind in Berührung kamen. Und gerade solche Kinder, scheint es, bieten einen fruchtbaren Keimboden für derartige Krankheiten.“

Solange die kleine Dora krank lag, kam Doktor Storf täglich ins Haus. Mitunter sogar zweimal. Er fühlte es, daß es Frau Adele eine Beruhigung gewährte, wenn er bei dem Kinde Nachschau hielt. So kam er gern. Weniger als Arzt wie als Freund.

Und einmal traf er zufällig mit Frau Sophie Rapp zusammen. Es war eine flüchtige Begegnung in dem geräumigen Vorhaus der Altwirths. Adele geleitete den Freund bis an die Tür des Hausganges und plauderte fröhlich und angelegentlich mit ihm. Sie verstanden sich gut, diese beiden und wußten einander immer etwas zu erzählen.

Doktor Storf empfand eine tiefe Verehrung für die Frau seines Freundes, die sich, je näher er sie kennen lernte, immer mehr steigerte und befestigte. Je mehr er in der Seele dieser Frau lesen gelernt hatte, desto deutlicher empfand er es, daß gerade Adelens Wesen und Art die Ergänzung seines eigenen Charakters bildete. Diese ruhige, heitere, sich stets gleich bleibende Art, die von einer großen inneren Ausgeglichenheit zeugte, hatte er sich ja immer ersehnt.

Es war kein leidenschaftliches Aufflackern der Gefühle, das ihn zu Adele drängte. Es war die bewußte Erkenntnis, daß gerade Adele und er selbst in ihren ganzen Anlagen, in ihrem Geschmack und in ihrer Lebensauffassung wie füreinander geschaffen waren.

Mit keinem Wort verriet Doktor Storf sein innerstes Empfinden. Es war eine stumme, warme Huldigung, die er ihr darbrachte und die Adele fühlte und dankbar annahm.

[S. 310]

Eine Weichheit des Denkens und Empfindens war über Adele Altwirth gekommen. Und der eisige Ring, der ihr warmes Herz wie ein fester Panzer umklammert hielt, löste sich allmählich. Ihr neu erwachtes Innenleben verschönte sie und machte sie unsagbar glücklich. Adele war ihrem Schicksal dankbar für das, was es ihr bestimmt hatte. Für die echte und ehrliche Freundschaft eines ritterlich denkenden Mannes, an dem sie einen Halt und eine Stütze gefunden hatte.

Mit scharfem, erkennendem Blick durchschaute es Sophie Rapp, wie es mit Adele und Max Storf stand. Es waren nur wenige Augenblicke, die sie die beiden zusammen sah. Aber sie, die Meisterin der Liebe, erkannte es, daß in den Gefühlen der beiden eine Glut schlummerte, die nur des Zufalls bedurfte, um zur Flamme entfacht zu werden.

Es war ein kurzer, scharfer, spöttischer Blick, mit dem sie den Arzt ansah. Dann wandte sie sich in ihrer heiteren Weise ruhig und ungeniert der Künstlersfrau zu.

„Ja, Frau Adele, daß man Ihnen einmal zu Gesicht kriegt!“ neckte sie die junge Frau. „Sonst sind’s ja immer verschwunden. Sperren Ihnen ein wie eine Heilige im Schrein. Aber freilich, wenn man so einen Besuch kriegt!“ Sie deutete neckisch mit dem Finger auf den Arzt. „Dann steigen auch die Heiligen aus ihren Höhen herab!“

Lustig und ausgelassen lachte sie. Wiegte sich, wie es ihre Art war, kokett in den Hüften und betrachtete abwechselnd bald Adele und bald den Doktor.

Max Storf sah verlegen auf Adele, in deren blasse Wangen ein leichtes Rot gestiegen war. Daß Sophie Rapp so resolut und mit so dreisten Händen in das zarte Gewebe ihrer Freundschaft griff, verletzte sie beide. Doktor Storf nahm, so rasch er konnte, Abschied von [S. 311] den Damen. Sein Gruß klang gezwungen und etwas steif.

Adele wollte Sophie ins Atelier führen, aber Sophie lehnte ab. „Lassen’s mich doch zuerst einmal nachschau’n beim Dorele!“ sagte sie munter. „Es geht ihr besser, hab’ ich g’hört. Und da hab’ ich ihr ein paar Zuckerln mitgebracht. Die möcht’ ich ihr geben.“ Sie enthüllte eine hübsche Bonbonniere, die einen lieblichen Engel darstellte.

„Ach, wie schön!“ sagte Adele. „Der wird die Dora aber freuen!“ Und sie ging voran, um Sophie zu dem kranken Kind zu führen ...

„Jetzt sagen’s mir einmal, Frau Altwirth ...“ fing Sophie plötzlich ganz unvermittelt an, als sie beide wieder aus dem Kinderzimmer getreten waren. „Wie können denn Sie das aushalten? Ich mein’, das mit dem Doktor Storf?“ fragte sie neugierig und sah der blonden Frau forschend ins Gesicht.

„Ich verstehe Sie nicht, Frau Doktor!“ erwiderte Adele abweisend.

„Ah, geh’! Stellen’s Ihnen nit so!“ sagte Sophie. „Sie wissen recht gut, was ich mein’! Ein jed’s Kind kann’s ja sehen, daß der in Ihnen vernarrt ist! Und ... na ja ... ganz gleichgültig ist er Ihnen auch nit! Das hab’ ich schon g’sehen!“

„Doktor Storf ist mein Freund!“ wies Adele Frau Sophie in etwas hochfahrendem Ton zurecht. „Wie Sie dazu kommen, Unrat zu wittern ...“

Nun lachte Sophie hell und lustig auf. „Sie Patscherl, Sie! Wenn ich das tät’, dann wüßt’ ich ja, wie’s steht mit Ihnen. Aber das ist’s ja gerad’, was ich nit begreif’! Diese keusche Zurückhaltung!“ sagte sie in mokantem, pathetischem Ton. „Das hat ja gar keinen Zweck! Wenn er Ihnen g’fallt, so nehmen’s ihn doch!“

Adele war abwechselnd blaß und rot geworden bei [S. 312] den Reden dieser Frau. „Ich denke nicht daran!“ sprach sie energisch und abweisend. „Ich will mich rein halten, nicht der Spielball sein in dem Leben eines Mannes!“

Es lag eine tiefe Härte in ihren Worten. Sie wollte Sophie treffen ... aber sie traf sie nicht.

„Spielball?“ sagte Sophie mit ehrlichem Bedauern. „Wenn Sie das wirklich glauben, dann tun’s mir leid! Sie sind doch keine Klosterfrau und dürfen Ihr Leben genießen! Warum tun Sie’s nit?“

„Weil ich verheiratet bin und meinem Gatten Treue geschworen habe!“ sagte Adele fest.

„Treue?“ Sophie Rapp war auf einmal ernst geworden. „Frau Adele,“ sprach sie, „ist das wirklich der Müh’ wert, daß Sie Ihr ganzes Leben umsonst gelebt haben? Wollen Sie nit lieber ehrlich sein mit sich selber? Treue? ... Wissen Sie überhaupt, was Liebe ist? Glauben Sie nit, daß es Sie einmal reuen wird, daß Sie Ihr Leben vertrauert haben ... einem einzigen leeren Wort zulieb! Nein, Frau Adele, das ist nit recht! Das ist gegen die Natur!“

Adele Altwirth sah mit nachdenklichem Gesicht vor sich hin. Sie konnte nicht gleich die rechten Worte finden zu einer Erwiderung. Auch fühlte sie, daß das, was ihr Sophie Rapp da sagte, ein Körnchen Wahrheit barg.

Diese Lebensanschauung war ihrer eigenen vollständig entgegengesetzt. Sie war brutal egoistisch. Niedrig wollte Adele sie nennen. Aber bei dem bloßen Gedanken an diese Bezeichnung hielt sie inne. War es wirklich niedrig? War es gemein? War es nicht doch die ureigenste Stimme der Natur, die Sophie vertrat?

Vielleicht hatte die Frau da doch recht. Es war vielleicht nur mißverstandene Moral, eine Tugend, die in Wirklichkeit nur Eitelkeit und Feigheit war. Feigheit und Mangel an innerer Kraft, dasjenige auch durchzuführen, [S. 313] das man vor sich selber als sein persönliches Recht erkannt hatte.

Warum sollte nur das allein richtig sein, was durch althergebrachte Gewohnheit als ein Sittengesetz aufgestellt war? Sprachen nicht die vielen Tausende der unglücklichen Ehen gegen dieses Gesetz? Warum sollte der eine verkümmern und der andere in Überfluß schwelgen? Sprach sich nicht die Natur selbst dagegen aus? Und Sophie Rapp? War es wirklich ein so schweres Unrecht, das sie beging, weil sie dem eigenen Trieb folgte?

Sophie Rapp sah den Zwiespalt, der sich in der Seele des jungen Weibes abspielte. Frau Adele erbarmte ihr. Sie hatte ehrliches Mitleid mit der Frau, die so früh aufgehört hatte, Weib zu sein.

Sie dachte nicht daran, daß ja sie selber ihr den Gatten entfremdet hatte. Daß sie es war, die mit leichtsinnigen Händen diese Ehe zertrümmert hatte. Für Sophie galt nur das Recht der Liebe. Sie genoß in vollen Zügen. Warum sollten andere sich zurückhalten und nicht auch ihren Anteil an dem Glück haben?

„Das Leben ist kurz, Frau Altwirth!“ sagte Sophie über eine kleine Weile. „Und hat nit viel Schönes für die Menschen übrig. Wir müssen es uns selber schön machen, so gut es geht.“

„Ist das schön ... wenn ich meine Frauenehre mit Füßen trete?“ frug Adele herb.

Da neigte sich Sophie Rapp ganz nahe zu der blonden, hohen Frauengestalt, die neben ihr stand, und flüsterte ihr leise zu: „Das Schönste im Leben ist das Vergessen in Liebe! Es ist das einzige wahre und echte Gefühl, weil es die Natur gegeben hat. Wer diese Stimme nicht kennt, der hat sein Leben nicht gelebt!“

Adele Altwirth preßte fest die Lippen aufeinander. Ein Sturm von unterdrückter Leidenschaft tobte in ihrem [S. 314] Innern. Warum wies sie dieser Frau nicht die Tür? Warum ließ sie es zu, daß sie in einer solchen Sprache mit ihr redete?

„Ich werde nichts bereuen!“ stieß Adele gepreßt hervor. „Ich werde mich nie erniedrigen!“

Sophie Rapp nahm die eisig kalte Hand der jungen Frau zwischen ihre brennend heißen Hände und sagte warm: „Vielleicht denken’s noch einmal anders, Frau Altwirth! Ich hoff’s ... für Ihnen! Aber merken Sie sich’s, wenn man ehrlich liebt ... wissen’s ... so recht heiß und von ganzem Herzen ... dann gibt’s nur ein Verlangen, nur ein Sehnen ... und das, Frau Adele ... das ist dann kein Wegwerfen nit! Das ist Menschenrecht ... weiter nix!“ —

Adele Altwirth stand noch lange, nachdem Sophie von ihr gegangen war, in dem Zimmer ... stand nachdenklich und mit sinnendem Blick da.

Diese Frau mit ihren Reden hatte alles aufgewühlt in ihr. Sie trug die Schuld daran, daß Adele nun viele schlaflose Nächte hatte. Nächte, die sie in heißem Ringen mit sich selber zubrachte, in denen sie mit Macht ankämpfte gegen eine Leidenschaft, zu deren voller Erkenntnis sie durch die Worte der Frau Sophie Rapp gekommen war.

Erst nach vielen Wochen hatte sie ihr inneres Gleichgewicht wiedergefunden, und sie konnte wie zuvor mit derselben unbefangenen Herzlichkeit Max Storf entgegentreten. Adele Altwirth war selig und stolz auf sich selber, daß sie den Sieg über die eigene Natur davongetragen hatte. Sie freute sich darüber wie über ein großes, unerwartetes Glück. Sie genoß dieses Glück, genoß die herzliche Freundschaft und Verehrung des Freundes und liebte ihr Kind, dem sie eine reine Mutter geblieben war, mit noch innigerer Liebe ...

Die kleine Dora war nun wieder ein ganz gesundes, [S. 315] frisches Mäderl geworden. Sie hüpfte herum, munter und heiter, und zwitscherte wie ein loser, übermütiger, kleiner Vogel in seiner goldenen Freiheit.

Der alte Rat Leonhard freute sich ganz besonders über seine lustige kleine Freundin. Seit die Altwirths in Wilten wohnten, hatte der Herr Rat eine kleine Veränderung in den Gepflogenheiten seines Lebens treffen müssen. Jeden Tag, den Gott gab, stand der Rat Leonhard vor den Toren der Schule und wartete geduldig, bis die kleine Dora herausgesprungen kam und mit ausgebreiteten Armen auf ihn zulief.

Daß der Rat Leonhard sie jeden Nachmittag von der Schule abholen müsse, das hatte sie sich von ihm ausgebeten. Sie hätten ja sonst gar nichts mehr voneinander, meinte sie schmollend. Und was die kleine Dora anzuordnen beliebte, das führte der alte Herr aus wie auf einen hohen Befehl.

Er freute sich von Tag zu Tag auf das Zusammentreffen mit dem Kinde und auf den kurzen Weg von der Schule bis zu ihrem Haus. Er freute sich immer auf die lose, schalkhafte Art, wie sie dem Kreis ihrer Mitschülerinnen behend entwischte und ihn dann wie ein junges, aus der Gefangenschaft entlassenes Tierchen ansprang. Mit beiden Armen umhalste sie ihn ungestüm, drehte sich mit ihm übermütig wie ein Kreisel herum und rief immer wieder: „Onkel Rat! Onkel Rat! Lieber, alter Onkel Rat!“

Diese ungestüme Zärtlichkeit bereitete dem alten Junggesellen eine innige Herzensfreude. Er lebte ganz in der Welt des Kindes, kannte ihre Freundinnen und ihre kleinen Gegnerinnen in der Schule. Wußte von ihren Aufgaben und von ihren Lehrerinnen. Alles erzählte sie ihm. Plapperte ununterbrochen, bis sie sich dann vor ihrem Haus trennten. Denn die Wohnung der Altwirths betrat der Rat Leonhard nur höchst selten. [S. 316] Er hatte keinen Wunsch mehr, mit dem Maler Altwirth zusammenzutreffen.

Mit Frau Adele traf er sich im Winter jetzt öfters. Die kleine Dora hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß der Onkel Rat an den schulfreien Tagen mit ihr rodeln gehen müsse. Das tat sie nämlich leidenschaftlich gern. Jauchzte laut auf vor Lust, wenn der Schlitten über die Berghalde sauste. Und da es ihr so sehr gefiel, so glaubte sie, daß es ihrem alten Freund gleichfalls gefallen müsse. Aber trotz Doras Bitten und Betteln war der Rat Leonhard nicht zu bewegen, seine steifen, alten Glieder einer Rodel anzuvertrauen. Er ging mit, um Dora bei ihrer lustigen Schlittenfahrt zu bewundern und sich an ihrer Freude zu ergötzen.

So wanderten die drei, Adele Altwirth mit ihrem Töchterchen und der Rat Leonhard, ganz so, wie sie es in früheren Jahren getan hatten, gemeinsam auf einsame Bergabhänge, von wo dann Adele mit dem Kind hinunterrodelte.

Selig, jauchzend vor Freude und mit ganz blauem Gesichtchen saß das Kind vor der Mutter auf dem Schlitten. Die schneidend kalte Bergluft pfiff ihr um das sorgfältig vermummte Gesicht. Nur die Augen und das Näschen waren unter der dicken, hochroten Samthaube zu sehen.

Die drei durchstreiften jetzt einen andern Teil von der Umgebung der Stadt. Sie gingen jetzt nicht mehr hinauf zur Weiherburg, sondern trieben sich mehr auf der Wiltener Seite herum, nahmen die Richtung gegen Schloß Mentelberg und gegen das Oberinntal zu oder benützten die sachte abfallenden Schneegelände, die von der Brennerstraße herunter zur Stadt führten.

Da oben war es ganz besonders herrlich schön. So frei und weit schien die Welt da zu sein. Und die Nordkette in ihrer stolzen Pracht bedrückte nicht so wie drunten im Tal ...

[S. 317]

So ging der Winter dahin. Und dem Winter folgten frühe Ostern, die heuer so zeitlich fielen, daß der Schnee im Tal sich mit Eile daran machte, dem sprossenden, nach Leben drängenden Grün der Wiesen zu weichen.

Das blonde kleine Mädchen der Altwirths freute sich auf den Osterhasen. Freute sich darauf wie noch nie. Immer schwärmte sie von den Osterferien, die nun kommen sollten, und von den weiten Wegen, die sie dann mit dem Onkel Rat machen würde. Überallhin, wo die liebe Sonne so warm und hell schien. Überallhin, wo schöne, frische Blumen wachsen würden, die sie alle, alle pflücken und dann sorgsam pflegen wollte. Sie hatte solche Sehnsucht nach Blumen, die kleine Dora ...

Ostern kam ...

Ein krankes Kind lag in schweren Fieberträumen ... Scharlach ... Es bäumte und wälzte sich auf seinem Lager und konnte kaum zur Ruhe gebracht werden. Und vor ihm kniete Adele in heißer Angst und betete. Sie betete zu Gott, daß er ihr das einzige und letzte Glück ... ihr Kind lassen möge. Sie betete mit Inbrunst wie sie noch nie gebetet hatte im Leben. Sie betete mit dem reinen Glauben ihrer Kindheit und voll Vertrauen ...

Die Tage schlichen dahin in endloser Qual. Einer um den andern ... Stunde um Stunde ... Minute um Minute ...

Adele geizte mit jeder Minute ... rang in ohnmächtiger Verzweiflung mit dem Würger ihres Kindes.

Sie wußte, daß es keine Hilfe gab. Doktor Storf hatte es ihr sagen müssen.

„Doktor ... helfen Sie ... retten Sie ...“ Wie eine Wahnsinnige hatte Adele ihn angefleht, war auf den Knien vor ihm gelegen und hatte seine Hand geküßt. „Doktor ... retten Sie ... ich darf mein Kind nicht [S. 318] verlieren ... Doktor ... es ist das Letzte, was ich habe im Leben!“

Und Doktor Storf war erschüttert davongerannt mit rasend schnellen Schritten. Fort ... fort ... wo er nicht helfen konnte ... fort ... um den Schmerz der geliebten Frau nicht mehr zu sehen. Noch nie war ihm sein Beruf so hart angekommen.

Einsam saß Felix Altwirth in seinem Atelier. Er konnte nicht arbeiten ... Die Angst lähmte ihm sein Denken ... machte ihn stumpf und apathisch. Er konnte nicht zu dem Kind gehen und das Ringen des jungen Lebens mit dem Tode sehen ... Warum mußte das kommen ... warum? ... War es eine Strafe für ihn? ... Aber warum mußte dann sie leiden ... Adele ... die doch schuldlos war?

In dem dämmerigen Zimmer des Kindes herrschte eine lautlose Stille. Die Vorhänge waren heruntergelassen und hielten die letzten Strahlen der scheidenden Sonne ab ...

Drunten auf der Straße, vor den verhüllten Fenstern des Kinderzimmers schlich der alte Rat Leonhard auf und nieder. Ganz traurig und gebeugt ging er, der alte Herr, und hatte gar keine Schrullen mehr. Sein jetzt schneeweißer Kopf war tief gesenkt, und in der Hand hielt der Herr Rat ein winziges Sträußchen der ersten Frühlingsblumen. Er hatte einen weiten Weg machen müssen, um sie zu finden. Es waren Schneeglöckchen und kaum erblühte Schlüsselblumen. Die wollte er seinem Liebling zum Gruße senden.

Sehnsüchtig sah der alte Herr zu den Fenstern empor. Wenn er doch hinauf dürfte ... Nur ein einziges Mal ... nur einmal noch im Leben das Lachen der kleinen Dora hören und ihr ins liebe Gesichtchen schauen ... in die guten, klugen Kinderaugen ...

Den alten Rat fröstelte es ... er stand schon lange [S. 319] hier ... sehr lange ... und niemand kam, um ihm die Blumen abzunehmen ... Ob er doch hinaufgehen sollte, um Einlaß bitten? Er hatte es schon öfters vergebens versucht.

Niemand wurde eingelassen. Nicht einmal der Rat Leonhard. Der Arzt hatte strenge Absperrungsmaßregeln angeordnet.

Jetzt fing es schon an zu dunkeln. Und noch immer kam niemand von den Altwirths zu dem alten Herrn herab. Das Dienstmädchen wußte ja, daß er kommen würde ... Warum ließ sie ihn warten? ...

Von den Bäumen des Gartens, an den die Straße grenzte, wo der Rat Leonhard stand, sang eine Amsel ... ein kurzes, einförmig trauriges Lied ... und dann verstummte sie plötzlich. Und wiederum tiefe Stille. Nichts regte sich in der einsamen Straße.

Immer wieder eilte der alte Herr vor dem Haus auf und ab ... Sie mußten doch kommen und ihm von dem Kinde erzählen ... Bald ... Sehr bald ... Es konnte nicht mehr lange dauern ...

Da ... ein langsam verhallender Glockenton ... Sie läuteten zum Avegruß drüben in dem großen Stift zu Wilten.

Dem alten Herrn klang es wie das Läuten einer Totenglocke ...

Warum war das Sterben so schwer ... Warum? Oder war es dem Kinde leicht und erschien nur ihm, dem Alten, so hart?

Der Rat Leonhard bemerkte es gar nicht, daß ihm dicke Tränen über die runzeligen, welken Wangen fielen ... Er lief auf und ab ... immer schneller ... immer ungeduldiger ... rastlos ... und es fror ihn an dem lauen Frühlingsabend ...

In dem Zimmer des sterbenden Kindes war die lautlose Stille gewichen ... Adele hatte mit heißem Schrecken [S. 320] das nahende Ende erkannt. Sie sah es an dem fliegenden Atem des Kindes und hörte es an dem leisen Röcheln ...

Da hatte sie Felix rufen lassen.

In tiefer Bewußtlosigkeit lag das kleine Mädchen da. Sie rührte sich nicht. Gab kein Zeichen ...

Als Felix kam, wurde sie unruhiger ... Und dann mit einem Male schlug sie ihre fieberglänzenden blauen Augen auf. Voll und weit ... Und sah auf Vater und Mutter ... und lächelte ... lächelte so innig und schön, daß Adele glaubte, laut aufschreien zu müssen vor wehem Leid.

„Mutti ...“ sagte das Kind leise.

„Dora ... Dorele ...“ schluchzte Adele.

„Weißt du nimmer das Lied ... das schöne Lied ...“ sagte das Kind drängend.

„Welches Lied ... Dora?“ frug Adele mit zuckenden Lippen.

„Von Blumen und ...“ hauchte das Kind kaum hörbar.

Und dann neigte es sein Köpfchen ... ganz ... ganz wenig ... wie ein müder kleiner Vogel, der sich nach Ruhe sehnt ...

Und als der alte Rat, von banger Sorge getrieben, doch heraufgekommen war ... da legte er den ersten Blumengruß des Frühlings auf die gefalteten Hände des toten Kindes.

Schlussvignette, Kapitel 17

[S. 321]

Achtzehntes Kapitel.

D er Tod seines Kindes war Felix Altwirth nahe gegangen. Bittere Reue quälte ihn, daß er sich um das Kind so wenig gekümmert hatte. Es schmerzte ihn jetzt, daß er nur sich und seinen Neigungen gelebt hatte, und er verurteilte die selbstische Sucht des Künstlers, sich und seine Kunst, seine Wünsche und Ziele stets an erster Stelle zu setzen.

War er denn tatsächlich so glücklich geworden? War dies mit Sophie nicht nur ein Rausch, der einmal eine innere Leere zurücklassen würde? Hätte er nicht besser daran getan, sein Temperament mehr im Zaum zu halten, es zu überwinden und sich mehr Adele und dem Kind zu widmen?

Er dachte an das zarte, kleine Mädchen, wie dankbar sie ihm war für jeden flüchtigen Liebesbeweis, den sie von ihm erhielt. Wenn er ihr dann und wann einmal zärtlich über das blondgelockte Köpfchen fuhr, dann sah sie jedesmal mit strahlenden Augen zu ihm auf. „Papi! Lieber Papi!“ sagte sie dann jubelnd und küßte ihn stürmisch.

Dieser strahlende, dankbare Blick des Kindes verfolgte jetzt Felix und traf ihn als ein schwerer Vorwurf. Wie liebesbedürftig war das Kind gewesen, und wie wenig Liebe hatte er für sie übrig gehabt. Es tat ihm so weh, fortwährend an die hellen, freudigen Augen der kleinen Dora denken zu müssen. Gerade das Glück und die Seligkeit, die aus ihnen gesprochen hatten, verwundete ihn bis ins Innerste.

Das kleine Mädchen dankte dem Vater für die Abfälle seiner Liebe, die er in so reichlichem Maße für eine Fremde empfand. Aber war denn Sophie eine Fremde? War sie nicht die Verkörperung seiner höchsten Wünsche und Ideale? War sie nicht sein ... sein Weib ... obwohl [S. 322] nach Recht und Gesetz die Gattin eines andern? Und Adele ...

Felix Altwirth hatte tiefstes Mitleid mit dem Schmerz seiner Frau. Er wußte, daß ihr Leben nun ganz zertreten war ... ein Leben, das so reich hätte sein können und so glücklich, wenn es nicht seine Bahn gekreuzt hätte ...

Warum paßten sie gar nicht zueinander ... er und Adele?

Felix dachte jetzt in den vielen Stunden einer grüblerischen Reue darüber nach. Sie hatten einander doch lieb gehabt, als sie sich heirateten, und waren zueinander gestanden, als die Not kam. Nein ... das war er nicht. Felix war gerecht genug, es jetzt einzusehen, daß Adele es war, die aufrecht blieb, zu ihm hielt und ausharrte. Er hatte sie gequält und mit Vorwürfen gepeinigt.

In der Not hatte er sie und ihr Kind als eine Last empfunden ... als eine schwere, eiserne Kette, die den Künstler niederzog und gewaltsam festhielt. Er hatte es gesehen, wie sie innerlich litt, und er liebte sie ... vielleicht gerade deshalb. Er wußte es nicht genau, warum. Er wußte es jetzt nur noch, daß er sie damals noch liebte, als er sie demütigte. Sie war ihm alles, bis Sophie in sein Leben trat.

Und jetzt, jetzt liebte er Adele nicht mehr. Dies Gefühl war klar und deutlich. Seine Liebe hatte aufgehört von jenem Augenblick, da die Frau in stolzer, vornehmer Würde ihren Gatten der Liebe eines andern Weibes überließ, ohne einen Vorwurf für ihn zu haben.

Ohne Bitterkeit und ohne Kampf hatte diese Übergabe stattgefunden. Es war sein Wille gewesen, die andere zu besitzen, und Adele hatte sich gefügt. Die Art, wie sie es tat, brachte es mit sich, daß das warme und ehrliche Gefühl, das Felix für sie stets empfunden hatte, langsam in eine Gleichgültigkeit gegen sie überging.

Felix liebte seine Frau nicht mehr. Auch jetzt nicht, [S. 323] nach dem großen, gemeinsamen Leid, das sie beide vielleicht hätte einander näher bringen sollen. Er hatte nur Mitleid für sie. Ein großes, namenloses Mitleid, das ihm so wehe tat, daß er hätte weinen mögen. Er fühlte sich so schuldig in ihren Augen ... schuldig daran, daß seine Frau nun wie eine lebendige Tote herumwandelte.

Bleich und aufrecht ging Adele ihren einsamen Weg. Sie hatte keine Tränen mehr ... Mit heißen, brennenden, todestraurigen Augen sah sie jetzt auf den Gatten. Felix hatte eine Scheu vor ihrem Blick. Er fürchtete sich davor. Er fürchtete mit fast abergläubischer Angst, daß sie nun von ihm gehen würde. Er wollte sie nicht von sich lassen ... er liebte sie nicht ... aber er hatte das Bedürfnis, daß sie bei ihm bleiben müsse.

Und einmal sprach Adele davon, daß sie fortzugehen wünsche. Jetzt konnte sie es ja tun. Nun war sie frei ... Das letzte Bindeglied zwischen ihr und dem Gatten lag droben in dem stillen Friedhof zu Wilten.

Adele sprach ihren Wunsch ruhig und klar aus, ohne Erregung und mit tonloser Stimme.

Tötlich erschrocken sah Felix seine Frau an.

„Fort willst du, Adele? Geh’ ... nicht!“ bat er herzlich. „Wir sollten jetzt nicht voneinander gehen. Wir sind doch gute Kameraden!“

Um Adelens Mund zuckte es wehe. „Sind wir das wirklich, Felix?“ frug sie bitter.

„Nein, Adele. Du hast ja recht. Ganz recht hast du. Aber geh’ trotzdem nicht von mir! Ich bitte dich darum!“ sagte Felix leidenschaftlich. „Mein guter Engel geht ... wenn du gehst!“

Adele saß in einem weichen Lehnstuhl ihres hübschen Wohnzimmers in derselben Haltung wie stets, wenn sie nachdenklich war. Leicht nach vorne gebeugt und mit dem Arm aufs Knie gestützt. Sie sah mit ernstem, [S. 324] forschendem Blick auf Felix, der mit geducktem Kopf wie ein schuldbewußter Knabe vor ihr stand.

Felix hatte noch immer etwas Weiches, Knabenhaftes an sich. Etwas in seinem Wesen, das die unselbständige Art seines Charakters verriet und das um eine feste, energische Hand förmlich zu bitten schien.

Oft schon hatte sich Adele gefragt, ob Felix wohl ein anderer geworden wäre, wenn er Sophie Rapp zur Gattin genommen hätte. Und immer hatte sie diese Frage bejahen müssen. Hatte sich sagen müssen, daß gerade Sophiens Temperament und Leidenschaft den richtigen Ausgleich für Felix bedeutet hätte.

Adele war einsichtsvoll genug und besaß auch jenen Grad der Selbsterkenntnis, um es sich zu gestehen, daß sie selber nicht ganz ohne Schuld war. Ihre ruhige, vornehme Art paßte eben nicht zu dem Künstler. Da paßte ein wildes, aufgeregtes Blut, ein Temperament, das zügellos sein konnte und sofort wieder gefügig, willig und zahm wie ein kleines Kind.

Das alles war Sophie. Ihr selber fehlte es vollständig. Das wußte sie. Und gerade diese Erkenntnis war es, die Adele so gerecht urteilen ließ. Sie wollte nicht hart gegen Felix sein. Wenn sie ihm wirklich noch etwas bedeutete im Leben, dann war sie froh.

Sie wollte ihn nicht strafen durch eine Härte, die ihr gar nicht eigen war. Und wenn er sie jetzt bat, daß sie bei ihm bleiben sollte, so war dieser Wunsch ehrlich und aufrichtig gemeint. Er entsprang vielleicht einem künstlerischen Sehnen nach Reinheit und mildem Verstehen ... und das wollte sie ihm erfüllen. Sie litt ja jetzt nicht mehr unter seiner Untreue. Dies Gefühl für ihn war gestorben ... tot ... wie ihr Kind.

„Dann will ich bleiben, Felix!“ sagte Adele über eine Weile, während der sie Felix mit ängstlichen Augen beobachtet hatte. „Bleiben ... solange du willst!“

[S. 325]

„Ich danke dir, Adele!“ Fast ehrfürchtig zog der Gatte die schöne, wohlgepflegte Hand Adelens an seine Lippen. „Vielleicht ... vielleicht ...“ sagte er zögernd und sah etwas schüchtern und unbeholfen auf seine Frau, „vielleicht kommen wir uns doch wieder näher ... vielleicht ...“

„Wir wollen nicht davon sprechen, Felix!“ sagte Adele ruhig. „Ich will dir immer ein guter Kamerad bleiben, auf den du dich verlassen kannst. Wenn dir das genügt, soll mir’s recht sein!“

„Ja, Adele, es ist mir recht!“ Unsicher schaute Felix nach seiner Frau. Das war wieder die Art an ihr, die er nicht verstand und nicht begreifen konnte. Dieser Mangel an Wärme und Weichheit, die Sophie in so reicher Weise besaß. Und gerade diese stolze Würde und Ruhe war es, die ihn auch jetzt wieder zu Sophie trieb ...

Sophie Rapp hatte unter der trüben Stimmung ihres Geliebten schwer zu leiden. Fast glaubte sie, daß sie ihn verlieren würde. Aber sie wollte ihn nicht verlieren ... Sie liebte ihn und kämpfte mit ihm um seine Liebe. Und meisterhaft verstand sie es, auch diese Gefahr zu überwinden. Geschickt und klug brachte sie ihn auf andere Gedanken, entwickelte Pläne mit ihm und Zukunftsträume. Alle seine melancholischen Bedenken überwand sie und führte ihn so langsam, aber sicher wieder auf den Pfad, wo sie ihn haben wollte.

Daß Adele bei dem Gatten blieb, war ihr äußerst erwünscht. Sie selber hatte gar keinen Wunsch, sich von Doktor Rapp scheiden zu lassen. Das Verhältnis zu Felix paßte ihr so, wie es war, und sie erstrebte keine Ehe mit ihm.

Daß Felix aber, wenn Adele fortgegangen wäre, im Lauf der Zeit diese Forderung an sie gestellt hätte, das wußte Sophie ganz genau. Und sie wußte es auch, daß es dann zwischen ihr und dem betrogenen Gatten [S. 326] zu einer Katastrophe gekommen wäre. So begünstigte sie das Einvernehmen, das zwischen Felix und Adele herrschte, nach ihren Kräften. Sie brachte es auch zustande, daß Felix aus Rücksicht für seine Gattin den eigenen Schmerz überwand, daß er um ihretwillen, deren Leben er zertreten hatte, dasjenige tat, was er in seiner bedrückten seelischen Stimmung um seiner selbst willen niemals getan hätte.

Sophie sprach mit dem Künstler viel von der Verwirklichung seiner großen Pläne. Seit Monaten schon war sie dem Kaufmann Patscheider in den Ohren gelegen, daß er sich der Gründung einer Tiroler Nationalgalerie annehmen möge. Sie hatte es nicht gerne getan. Patscheider war ihr nicht entgegengekommen, sondern hatte die Angelegenheit abweisend behandelt. Sophie war sich diesem Manne gegenüber dann immer sehr klein und gedemütigt vorgekommen.

Mit großer Selbstüberwindung hatte sie ihn trotzdem bei jeder Gelegenheit, die sich ihr bot, aufs neue bearbeitet. Aber damals war Felix noch der treibende Faktor gewesen. Jetzt, nach dem Tode des Kindes bezeigte er keine Lust mehr, sich weiter für seine eigenen Ideen zu interessieren. Sophie fühlte es, daß nur eine große, neu erwachte Begeisterung jetzt imstande wäre, Felix seiner Lethargie zu entreißen. Und deshalb sprach sie ihm nun immer dringender von seinen Zukunftsplänen und zwang ihn förmlich dazu, auf ihre Gedankenwelt einzugehen.

Traurig und mißmutig wehrte Felix ihr ab. „Laß mich, Sophie!“ sagte er trübsinnig. „Das hat ja jetzt alles keinen Zweck mehr! Für wen soll ich jetzt noch arbeiten? Ich bin froh, wenn das Leben zu Ende ist.“

Da stellte sich Sophie resolut vor ihn hin. „Felix! Mensch! Schämst dich nit!“ sagte sie mit blitzenden Augen. „Ist das ein Mann, frag’ ich! Es ist ja recht, [S. 327] wenn man um sein Kind trauert. Und ’s Dorele ... das war ein lieber Schneck. Da darf man schon trauern drum. Aber gleich das ganze Leben wegwerfen ... dazu, Felix, hast du kein Recht nit! Ein Künstler gehört nicht nur sich selber, sondern der ganzen Welt, hab’ ich oft von dir g’hört! Und jetzt raffst dich auf, sag’ ich ... und arbeitest und schaffst! Tag und Nacht, wenn’s sein muß! Aber arbeit’! Denk’! Auch deiner Frau zulieb mußt du’s tun!“

Sophie hatte sich neben ihn gesetzt und hatte sich innig an ihn geschmiegt. „Schau, Felix,“ fuhr sie dann mit weicher, überredender Stimme fort, „du hast mir oft erzählt, wie rührend Adele damals an deine Kunst geglaubt hat, als sie dich alle verachtet haben. Und diesen Glauben mußt du ihr jetzt lohnen. Daß ihr zwei, du und sie, nit zusammen paßt, da könnt’s ihr ja beide nix dafür. Das ist halt amal so. Da kann man nix machen! Und sie ist ja eine recht vernünftige Frau. Die versteht’s und kann’s entschuldigen. Aber das ist g’fehlt von dir ... daß du deswegen hergehst und Tag und Nacht a G’sicht schneidest wie zehn Tag’ Regenwetter und dich am liebsten aufhängen tätest vor Kummer ... Das ist blöd und hat kein’ Sinn und kein’ Zweck. Ihr zulieb raff’ dich auf! Sie soll wenigstens auf deine Kunst und auf deine Erfolge stolz sein. Das ist auch eine Freud’ für sie!“

So und ähnlich sprach Sophie Rapp, und sie hatte viel zu tun, ehe es ihr gelang, den Trübsinn von der Stirn des Geliebten zu scheuchen. Aber es gelang schließlich doch. Und Sophie schürte die neu erwachte Lebenslust des Malers, wo sie konnte. Sie spornte seine Phantasie an und erhielt ihn in atemloser Spannung wegen der Durchführung seines großen Planes.

Mit Feuereifer hatte sie sich jetzt der Sache angenommen. Es war schwer, den Patscheider zu gewinnen. Felix Altwirth kam es manches Mal fast unerreichbar vor. [S. 328] Er wußte es wohl, daß er damals, als er seine zornige Empörung nicht hatte bemeistern können, sich den Kaufmann zum Todfeinde gemacht hatte. Es hieß jetzt für Sophie, den einflußreichen Mann zu umschmeicheln und so einzufädeln, daß er ein Werkzeug wurde in ihrer Hand.

Felix Altwirth ahnte es nicht, daß Sophie ihre ganze weibliche List zu diesem Kampfe aufbot. Daß sie alle Künste der Koketterie spielen ließ, um sich den Patscheider gefügig zu machen. Sophie hatte es eingesehen, daß es nur durch dieses eine Mittel möglich sein würde, den Kaufmann für ihre Absichten zu gewinnen.

So spielte sie denn mit dem alternden Mann, wie sie so oft schon mit Männern gespielt hatte. Nur mit dem einen Unterschied, daß dieses Mal der Patscheider es war, der das Spiel bestimmte.

Johannes Patscheider bemerkte es mit einer Art grimmiger Freude, daß die Frau seines Gegners sich allmählich an ihn heranschlich. Er wußte, daß nur die Liebe zu Felix Altwirth sie ihm zutrieb, und er haßte den Maler ehrlich und vom Herzen. Er war nicht gesonnen, auch nur einen Finger zu rühren, um dem Altwirth bei der Verwirklichung seiner ehrgeizigen Pläne behilflich zu sein. Im Gegenteil tat er alles dawider, um die Ausführung zu verhindern.

So plante Sophie Rapp ein großes Wohltätigkeitsfest, dessen Ertrag für den Baufond der Tiroler Nationalgalerie bestimmt gewesen wäre. Doktor Rapp setzte sich dafür ein, und Patscheider vereitelte die Sache, legte Hindernisse und Schwierigkeiten in den Weg und hintertrieb die ganze Veranstaltung schließlich durch Intrigen. Endlich blieb Sophie nichts anderes übrig, als den direkten Weg zu dem Kaufmann anzubahnen.

Johannes Patscheider war im Anfang wenig liebenswürdig zu der Frau seines Rivalen. Da Sophie die mehr oder minder großen Bosheiten, die er ihr sagte, [S. 329] nicht zu verstehen schien, sondern ihren gewöhnlichen lustigen Ton gegen ihn anschlug, so änderte Patscheider seine Taktik insoweit, daß er wenigstens zum Schein auf ihre Vorschläge einging.

Er ließ sie erzählen und beriet sich mit ihr in unverbindlicher Weise. Dabei war er schlau genug, sich jedesmal, wenn sie ihn in einer Falle glaubte, mit Geschick aus der Schlinge zu ziehen. Das Spiel unterhielt ihn um so mehr, als der Reiz dieses Weibes nicht ganz ohne Wirkung auf ihn blieb.

Der Patscheider war keine verliebte Natur. In Weibergeschichten hatte er sich selten eingelassen. Seit er auf der Höhe seines Ansehens stand, schon gar nicht. Er wahrte den Eindruck des schlichten, ehrbaren Bürgers. Und wenn er einmal die Lust verspürte, auch außerhalb seiner Ehe ein kleines Erlebnis zu haben, so wußte er es so einzurichten, daß niemand in Innsbruck jemals eine Ahnung davon bekam.

Die Spannung, die in der stets wechselnden Haltung des Kaufmanns lag, blieb nicht ohne Einfluß auf Felix und Sophie. Von Tag zu Tag wuchsen die Aufregungen. Einen Tag wußte Sophie davon zu berichten, der Patscheider wolle selbst eine größere Summe Geldes stiften zur Gründung der Galerie, um dann den Tag darauf alles zu widerrufen. Diese stete Spannung schuf sowohl bei Felix wie bei Sophie eine fast leidenschaftliche Erregung.

Bei Felix steigerte sie sich dermaßen, daß er, je größer die Schwierigkeiten schienen, desto zäher auf der Erfüllung seines Wunsches bestand. Er hatte sich jetzt geradezu hinein verbissen in seinen Plan, und es schien ihm, als ob sein ganzes Wohl und Wehe von dieser einen Sache abhängen würde.

Sophie verdoppelte ihr Spiel mit dem Kaufmann, bezauberte und bestrickte ihn derart, daß der Rest von [S. 330] Leidenschaft, der in dem alternden Manne noch übrig geblieben war, zur Glut entfacht wurde.

Johannes Patscheider gewahrte es mit einem gewissen Zynismus, daß sein Begehren nach dem Besitz dieses Weibes ging. Wenn sie zu ihm kam, dann umlauerte sie sein Blick, frech, begehrlich und fordernd. Sophie fühlte es. Sie kannte die Blicke der Männer und verstand, in ihren Augen zu lesen. Sie wußte, daß jetzt der Zeitpunkt gekommen war, wo sie ihr Spiel gewinnen mußte. Sie kannte jedoch den Einsatz, den er fordern würde. Davor aber schreckte das Weib in ihr zurück.

Sophie Rapp fühlte einen körperlichen Widerwillen gegen Johannes Patscheider. Wenn er sie mit begehrlichen, verliebten Blicken anschaute, so überlief es sie dabei eiskalt. Galant küßte er ihr jedesmal beim Abschied die Hand. Sophie Rapp war es, als hätten seine Lippen eine laue, schlutzige Wärme. Und ihr Ekel vor ihm war so groß, daß sie sich dann stets lange noch mit dem Taschentuch die Hand abrieb, die er geküßt hatte.

Am liebsten wäre sie nie mehr zu ihm gegangen. Sie hatte jetzt eine ausgesprochene Angst vor ihm bekommen und fürchtete sich von Tag zu Tag, daß er den letzten Preis von ihr fordern würde. Und immer wieder schob sie es hinaus, ließ sich von ihm mit leeren Versprechungen hinziehen, nur um diesem einen Schrecklichen zu entgehen.

Felix wurde ungeduldig und reizbar. „Ich sehe ja, Sophie, daß du mich nicht mehr liebst!“ sagte er übellaunig. „Dir fehlt das richtige Verständnis. Du begreifst nicht, daß so ein Zustand des Hangens und Bangens einem jede Lust zum Schaffen benimmt und benehmen muß. Denk’ doch nur, was alles davon abhängt! Ich werde berühmt sein ... unsterblich, Sophie! Unsterblich durch dich ... Auf immer wird mein Name mit jenem des Kunsttempels verbunden sein, und alles werd’ ich [S. 331] dir verdanken, alles! Du allein hast das zustande gebracht, du ...“

„Ach geh’, hör’ auf!“ sagte Sophie gereizt. „Wenn der Patscheider nit so ein grauslicher Kerl wär’! Mit dem kann man ja nix G’scheit’s reden. Alleweil schlüpft er einem durch die Finger durch, wenn man glaubt, man hat ihn.“

„Du darfst ihn dir nicht entschlüpfen lassen, Sophie! Deine Liebe zu mir muß dir die rechten Worte geben!“ sagte Felix drängend. „Geh’ ... sprich mit ihm ... bitt’ ihn! Ich will ja auch zu ihm gehen und mich entschuldigen ...“

„Was dir nit einfallt!“ rief Sophie entsetzt. „Du und zum Patscheider gehen! Daß du mir alles verdirbst! Du darfst nit mit ihm zusammenkommen! Sonst ist alles vorbei!“

Sophie sah sich nun in ihre eigenen Netze so verstrickt, daß ein Entkommen daraus mit heiler Haut unmöglich war. Sie sah, daß sie jetzt um jeden Preis ihren Zweck bei dem Patscheider erreichen mußte. Denn sie fühlte es deutlich, daß Felix’ Liebe zu ihr im Erkalten war. Diese Überzeugung aber erfüllte sie mit nur um so größerer Leidenschaft für ihn.

Felix Altwirth bedeutete für Sophie alles. Er hatte ihr heißes Blut gezähmt, hatte sie ruhiger und vernünftiger gemacht. Das Bewußtsein, diesem Manne mehr zu bedeuten als ein bloßes Werkzeug seiner Lust, gab ihr den innerlichen sittlichen Halt zurück, den sie verloren hatte. Seit Doktor Storf damals seine Beziehungen zu ihr abgebrochen hatte, war keinem andern Manne je wieder ihre Gunst zuteil geworden außer dem Felix Altwirth.

Der Verlust des Doktor Storf traf sie kaum. Er war ihr im Gegenteil recht. Nun konnte sie ganz ihrem Felix leben und ihre volle Glut und Leidenschaft nur diesem [S. 332] einen geliebten Manne zuwenden. Und immer rasender liebte sie den Maler. Es schien, als habe sie jetzt erst kennen gelernt, was wahre Liebe sei.

Ein tötliches Erschrecken war es für die Frau, als sie erkannte, daß Felix nicht mehr so heiß für sie fühlte wie vordem. Es kam über sie wie ein Erkennen ... Sie durfte ihn nicht verlieren ... jetzt nicht ... um keinen Preis!

Wie ein Abgrund ... öde und leer und schauderhaft gähnte ihr das Leben ohne diese Liebe entgegen. Ohne Felix ... Es würde wieder so werden wie zuvor. Von Genuß zu Genuß würde sie rasen und alles gierig nehmen, was sich ihr bot. Von Mann zu Mann würde sie jagen, und keiner würde darunter sein, der das Weib in ihr zu ehren verstand.

Das tat Felix Altwirth. Und weil er es tat, deshalb besaß er die Liebe dieses Weibes im vollsten Maße, ganz und gar. Er entehrte sie nicht ... er war ihr dankbar für das, was sie ihm gab. Und auf die höchste Stufe der reinen Frau stellte er das Weib, das andere nur nach ihrer Sinnengier gewertet hatten.

Sophie Rapp wurde durch diese Liebe eine andere und eine bessere. Sie war reiner geworden in ihrem Denken und edler in ihren Empfindungen.

Vielleicht wäre ihr das mit dem Patscheider in früheren Jahren nicht so ungeheuerlich erschienen wie heute. Vielleicht hätte sie es mitgenommen als eine unerfreuliche Episode ihres Lebens, als etwas ... an das sie lieber nicht mehr denken wollte.

Heute fühlte sie anders. Sie empfand frauenhaft und rein. Sie empfand rein, weil die große Liebe zu einem Mann sie geläutert hatte und sie dazu befähigte.

Sophie Rapp lernte erst jetzt die Seelenkämpfe kennen, die einem inneren Zwiespalt entspringen. Bis jetzt hatte sie ihr Leben mit Leichtigkeit bestimmt und geleitet. [S. 333] Ohne Kampf war das alles gegangen. Was sie wollte, hatte sie stets erreicht. Wie auf leichten, blumigen Wegen war sie dahingeglitten, heiter und froh und lebenslustig. Bis er kam ... der den Durst zu stillen verstand und ihr ganzes Sein für sich in Anspruch nahm.

Jetzt aber litt Sophie um ihrer Liebe willen heiße Seelenkämpfe. Und es gab manchen Morgen, der sie noch mit offenen Augen im Bett liegen fand. Eine nervöse Überreiztheit war die natürliche Folge dieses Zustandes. Sie sah jetzt öfters übernächtig aus, gequält und eingefallen. Auch ihr heiteres Temperament litt unter diesen Qualen.

Ihrem Gatten entging es nicht, daß sie jetzt oft wegen geringfügiger Ursachen aufbrauste, daß sie übellaunig war und häufig mit ernstem, finsterem Gesicht vor sich hinzustarren pflegte, wenn sie sich unbeobachtet glaubte.

Diese Veränderung verfehlte nicht die Rückwirkung auf Doktor Rapp. Sein Mißtrauen erwachte und steigerte sich von Tag zu Tag. Zum ersten Male seit seiner Ehe beobachtete er Sophie mit einer Art inneren Unbehagens und legte ihren Worten, die sie ihm harmlos sagte, eine ganz andere Bedeutung zugrunde.

Doktor Rapp war jetzt ernstlich beunruhigt. Er verfolgte seine Frau heimlich auf ihren Gängen und belauerte sie. Sophie, die mit rascher Klugheit dieses sich steigernde Mißtrauen bei dem Gatten bemerkt hatte, gab sich alle Mühe, ihm eine Rolle vorzuspielen, um das zu scheinen, was sie nicht mehr war ... ein zufriedenes, glückliches Weib. Aber das Mißtrauen hatte sich nun einmal festgesetzt bei Valentin Rapp und wollte nicht mehr aus seiner Seele weichen.

Es war eine harte Zeit für Sophie gekommen. Oft war ihr so schwer zumute, daß sie ihre ganze Kraft aufbieten mußte, um die große Gefahr, die sie von allen Seiten umgab, zu überwinden ...

[S. 334]

Und in einem Anfalle innerer Verzweiflung ging Sophie Rapp zu Johannes Patscheider. Ging mit bebendem Herzen und doch mutig und unerschrocken und beschwor dasjenige herauf, vor dem sie in qualvollen Stunden zurückgeschreckt war.

Sie trieb den Mann zu einer Entscheidung. Jetzt mußte er sich erklären, mußte sich entschließen. Und dann ... wenn dieses Letzte, Schwerste überwunden war, dann würde sie wieder ihre Ruhe und ihren Frieden finden können. Das wußte sie.

Nun stand Sophie in dem großen, kostbar ausgestatteten Zimmer des Kaufmanns. Es war derselbe Raum, in dem Felix Altwirth als ein Bittender vor diesem Manne gestanden hatte, wo er ihn voll Empörung einen Hund geheißen hatte. Diesen Schimpf verzieh ihm der Patscheider niemals im Leben.

Und jetzt forderte Sophie in klaren, energischen Worten, daß er sich für diesen selben Mann, der ihn mit seiner Beleidigung so tief getroffen hatte, einsetzen solle. Daß er die Sache dieses ihm verhaßten Menschen zu seiner eigenen machen solle. Daß er mit dem Namen dieses Mannes seinen eigenen verknüpfen solle für alle Zeiten in der Geschichte der Stadt.

Johannes Patscheider hatte stets ein offenes Herz und eine offene Hand, wenn es galt, etwas im Interesse der Stadt zu unternehmen. Er war dem Plane des Malers Altwirth im Prinzip nicht abgeneigt. Er wußte, daß es dem Ansehen der Stadt nur nützen konnte, wenn sie über einen Kunsttempel verfügte. Aber er sträubte sich anfangs im obstinaten Eigensinn gegen diese Erkenntnis.

Erst durch Sophiens Einfluß wurde dieser Eigensinn besiegt. Aber nicht ganz. Denn wenn er jetzt einlenkte, wenn er durch sein Geld ein Werk ins Leben rief, das nicht nur ihn selber, sondern auch den Maler Felix Altwirth gewissermaßen unsterblich machte im Land ... [S. 335] dann wollte er auch diejenige sein eigen nennen, um derentwillen er seinen Starrsinn gebrochen hatte.

Sophie zitterte an allen Gliedern, als sie jetzt in ihrem eleganten Straßenkleid vor Patscheider stand. Sie mußte ihre ganze Kraft aufwenden, um ihrer Stimme die nötige Festigkeit zu geben.

„Aber heute, Herr Patscheider, heute schicken’s mich ohne ein Resultat nit fort von da! Das sag’ ich Ihnen!“ meinte sie mit erzwungener Lustigkeit. „Heute sagen’s ja oder nein!“ erklärte sie resolut. „Wenn Sie nein sagen, dann wissen wir wenigstens, woran wir sind!“

„Aber liebe ... schöne Frau Doktor ...“ sagte der Kaufmann ausweichend und nötigte Sophie gewaltsam, Platz zu nehmen. „Sind’s doch nit so grausam! Ja oder nein! Zu Ihnen kann man doch nur ja sagen!“ scherzte er, indem er näher an sie heranrückte und ihr mit verliebten Augen dreist ins Gesicht starrte. „Sie sind ja ...“

Sophie überlief ein Schauder. Fast ängstlich rückte sie von ihm ab, um ihn ja nicht zu nahe an sich kommen zu lassen.

„Nein ... nein ...“ erklärte sie entschlossen und ohne ihn anzusehen. „So fangen’s mich heut’ nimmer ein! Ich frag’ jetzt, und Sie antworten nur mit ja oder nein!“

„Einverstanden!“ sagte der Patscheider höflich. „Also fragen’s!“

„Soll das Projekt vom Maler Altwirth ausgeführt werden?“

„Ja!“

„Bald?“

„Ja!“

„Übernehmen Sie die ganze Angelegenheit?“

„Ja!“

„Und die materielle Seite? Wie steht’s mit der?“ [S. 336] fragte Sophie stockend. Sie wußte, daß er nun ausweichend antworten würde.

„Gnädige Frau müssen dafür aufkommen!“ erklärte der Patscheider im bestimmten Ton.

„Unsinn!“ Sophie erhob sich erregt und sah den Mann, der mit zynisch boshaften Blicken auf sie schaute, mit zornigen Augen an. „Sie wissen, daß ich das nit kann. An diesem Punkt scheitert ja alles. Die Stadt muß aufkommen dafür. Die Stadt muß Gründerin sein. Verstehen Sie mich, Herr Patscheider?“

„Ja, Frau Doktor!“ sagte der Patscheider gelassen und starrte sie unverwandt an.

„Na ... und?“ fragte Sophie ungeduldig.

„Die Stadt hat andere ... dringendere Auslagen zu decken. Der Stadt kann so was nit zugemutet werden!“ versetzte der Patscheider ruhig.

„Sie ... Herr Patscheider ...“ Sophie war jetzt ganz nahe an ihn herangetreten, „Sie wissen ganz genau ... was für einen Einfluß Sie haben ...“

„Da soll doch der Herr Gemahl seinen Einfluß ...“

„Damit Sie alles wieder hintertreiben. Ja!“ sagte Sophie erregt. „Wie Sie’s immer gemacht haben. Heimtückisch und ...“

„Und ... Frau Sophie?“ fragte der Patscheider und legte zärtlich seinen Arm um ihren Hals. Sie gefiel ihm in ihrer Aufregung noch viel besser als sonst.

„Lassen’s mich aus!“ wehrte ihm Sophie mit unverhohlenem Abscheu. „Reden’s anständig mit mir!“

„Ja ... Frau Sophie. Gern!“ sagte der Kaufmann leise. „Aber zuerst setzen’s Ihnen da neben mir her. Da ... ganz nahe!“

Er deutete mit seinem dicken, wulstigen Zeigefinger auf ein Sofa, das an der Wand stand, und setzte sich dann selber in recht gemütlicher und ungenierter Weise darauf.

[S. 337]

„Wollen’s Ihnen nit niedersetzen, Frau Sophie?“ meinte Johannes Patscheider über eine Weile, als Sophie noch immer zögerte.

„Nein!“ sagte Sophie abweisend.

„Nit?“ Der Kaufmann zog bedauernd seine Brauen hoch. „Das tut mir aber leid, weil wir sonst noch ein bissele miteinander unterhandeln hätten können.“

„Das können wir so auch!“ stieß Sophie atemlos vor innerer Erregung hervor.

„Nein, das können wir nit!“ erklärte der Patscheider bestimmt.

Er saß auf dem Sofa, und mit beiden Händen stützte er sich auf den weichen Polstersitz. Mit lauernden Blicken sah er auf Sophie, sah ihre zitternde Erregung und sah den inneren Kampf, der sich in ihrem Gesicht widerspiegelte. Aber er hatte kein Mitleid mit ihr. Er weidete sich an ihrer Angst. Und dieses Gefühl steigerte seine Begierde nach ihr. Warum sollte er sie nicht besitzen? War der Preis, den er ihr bot, nicht hoch genug für eine Nacht? Eine Nacht nur ... aber die wollte er genießen.

„Wir hätten sonst vielleicht davon reden können ... daß ich als Gründer ... mit einem Kapital von Fünfzigtausend ...“ fuhr der Kaufmann langsam fort.

„Wollten Sie das ... Herr Patscheider?“ brachte Sophie aufgeregt hervor.

„Es ist möglich ...“ erwiderte der Patscheider mit ruhiger, langsamer Stimme. „Wenn nämlich gewisse Vorbedingungen erfüllt werden.“ Er sah sie frech und herausfordernd an.

„Und ...“ stieß Sophie keuchend hervor, „die sind?“

„Wollen Sie Ihnen nit doch jetzt ein bissel da neben mir hersetzen ... Sophie?“ fragte er über eine Weile.

Die beiden hatten sich wie ebenbürtige Gegner mit ihren Blicken gemessen. Sie verstanden einander ohne Rede.

[S. 338]

„Nun ... wird’s bald?“ fragte der Patscheider dann nach einer großen Pause, während der sich Sophie nicht von ihrem Platz gerührt hatte ... „Oder soll ich die schöne Frau zu mir herholen?“

Langsam und mit gesenkten Blicken kam Sophie näher. Schritt für Schritt. Sie wußte, daß es jetzt kein Entrinnen gab.

Johannes Patscheider erhob sich und ging ihr entgegen. Und dann umfing er sie mit gieriger Hast und sog sich an ihren Lippen fest.

Mit beiden Fäusten stieß ihn Sophie von sich fort.

„Ich will nicht!“ schrie sie, sich leidenschaftlich gegen ihn zur Wehr setzend. „Ich will nicht!“

„Nicht?“

„Nein!“ Sie stampfte mit dem Fuß in ohnmächtiger Wut.

Der Patscheider hielt sie mit beiden Armen fest umklammert.

„Eine Nacht ... Sophie ...“ flüsterte er heiser. „Eine einzige Nacht ...“

„Schuft!“ fauchte sie ihn wie eine Wildkatz an. „Ich bring’ dich um, wenn du dein Wort nit hältst!“

„Ich halt’ mein Wort. Aber zuerst der Preis!“

Wie mit Eisenklammern hielt sie der Mann in seinen Armen. Sie fühlte seinen heißen, erregten Atem, und sie dachte an Felix, dem sie dieses Opfer bringen mußte.

Eine Nacht ... eine einzige Nacht nur ... Dann war’s vorbei ... Die Qual überwunden ... Sie konnte wieder glücklich sein ...

„Ja!“ stieß sie zitternd hervor und wand sich verzweifelt unter seinen Küssen.

„Lass’ dich küssen ... Weib ...“ sagte der Patscheider zynisch. „Ich zahl’ gut ... es ist nix umsonst!“

Wie von Sinnen eilte Sophie Rapp aus dem Hause des Kaufmanns. Sie irrte durch ganz entlegene Gassen, [S. 339] hinüber nach Hötting, dem Walde zu ... Sie konnte jetzt nicht unter Menschen gehen mit dieser flammenden Röte der Scham in den Wangen. Jeder würde ihr die Entehrung und Schande vom Gesicht ablesen können ... Sie mußte fort ... allein sein ... konnte niemanden sehen ... bis alles vorbei war ...

* *
*

Einige Tage war Sophie jetzt nicht zu Felix gekommen. Sie schrieb ihm auch nicht und ließ nichts hören von sich. Da kam Felix Altwirth von banger Sorge getrieben zu ihr.

„Sophie ... Liebste ... Einzige ...“ sagte er zärtlich, als sie allein waren. „Hab’ ich dir weh getan? Hab’ ich dich beleidigt? Bist du krank gewesen?“ Ganz unglücklich sah der Maler drein, als er leise und sanft ihr immer wieder liebkosend über die heiße Stirn fuhr.

„Ich hatte Kopfschmerzen,“ sagte Sophie ausweichend und vermied es, Felix in die Augen zu sehen. Seine warme Zärtlichkeit tat ihrer wunden, zertretenen Seele ungemein wohl. Sie lehnte sich in ihrem Schaukelstuhl zurück und schloß die Augen.

Sophie sah elend aus. Tatsächlich krank. Sie hatte auch ihr inneres Gleichgewicht noch nicht wiedergefunden. Immer von neuem tauchten die schrecklichen Stunden in ihrer Erinnerung auf. Es war ein Glück, daß Doktor Rapp für einige Zeit hatte verreisen müssen. So brauchte sie diesem wenigstens keine Komödie vorzuspielen. Und bis er kam, so hoffte sie, würde sie wohl wieder ganz hergestellt sein.

Sie fühlte sich jetzt, da Felix sie mit seiner achtungsvollen Liebe umgab, bereits wohler. Sie lachte ihn an und plauderte mit ihm, und er mußte ihr erzählen, was er geschaffen hatte, seit sie sich nicht sahen.

[S. 340]

Wie eine lange Zeit der Trennung kam es den beiden jetzt vor. Und Felix gestand ihr, wie er von Stunde zu Stunde auf sie gewartet und geharrt hatte, und wie er schließlich so unruhig wurde, daß er diesen Besuch bei ihr wagte.

„Bei hellichtem Tag!“ neckte er sie. „Da bin ich ganz fremd bei dir. Gelt, Schatz?“

„Ja!“ sagte Sophie trocken.

„Na ... Schatz ... was hast du denn?“ fragte Felix verwundert.

„Nichts!“ Sophie schüttelte den Kopf und wiegte sich schaukelnd in dem Stuhl. Sie hatte ein ungewöhnlich ernstes Gesicht.

„Doch!“ beharrte Felix. „Du hast etwas. Du ...“

„Ach ...“ sagte Sophie ausweichend, „es ist mir nit ganz recht, daß du zu mir gekommen bist.“

„Wegen deinem Mann?“

„Ja! Du weißt ja ... daß er jetzt so eigen ist ... so mißtrauisch. Ich möcht’ ihn erst wieder ruhiger werden lassen ... dann ...“

„Ja ... aber er ist ja jetzt gar nicht da?“ fragte Felix verständnislos.

„Nein! Aber wenn er’s erfährt?“

„Ach Kind ... du bist krank. Beim hellichten Tag! Was ist denn dabei?“

„Nix. Aber du sollst jetzt doch lieber gehen!“ drängte Sophie.

„Also geh’ ich halt gehorsamst!“ sagte Felix. „Aber ... dann mußt du morgen zu mir kommen. Willst du?“

„Ja ... Felix ...“ Sie hielt ihm ihren Mund entgegen und küßte ihn innig.

„Aber Kind ... du weinst ja?“ rief Felix erstaunt. „Was ist denn?“

Nun weinte Sophie wirklich. Ein kurzes, leidenschaftliches Schluchzen.

[S. 341]

„Kind ... Sophie ... Schatz!“ tröstete sie Felix zärtlich. „Was ist dir denn widerfahren? Schau, sag’ mir’s doch! Quält er dich recht ... dein Mann?“

Sophie schüttelte den Kopf. „Nein!“ stieß sie hervor.

„Nicht? Ja, weshalb weinst du denn dann?“

Da barg Sophie ihren Kopf wie Schutz suchend an der Brust des Geliebten und schluchzte laut auf in wildem Schmerz. Und je länger sie weinte, desto gefaßter wurde sie. Felix beschwichtigte sie, wie man ein Kind zu trösten sucht.

Als sie ruhiger geworden war, frug er sie ernst: „Er quält dich also doch ... nicht wahr?“

Sophie nickte. Sie war froh, daß er die Lüge glaubte. Und dann war es ihr leid um den Gatten, den sie verleumdet hatte. — — —

Mit keinem Wort hatte Sophie dem Maler von dem Zustandekommen der Nationalgalerie sprechen können. Erst viel später, als die Sache schon nahe vor der Veröffentlichung war, sagte sie es ihm ...

„Und das sagst du mir erst jetzt, Sophie?“ frug Felix verwundert.

„Du hast mich ja nimmer g’fragt drum!“ gab sie ihm lustig zur Antwort.

„Ich sah, daß du nicht wohl warst, und da nahm ich mir vor ... dich nicht auch noch zu quälen. Die Sache schien dich doch aufzuregen.“

„Jetzt ist’s überstanden!“ sagte Sophie ruhig. „Gott sei Dank!“

„Und der Patscheider?“

Alle Farbe wich bei der Nennung dieses Namens aus ihrem Gesicht.

„Der Patscheider zeichnet als Gründer Fünfzigtausend!“ sprach sie ruhig.

„Ja ... Sophie ... Sophele!“ In einer wahren Ekstase des Glückes drückte sie Felix an sich. „Du bist [S. 342] ja eine Zauberin! Wie hast du nur das zustande gebracht?“

Sanft löste sich Sophie aus den Armen des Geliebten und sah ihn mit ernsten Augen an. Dann nahm sie seinen Kopf in ihre Hände und küßte ihn lange und küßte ihn innig.

„Sophie ...“

„Wenn ich dich nit so gern hätt’ ...“ hauchte Sophie.

Aber nie erfuhr Felix Altwirth von dem Opfer, das Sophie Rapp um seinetwillen gebracht hatte.

Schlussvignette, Kapitel 18

[S. 343]

Neunzehntes Kapitel.

I n dem Festsaal beim „Weißen Hahn“ tagte heute die Versammlung zur Gründung einer Tiroler Nationalgalerie in Innsbruck.

Johannes Patscheider hatte Wort gehalten. Mit seiner ganzen Persönlichkeit stand er für die Sache ein. Vertrat sie mit Macht und Energie und tat alles, um den großen Plan zur baldigen Ausführung zu bringen. Für den heutigen Abend hatte er alle jene Männer eingeladen, die Namen, Rang und Titel besaßen und die er für das Gelingen des Werkes zu gewinnen hoffte.

Es war eine stattliche Anzahl von Herren, die der Aufforderung des angesehenen Bürgers Folge geleistet hatten. Herren aus allen Ständen. Hohe Beamte, Honoratioren, Professoren und Künstler des Landes.

Felix Altwirth war ebenfalls anwesend. Zwischen ihm und dem Kaufmann Patscheider hatte eine förmliche Versöhnung stattgefunden. Felix Altwirth war einmal zu Patscheider gegangen und hatte dort seine Karte hinterlassen. Das war alles gewesen. Gesprochen hatten sich die beiden nicht bis zum heutigen Abend. Und auch jetzt war die Unterredung kühl und kurz gewesen.

Doktor Rapp hatte dieselbe herbeigeführt und war Zeuge, wie die beiden Männer einander die Hände schüttelten. Es war eine so frostige Begegnung, wie der Rechtsanwalt sie nur selten gesehen hatte. Felix Altwirth dankte dem Kaufmann für sein Entgegenkommen und rühmte seine Großmut, die er durch die Stiftung einer so hohen Summe bewiesen habe.

Johannes Patscheider wehrte mit kurzen, fast schroffen Worten ab. „Ihnen zulieb hab’ ich’s nit getan, Herr Altwirth!“ sagte er mit seiner lauten Stimme, so daß es alle, die es wollten, hören konnten. „Also brauchen’s mir auch nit zu danken!“ Dann wandte er sich unvermittelt [S. 344] von dem Maler ab und sprach mit einigen Herren, die hinzugekommen waren.

Simon Tiefenbrunner trippelte unruhig im Saale umher. Trippelte von einer Herrengruppe zur andern und hielt sich dann wieder in der Nähe von Felix auf, der abwechselnd mit Doktor Storf und Doktor Valentin Rapp sprach.

Ängstlich wartete der Apotheker auf einen günstigen Augenblick, um sich an Felix heranzumachen. Dabei rieb er sich unausgesetzt die Hände, verbeugte sich geschäftig vor diesen und jenen Bekannten und schielte dann wieder über seinen Zwicker hinweg zu Felix Altwirth hinüber.

Frau Therese Tiefenbrunner hatte dem Gatten den strengen Auftrag erteilt, noch heute abend eine Versöhnung mit Felix anzubahnen. „Weißt, Simon, jetzt wo der Felix, unser Neffe, so berühmt wird, jetzt geht das nicht mehr, daß wir in Feindschaft von ihm getrennt leben. Jetzt müssen wir uns schon mit ihm aussöhnen!“ hatte sie gesagt.

„Ja ... aber ...“ wandte der kleine Mann zaghaft ein, „eigentlich muß das doch vom Felix ausgehen. Er hat uns doch beleidigt!“

„Er hat uns nit beleidigt, Simon! Da tust du dich wieder einmal täuschen!“ hatte die Gattin ganz energisch erwidert. „Das war sie ... die Frau ... die Person ... die ...“

„Alsdann muß die kommen ...“

„Nein, Simon! Das tut die nit! Da kennst du sie schlecht. Wir müssen halt denken ... das G’scheitere gibt nach! Und du schaust heut’ auf den Abend, daß du den Felix allein erwischen tust, und sagst ihm, ich lass’ ihn schön grüßen, und er kann schon einmal auf ein’ Kaffee kommen, wenn er mag!“

„Und wenn er nit mag?“ fragte der Apotheker.

[S. 345]

Da wurde Frau Therese ungeduldig. „Ich weiß nit, Simon, wie du mir heut’ vorkommst!“ meinte sie vorwurfsvoll. „Red’ halt zuerst einmal mit ihm! Und wenn er nit kommt ... dann soll er’s bleiben lassen! Es ist mir ja nur wegen die Leut’, daß die Feindschaft ein Ende hat. Und daß man, wenn man dem Felix einmal am Weg begegnet, doch auch stehen bleiben kann bei ihm. Damit man sieht, daß man doch verwandt ist mit ihm.“

Das waren allerdings Argumente, die der Apotheker Tiefenbrunner einsehen mußte, ob er wollte oder nicht. Deshalb schlich er jetzt auch immer um die Gruppe herum, die sich nach und nach um Felix Altwirth gebildet hatte, und wartete eine Gelegenheit ab, um sich dem Doktor Storf zu nähern. Denn dieser sollte als ein alter Freund von Felix die Versöhnung zwischen Onkel und Neffen herbeiführen. So hatte es sich Simon Tiefenbrunner ausgedacht.

Der Saal füllte sich mit immer neuen Leuten. Es herrschte trotz der vorgerückten Jahreszeit eine Bruthitze in dem Raum. Ein Gewirr von Stimmen, ein Lachen und Plaudern von vielen Männern und mehr oder minder erwartungsvolle Gesichter. In der Mitte des Saales war eine kleine Tribüne errichtet. Von hier aus sollte Johannes Patscheider eine Ansprache halten, der dann die Gründung des Vereins zur Erbauung einer Tiroler Nationalgalerie folgen sollte.

Simon Tiefenbrunner glaubte jetzt den richtigen Moment gekommen, um sich mit seinem Anliegen an Doktor Storf zu wenden. „Einen Augenblick, Herr Doktor!“ Der Apotheker sagte es leise und zupfte den Arzt am Ärmel.

„Herr Tiefenbrunner?“ Doktor Storf sah erstaunt auf den Apotheker herab, der in einiger Verlegenheit vor ihm stand. Die beiden Herrn entfernten sich, um dann gleich darauf gemeinsam zu Felix zurückzukommen.

[S. 346]

„Du, Felix!“ sagte Max Storf. „Schau, wen ich dir da bring’!“

„Ach, Onkel Tiefenbrunner!“ Ehrlich erfreut bot der Maler dem alten Herrn seine Hand. „Das ist schön, daß du auch gekommen bist. Willst du auch Mitglied werden, und trittst du als Gründer bei?“ Als wenn es zwischen ihnen nie eine Mißhelligkeit gegeben hätte, so unbefangen sprach Felix mit dem Apotheker.

„Ja, freilich! Natürlich!“ versicherte Simon Tiefenbrunner eifrig. Der kleine Mann freute sich innig darüber, daß Felix ihm die Versöhnung so leicht gemacht hatte. „Bei so was muß man schon mittun!“ sagte er mit wichtigem Gesicht. „Ein paar Tausender lassen wir da schon springen. Ich und die Tant’!“

„Das ist recht, Onkel! Es ist wirklich ein edler und vornehmer Zweck!“ sagte Felix mit leuchtenden Augen.

Da trat mit einem Male Ruhe ein im Saal. Das Stimmengewirr verflüchtigte sich. Die Gruppen lösten sich, gingen auseinander und nahmen in den Sesselreihen Platz.

Johannes Patscheider hatte jetzt die Rednerbühne betreten und stand droben, groß, wuchtig und knochig. Er machte einen schlichten Eindruck, und schlicht und einfach waren die Worte, die er sprach.

Der Kaufmann sprach von Kunst und Wissenschaft, sprach vom Aufblühen eines Landes und seinem Gedeihen, und wie es Ehrenpflicht eines jeden einzelnen sei, der sein Land wahrhaft liebe, die Kunst im Lande zu fördern ... „Darum, meine Herrn, habe ich Sie heute zu dieser Versammlung geladen, damit wir uns gemeinsam zusammentun und vereinigen zu einer großen Tat. Die Idee ist nicht meinem Gehirn entsprungen. Das wissen Sie alle, meine Herren. Dieses Verdienst gebührt einem Künstler, unserem lieben und verehrten Landsmann und Mitbürger Felix Altwirth. Und wir [S. 347] freuen uns, daß es ein Innsbrucker war, der mit diesem großen Gedanken, mit dieser ausdrücklichen Forderung an uns herangetreten ist. Denn es ist ein Bedürfnis im Land. Innsbruck, diese Perle der Städte, unsere liebe Heimatstadt, an der wir alle, ich möchte sagen, mit verehrungsvoller Liebe und Hingabe hängen, diese moderne, aufstrebende Stadt, die alles besitzt, was man in dem Rahmen einer solchen Stadt erwarten darf, diese Stadt hat noch nicht jenes erhabene Bauwerk aufzuweisen, in dem die bildende Kunst eine dauernde Heimstätte finden kann. Wir wollen uns das ehrlich eingestehen, meine Herren. Es ist ein Mangel. In eine Stadt von dem Range, in dem die Landeshauptstadt steht, gehört ein Gebäude, das nur dem Zweck der schönen Künste gewidmet ist. Daß das nicht schon besteht, ist ein Vorwurf. Ein Vorwurf für uns alle. Ich nehme mich davon nicht aus. Seit mir aber die Augen geöffnet worden sind, will ich meinen Fehler gutmachen nach Kräften. Die Landeshauptstadt soll allen Städten der Provinz als ein leuchtendes Beispiel vorangehen. Sie soll der Mittelpunkt werden eines geistigen Lebens. Der Mittelpunkt eines Kunstlebens, das in Wirklichkeit im Land existiert, dem aber nur die Führer gefehlt haben. Das, meine Herren, ist der Zweck, warum wir uns entschlossen haben, eine Tiroler Nationalgalerie zu gründen. Je größer in einem Volke die Kultur entwickelt ist, desto größer geht sein Streben und sein Sinn nach Kunst. Es ist eine heilige Pflicht für uns, daß wir dieses Streben fördern, nach Kräften fördern. Wir wollen der Welt zeigen, daß nicht nur die Großstädte dazu berechtigt sind, das Kunstleben als ihr Eigentum zu betrachten. Jede Stadt der Provinz hat ein Recht dazu, einen maßgebenden Einfluß auf diesem Gebiete auszuüben. Daß dieses oft nicht geschieht, ist eine Schuld und entspringt einem mangelnden Verständnis. Wir wollen keine solche Schuld auf [S. 348] uns laden. Als erste wollen wir dem Lande vorangehen, wollen zeigen, was wir können. Fördernd wollen wir eintreten in das Kunstleben unserer Stadt, und wir wollen unsern Nachkommen, unsern Kindern und Kindeskindern beweisen, daß wir nicht nur im politischen und nationalen Sinn verstanden haben zu wirken und zu handeln, daß wir nicht aufgegangen sind im kleinlichen Parteihader, sondern daß wir stets zusammengehalten haben wie ein Mann, wenn es galt, für unsere schöne, liebe Vaterstadt Großes zu schaffen, sie als erste einzureihen in das Kulturleben der Gegenwart. Und deshalb, meine Herren, weiß ich, daß ich keine Fehlbitte getan habe. Alle, wie wir da sind, werden wir beisteuern für den erhabenen Zweck, auf daß er gelinge zum Ruhme und zur Ehre der Stadt! Ich glaube aus aller Herzen zu sprechen, wenn ich Sie auffordere, mit mir einzustimmen in den begeisterten Ruf: Innsbruck, das berggekrönte Juwel des Landes ... lebe hoch ... hoch ... hoch!“

Ein brausender Jubel hallte durch den großen Saal. Von allen Seiten wurde Johannes Patscheider umringt und beglückwünscht. Allen schüttelte er die Hand. Auch dem Maler Altwirth, der sich kaum fassen konnte vor Freude und Glück ...

Der alte Rat Leonhard war gleichfalls bei der Rede des Kaufmanns im Saale anwesend und hatte andächtig zugehört. Recht andächtig. Den Kopf auf die eine Seite geneigt, die Hände fest in der Tasche, als müsse er das Geld, das er da drinnen trug, vor einem unvorhergesehenen räuberischen Überfall beschützen, so stand der alte Herr da und sah mit stechenden, scharfen Blicken zu dem Redner hinüber.

Als der jubelnde Beifall verrauscht war und die näheren Beratungen begannen, da machte sich der alte Herr aus dem Staub, so schnell er konnte, und ging hinüber [S. 349] ins Herrenstübel, wo Frau Maria Buchmayr einsam und verlassen saß.

„Schon da, Herr Rat?“ fragte die Wirtin etwas erstaunt. „Hat’s Ihnen nit g’fallen drüben?“

„Naa!“ sagte der alte Herr energisch. „Gar nit!“

„Hat denn der Patscheider nit schön g’redet?“ forschte die Wirtin neugierig.

„Der hat mir zu schön g’red’t, Frau Buchmayr. Zu schön, sag’ ich Ihnen!“ Der alte Herr hob warnend seinen knochigen Zeigefinger. „Das ist nit alles echt ... wenn einer so schön red’t. Sagen’s ... ich hab’s g’sagt, Frau Buchmayr! Nit alles echt ... nit alles echt!“ nickte er dann noch ein paarmal bekräftigend vor sich hin ...

Als die Herren später in der Nacht auseinandergingen, drückte der Doktor Rapp dem Patscheider warm die Hand. „Sie sind doch a ganzer Kerl, Patscheider!“ lobte der Rechtsanwalt. „Das muß Ihnen der Neid lassen. Ich sag’s nit gern. Das wissen’s ja!“ setzte er scherzend hinzu.

Johannes Patscheider brach in ein dröhnendes Gelächter aus und klopfte dem Rechtsanwalt gönnerhaft auf die Schulter. „Ha! Ha! Ha! Ha! Herr Doktor, das geben’s gut! Ausgezeichnet! Und weil’s von Ihnen kommt, das Lob, drum freut’s mich um so mehr. Übrigens ...“ der Patscheider sah den Rechtsanwalt einen Augenblick von der Seite her lauernd an, „das Hauptlob verdient Ihre Frau. Nit ich!“

Es war etwas in dem Blick Johannes Patscheiders, das dem Rechtsanwalt mißfiel.

„Ja, meine Frau! Da haben’s recht!“ stimmte er bei. „Wenn die sich was in den Kopf setzt, dann muß sie’s auch erreichen.“

„Um jeden Preis!“ sagte der Kaufmann wie für sich.

Die beiden Herren waren ein Stück des Weges miteinander [S. 350] gegangen. Durch die Lauben bis zum Burggraben, da, wo die breite Museumsstraße in den Burggraben mündet. Der Mond stand im vollen Zeichen und sandte sein mildes Licht über die Innsbrucker Altstadt. Lachte freundlich herunter vom sternenbesäten, glitzernden und funkelnden Nachthimmel auf die düstere, alte Franziskanerkirche mit ihrem zum adeligen Damenstift und zur Hofburg führenden angebauten Torbogen und erhellte mit kaltem, frostigem Glanz die leicht beschneiten Bergspitzen der Nordkette.

Valentin Rapp fühlte ein inneres Unbehagen, als er neben Johannes Patscheider in erzwungen gemächlichem Gang einherschritt. Er war froh, daß sich ihre Wege nun trennten.

„Grüßen’s mir die Frau recht schön, Herr Doktor!“ sagte der Patscheider, da sie voneinander Abschied nahmen.

„Danke, Herr Patscheider!“ erwiderte Doktor Rapp trocken. Es störte ihn abermals etwas im Tonfall des andern. Was war es nur? War er schon so nervös geworden in den letzten Monaten, daß er überall Arges witterte?

„Sie, Herr Doktor ...“ Johannes Patscheider hielt die Hand des Rechtsanwaltes einen Augenblick in der seinen.

„Ja?“

„Wir sind, solang’ wir’s denken, doch immer Gegner gewesen. Nit wahr?“ sagte der Kaufmann.

„Freilich!“ gab der Advokat zu. „Und wollen’s auch bleiben! Hoffentlich noch recht lange!“ sprach er mit etwas erkünstelter Heiterkeit.

„Das hab’ ich aber nit sagen wollen!“ erwiderte der Patscheider. „Ich hab’ g’meint ... wir könnten uns versöhnen ... ausgleichen ...“

„Ich mich mit Ihnen?“ Jetzt lachte Doktor Rapp wirklich herzlich heraus. „Solang’ ich leb’, nit! Das ist g’wiß!“ sagte er lustig. „Wenn Sie mich in den letzten Jahren auch heruntergedrückt haben ... es dauert nimmer [S. 351] lang ... dann spiel’ ich wieder die erste Geig’n!“ drohte er übermütig.

„So?“ Der Patscheider warf einen derart stechenden Blick auf seinen Gegner, dem er an Körpergröße um Kopfeslänge überlegen war, daß es dem Rechtsanwalt fast wehe tat. „Meinen’s, daß Sie das je erreichen, Herr Doktor?“ fragte der Kaufmann herausfordernd.

„Natürlich! Das werden wir schon sehen! Ich hab’ ja nix gegen Ihnen persönlich einzuwenden, Herr Patscheider ... aber wenn Sie noch weiter da regieren wie bisher ...“

„Aber Sie regieren nit! Das weiß ich!“ sagte Johannes Patscheider brutal.

„Lassen wir’s drauf ankommen, Herr Patscheider!“ forderte ihn der Rechtsanwalt kampfeslustig heraus.

„Ich rat’s Ihnen nit!“ sprach der Kaufmann drohend. „Bleiben’s lieber der ... der Sie sind ... und grüßen’s mir Ihre Frau!“

„Zum Donnerwetter noch amal!“ entfuhr es dem Rechtsanwalt jetzt zornig. „Was haben’s denn immer mit meiner Frau?“

„Was soll ich denn haben?“ tat der Patscheider unschuldig. „Einen Gruß schick’ ich ihr. Ist das vielleicht dem Herrn Gemahl nit recht?“

„Recht oder nit recht!“ erklärte Doktor Rapp mit Bestimmtheit. „Jedenfalls verbiet’ ich mir den Ton, den Sie da anschlagen, Herr Patscheider!“

„So sind’s doch nit so aufgeregt, Herr Doktor!“ beruhigte ihn der Patscheider in seinen sanftesten Tönen. „Man möcht’ schon meinen ... Sie wären auf mich eifersüchtig?“

„Ich ... auf Ihnen!“ Der Rechtsanwalt lachte ein lautes, hartes, gezwungenes Lachen, das durch die öde, menschenleere Straße unangenehm widerhallte.

„Haben auch keine Ursache, Herr Doktor! Nicht im [S. 352] mindesten Ursache ... versichere ich Ihnen!“ beruhigte ihn der Patscheider, und seine Stimme hatte für das gereizte Ohr des Advokaten einen widerlich speckigen Klang. Es war ihm, als entspränge dieser Ton einem Gefühl gesättigten Genusses ...

Den Rechtsanwalt Valentin Rapp trieb die Unruhe der Eifersucht durch die mondhelle, klare Oktobernacht. Mit heißem, blutüberfülltem Kopf ging er, so rasch er konnte, dem Rennweg zu. Ein kalter Wind fächelte erquickende Kühle um seine glühende Stirn.

Was hatte der Patscheider nur? Hatte er ...? Sollte Sophie ...?

Doktor Rapp wagte diesen Gedanken nicht zu Ende zu denken. Er ging immer hastiger und aufgeregter den breiten Weg entlang, der zum Inn hinüberführte. Dann folgte er dem Lauf des Flusses bis hinunter zur Kettenbrücke.

Welkes Laub raschelte müde unter seinen festen Tritten ... stöhnte auf wie im letzten Todeskampf ... und leise plätscherten die Wellen des Flusses. Silbern und hell und gleißend sah das Wasser aus in dem Mondlicht ... so gleißend und lockend ... wie das Weib des Rechtsanwalts.

Immer wieder mußte Valentin Rapp an Sophie denken. Mußte an sie denken ... wie sie ihn geliebt und umschmeichelt hatte all die Jahre seiner Ehe. Wenn sie gelogen hätte ... Wenn es wahr wäre, daß Sophie ihn betrog ... wenn ...

Und wieder konnte Doktor Rapp den Gedanken nicht fassen. Eine fürchterliche Wut war über den Mann gekommen. Ein Zorn und eine Empörung, die ihn zu allem fähig machten.

Doktor Rapp wußte jetzt nur das eine ... er durfte nicht nach Hause gehen ... jetzt nicht. Erst mußte er ruhig werden und wieder klar denken können.

[S. 353]

Es dauerte ein paar Stunden, bis der Rechtsanwalt sein Heim am Saggen betreten konnte.

Lautlos und sachte gab er den Schlüssel ins Schloß, und leise wie ein Verbrecher schlich er sich in seine Wohnung.

Ganz sachte ... unhörbar ... ohne Laut ... Sie durfte ihn nicht entdecken ... die Ehebrecherin.

Wie eine fixe Idee hatte es den Mann befallen. In seiner erregten Phantasie stellte er sich vor, daß er sein Weib noch in dieser Nacht mit einem Buhlen überraschen müsse.

Und wenn? ...

Dann würde er sie erwürgen ... mit seinen beiden Händen. Das wußte er.

Vorsichtig, Fuß an Fuß setzend, schlich er sich von Zimmer zu Zimmer, überall hin ... ohne Licht. Bis er vor ihrem Bett stand ... ganz nahe ... dann lauschte er. Lauschte mit eingezogenem Atem. Und konnte nichts hören ... gar nichts.

Vielleicht war sie gar nicht da ... war fort ... fort ... bei ...

Der Rechtsanwalt mußte sich bei diesem Gedanken den Kopf halten und stöhnte laut auf vor innerer Qual ...

Dieses Stöhnen beunruhigte die Träume des schlafenden Weibes. Sie reckte sich und seufzte tief ... wie von einem Alp bedrückt.

Nun wußte Valentin Rapp, daß sie da war. Dies brachte ihn wieder zu ruhiger Überlegung. Mechanisch tastete er sich zum Schalter der elektrischen Lampe und drehte auf.

Der plötzliche Lichtschein weckte die Frau aus ihrem Schlaf. Verwundert schlug sie die Augen auf.

„Du ... Valentin!“ Sie lachte müde und schlaftrunken. „Bist jetzt erst kommen?“ frug sie leise.

[S. 354]

Valentin Rapp gab keine Antwort. Er starrte wie hypnotisiert auf das in weißen Kissen ruhende Weib, das schon wieder sachte eingeschlafen war.

Eine große, mit gelbem Seidenschirm verhängte Ampel warf einen feinen Schein auf die schlafende Frau. Sophie Rapp lag da mit geschlossenen Augen und hatte den einen Arm über ihren Kopf geschlungen. Der Arm war entblößt, und mit ihm war ein Teil ihres Nackens sichtbar. Das Licht der Ampel vertiefte die Farbe ihrer bräunlichen Haut und ließ sie glatt und glänzend erscheinen wie Atlas. Das dunkle, aufgelöste Haar fiel ihr auf die halbentblößten Schultern, und ein weicher, friedsam ruhiger Zug lag auf dem sonst so lebhaften Gesicht. Die vollen üppigen Lippen waren leicht geöffnet, als sehnten sie sich nach Küssen, die sie der Müdigkeit und dem Schlaf entreißen sollten.

Als ob er sein Weib noch nie im sanften Schlummer gesehen hätte, so fest und eindringlich betrachtete Valentin Rapp jetzt die Schlafende.

Es war ein kleiner, intimer Raum, in dem das Ehepaar schlief. Geschnitzte Zirmholzmöbel in gotischem Stil waren in dem Zimmer. Ein großer, hellgelber Baldachin breitete sich an der Zimmerdecke über den beiden, knapp aneinandergestellten Betten. Dünn und zart rieselten feine weiße Spitzenvorhänge zu beiden Seiten der Betten herab, die in der Mitte des Zimmers standen. Ihnen gegenüber führten zwei hohe, breite Fenster ins Freie. Jetzt waren sie mit weißen Spitzenvorhängen auf gelbem Grund verhüllt.

Bei Tag hatte man von diesen Fenstern eine herrliche Aussicht auf das Vorgebirge der Nordkette. Sah den breiten Innfluß und die sacht ansteigenden Wiesen und Wälder. Sah aus dunklem Baumgrün den spitzen, zierlichen Turm der Weiherburg und sah die großen und kleinen Villen, die verstreut an dem Bergabhang lagerten. [S. 355] Und weiter wanderte der Blick bis zu dem stattlichen Dorfe Mühlau ...

Noch immer stand Valentin Rapp regungslos am Bett seines Weibes und versuchte, in ihren Zügen zu lesen.

Und wieder schlug Sophie ihre dunklen Augen auf und sah jetzt mit schelmischem Lächeln zu dem Gatten empor.

„Gehst heut’ nimmer schlafen?“ frug sie ihn dann. Es lag ein wohlig müder Ton in ihrer Stimme.

„Ja!“ Valentin Rapp sagte es kurz und rauh. Dann trat er ganz nahe an sie heran und fragte barsch: „Sophie ... was ist’s mit dir und dem Patscheider?“

Als wenn eine Viper sie gestochen hätte, so jäh schnellte das Weib bei der Nennung dieses Namens aus ihrer ruhigen Lage empor.

„W—w—a—a—s hast g’sagt?“ Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen an.

Valentin Rapp biß die Zähne aufeinander, um seine Frau nicht anzufallen. Aber er ballte seine Fäuste krampfhaft ... bereit, sie wie die Krallen eines wilden Tieres dem Weib ins Fleisch zu setzen.

„Was hast du mit dem Patscheider g’habt?“ frug er mit fester, gebieterischer Stimme.

„Der Patscheider ...“ Sophie hielt sich den Arm vor die Stirn wie ein Kind, das Züchtigung fürchtet, und sah flehend zu dem Gatten auf.

„Red’ ... Weib? Was ist?“ fuhr sie der Rechtsanwalt an. Nur mit dem Aufgebot seiner ganzen Kraft konnte er noch an sich halten.

„Ich ... ich versteh’ ... dich nit!“ stotterte Sophie angsterfüllt. „Ich ... ich ...“

„Also war’s etwas ... red’?“

Der Zweifel, der in dieser Frage lag, gab Sophie einen Schimmer von Hoffnung. Er wußte es also nicht bestimmt. Da konnte sie leugnen. Mußte lügen ... um seinetwillen und um ihretwillen.

[S. 356]

„Wie du mich erschreckt hast ... Valentin ...“ sagte sie jetzt leise. Es lag ein fast kindlich weicher, rührender Ton in ihrer Stimme. „So mitten in der Nacht ... und aus dem Schlaf heraus ... Und so grob bist mit mir, Valentin!“ klagte sie leise und legte sich wieder in ihre Kissen zurück. Ein krampfhaftes Zucken bebte um ihre Lippen.

„Du sollst mir antworten!“ sagte Valentin Rapp fest. Er war jetzt doch unwillkürlich milder geworden in seinem Ton.

„Manndi ...“ Sophie tastete mit leicht zitternden Händen nach der Hand des Gatten. „Wie kannst du mich nur so etwas Dummes fragen!“ sprach sie mit sanftem Vorwurf.

„Der Patscheider ...“

„Komm ... Mannderl ... laß den Patscheider! I will nix mehr hören von ihm! Es tut mir weh!“ sagte Sophie weinerlich. Und sie heuchelte nicht. Es tat ihr weh, diesen Namen zu hören.

„Er hat von dir geredet ...“ stieß Valentin Rapp hervor.

„Der Schuft!“ schimpfte sie und krümmte sich wie im Ekel zusammen.

Mit unsicherem Blick sah Valentin Rapp auf sein Weib. Daß sie mit so ehrlichem Abscheu von dem Patscheider sprach, beruhigte ihn.

„Also ... war nix ...?“ frug er nach einer kleinen Pause.

Sophie schüttelte den Kopf. „Nein!“ sagte sie gepreßt.

„Ist’s wahr?“ Mit festem Blick sah er der Frau in die Augen. Sie hielt den Blick aus.

„Ja!“ sagte sie laut und bestimmt.

„Dann hat er mich bloß ärgern wollen ... der Schuft!“ machte der Rechtsanwalt erleichtert.

„Freilich, das wird’s sein!“ gab Sophie mit tonloser Stimme zu. „Nur ärgern!“

[S. 357]

„Das will ich ihm aber ankreiden ... dem ...“ drohte Valentin Rapp empört.

Frau Sophie Rapp hatte noch lange zu tun, um das Klopfen ihres Herzens zu beruhigen. Sie mußte ruhig werden ... so ruhig, daß sie mit Leichtigkeit auch die letzten Zweifel aus der Seele des Gatten verscheuchen konnte.

Schlussvignette, Kapitel 19

[S. 358]

Zwanzigstes Kapitel.

E s war nur eine momentane Beruhigung, die Sophie Rapp bei dem Gatten erreicht hatte. Die Zweifel und das Mißtrauen setzten sich fest in seiner Seele, nagten an ihm und quälten ihn unausgesetzt bei Tag und bei Nacht.

Noch öfters stellte der Rechtsanwalt seine Frau zur Rede, fragte sie in Güte und versuchte durch Strenge die Wahrheit zu ergründen. Denn er fühlte es, daß Sophie ihn in jener Nacht belogen hatte. Wie ein Aal war sie ihm entschlüpft und hatte ihn dann schließlich mit echt weiblicher List besiegt.

Doktor Rapp ahnte es mit Bestimmtheit, daß er hintergangen worden war. Und dieses Gefühl einer fortwährenden Unsicherheit reizte ihn, machte ihn unruhig und hart und in einem so hohen Grade mißtrauisch, daß er jetzt jedem Wort, das Sophie sprach, eine andere Bedeutung unterlegte.

Er peinigte sie unaufhörlich mit seiner Eifersucht. Verfolgte und beobachtete sie auf Schritt und Tritt. Sie war jetzt ganz und gar unfrei geworden. Mußte ihm Rechenschaft ablegen über jeden Weg und sogar über verdächtige Blicke, die er bemerkt haben wollte. Wie ein gehetztes Wild, geängstigt und bedrückt ging Sophie herum.

Sie wagte es jetzt nur äußerst selten mehr, Felix Altwirth aufzusuchen. Und dann waren es jedesmal nur kurze, flüchtige Besuche in den späten Vormittagsstunden. Sophie hatte Angst vor dem Gatten. Sie wußte, daß es ihr nur durch die allergrößte Vorsicht gelingen würde, ihn wieder in seine alte Unbefangenheit zurückzuversetzen. Noch nie war sie ihm so treu gewesen wie in dieser Zeit. Treu selbst in ihren Blicken und in ihrem ganzen Gehaben.

Es war gut für Felix Altwirth, daß er gerade jetzt so [S. 359] vollauf mit dem Plan der Nationalgalerie beschäftigt war. Das zerstreute ihn, lenkte ihn ab, und er empfand die Trennung von Sophie nicht in dem Maße, wie es wohl sonst der Fall gewesen wäre. So fügte er sich willig in Sophiens Anordnungen und quälte sie nicht mit trüben Stimmungen. Bei seiner leicht erregbaren Natur wäre das sonst nicht ohne die heftigsten Verzweiflungsanfälle vorübergegangen.

Sophie hatte Felix von dem veränderten Gemütszustand ihres Gatten berichten müssen. Sie hatte es ihm sagen müssen, daß nur die größte Vorsicht imstande wäre, den Verdacht, den Valentin Rapp nun einmal gegen sie gefaßt hatte, wieder zu mildern.

„Weißt, Felix,“ hatte Sophie gesagt, „wenn du jetzt vernünftig bist und dich drein fügst, dann wird alles wieder recht. Wirst sehen, es geht schnell vorbei bei ihm, und dann können wir wieder glücklich sein und wieder füreinander leben!“ tröstete sie ihn.

„Es ist aber hart, Sophie!“ sprach Felix traurig. „Dich so nahe zu wissen ...“

„Meinst, mir wird’s leicht?“ frug sie ernst. „Es muß halt sein. Damit nix herauskommt. Denk’ nur, wenn ...“

„Hast du Angst, Sophie?“ frug Felix besorgt.

Sophie schaute mit unsicheren Blicken auf den Maler. Sie hatte Angst vor dem Gatten, wollte es Felix aber nicht eingestehen.

„Angst?“ Sie zuckte die Achseln. „Angst grad nit ...“ erwiderte sie ausweichend. „Aber stell’ dir das Höllenleben vor neben einem eifersüchtigen Mann! Das wär’ ja für die Dauer nit zum Aushalten.“

Sophie wußte es selber nicht, warum sie Felix ihre Angst nicht eingestehen mochte. Vielleicht war es im Unterbewußtsein ein Gefühl, daß sie es verhüten wollte, den Geliebten gegen den Gatten aufzureizen. Und das wäre sicher der Fall gewesen, wenn Felix eine Ahnung [S. 360] von dem eigentlichen Sachverhalt gehabt hätte. Auch von jenem nächtlichen Auftritt mit ihrem Gatten hatte sie Felix kein Wort erzählt.

So waren einige Wochen vergangen, und Sophie begann erleichtert aufzuatmen. Sie sah, daß Valentin Rapp ruhiger wurde, wieder mehr derjenige, der er früher war.

Aber Mißtrauen und Zweifel zerstören die Seele eines Menschen wie ätzendes Gift. Fressen sich tiefer und tiefer, und der leiseste Anlaß genügt, die Verheerung, die sie angerichtet haben, offen zutage treten zu lassen.

So war es mit Valentin Rapp. Er war nur scheinbar ruhig geworden. Nur zum Schein tat er, als hielte er das für wahr, was Sophie ihm sagte. In Wirklichkeit aber glaubte er ihr nichts mehr.

Es war ein qualvoller Zustand der vollständigen Zerrüttung und des seelischen Zwiespaltes, in dem sich Valentin Rapp jetzt befand. Ein Zustand, der ihn oft für Augenblicke an den Rand des Wahnsinns brachte. Und in einem solchen Zustand von Wut und Verzweiflung ging der Rechtsanwalt hin und erstand sich eine Waffe. Er konnte nicht anders ... er mußte es tun.

Erst dann, als er die Waffe hatte und sie stets bei sich trug, war er ruhiger geworden. Es war ein kleines blitzendes Ding. Ein Dolch. Fast zärtlich barg ihn Valentin Rapp in der inneren Brusttasche seines Rockes.

Es war ihm zur fixen Idee geworden: Nie wieder wollte er sich von diesem scharfen, glitzernden Ding trennen ... bis er die volle Gewißheit hatte von der Schuld oder Unschuld seiner Gattin.

War sie schuldig ... dann ... die Waffe war gut und seine Hand sicher. Mit ihrem Blut sollte Sophie die Schande sühnen, die sie ihm angetan hatte.

Jene Unterredung, die Valentin Rapp mit dem Patscheider gehabt hatte, wollte ihm nicht mehr aus dem [S. 361] Kopf. Immer von neuem mußte er an den widerlichen Ton denken, mit dem Johannes Patscheider von Sophie gesprochen hatte.

Was konnte es nur sein, das zwischen diesen beiden vorgefallen war? ... Valentin Rapp erinnerte sich an den unverkennbaren Abscheu, den Sophie gehabt hatte, als er ihr den Namen dieses Mannes nannte. Das war ehrlich gewesen. Und trotzdem log sie. Valentin Rapp fühlte es deutlich, daß sie log.

Er sah es an dem demütigen Blick ihrer Augen, die ihn oft so angsterfüllt anschauten, als wollten sie ihn um Vergebung bitten. Warum kam das Weib nicht zu ihm? Warum gestand sie ihm nicht die Schuld? Warum ...?

Hätte er ihr wirklich verziehen? Er hätte ihr nicht vergeben. Das gestand sich Valentin Rapp offen ein. Nie ... niemals im Leben ... hätte er Sophie eine Schändung seines Namens verziehen.

Er liebte dieses Weib rasend ... noch immer ... trotz allem. Er hatte sie aus der Niedrigkeit zu sich erhoben. Er hatte ihr alles gegeben, was ein Mann dem Weibe bieten kann. Er hatte ihr freudig und gern seine Freiheit zu Füßen gelegt. Nur um sie für immer zu besitzen, hatte er auf eine tatenreiche und erfolggekrönte Laufbahn verzichtet.

Erst jetzt ... in diesen einsamen, selbstquälerischen Stunden kam ihm dies alles zum Bewußtsein. Er sah es jetzt erst, wie der stolze Aufstieg, den er sich als Ziel gesteckt hatte ... langsam ... ganz langsam, aber stetig ... abwärts gegangen war. Seit den ersten Jahren seiner Verheiratung waren der Einfluß und das Ansehen, das Valentin Rapp in der Stadt besaß, allmählich geschwunden. Warum wohl?

Valentin Rapp dachte nach ... immer mehr und mehr ... Und da er nachdachte, erinnerte er sich an viele kleine Einzelheiten, denen er damals, als sie sich [S. 362] ereigneten, keinen Wert beigemessen hatte. Sie hatten aber trotzdem ihre Bedeutung gehabt. Denn Valentin Rapp hatte keinen einzigen seiner ehrgeizigen Pläne verwirklicht gesehen.

Der Rechtsanwalt dachte auch an die vielen zarten und unzarten Mahner, an jene, die ihm die Augen hatten öffnen wollen und denen er die Tür gewiesen hatte. So glücklich war er in seiner Ehe gewesen, daß ihn nichts in seinem Glauben an die Treue seines Weibes hatte erschüttern können. Und ohne die geringste Bitterkeit hatte er es mit angesehen, wie sein alter Gegner Johannes Patscheider immer mächtiger geworden war.

Valentin Rapp hatte sich einmal dazu berufen geglaubt, zu den hervorragendsten politischen Führern des Landes zu zählen. Und die Leute in Innsbruck hielten ihn nicht nur im hohen Maße dazu befähigt, sondern sie wußten es auch, daß er würdig und schneidig wie selten einer die Interessen des Landes hätte vertreten können. Das war damals gewesen ... vor Jahren, ehe Doktor Rapp die Sophie Zöttl zur Frau genommen hatte.

Als es einige Jahre später zu den Wahlen kam ... da trat ein anderer, ein Fremder, an die Stelle, die Valentin Rapp hätte einnehmen sollen. Der Rechtsanwalt hatte sich bei dieser Niederlage nicht viel daraus gemacht. Er war eine Kampfnatur und war überzeugt davon, daß er sich und seine Ideale mit der Zeit doch noch durchsetzen würde. Und wenn nicht ... dann machte es eben auch nichts. Die Hauptsache blieb es, daß er als Mensch glücklich geworden war. So glücklich und zufrieden, wie er es von andern selten im Leben erfahren hatte. Und all das Glück verdankte er dieser einen Frau ... die sein alles auf Erden ausmachte.

Valentin Rapp hatte sich nie nach einem Kind gesehnt. Sophie war ihm alles und ersetzte ihm alles. Und jetzt ... [S. 363] jetzt zermürbte der nagende Zweifel an ihrer Treue sein Gehirn und brachte ihn dem Irrsinn nahe.

Hatten jene warnenden Mahner doch recht gehabt? War Sophie tatsächlich eine Treulose, eine schamlose Ehebrecherin? War sie so niederträchtig, falsch und gemein, daß sie ihn Jahre hindurch betrog und belog ... und ihm Liebe heuchelte?

Wie konnte das Weib ein solches Spiel durchführen? War es überhaupt möglich bei der Ursprünglichkeit ihres Temperamentes, daß sie ihm Liebe gab, ohne sie zu fühlen? Das konnte nicht sein. Unmöglich. Sie mußte ihn ja lieben. Gerade sie ... dieses wilde, triebhafte Weib.

Triebhaft? War sie das wirklich? Ja ... sie war es. Doktor Rapp hatte ja damals in der ersten Zeit der Ehe selbst Angst bekommen vor diesem elementaren Ausbruch ihrer Natur. Er glaubte, sie durch seine Klugheit eingedämmt zu haben. War das Täuschung?

Valentin Rapp fühlte es immer deutlicher, daß es nur einen einzigen Ausweg gab aus dieser Hölle seiner seelischen Zweifel und Qualen. Er mußte Gewißheit haben, ob Sophie rein oder sündig war.

Mehr als einmal hatte er ihr eine Falle gestellt. War fortgegangen und dann unvermutet wieder zurückgekommen. Sie glaubte ihn verreist, und er schlich heimlich in der Nacht um sein Haus und lauerte auf den Verrat, den sie nun an ihm begehen würde. Aber Sophie war standhaft. Sie ahnte die Gefahr und mied sie.

Erst nach mehreren Wochen, als Valentin Rapp sich ruhiger gab, wurde Sophie kühner.

Es war im Dezember ... die Zeit kurz vor Weihnachten. Valentin Rapp hatte eine geschäftliche Reise zu machen. Eine Reise nach Wien. Sophie wußte schon längst von dieser Fahrt und freute sich auf die Freiheit dieser Tage, wie ein eingesperrter Vogel sich aus seinem Käfig sehnt.

[S. 364]

Sie wußte es, daß es sich um die Vertretung in einem Prozeß handelte, der einige Tage dauern konnte.

Als der Gatte von ihr Abschied nahm, fragte ihn Sophie im gleichgültigsten Ton: „Sag’, Mannderl, wie lang bleibst denn aus?“

„Höchstens zwei Tag’. Übermorgen in der Nacht komm’ ich!“ erwiderte Doktor Rapp.

Sophie atmete auf. Zwei Tage ... es war wenig. Aber sie würde ihre Freiheit genießen!

Der Rechtsanwalt beobachtete seine Frau mit argwöhnischen Blicken. Er sah, daß sie zu Boden schaute, und er glaubte später in ihren dunklen Augen einen Schimmer von aufleuchtender Freude zu bemerken.

Die Falle war also gut. Übermorgen wollte er kommen ... sagte er. Der Prozeß in Wien war aber erst in zwei Tagen fällig.

Mit großer Zärtlichkeit und Liebe nahm Sophie auf dem Bahnhof zu Innsbruck Abschied von dem Gatten. Sie sah, wie Valentin Rapp den direkten Wagen nach Wien bestieg. Und sie winkte ihm mit ihrem kleinen feinen Spitzentaschentuch so lange nach, bis der Eilzug ihren Blicken entschwunden war.

Dann lief sie, so schnell sie konnte, hinauf nach Wilten, in die Wohnung der Altwirths. Alle Abkürzungswege benützte sie, um nur so rasch als möglich bei dem Geliebten zu sein ...

„Felix ...“

„Ja ... Schatz!“

Sie lagen sich in den Armen und konnten sich kaum fassen vor Freude.

„Heut’ nacht ... Felix ...“ flüsterte Sophie heiser vor Erregung. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. So sehr sehnte sie sich nach dem Geliebten.

„Nach Mitternacht?“ frug Felix leise.

„Um eins. Sei pünktlich!“ ...

[S. 365]

Es war eine finstere Nacht. Neumond. Die Sterne glitzerten am schwarzen Firmament unruhig und unstet. Ab und zu fegte ein heftiger Windstoß mit ungestümer Gewalt dem einsamen Wanderer frostige, schneidende Luft ins Gesicht. Den Pelzkragen aufgestülpt und den weichen, dunklen Hut tief in die Stirn gedrückt, so legte Valentin Rapp in der kalten Winternacht zu Fuß den Weg von Hall nach Innsbruck zurück.

In Jenbach schon war der Rechtsanwalt umgekehrt. Hatte den nächsten Zug nach Innsbruck benützt und war abends in Hall angekommen. Von dort wanderte er bei Nacht zu Fuß, um von keinem Bekannten gesehen zu werden.

Doktor Rapp war innerlich ruhig geworden. Fast ohne jede Aufregung, mit einer Art kühlen Interesses sah er den Stunden entgegen, die er nun auf seinem einsamen Beobachtungsposten verbringen würde. Er wußte ... wenn er auch heute nacht und morgen noch vergebens auf diesem Posten stand, daß er dann wieder ruhig und zufrieden leben konnte wie bisher.

Diese beiden Nächte sollten ihm die Entscheidung bringen über sein ferneres Leben. Und sie würden sie auch bringen. Valentin Rapp fühlte das klar und deutlich. Und deshalb war diese große Ruhe über ihn gekommen.

Als der Rechtsanwalt durch den Bogen des Bahnviaduktes schritt, der die nach Mühlau führende Straße überspannt, da hörte er die Uhren der Türme von Innsbruck elf Uhr schlagen. Eine nach der andern. Die einen in hellen, kurzen Tönen und die andern in langsamen, feierlichen Schlägen, als wollten sie den Lauf der Zeit eindämmen, auf daß er nicht so schnell verrinne.

Elf Uhr ... Es war Zeit ... noch viel Zeit. Doktor Rapp würde noch lange warten müssen ...

Unwillkürlich schlug der Rechtsanwalt jetzt eine langsamere Gangart ein. Fast gemächlich ging er den Rest [S. 366] des Weges. Die Hände auf dem Rücken, als mache er nur zu seinem Vergnügen einen nächtlichen Spaziergang.

Er achtete nicht auf die eisige Luft, auf den starken Wind, der ihm schneidend durch die Kleider fuhr. Er ging weiter ... immer gerade aus ... bis zur Kettenbrücke ...

Viele Hunderte von blitzenden Lichtern erleuchteten die schlafende Stadt. In dem heftigen Wind schienen sie unruhig zu flackern, als trieben sie mit den Milliarden glitzernder Sternchen droben am Nachthimmel ein lustiges Wettspiel.

Auf der Kettenbrücke blieb Doktor Rapp stehen. Es war so still und ruhig da ... kein Mensch ... kein Laut ... nichts. Fast etwas Unheimliches lag in dieser Stille und bedrückte den einsamen Wanderer. Das Dunkel der Nacht lastete schwer auf der Stadt. Trotz der weißen Schneedecke und den flackernden Lichtern war es dem Rechtsanwalt, als brütete eine tiefe Traurigkeit über der Stadt. Oder erschien es ihm nur so ... weil er selber so traurig war ... so unsagbar traurig ...

Je näher er seinem Hause kam, desto langsamer ging Doktor Rapp. Und ganz ruhig war er ... ganz ruhig ... Er mußte ja ruhig sein ... ruhig und geduldig ... und warten ... noch lange ... lange Stunden vielleicht.

Valentin Rapp ging langsam und immer langsamer auf sein Haus zu. Als er es sah, umschlich er den Garten der Villa, die sein eigen war, wie ein Dieb. Lauerte und spähte umher ... Er sah nichts. Gar nichts.

In einem Zimmer des ersten Stockwerkes brannte ein Licht. Es war das Wohnzimmer. Und droben im Giebel war noch ein Fenster beleuchtet. Das war am andern Ende des Hauses. Das Mädchenzimmer. Sonst überall Dunkel.

Im Erdgeschoß des Hauses regte sich nichts. Die Mieter waren alte Leute und liebten die Nachtruhe.

[S. 367]

Einige Male umschlich der Rechtsanwalt sein Haus. Dann gab er sich einen Schwung, kletterte über den nicht sehr hohen Eisenzaun des Gartens und ließ sich sachte und lautlos zur Erde gleiten. Er hatte den Schlüssel des Gittertores bei sich, aber er scheute den Lärm, den das Öffnen desselben vielleicht verursachen konnte.

Langsam und sorgsam stapfte er durch den Schnee des Gartens dem kleinen Gartenhäuschen zu. Morgen würden sie die Fußspuren sehen, dachte er. Vom Gartenhäuschen aus konnte er den Eingang der Villa genau im Auge behalten, und er sah auch das erleuchtete Fenster des Wohnzimmers. Konnte beobachten, wie lange Sophie noch wach war.

Was sie wohl jetzt gerade tat? Vielleicht las sie oder schrieb an ihn? Einen ihrer kleinen, zärtlichen, stillosen Briefe, die ihm immer so viel Freude bereitet hatten. Doktor Rapp stellte sich sein Weib vor, wie sie droben saß, einsam, und an ihn schrieb. Er sah sie, wie sie mit ernsthaftem Gesicht über dem Papier saß und kritzelte. Sie sah so drollig ernsthaft aus, wenn sie schrieb. Zog die Stirne kraus und preßte die Lippen zusammen. Wie ein Kind.

Eine große Sehnsucht nach Sophie überkam den Rechtsanwalt bei diesen Gedanken. Am liebsten wäre er jetzt zu ihr hinaufgegangen, um sie bei ihrer einsamen Tätigkeit zu überraschen. War sie denn einsam? Vielleicht war sie es nicht ... vielleicht ...

Deshalb war er doch hierher gekommen zu so später Stunde, um sich Gewißheit zu verschaffen. Und nun fingen die quälenden Fragen schon wieder an.

Doktor Rapp hatte sich auf eine der hölzernen Gartenbänke gesetzt, die den Winter über in dem Häuschen untergebracht waren. Und jetzt wartete er ... wartete ...

Er hörte jeden Stundenschlag der Uhren. Es war immer eine und dieselbe Turmuhr, die als erste den [S. 368] Verlauf einer Viertelstunde ankündigte. Dann kamen die andern. Eine nach der andern, in melodischer, abgestimmter Harmonie.

Wie langsam die Zeit verrann ... endlos ... Und draußen der kalte Wind in seinen unruhigen Stößen.

Und immer noch das Licht im Wohnzimmer? Warum ging sie nicht schlafen ... warum?

Und wieder kämpfte die Sehnsucht nach dem Weibe mit dem lauernden Verdacht.

Wenn sie nun doch unschuldig war?

Wie ein freudiger Schreck durchzuckte es den Mann.

Er würde Wache halten hier unten und dann ... dann ... morgen ... nicht heute ... dann würde er zu ihr kommen als ein Reuiger. Niederknien würde er sich vor ihr und ihr alles bekennen. Und sie würde ihn in ihre Arme nehmen, weich und lind, und würde ihn küssen ... küssen ... wie nur Sophie küssen konnte.

Vom Turm schlug der helle Glockenton halb ein Uhr. Das Licht im Wohnzimmer erlosch. Gott sei Dank! Valentin Rapp atmete auf. Nun ging sie schlafen.

Es war alles dunkel im Haus. Kein Laut. Und wieder harrte Valentin Rapp und sah abwechselnd bald auf die dunklen Fenster seiner Wohnung und bald auf den Garteneingang hin. Erwartungsvoll ... dann immer gleichgültiger.

Valentin Rapp fröstelte. Es fiel ihm ein, daß er noch kein Obdach hatte für die heutige Nacht. Später ... dann würde er nach Pradl gehen. Da kannte er einen Gastwirt, der verschwiegen war. Der Rechtsanwalt hatte ihm einmal Gutes tun können. Seither war ihm der Mann ergeben.

Ein Uhr ...

Horch ... Etwas regte sich ... Der Glockenschlag hatte den einsamen Mann im Gartenhaus aufgeschreckt. Oder war es ein Laut gewesen, ein Ton?

[S. 369]

Sorgfältig spähte Valentin Rapp durch die Dunkelheit. Es war ihm, als wäre oben im ersten Stock ein Fenster geöffnet worden. Er konnte es nicht sehen ... es war zu dunkel.

Aber jetzt ... jetzt hörte er etwas ... Es war keine Täuschung. Von der Straße her kam der gedämpfte Tritt eines Mannes. Der hartgefrorene Schnee knirschte leise ... Die Schritte kamen näher und näher ... Valentin Rapp hielt den Atem an vor erwartungsvoller Spannung. Er spähte hinaus in die Dunkelheit, in die Richtung, woher der Schall der Tritte kam.

Der Schein eines Lichtes fiel in den Garten. Plötzlich ... unvermittelt. Erschreckt sah Valentin Rapp auf.

Da ... da ... er sah es deutlich. Im Rahmen des offenen Fensters ihres jetzt hell erleuchteten Wohnzimmers stand Sophie und sah in den Garten hinab. Einen Moment nur. Aber Valentin Rapp war es, als müßte sie ihn gesehen haben. Unwillkürlich drückte er sich nach rückwärts noch tiefer in das Innere des Häuschens hinein.

Es war wieder dunkel droben. Die Schritte von der Straße her kamen näher. Mit dem Aufgebot seiner ganzen Nervenkraft horchte der Rechtsanwalt. Er hörte, daß der Mann draußen sich jetzt langsam heranschlich. Er konnte den Fremden nicht sehen ... er hörte ihn nur, wie er leise und vorsichtig näher kam.

Dann hörte er den Schlüssel ... hörte das Öffnen des Tores und das Geräusch des wieder zuschnappenden Schlosses.

Und dann wieder die leise schleichenden Tritte und das Öffnen der Haustür. Sicher und wie selbstverständlich hatte der Fremde seinen Weg gefunden. Er mußte ihn gut kennen.

Das Fenster im ersten Stock klirrte leise. Sophie hatte es also wieder zugemacht.

[S. 370]

Doktor Rapp konstatierte das alles mit einer Ruhe, über die er sich selbst wunderte. Nun war er wieder ganz ruhig geworden. Unheimlich ruhig. Er mußte es ja auch sein. Nun hatte er ja die Gewißheit ... die Erlösung aus der Qual des Zweifels. Und nun mußte er handeln ... abwarten, bis die beiden da droben sich vollkommen sicher fühlten. Er konnte ja jetzt warten ... jetzt noch viel mehr als zuvor ...

Es war eine heiße Liebesnacht für Felix und Sophie. So heiß und glühend hatten sie sich beide schon lange nicht mehr geliebt wie heute.

Wie in einem tollen Rausch verbrachten sie die Zeit.

„Sophie ...“

„Felix ...“

Es war der Ausbruch eines neuen, unendlichen Vergehens ineinander ...

Und leise durchschlich Valentin Rapp die dunklen Räume seiner Wohnung ... von Tür zu Tür ...

Er hatte die Schuhe ausgezogen und tastete sich nun sachte und lautlos vorwärts.

An der Tür des Schlafzimmers machte er halt. Er horchte ... Er hörte das unterdrückte Flüstern erregter Stimmen.

Valentin Rapp spürte einen wehen, stechenden Schmerz. So sehr hatte er dieses Weib geliebt ... so ehrlich und warm. Und sie betrog ihn ... die Dirne!

Das schwere Blut stieg ihm jäh zu Kopf, und ein Zittern und Beben befiel ihn ... Ruhig ... er mußte ruhig sein ... nur jetzt noch ... bis er sie getroffen hatte.

Schwer atmete der Mann ... fast keuchend. Und drinnen schmiegte sich Sophie innig an die Brust des Geliebten ... umschlang ihn mit ihren weichen Armen und küßte ihn.

„Felix ... lieber ... lieber Felix! Weil ich dich nur wieder hab’ ... dich ... du ...“

[S. 371]

Vorsichtig öffnete Valentin Rapp die Tür seines Schlafzimmers ...

Das matte Licht der Ampel mit dem gelben Seidenschirm fiel auf das Weib, das in den Armen ihres Buhlen lag.

Valentin Rapp schaute nicht auf den Mann. Er sah nur sie ... das Weib ... die Dirne. Er sah sie in ihrer ganzen Schande. Und mit geballten Fäusten stürzte er sich auf sie wie ein gereiztes Tier und züchtigte sie. Ohne ein Wort zu sagen ... jäh und plötzlich riß er sie aus den Armen ihres Geliebten. Zerrte sie zu Boden und schlug ihr ins Gesicht. Brutal ...

„Dirne!“ stieß er keuchend hervor. „Jetzt hab’ ich dich!“

Zitternd krümmte sich das Weib unter den Schlägen des Mannes. Sie fühlte sie nicht. Sie hatte nur eine Angst ... Felix. Nur an ihn dachte sie ... nicht an sich.

Felix war mit jähem Schreck emporgefahren. Einen Augenblick starrte er wie betäubt auf den Mann ... Dann sah er, wie Valentin Rapp in blinder Wut auf das Weib einhieb ... brutal und roh ... Und jeder Schlag durchzuckte ihn ... peitschte ihn auf und versetzte ihn in namenlose Wut.

Von rückwärts fiel er dem Rechtsanwalt in den Arm, umkrampfte ihn mit Macht, um Sophie zu befreien.

„Rette dich ... Sophie ...“ rief er ihr zu. „Schnell ... vorwärts ...“

Aber Sophie rührte sich nicht. Wie betäubt lag sie auf dem weichen Teppich und hielt die Hände vors Gesicht.

Doktor Rapp befreite sich mit einem kräftigen Ruck und schleuderte Felix in eine Ecke des Zimmers, daß er zu Boden fiel. Die Aufregung hatte Valentin Rapp Riesenkräfte verliehen.

„Zuerst kommt sie dran ... dann du ... Bube ...“ schrie er jetzt vor Wut brüllend.

[S. 372]

Jäh schnellte das Weib empor ... von Angst getrieben. Aber nicht um sich ... sondern um Felix.

„Fort ... fort ... Felix ...“ rief sie ihm mit schriller Stimme zu. „Fort ...“

Doktor Rapp hielt das Weib gepackt. Fest ... an der Kehle ... Die Zähne knirschten ihm ... dann ...

Sophie sah den Dolch in seiner rechten Hand ... Scharf glitzerte das Ding ... da ... sie schrie auf.

„Felix ... hilf ... Felix!“ Es war wie ein Todesschrei.

Und dann wand sie sich unter seinem Griff. Kämpfte mit ihm ... hielt ihm den Arm mit der Kraft der Verzweiflung ... Er durfte nicht stechen ... sie wollte leben ... leben ...

„Hilf, Felix! Hilf!“ schrie sie verzweifelt.

Felix Altwirth hatte den Mann angefallen, und mit wuchtigem Schlag hieb er ihm den Dolch aus der Hand. Die Waffe fiel zu Boden ...

Der Rechtsanwalt ließ von dem Weibe ab ... Jetzt standen sich die beiden Männer als Todfeinde gegenüber.

Sie kämpften miteinander ... stumm und wortlos ... Sie kämpften um die Waffe ... Es war ein kurzer, heißer Kampf ... Da ... Felix lag zu Boden ... er hatte die Waffe ... Der Rechtsanwalt sah es nicht, daß er zum Stich ausholte.

Valentin Rapp wälzte sich in blinder Wut über seinen Gegner ... er beugte sich über ihn ... ein Ruck ... Felix drückte den Dolch, den er fest in der Hand hielt, in die Brust des Mannes ...

„Ah ...!“ Es war ein Stöhnen ... ein unterdrückter Schrei, der sich dem Munde des Rechtsanwaltes entrang. Die Hand hielt er an die Brust gepreßt ... die Augen geschlossen ... den Kopf nach hinten. Dann fiel er mit Gepolter zur Seite. —

Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen starrte das Weib auf ihren Gatten ... sie konnte sich nicht [S. 373] rühren ... kein Glied bewegen ... Sie sah das Todeszucken des Mannes, und sie hörte sein Röcheln ... Sie hielt den Atem an ... starrte ... wollte schreien ... um Hilfe rufen ... und konnte nicht. Sie sah nur immer hin auf das Opfer, das zu Boden lag ... Ein Dehnen ... ein Recken ... Dann ... dann war er ruhig ...

Und nun löste sich die lähmende Spannung in Sophiens Gliedern. Langsam und lautlos kniete sie sich nieder ... und auf den Knien kroch sie zu dem Gatten hin ... langsam ... von Angst und Entsetzen erfüllt ... Sie tastete ihm mit zitternder, fieberheißer Hand ins Gesicht ... er bewegte sich nicht und hatte die Starre des Todes.

Sachte ließ sich das Weib an der Seite der Leiche nieder und bettete den Kopf des toten Mannes in ihren Schoß. Und dann weinte sie ... leise ... fast lautlos ...

In einer Ecke des Zimmers stand Felix. Das Entsetzen über seine Tat hatte ihn betäubt ... er konnte es noch nicht fassen ... Tot ... Er hatte den Mann getötet ... ein Mörder ... nun war alles vorbei ...

Eine tiefe, unheimliche Stille herrschte in dem kleinen Raum. Sie konnten einander nicht in die Augen schauen ... die beiden Schuldigen ... sie starrten nur immer wie gebannt auf das wachsbleiche Gesicht des Toten.

Mit sanftem Druck hatte Sophie dem Gatten die Augen geschlossen ... Sie konnte diesen brechenden Blick nicht mehr sehen. Es tat ihr so wehe ... wehe ...

Sie hatte ihn lieb gehabt ... die Frau ... ehrlich lieb. Und sie war ihm dankbar gewesen ... und trotzdem hatte sie ihn betrogen ... betrogen ... weil sie nicht anders konnte.

Zögernd und scheu näherte sich Felix.

„Sophie ...“ flüsterte er heiser.

Sophie sah zu ihm auf. Ruhig und ohne Vorwurf. Aber ihre Tränen rannen unaufhörlich über die todbleichen Wangen.

[S. 374]

„Ja ... Felix!“ sprach sie mit schluchzender Stimme.

„Nun ist alles aus!“ sagte Felix gebrochen. „Jetzt ... ich werd’ mich stellen müssen.“

„Du?“ Entsetzt starrte ihn das Weib an. „Flieh’!“ stieß sie wild hervor.

Felix schüttelte den Kopf. „Nein!“ sagte er. „Das nützt nichts. Sie bekommen mich doch.“

Ein eisiger Schauder durchfuhr den halb entblößten Leib des Weibes. „Ins Gefängnis ...“ stieß sie hervor. Sie krümmte sich zitternd und sah mit scheuem Blick auf Felix. „Ins Gefängnis ...“ wiederholte sie.

„Leb’ wohl ... Sophie ...“ sagte Felix tonlos. „Daß das so ein Ende nehmen muß.“ Er hielt ihr die Hand hin. Unverwandt und mit angsterfülltem Blick schaute das Weib zu dem Mann empor.

„Warum gehst du ...“ stieß sie hervor. „Bleib’!“

„Es ist besser, wenn ich geh’ ... Sophie. Deinetwegen ...“ fügte er nach einer kleinen Pause hinzu.

Sophie erhob sich. Dann bettete sie sanft und weich das Haupt des toten Gatten auf ein Kissen, das sie herbeiholte. Ganz allmählich gewann sie ihre Fassung wieder. Sie zitterte noch an allen Gliedern ... aber sie konnte wieder ihre Gedanken sammeln.

Und nun stand sie da in ihrem weißen Nachtgewand und streckte sich im namenlosen Schmerz. Fest preßte sie die vollen Lippen aufeinander, die so blaß und blutleer waren wie ihr totenbleiches Gesicht.

„Felix ...“ Sie sah ihn mit großen, wehen Augen an. „Du weißt, daß ich dich lieb hab’?“ frug sie.

„Sophie ...“ Jetzt kniete sich Felix vor ihr nieder ... umschlang ihren Leib mit beiden Armen und preßte seine Lippen auf ihre Hände.

„Siehst, Felix ...“ fuhr Sophie leise flüsternd fort ... als wollte sie den Toten nicht aus seiner Ruhe stören ... „Den da hab’ ich auch lieb g’habt. Sehr lieb ... Aber [S. 375] nit so wie dich ... anders ... Und jetzt ... jetzt ist er nimmer ... Und du ... du bist auch nimmer ... und alles ... alles ist meine Schuld ... Ich weiß es ... ohne mir ... wär’s nit so weit kommen!“ Sie griff sich mit der Hand gegen die Stirn, als müßte sie sich besinnen. Dann fuhr sie mit flüsternder und bebender Stimme zu reden fort. „Ich hab’s Elend über euch gebracht ... über dich und ihn ... und hab’ euch doch gern g’habt ... so gern ...“

Der Ton ihrer Stimme tat Felix so weh, daß er aufschluchzte vor Leid. Sie fuhr ihm zärtlich über den Kopf und streichelte ihn.

„Ich will’s gutmachen ... Felix ...“ sagte Sophie kaum hörbar. „Ich bin die Schuldige ... niemand soll’s wissen ... daß du’s getan hast.“

„Sophie ... du ... das geht nicht ... unmöglich. Ich bin’s gewesen, und ich trag’s auch!“ Mit jähem Schreck war Felix emporgefahren und sah scheu und verstört auf das Weib, das nun in ruhiger und gefaßter Haltung vor ihm stand.

Sie hatte den Kopf tief gesenkt und ließ die Arme müde und matt herabhängen. Wie eine ganz andere ... eine demütige, ergebungsvolle Frau kam sie dem Mann jetzt vor, und mit achtungsvoller Ehrfurcht hörte er auf die Worte, die sie leise flüsternd sprach.

„Nein, Felix ... ich muß es sein ... laß mich ... ich bitt’ dich drum ...“ Sophie faltete die Hände und sah ihn flehend an. „Für mich ist’s Leben doch aus ... ich mag nimmer sein ... Jetzt nimmer ... jetzt ... wo alles zu Ende ist und ich so glücklich war.“

„Glaubst du, daß ich noch leben könnte ... daß ...“ stieß er hervor.

„Ja ... du mußt leben ... Felix!“ sagte Sophie fest und beinahe gebieterisch. „Du mußt arbeiten und für andere leben. Schaff’ und werd’ groß!“

[S. 376]

Leise und ehrerbietig küßte der schuldige Mann die Hand des sündigen Weibes. Und noch einmal fuhr sie ihm liebkosend über das tiefgebeugte Haupt. Dann nahm sie seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände, mit derselben mütterlichen Gebärde, wie sie es so oft getan hatte, neigte sich tief über ihn und küßte ihn lange und innig ... Es war wie ein letztes, unendliches Versinken ineinander.

Dann riß sie sich gewaltsam von ihm los. „Geh’ ... jetzt ... Felix ...“ bat Sophie leise und wandte sich mit müder Gebärde von ihm ab. „Geh’ ... es soll dich niemand hier sehen. Kein Mensch soll’s je erfahren ... daß du’s getan hast. Geh’ ...“ bat sie nochmals, da sie sah, daß Felix noch zögerte. Aber sie schaute den Mann, der ihr das Höchste geworden war auf der Welt, mit keinem Blick mehr an. Sie hatte nicht mehr den Mut dazu.

Lautlos und unhörbar schlich sich Felix von dem Ort seiner Tat. Schlich hinaus in die Dunkelheit und Stille der Nacht.

Lange noch stand Sophie regungslos in der Mitte des Zimmers und starrte auf die Tür, durch die Felix gegangen war. Fort ... nun war er fort ... Sie hatte ihn wohl zum letztenmal gesehen ...

Ein tiefer Seufzer entrang sich der Brust des Weibes. Allein ... nun war sie allein ... ganz allein ...

Mit unsicheren, ängstlichen Blicken sah sie zu der Leiche hinüber die am Boden lag. Wie unheimlich es hier war. Ein eisig kalter Schauer durchfuhr ihre Glieder ... es fror sie ... Es war kalt in dem Zimmer ... still und kalt ... wie in einer Totengruft.

Mit vorsichtig zögernden Schritten schlich sich Sophie zu der Stelle hin, wo ihr toter Gatte lag. Ganz nahe kam sie heran ... ganz nahe ... Und dann kniete sie nieder. Kniete sich zu ihm und fuhr ihm mit bebender [S. 377] Hand tastend und suchend über den leblosen Körper, als müßte sie doch noch ein Lebenszeichen in ihm entdecken.

Nichts ... alles still ... alles tot.

Und immer tiefer beugte sie sich über ihn, und ihre Augen erweiterten sich immer mehr vor Angst ... je länger sie auf den Toten starrte.

Es war ihr ... als ob ein Fremder, ein Unbekannter vor ihr liegen würde.

„Valentin ...“ Sie flüsterte es ganz leise. „Valentin!“ Jetzt sagte sie es lauter.

Der Ton ihrer Stimme erschreckte sie. Es hallte so unnatürlich wider ... so hohl und dumpf in der tiefen Stille des engen Raumes.

„Valentin!“ Nun schrie sie das Wort heraus.

Alles still ... nichts regte sich. Doch ... Dem geängstigten Weibe schien es, als ginge ein leichtes Zittern durch den Körper des toten Mannes. Mit starrem, gebanntem Blick sah sie auf die Leiche. Sollte er ... regte er sich ... sollte er nochmals zum Leben erwachen?

Sophie wagte es jetzt nicht mehr, neben ihm zu sein. Ein abergläubischer Schrecken durchrüttelte sie ... peitschte sie empor ... so daß sie wie gehetzt in das andere Ende des Zimmers flüchtete.

Wie trüb das Licht der gelben Ampel brannte ... Und wie düster und beklommen es in dem kleinen Raum war ...

Horch! Rührte sich da nicht etwas ... ein Laut ... ein Atmen ...

Mit zusammengekrümmten Gliedern schlich das Weib an der andern Seite des Doppelbettes entlang ... schlich ... leise ... auf nackten Sohlen. Mit hochklopfendem Herzen horchte sie ... horchte ...

Wie unheimlich es hier war. Und wie ruhig ... wie tot.

[S. 378]

Und immer länger starrte sie ... sich gewaltsam an dem Rande des Bettes festhaltend ... zu dem Toten hinüber. Je länger sie schaute ... je länger sie mit eingezogenem Atem angestrengt horchte und nichts hörte als den Schlag des eigenen, wild pochenden Herzens ... desto mehr steigerte sich ihre Furcht und ihr Entsetzen vor dem Toten.

Der kalte Schweiß stand dem zitternden Weibe auf der Stirn. Und dann rannte sie wie von Furien gepeitscht fort ... hinaus aus dem Zimmer ... hinüber in das gleiche Zimmer, wo sie vor wenigen Stunden noch am offenen Fenster auf das Kommen des Geliebten gelauscht hatte.

Licht ... Nur Licht ... Sie mußte sehen ... und frische ... erquickende Luft schöpfen.

Wie eine Erstickende ... so lechzte das Weib nach Luft. Sie riß die Fenster auf ... Das Klirren der Scheiben erschreckte sie.

Die eiskalte Luft, die ihr entgegenströmte, schneidend und unbarmherzig, machte sie erzittern. Aber sie tat ihr gut. Unwillkürlich wurde sie wieder ruhig. Was nun? ... Sophie sah sich im Zimmer um. Sie war allein ... ganz allein. Da war niemand mehr, der für sie dachte und für sie sorgte. Allein ... und wieder diese beklemmende Angst ...

Warum war sie jetzt allein? Warum war er ... Felix ... fortgegangen? Warum? ... Sie hielt sich mit zitternden Händen die Stirne. Sie mußte denken ... ihre Gedanken sammeln.

Ja. So war’s. Sie hatte Felix fortgeschickt ... und er war gegangen. Er hatte das Opfer angenommen, das sie bringen wollte.

Warum es ihr mit einem Male nur so schwer wurde? Sie hatte sich ja so stark gefühlt ... so stark und nun ... nun war sie so todtraurig.

[S. 379]

Und wieder schüttelte sie die Angst. Ihre Zähne schlugen aufeinander, und ihr Körper krümmte sich zusammen. Und jetzt horchte sie ... horchte mit der ganzen Spannung ihrer überreizten Nerven auf die Schritte, die nun kommen würden ... um sie zu holen.

Nein ... Sie durften sie nicht holen ... Sie durften sie nicht finden hier. Fort ... fort ... nur fort ...

In fliegender Hast raffte das Weib seine Kleider zusammen. Zog sich an ... so rasch sie konnte, und steckte sich das Haar zurecht. Dann warf sie ein großes, dunkles Tuch über Kopf und Schultern und eilte hinaus ... hinaus ins Freie.

Ließ alles offen stehen ... Tür und Riegel ... Sie sollten den Toten gleich sehen ... wenn sie kamen.

Durch die einsamen Straßen hallte ihr flüchtender Schritt und gab sein Echo zurück von den Reihen der Häuser.

Von Straße zu Straße rannte sie, angstgetrieben. Bis in den dämmernden Morgen hinein.

Allmählich regte sich das erste Leben des beginnenden Tages. Vereinzelt eilten Arbeiter zu ihrem Tagewerk.

Von den Fenstern der dunklen Häuserreihen fiel ab und zu ein schmaler, verträumter Lichtschein auf die Gestalt des gehetzten Weibes.

Immer irrte sie herum ... von Straße zu Straße ... und kam doch stets in dieselbe Gegend zurück.

Auf dem Viadukt der Eisenbahn fuhr rasselnd ein Zug der Stadt entgegen. Und in der Ferne tönte das müde, schlaftrunkene Gerassel eines holperigen Wagens.

Der Tag erwachte ... schon dämmerte das erste Grau im Osten.

Da nahm Sophie Rapp ihre ganze Kraft zusammen. Es mußte sein. Fest zog sie das Tuch um sich ... ganz fest ... und dann eilte sie ... so schnell ihre zitternden [S. 380] Füße sie zu tragen vermochten, hinein in die Stadt.

Todbleich im Gesicht und mit einer Stimme, die heiser und hohl klang, sagte Frau Sophie Rapp in dem nüchternen, kleinen Amtszimmer der Polizei, daß sie in der heutigen Nacht während eines Streites ihren Gatten ermordet habe.

Schlussvignette, Kapitel 20

[S. 381]

Einundzwanzigstes Kapitel.

D oktor Rapp war tot ...

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht durch die Stadt. Gruppen von Menschen standen in den Straßen beisammen und besprachen aufgeregt den Fall. Doktor Rapp ermordet ... von seiner eigenen Frau.

Es gab viele, welche die ungeheuerliche Tat nicht glauben wollten. Denen man es immer und immer wieder versichern mußte, daß sich Frau Sophie Rapp wirklich selber der Polizei gestellt habe und daß ein Irrtum ausgeschlossen sei.

Eine solche Tat hätte man der Frau des Rechtsanwaltes niemals zugetraut. Wenn sie auch leichtsinnig war, für bösartig hatte sie kein Mensch in Innsbruck je gehalten.

Sogar der Richter hatte einen Augenblick Zweifel, als er die Frau zum erstenmal verhörte. Er sah sie fest und durchdringend an und zweifelte an ihrer Zurechnungsfähigkeit. Aber nur für einen Augenblick. Denn dann überzeugten ihn die klaren Antworten und das ruhige Benehmen der Frau, daß ein Zweifel ausgeschlossen sei. Sophie blieb dabei stehen, daß sie in einem Anfall von Wut und Zorn ihrem Gatten unversehens den Dolchstoß versetzt habe.

Es waren keine Zeugen da für die Tat. Die Hausbewohner hatten wohl Lärm und erregte Stimmen gehört, aber sie hatten sich nicht weiter darum gekümmert.

Das veränderte Benehmen des Rechtsanwaltes war ihnen schon lange aufgefallen, und sie hatten immer gedacht, daß es einmal zwischen den Ehegatten zu einem Auftritt kommen würde. Auch das Dienstmädchen bei Rapps sagte ähnlich aus.

Daß noch eine Person bei der Tat im Spiel sei, war bei dem eingehenden Geständnis der Frau gänzlich ausgeschlossen. [S. 382] Niemand hatte Felix Altwirth gesehen oder gehört. Und keines hatte die Stimme oder den Schritt eines Dritten gehört.

So blieb Felix Altwirth vom Verdacht befreit. Kein Mensch mißtraute ihm. Sie bedauerten ihn alle, die von seinen Beziehungen zu Sophie Rapp wußten.

Nur in der Seele eines einzigen Menschen hatte der Verdacht gegen Felix Wurzel gefaßt. Das war Adele Altwirth.

Eine beklemmende Angst war über sie gekommen. Von dem Augenblick an, als sie von der Schreckenstat erfuhr, peinigte sie die Furcht. Die war so stark, daß sie es nicht wagte, ihren Gatten anzusehen, um nicht die Wahrheit von seinem Gesicht lesen zu müssen. Auch Felix mied es, seine Frau anzuschauen. Er scheute sich vor ihr. Geduckt ... demütig und gequält schlich er umher.

Damals, in jener Schreckensnacht, war er noch stundenlang herumgeirrt, bis ihn das erste Leuchten des Tages in seine Wohnung trieb.

Adele hatte sein Kommen gehört. Sie wußte also, daß er fort gewesen war. Und sie sah sein bleiches, verzerrtes Gesicht und sah sein verstörtes Benehmen.

Erst spät am Tage hörte sie von dem Mord. Die Magd brachte ihr die Kunde. Die ganze Stadt spreche von nichts anderem als von der Ermordung des Doktor Rapp, berichtete sie. Und daß die Frau Rapp so grundschlecht sei, das habe ihr nicht einmal ihr ärgster Feind zugetraut.

„Aber ...“ sagte das Mädchen, „weil sie’s selber eing’steht und nit amal leugnet, so muß es wohl so sein. So a Weibsbild, a spottschlecht’s!“ ereiferte sich das nicht mehr ganz junge Dienstmädchen, das stets voll Freundlichkeit gegen Sophie gewesen war, wenn diese zu Felix kam.

Immer war Sophie gut und lieb zu dem Mädchen [S. 383] gewesen und hatte ihr manche kleine Freude gemacht. Daran mußte Adele jetzt denken, als sie die empörte Rede hörte. Wie schnell doch die Gunst bei den Leuten verscherzt ist und wie wandelbar der Sinn der Menschen. Sie fragen nicht einmal nach der Ursache der Tat. Sie heben den Stein auf und steinigen die Sündige.

Warum wohl die Tat geschehen war. Der Gedanke überkam Adele und marterte sie. Eine namenlose Angst befiel sie ... eine unsagbare Furcht ... die den Gatten in den Augen der Frau zum Mörder werden ließ.

Sie wichen einander aus ... der Mann und die Frau. In den Räumen ihrer eigenen Wohnung vermieden sie es, sich zu treffen. Sie hatten beide Angst voreinander.

So waren einige Tage vergangen. Tage, die sich ausdehnten wie Ewigkeiten ... in denen die Stunden schlichen ... langsam ... traurig und voll Pein und Qual.

In Felix regte sich das Gewissen. Folterte ihn bis zum Wahnsinn. Immer mußte er an den brechenden Blick des Mannes denken, dessen Leben er vernichtet hatte. Aber noch schlimmer als jene Tat erschien ihm seine Feigheit.

Ja. Er war feige. In diesen einsamen Stunden der Qual und der Gewissensbisse gestand es sich Felix ehrlich ein. Er hatte das Opfer von Sophie angenommen aus Feigheit. Das war die nackte Tatsache. Er fürchtete sich vor den Folgen seines Verbrechens ... fürchtete sich vor der Schande und Strafe.

In seinem Innern erhoben sich leise, schmeichlerische Stimmen. Betörten ihn mit schönen, entschuldigenden Worten ... und trotzdem erkannte es Felix klar und deutlich, daß er ein Elender war ... ein Feigling.

Es trieb ihn hin ... zu bekennen ... seine Schuld auf sich zu nehmen und zu büßen. Er durfte doch das Opfer einer übergroßen Liebe nicht annehmen. Durfte nicht [S. 384] ein zweites Leben vernichten ... das schuldlos an der Tat war.

Und wenn er sich stellte ... wenn er bekannte ... dann gab er nicht nur sich selber der Schande preis, sondern er zerstörte auch den ehrlichen Namen, den Adele vor der Welt trug. Durfte er das? Mußte er nicht um ihretwillen schweigen und die Qual der Reue für sich tragen?

Felix fühlte es, daß seine Frau ihm mißtraute. Er zitterte bei dem Gedanken, daß sie ihn zur Rede stellen würde und daß sie fragen würde. Dann würde er ihr die Wahrheit sagen. Das wußte er. Dann konnte er nicht lügen.

Einem Menschen ... ihr ... Adele, seiner Frau ... würde er beichten und bekennen. Und sie würde ihn reinsprechen ... würde ihn entsündigen und ihm die Last der Schuld tragen helfen.

Er sehnte sich geradezu nach dieser Aussprache mit Adele und wünschte sie herbei. Es würde ihm dann leichter werden ... viel leichter. Und oft war er nahe daran, zu Adele zu gehen und ihr alles zu bekennen.

Dann aber überlegte er wieder. War es wirklich so gewiß ... daß ihn Adele entsündigen würde? Sie ... die Reine ... an der kein Makel und keine Schuld haftete ... würde sie ihn verstehen und ihm verzeihen können? Und Felix Altwirth wußte es klar und bestimmt, daß ihm Adele nur einen Weg weisen würde ... den Weg der Wahrheit.

Er konnte ihn nicht gehen, diesen Weg. Je mehr die Stunden schwanden ... je langsamer die Tage dahinschlichen ... desto weniger fand Felix den Mut des Bekenntnisses.

In der ersten Aufwallung der Reue ... da hätte er es noch tun können. Damals ... ehe Sophie zu ihm gesprochen hatte. Aber dann ... als sie ihm mit rettender [S. 385] Hand den Ausweg wies, da klammerte er sich daran wie ein Ertrinkender.

Warum sollte das Leben zu Ende sein ... so zu Ende gehen? Es war doch nur ein Zufall gewesen ... diese unglückselige Tat. Nicht Vorsatz. Sollte er deswegen wie ein Verbrecher enden müssen?

Und Sophie? Er durfte nicht an sie denken. Im tollen Wirbel durchkreuzten die Gedanken sein Gehirn und marterten ihn. Wenn er nur einen vertrauten Menschen auf Erden hätte ... nur einen einzigen ... der ihn jetzt führen und leiten würde ...

In einem Anfall von Verzweiflung und Zerknirschung kam Felix zu Adele und beichtete ihr seine Schuld. Sagte ihr alles ... wie es gekommen war und daß er zum Mörder an dem Rechtsanwalt geworden war.

Es war am frühen Nachmittag. Hell und freundlich schien die Sonne durch die Fenster und lugte neugierig auf die schneeweißen Züge der blonden Frau ... die so steif und aufrecht und wie leblos in ihrem Stuhle saß, gleich einer Statue.

Sie hatte ja alles ... alles gewußt. Auch ohne daß der Mann es ihr gesagt hatte. Und trotzdem ... da waren doch immer Zweifel gewesen. Eine leise Hoffnung, an die sie sich klammerte ... daß alle ihre Angst doch grundlos sein konnte. Durch diese leise Hoffnung ... so schwach und gering sie auch war ... hatte Adele sich aufrecht gehalten.

Jetzt, da ihr Felix alles bekannte ... da auch der letzte Rest von Hoffnung geschwunden war ... da fühlte die Frau, wie etwas in ihrem Innern langsam erstarb.

Sie konnte nicht schreien ... sie konnte nicht beten ... sich nicht rühren. Es war kein Entsetzen in ihr und keine Anklage. Sie starrte nur vor sich hin ... mit leeren Blicken. Und war bleich und reglos und ohne Wort und Gefühl.

[S. 386]

„Hast du kein gutes Wort für mich, Adele?“ bat Felix schüchtern über eine Weile. Er sah die totenähnliche Starrheit seiner Frau ... die er nicht deuten konnte. „Ich bin zu dir gekommen ... in meiner Not. Du sollst mich leiten ... mich führen.“

Aber Adele gab keine Antwort. Sie konnte ihre Gedanken nicht sammeln ... sie konnte nicht sprechen. Sie fühlte nichts als ein inneres Erkalten ... das ihr wehe tat.

„Adele ...“ Nun näherte sich Felix zaghaft der stillen Frau. „Kannst du so grausam sein? Kannst du mir nicht verzeihen?“ bat er leise.

Sie hörte gar nicht, was er sprach. Sie erlebte jetzt im Geiste jede Einzelheit jener Nacht, von der ihr Felix berichtet hatte. Und dann dachte sie an Sophie.

„Adele ...“ bat Felix noch einmal mit demütig schüchterner Stimme und sah angstvoll auf seine Frau. „Hast du kein Wort mehr für mich?“

Nun sah ihn Adele an. Leer und kalt war ihr Blick.

„Sophie ...“ sagte sie mit tonloser Stimme. „Hast du an sie gedacht?“

„Tag und Nacht denk’ ich an sie. Immerfort. Das treibt mich ja zum Wahnsinn ... dieser Gedanke ...“

„Und kannst doch weiterleben?“ frug Adele leise.

„Adele ...“ sprach Felix mit heiserem Ton. „Ist das alles, was du sagst? Ist das ... soll ich ...“ Er war jetzt vor sie hingesunken und barg seinen Kopf wie ein Verzweifelter in ihrem Schoß. Ein rauhes Schluchzen erschütterte seinen Körper. Er weinte ... weinte laut und ohne Tränen.

Allmählich wich die innere Starrheit von Adele. Sie sah auf den Mann, der hier in seinem wilden Schmerz vor ihr lag ... bei ihr Trost und Kraft und Zuflucht suchte.

Sie hatte kein Mitleid für ihn und keine Liebe. Aber [S. 387] ein anderes Gefühl regte sich in ihr. Das war das Bewußtsein einer Pflicht. Sie wußte, daß sie dem Manne jetzt eine Stütze sein mußte.

Nicht seine Richterin durfte sie werden ... sondern der gute Kamerad, der ihn zu leiten und zu lenken hatte. Dieses Bewußtsein gab ihr Kraft und Stärke und ließ sie gut und ruhig zu ihm sprechen.

„Nein ... Felix. Das sollst du nicht ...“ sagte Adele jetzt mit klarer Stimme. „Jetzt nicht ...“ fügte sie leiser hinzu. „Dann ... später ... wenn du ruhiger geworden bist ... Dann gibt es für dich nur einen Weg ... den Weg zur Wahrheit! Und den mußt du gehen ... Felix ... mußt stark sein um ihretwillen ... wie Sophie es für dich gewesen ist.“

Und lange noch kniete Felix zu Füßen seiner Frau. Das trockene Schluchzen, das seine Brust erschüttert hatte, löste sich, und allmählich wurde er gefaßter.

Leise legte Adele ihre Hand auf das Haupt des Gatten. Er fühlte es und nahm es hin wie einen Segen.

Ob er den Mut zur Wahrheit finden würde?

„Willst du mit mir gehen ... Adele ...“ bat Felix leise. „Daß ich nicht so allein bin.“

„Ja ... Felix. Ich gehe mit dir. Ich verlass’ dich nicht!“ sagte Adele ruhig.

Es lag ein heiliger Ernst in ihren Worten. Ihre stille Sicherheit hatte einen tröstenden Einfluß auf den Mann. Und um vieles ruhiger war er jetzt in den nächsten Tagen. Ruhiger und gefaßter ...

Und wieder kamen die Tage der Weihnacht. Wieder läuteten die Glocken um Mitternacht ... riefen die Andächtigen zur Mette in der heiligen Christnacht.

Es war still bei den Altwirths. Kein Baum ... und kein Lichterglanz ... keine Festesfreude und keine Hoffnung.

Vor einem Jahr ... da lebte noch die kleine Dora ... [S. 388] das blonde Kind ... mit seinen sonnig blauen Märchenaugen.

Adele hatte heute nachmittag ein kleines goldglitzerndes Christbäumchen auf das Grab des Kindes getragen.

Und jetzt stand sie am Fenster ihres Wohnzimmers und sah hinaus in die sternenhelle, funkelnde Winterpracht des Himmels. Feierlich läuteten die Glocken um Mitternacht von der Wiltener Kirche herüber. Ernst und mächtig klangen sie ... anders wie bei Tage.

Friede auf Erden ... Die blonde Frau in ihrem schwarzen Trauerkleid sprach die Worte leise vor sich hin ... Friede auf Erden ... Friede den Menschen, die eines guten Willens sind ...

Sie wollte eines guten Willens sein ... wollte den Frieden auf Erden halten, so gut sie es vermochte.

Mit ruhigem Blick sah Adele in das sternenfunkelnde Glitzern des Nachthimmels. Sie dachte an ihr totes Töchterchen ... und eine große, übergroße Sehnsucht nach dem Kind erfüllte sie.

Jetzt ... nachdem alles so gekommen war ... fühlte sie nicht mehr jene tiefe Trauer um den Verlust des Kindes. Wie eine Erlösung war es fast. Wie gut, daß das Dorele hatte sterben dürfen! Die einsame Frau neidete ihrem Kinde die Todesruhe.

War denn das Leben wirklich wert, gelebt zu werden? Es brachte ja doch nur Jammer und Unglück.

Seit ihrer Aussprache mit Felix hatte Adele es versucht, milder und gerechter über den Gatten zu denken. Sie wußte, daß sie recht getan hatte, ihm den Weg der Wahrheit zu weisen. Aber nun fühlte sie mehr Mitleid mit ihm ... Mitleid mit der hilflosen Schwäche dieses Mannes.

Sie hatte ihn mit keinem Wort und mit keinem Blick zur Erfüllung seiner Pflicht gemahnt. Er sollte erst ruhig werden ... ganz ruhig und dann handeln.

[S. 389]

In dieser einsamen Christnacht stieg der ganze Jammer ihres zertretenen Lebens in Frau Adele auf. Aber sie klagte nicht an. Sie suchte zu verstehen, und sie verzieh dem Gatten.

Ein warmes, echtes Mitleid mit Felix hieß Adele in das Schlafzimmer ihres Mannes gehen, um nach ihm zu sehen. Sie wollte ihm jetzt ... in dieser heiligen Weihnacht gute, verzeihende Worte sagen. Warme Worte ... die sie noch vor wenigen Tagen nicht hatte sprechen können.

Als Adele das dunkle Schlafgemach des Gatten betrat ... war das Zimmer leer. Sie drehte das Licht auf. Das Bett lag unberührt. Felix war nicht da gewesen.

Eine innere Unruhe bemächtigte sich der Frau. Ließ sie die Nacht bis zum Morgen durchwachen. Was war es nur? Warum war Felix fortgegangen? Immer mehr wuchs die Sorge in dem Herzen der Frau.

Als auch die ersten Stunden des Tages ihr keine Kunde von dem Manne brachten ... da eilte sie in ihrer Angst zu ihrem alten Freund, dem Rat Leonhard. Der mußte ihr helfen ... ihr beistehen.

Es geschah nicht oft, daß der Rat Leonhard Besuch bekam. Und zu so früher Tagesstunde schon gar nicht. Er war just fertig geworden mit seinem Frühstück und gerade zum Ausgang gerüstet, als Adele hastig, erregt und kreidebleich seine kleine altmodische Junggesellenbude betrat.

Ziemlich verdutzt sah sie der alte Mann an. In seiner Zerstreutheit vergaß er sogar, ihr einen Platz anzubieten. Er wäre auch in einige Verlegenheit gekommen, wohin er sie hätte sitzen lassen können.

Da lagen überall Sachen umher. Bücher, die schon ganz verstaubt waren, lagerten aufgestapelt auf den paar Rohrstühlen und zeugten davon, daß der Rat Leonhard wohl eine ansehnliche Zahl guter Bücher besaß, [S. 390] daß er sich aber noch nie dazu hatte entschließen können, Ordnung unter ihnen zu halten. Auch ein großer Bücherschrank stand an der Längsseite der einen Wand zu Füßen des bescheidenen Bettes.

Es war alles vollgeräumt in dem Zimmer und so wenig Platz, daß zwei Leute sich kaum darin bewegen konnten. Ein altes, schon ganz verblichenes und herabgekommen aussehendes Sofa war belegt mit Kleidern und Wäsche. Der Tisch war vollgekramt mit vielerlei Sachen, die in harmonischer Ruhe und Eintracht beieinander lagen. Pfeifen, große und kleine, Tinte und Schreibzeug, daneben die Überreste eines Frühstücks, Tassen, Teller mit Brotkrumen und Brot und Butter. Kleiderbürsten, Tabaksasche, Federkiele und Hühnerfedern, Briefpapier und eine Wasserflasche breiteten sich in wahrhaft künstlerisch genialer Unordnung auf dem Tische aus.

Das Zimmer des Herrn Rates besaß nur ein breites Doppelfenster. Und obwohl draußen die Sonne hell und freundlich schien und die Luft klar und frisch war, so war es hier drinnen doch dumpf, stickig und düster.

Der Rat Leonhard liebte es nicht, viel Luft und Sonne in sein Gemach einzulassen. Er war für strenge Absperrung der Luft und betrachtete dies als eine Vorsichtsmaßregel gegen den verderblichen Einfluß des Südwindes, der die Stadt den größten Teil des Jahres beherrscht und die Nerven vieler Bewohner foltert.

Hinter dem Kleiderschrank, der in einer Ecke des Zimmers stand, war eine große Bilderkiste. Sie war so breit und massig, daß der Kasten ziemlich weit in das Zimmer hereingerückt stehen mußte, um für sie Raum und Platz zu schaffen. Dadurch machte das Zimmer selbst in seinen besten Zeiten einen unordentlichen und unaufgeräumten Eindruck. In der großen Kiste aber befand sich das Bild von Felix Altwirth, [S. 391] das der Herr Rat damals nach jener verunglückten ersten Ausstellung in Innsbruck erstanden hatte.

Als Adele das Zimmer des alten Herrn betreten hatte, wußte es der Rat Leonhard sofort, daß etwas ganz Außerordentliches vorgefallen sein mußte.

Es war lange her, daß er die junge Frau gesehen hatte. Fast solange, als das Dorele tot war. Nur einige Male hatten sie sich bald darauf am Grabe des Kindes getroffen und gesprochen. Und das nur flüchtig.

Der alte Mann wich Adele aus. Er scheute sich davor, ihr Ratgeber zu werden. Denn nun wußte er, daß er keinen Grund mehr anzugeben hatte, warum Adele bei dem Gatten bleiben sollte, im Falle sie ihn deswegen befragen würde.

Er hatte sich schon immer gewundert, der alte Herr, daß Adele jetzt nach dem Tode des Kindes noch bei Felix geblieben war. Und doch hatte er es im stillen gutgeheißen. Auch er empfand es wie einen Segen für Felix Altwirth, solange die Frau in seiner Nähe weilte.

In den Tagen der allerersten Aufregung nach der Ermordung des Doktor Rapp hatte der Rat Leonhard ein unbestimmtes Gefühl, als ob er zu Adele gehen müßte, um nach ihr zu sehen. Er unterließ es aber. Wozu sich einmischen? Vielleicht kamen sich die beiden Gatten jetzt in dieser für Felix zweifellos schweren Zeit näher ... lernten sich mehr verstehen ... wenn kein störendes drittes Element dazwischen trat.

Störend aber war in den Augen des alten Herrn jeder Mensch, ob Mann oder Frau, der auch nur den Versuch machte, vermittelnd auf Ehegatten einzuwirken. Die mußten von selber wieder den Weg zueinander finden. Auch die beste Absicht eines Fremden konnte mehr verderben als nützen.

So blieb der Rat Leonhard den Altwirths fern. Ging [S. 392] nicht zu ihnen, sondern wartete auf den Zufall, der ihn wieder mit Adele zusammenführen würde.

Und jetzt war Adele zu ihm gekommen. Voll heißer Angst und Sorge war sie gekommen und bat ihn, ihr beizustehen in ihrer Bedrängnis.

Der Rat Leonhard warf einen kurzen, stechenden und forschenden Blick auf die junge Frau. Er sah, daß sie ihm nicht alles gesagt hatte, daß sie den eigentlichen Grund ihrer Angst ihm nicht gestehen wollte.

Da sie nicht von selber redete, drang er auch nicht in sie. Er wirkte nur mit guten Reden beruhigend auf sie ein und bat sie, wieder nach Hause zu gehen und dort auf ihren Mann zu warten.

„Vielleicht ist er schon daheim ... wenn Sie kommen!“ versuchte er sie zu trösten. „Was soll ihm denn auch passiert sein? Sie sind halt noch alleweil ein bissel aufgeregt. Wunder ist’s ja keins!“ machte er dann.

„Helfen Sie mir ... Herr Rat ...“ bat Adele flehend. „Er kommt nicht wieder. Ich weiß es!“ sagte sie angstvoll.

„Jetzt gehen’s nach Haus!“ befahl der alte Herr kategorisch. „Und überlassen’s alles andere mir! Ich werd’ schon für alles sorgen ... und dann ... später ... komm’ ich nachschauen ... wie’s geht.“

Der Rat Leonhard hatte selber das Gefühl, daß es besser sei, in Adele nicht Hoffnungen zu erwecken, an die er selbst nicht glaubte. Sie mußte es ja wissen, warum ihre Angst und Sorge so begründet waren. So ging denn der Rat Leonhard und veranlaßte alles Nötige, um über das Verschwinden des Malers Altwirth Erkundigungen einzuziehen.

Aber erst am nächsten Tag wußte man es mit Bestimmtheit, was geschehen war. Droben im Mittelgebirge ... in einem der schönen, herrlichen Wälder, die sich von Natters gegen das Oberinntal erstrecken, da hatten sie den Maler Altwirth erschossen aufgefunden ...

[S. 393]

Die Frau Therese Tiefenbrunner erfuhr die Nachricht am Vormittage des zweiten Weihnachtstages. Ahnungslos wandelte sie am Arme ihres Gatten durch den Hofgarten mit langsamen, bedächtigen Schritten. Sie hatte ein neues schwarzes Kleid von schwerem, kostbarem Seidenstoff an. Das mußte sie heute zum ersten Male spazieren führen. Sie mußte dabei sorgsam darauf achten, was wohl die andern der ihr bekannten Damen Neues an Hüten, Pelzen und Kleidern aufzuweisen hatten.

Der Hofgarten war in den Vormittagstunden der Sonn- und Feiertage der Treffpunkt der Innsbrucker vornehmen Welt. Im Sommer spielte da die Musik in dem viereckigen luftigen Pavillon, der den Mittelpunkt des Gartens bildet. Da hüpften und sprangen die Kinder ein und aus. Und im bunten Durcheinander bewegte sich hier alt und jung im frohen, heiteren Geplauder. Andere wieder standen abseits und ließen bei den Klängen der Musik die Reihen der Menschen vorbeiziehen. Oder sie zerstreuten sich auf den weiten und gutgepflegten Wegen der schönen, blumengeschmückten und von alten Bäumen flankierten Gartenanlagen.

Im Winter ging es im Hofgarten nicht so lebhaft zu. Da benützte man ihn mehr als Durchgang zu der großen Promenade, die draußen am Rennweg vor dem Theater war. Dort spielte die Stadtmusik, oder die Militärkapelle ließ mit Schneid und Schmiß ihre lockenden Weisen ertönen. Und im lebhaften Geplauder traf sich hier alles, Zivil und Militär, jung und alt, Kinder und Greise. Wie ein fröhlicher, lustiger Bienenschwarm war’s. Auf und ab ... in Reih und Glied ... Lachen und Schäkern ... heimlicher und offener Flirt.

Wem’s zu bunt wurde hier draußen am Rennweg, der flüchtete aus dem Gewimmel hinein in den stilleren Hofgarten. Die mächtigen Bäume da drinnen breiteten [S. 394] ihre weiten, schneebedeckten Äste wie schützend über die im Winterschlaf ruhende Erde. Und so heimlich und still war’s da drinnen, trotz der vielen Fußgänger, die jetzt die sonst einsamen Wege belebten.

Die Frau Baurat Goldrainer und die Frau Professor Haidacher hatten sich auch in den Hofgarten hereingeflüchtet. Sie kamen dem Ehepaar Tiefenbrunner gerade entgegen, und auf ihren Gesichtern war ehrliche Bestürzung und Teilnahme zu sehen. Die Frau Goldrainer war eine von den ersten gewesen, die von dem Ende des Malers Altwirth erfahren hatte. Und nun wollte sie der Apothekerin ihr Beileid aussprechen und erkannte auf den ersten Blick, daß diese noch gar keine Ahnung von dem Unglück hatte.

Die Apothekerin, die zuerst ein recht vergnügtes Gesicht machte, als sie die beiden Damen begrüßte, sah jetzt recht hilflos drein und wußte gar nicht recht, wie ihr geschah.

„Beileid ... sagen Sie ... Frau Goldrainer?“ fragte sie verwundert. „Ich muß schon sagen ... daß ich ...“

„Ja, wissen’s denn noch nix ... Frau Tiefenbrunner?“ fiel ihr die Frau Goldrainer ins Wort. „Ihr Neffe ... der Felix Altwirth ...“

„Der Felix?“ machte der Apotheker.

„Was ist denn mit dem Felix?“ frug die Apothekerin mit einem Gemisch von Neugierde und Schrecken.

„Tot. Erschossen!“ sagte die Frau Goldrainer.

Nun wurde es der Apothekerin tatsächlich schwindelig. Sie mußte sich fest an ihren Mann halten. Es drehte sich alles vor ihren Augen wie ein Wirbel.

„Tot?“ sagte sie ganz fassungslos.

„Tot?“ wiederholte der kleine Apotheker, und ein nervöses Zucken ging über sein Gesicht. „Täuschen Sie sich auch nicht, gnädige Frau? Wir wissen ja noch gar nichts davon ...“

[S. 395]

„Nein. Leider täusche ich mich nicht!“ sagte die Frau Goldrainer ehrlich betrübt. „Gestern abend haben sie ihn erschossen aufgefunden im Wald droben bei Natters.“

„Selbstmord?“ fragte Simon Tiefenbrunner und sah ängstlich auf die Damen.

„Ja. Selbstmord!“ bestätigte die Baurätin. „Erst heut’ in der Früh’ ist die Sache bekannt g’worden in der Stadt ...“ erzählte sie dann weiter. „Auch seine Frau hat noch nichts gewußt davon. Jetzt ist meine Schwester bei ihr droben!“ berichtete sie noch.

„Die arme Frau Adele!“ sagte Frau Haidacher mitleidig.

Frau Therese Tiefenbrunner raffte sich zusammen. Die bloße Erwähnung dieses Namens brachte wieder Lebendigkeit und Frische in ihren Körper.

„Die? Die braucht Ihnen nit leid zu tun, Frau Haidacher!“ sprach sie erregt. „Wenn die nit g’wesen wär’ ...“

„Tun’s der Frau nicht Unrecht, Frau Apotheker!“ unterbrach sie die Professorin energisch. „Mir scheint eher ... daß eine andere die ganze Schuld trifft ... eine ... die wir einmal haben unter uns dulden müssen. Die Mörderin!“

Frau Haidacher sagte das hart und mit einem ehrlichen inneren Abscheu. Jetzt erst glaubte sie es zu verstehen, warum sie sich damals innerlich so abgestoßen von Sophie gefühlt hatte. Sie hielt sich für die einzige, die es instinktiv geahnt hatte, daß Sophie Rapp einmal zu jeder schlechten Tat fähig sein werde.

Simon Tiefenbrunner, der Apotheker, sah ratlos von seiner Frau auf die Professorin und von dieser auf die Frau Goldrainer. Er begriff nicht recht, warum die Damen sich über die Schuld und Unschuld der einen oder der andern ereifern konnten. Schließlich war doch der Felix schuld an allem, wie’s gekommen war. Der war ja immer ein unklarer Kopf gewesen.

[S. 396]

Und das sagte der Apotheker jetzt auch den Damen und begann ihnen, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, eine lange Rede zu halten. Aber diese fand ein rasches Ende dadurch, daß Frau Therese mit einem Male so laut und fassungslos zu schluchzen anfing, als habe sie soeben die Kunde von dem Tode eines eigenen Kindes erfahren.

Schlussvignette, Kapitel 21

[S. 397]

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

W as nun? Das Leben hatte seinen tollen Reigen zu Ende getanzt ... hatte Menschen zertreten und Blüten vernichtet. Was nun? Warum ertrug Adele noch die Last dieses Lebens? Was erwartete sie noch? Es war ja zu Ende jetzt ... alles zu Ende ... hoffnungslos.

Adele Altwirth wußte es selbst nicht, warum sie noch weiterlebte. Sie gab sich keine Rechenschaft darüber ... sie dachte überhaupt nichts mehr.

Wie eine lebendig Tote verbrachte sie die Tage. Ertrug die Nächte, die schlaflos waren und währten wie Ewigkeiten. Sie ertrug die Menschen, die zu ihr kamen und gute Worte sprachen. Sie antwortete ihnen ... aber sie verstand nicht den Sinn ihrer eigenen Rede. Sie war so ruhig ... so gefaßt ... so kühl und so unempfindsam geworden. Die Leute wunderten sich über sie und sagten ihr nach, daß sie kein Herz haben müsse.

Die Innsbrucker waren jetzt gut zu der Frau. Sie kamen alle zu ihr, um sie zu trösten. Sogar die Tiefenbrunnerischen waren gekommen. Hatten die alte Feindschaft begraben und wollten sich wieder der alleinstehenden Verwandten annehmen. Schließlich war sie doch die Witwe von Felix Altwirth, den Frau Therese Tiefenbrunner, wie sie jetzt immer wieder fest und feierlich erklärte, gleich einem eigenen Kind geliebt hatte.

Innerlich war die Apothekerin ja überzeugt davon, daß Adele die Hauptschuld an dem Tode ihres Mannes trug. Und trotzdem überwand sie sich und ging zu ihr hin. Bot ihr die Hand, und Adele erwiderte den Gruß mit leichtem Druck. Sie sprach nicht viel mit den Tiefenbrunnerischen. Nicht mehr und nicht weniger, als was sie mit allen den andern gesprochen hatte. Sie war auch gar nicht verwundert oder erfreut darüber, daß [S. 398] die Verwandten zu ihr kamen. Es war ihr alles so gleichgültig.

Die Tiefenbrunners gingen von ihr fort mit dem unangenehmen Gefühl, eigentlich ein recht überflüssiger Besuch gewesen zu sein. Mit keinem Wort hatte ihnen Adele gedankt oder sie aufgefordert, wieder zu kommen. Sie war artig gewesen, ruhig und gefaßt und gab klare Antworten auf das, was man sie fragte.

Es war immer dasselbe, was die Leute von ihr wissen wollten. Immer die gleichen Fragen nach Felix Altwirths Ende. Und auch manchmal halb versteckte Anspielungen auf seine Beziehungen zu Sophie Rapp. Ob denn Adele gar keine Ahnung habe, warum er in den Tod gegangen sei? Ob er ihr denn keine Zeile hinterlassen habe ... keine Spur einer Aufklärung?

Nichts. Gar nichts. Immer wieder sagte es Adele. Immer wiederholte sie das gleiche.

Nichts. Sie wisse nichts ... habe keine Ahnung von der eigentlichen Ursache der Tat.

Adele sagte es so ruhig und selbstverständlich und überzeugend. Und sie glaubten schließlich alle daran, daß Felix Altwirth aus unglücklicher Liebe zu Sophie Rapp sich das Leben genommen habe.

Mochten sie es glauben. Es war Adele recht so.

Adele Altwirth wußte es, daß sie durch ihr Schweigen zur Mitschuldigen ihres Gatten geworden war. Wenn sie sprach, war Sophie Rapp frei. Aber sie konnte nicht sprechen. Sie hatte nicht den Mut, zur Anklägerin des Toten zu werden. Sein Geheimnis war gut verwahrt bei ihr. Sie würde den Weg der Wahrheit, den sie dem Lebenden gewiesen hatte, nicht gehen.

Zu niemandem hatte Adele darüber gesprochen. Zu keinem Menschen hatte sie auch nur eine Andeutung gemacht. Nicht einmal zu dem alten Rat Leonhard. Der war vielleicht der einzige von allen, welcher der [S. 399] Wahrheit am nächsten kam. Aber er sagte nichts. Sprach seinen Verdacht nicht aus.

Warum sollte er das Andenken eines Toten schänden? Sophie Rapp war es in seinen Augen wirklich nicht wert, daß man sich um ihretwillen Skrupel machte. Das Weib hatte gesündigt genug und viel verbrochen. Der Rat Leonhard war felsenfest davon überzeugt, daß Sophie Rapp die Schuldige sei. Er hegte nur für sich den Verdacht, daß Felix von der Tat wußte oder vielleicht auch daran beteiligt war. Aber diese Mutmaßung behielt er für sich. Und auch Adelen gegenüber verriet er sich mit keiner Silbe, um sie nicht zu beunruhigen.

Wenn sie das Andenken ihres Gatten rein haben wollte, so war das ihre Sache. Ging keinen Menschen etwas an. Und um die andere, die Sophie Rapp, war kein Schade. Wirklich nicht. So hielt es der Rat Leonhard.

Er kam jetzt fleißig zu Frau Adele. Jeden Tag. Sie sprachen nie viel miteinander ... diese beiden. Aber sie verstanden sich. Noch genau so gut wie damals in den ersten Jahren des Elends droben auf der Weiherburg.

Auch Doktor Storf und Frau Hedwig kamen zu Adele. Als ob es die Frau des Arztes gewußt hätte, daß sie ihr bescheidenes Glück, welches sie nun genießen durfte, nur dem Takt und der Ehre dieser Frau verdankte, so rührend benahm sich die kleine Frau in dieser schweren Zeit. Sie sorgte für Adele, so gut sie konnte, lud sie zu sich ein und tat alles, um ihr Freude zu machen und sie aufzuheitern.

Und wirklich waren auch jene Stunden die einzigen, in denen das starre Gefühl in der Seele der einsamen Frau sich etwas zu lösen begann. Hier in diesem Kreise konnte sie wenigstens einiges sprechen. Konnte sprechen von ihrer Zukunft und von ihren Plänen.

Und doch war es ihr, als spräche sie dann von einer [S. 400] andern, einer fremden Frau. Von einer Frau, deren Schicksal sie eigentlich gar nicht interessierte. Sie sprach von ihr, weil sie sah, daß sie dadurch den Freunden eine Freude bereiten konnte.

Mit inniger Besorgnis hatte Max Storf die Wandlung wahrgenommen, die in Frau Adele vorgegangen war. Da er sie besser kannte als alle die andern, so fürchtete er für ihre Gesundheit. Er wußte, daß diese Kälte und Gleichgültigkeit unnatürlich waren und daß das Schwere, das sie erlebt hatte, imstande war, ihr ganzes Leben zu zerstören.

Noch nie war es zu einer Aussprache zwischen den beiden gekommen. Aber sie wußten und fühlten es trotzdem, daß sie einander noch immer alles bedeuteten.

Adele Altwirth war nicht trennend zwischen Mann und Weib getreten. Sie hatte ihre Macht über Max Storf dazu benützt, ihn seiner Frau wieder zuzuführen. Und wenn es auch kein großes Glück war, das die beiden Gatten jetzt zusammen genossen, so war doch ein Behagen und eine stille Zufriedenheit bei ihnen eingekehrt.

Frau Hedwig hatte keine Ahnung davon, in welchem Maße sie das alles Adele verdankte. Adele Altwirth hatte es im Laufe der Zeit verstanden, den Freund zu begütigen ... hatte es verstanden, die Schwächen, die er an seiner Gattin auszusetzen fand, zu beschönigen und ihn auf ihre guten Eigenschaften aufmerksam zu machen. Und ohne daß es Frau Hedwig bemerkte, übte Adele auch auf sie einen wohltuenden Einfluß aus. Wirkte auf sie ein, daß sie gar manches unterließ, von dem Adele wußte, es sei dem Freunde nicht angenehm.

So konnte Adele mit reinem Gewissen und ehrlichem Auge der Arztensfrau gegenübertreten. Sie konnte deren Freundschaft annehmen und die rührende Liebe und Anhänglichkeit genießen, die sie ihr jetzt zuteil werden [S. 401] ließ. Sie hatte nichts getan ... nichts gesagt, was ihr hätte ein Vorwurf werden können.

Sie hatte ihre Liebe zu dem Freunde bezwungen ... hatte gerungen und gekämpft und war rein geblieben.

Ob sie recht daran getan hatte? Manches Mal warf Adele sich selber diese Frage auf.

War es recht ... daß sie so entsagt hatte?

Hatten nicht vielleicht doch jene Frauen recht ... jene von der Art der Sophie Rapp ... die ihre Natur nicht bezwangen und ihrer Liebe lebten?

Daß Sophie Rapp trotz allem ein echtes Weib geblieben war ... ja sogar innere Größe und Seelenstärke besaß ... das wußte Adele nun mit Bestimmtheit. Nicht viele Frauen ... das wußte Adele ... hätten um ihrer Liebe willen ein so großes Opfer auf sich nehmen können.

Waren nicht jene Frauen ... zu denen sie selber gehörte ... in Wirklichkeit sehr arm zu nennen? Was hatte sie von ihrer reinen Frauenehre? Ein Leben ... umsonst gelebt ... ungeliebt und ungenossen.

Wie hatte Sophie Rapp damals zu ihr gesagt? ... Das Schönste im Leben ist das Vergessen in Liebe. Es ist das einzige wahre und echte Gefühl ... weil es die Natur gegeben hat. Wer diese Stimme nicht kennt ... der hat sein Leben nicht gelebt.

Das war damals gewesen ... vor einem Jahr.

Und jetzt?

Jetzt war sie eine einsame Frau ... liebeleer und überflüssig auf der Welt.

Ungenützt war sie ihre Bahn geschritten ... hatte redlich versucht, gut zu leben und gut zu sein. Und es war doch alles zum Unheil geworden.

Des Weibes einzig wahre Bestimmung ist es, die Ergänzung im Leben des Mannes zu bilden. Und diese Bestimmung hatte Adele Altwirth nicht erfüllt.

Ihre Ehe war eine Täuschung gewesen, ein Verkennen [S. 402] der Gefühle. Sie wußten es beide nicht besser damals, weder sie noch Felix. Sie hielten die Neigung, die sie füreinander empfunden hatten, für Liebe. Und es war doch nur Freundschaft gewesen ... nichts anderes. Ein Aufflackern ihrer Sinne ... wie es Freundschaften zwischen den beiden Geschlechtern vorauszugehen pflegt.

Sie aber glaubten ... es sei die Liebe ... Es sei jenes heilige, übermächtige und starke Gefühl, das immer währt ... nie vergeht und stets gleich voll und tief und innig bleibt, ein Leben lang.

Jetzt aber hatte Adele die wahre ... große Liebe erkannt. Und sie wußte es auch, daß sie sich beide, Felix und sie selbst, in ihren Gefühlen getäuscht hatten.

Jetzt kannte sie das Verlangen und das Sehnen nach dem Manne. Und da sie es erkannte ... erwürgte sie das, was echt war in ihrer Natur ... entsagte und hielt sich rein.

War es recht von ihr? Immer und immer wieder regten sich dieselben Zweifel und Selbstvorwürfe. Adele war irre geworden ... irre an der Welt und an ihren Moralbegriffen und irre an sich selber.

Und noch ein Gedanke ... ein bitterer Vorwurf quälte die einsame Frau. War sie nicht doch mit schuld daran ... daß Felix in den Tod gegangen war?

War sie damals nicht doch zu hart gegen Felix gewesen? Hatte sie ihn nicht zu streng auf den Weg des Rechtes gewiesen? Sie hätte versuchen müssen, die Schuld mit ihm gemeinsam zu tragen ... die sie jetzt allein trug. Warum hatte sie es nicht getan? Warum?

Adele fühlte sich so unendlich müde jetzt ... Sie wollte nur ruhen ... ausruhen ... nicht mehr sehen und hören ...

Was sollte sie noch beginnen im Leben ... wo alles um sie herum tot war?

Der alte Rat Leonhard trat für Adele ein, als ob sie [S. 403] seine Tochter gewesen wäre. Sie ließ ihn handeln und befolgte ohne Widerspruch, was er für sie bestimmte. Der alte Herr bestand darauf, daß Adele fort sollte von Innsbruck ... fort von der Stadt, die ihr so viel Leid gebracht hatte ... Sie müsse gehen von hier ... gebot der alte Herr. Nur dann ... in gänzlich veränderter Lebenslage ... würde es ihr möglich sein, sich selber wiederzufinden. Und der Rat Leonhard bestand darauf, daß dies bald geschehe.

Er hatte Angst für die Frau, daß durch den bevorstehenden Prozeß gegen Sophie Rapp alle Erinnerungen in Adele aufs neue geweckt werden könnten. Auch Doktor Storf teilte diese Sorge und war froh, daß Adele sich in alles fügte, was man für sie vorkehrte.

Die Wohnung bei den Altwirths droben in Wilten wurde ausgeräumt. Adele sollte ihre Möbel zur Aufbewahrung geben und fortreisen ... weit fort und erst dann wiederkehren ... wenn sie sich eine neue Heimstätte gewählt hatte.

Adele Altwirth ließ die Freunde reden. Sie interessierte sich gar nicht für ihre fernere Laufbahn. Sie wollte nur Ruhe haben ... nichts als Ruhe.

So gleichgültig war ihr alles, was sie selbst betraf, daß sie nicht einmal wußte, wohin sie reisen würde. Wenn man sie fragte, so antwortete sie, nach München. Sie tat es ... weil sie diese Angabe von der Qual weiterer Fragen befreite. Aber sie konnte es sich nicht vorstellen ... daß sie schon in den allernächsten Tagen in München sein würde. Sie hatte keine Freude darüber und knüpfte keine Hoffnung daran. Es war ja so gleichgültig, wo sie sich aufhielt und was mit ihr geschah. So hoffnungslos gleichgültig.

Nicht einmal die Auflösung ihres Haushaltes hatte vermocht, sie aus ihrer Lethargie zu reißen. Ohne Schmerzempfinden, ohne Bitternis und ohne Wehmut [S. 404] packte sie die Sachen zusammen. Ordnete mechanisch dieses und jenes an.

Manche liebe Erinnerung kam da wieder zum Vorschein ... Erinnerungen an die kleine Dora. Die Tränen lösten nicht die Starrheit ihres Herzens. Es war, als ob jedes Empfinden in ihr gestorben wäre, als ob es keine Linderung und keine Heilung mehr für sie geben könnte.

Adele Altwirth packte mit großer Sorgfalt all die lieben Kleinigkeiten des Kindes ein ... wickelte die Puppen sorgsam in weißes Seidenpapier und umhüllte sie gewissenhaft. Sie bettete dieselben in eine Kiste ... eine nach der andern. Das geschah mit einer so selbstverständlichen Fürsorge, als ob die kleine Dora noch am Leben wäre, mit strengen, kritischen Kinderblicken neben der Mutter stünde und darauf achtete, daß den lieben kleinen Puppenkindern ja kein Leid geschehe.

Kiste stand jetzt an Kiste gereiht wohlgeordnet und wohlverpackt in der Wohnung umher. Die Möbel waren aus ihrem gewohnten Platz gerückt, die Vorhänge waren von den Fenstern genommen und alle die vielen Bilder in Kisten eingepackt. In großen Rollen lagen die Teppiche am Boden. Die Öfen in den Zimmern waren ohne Feuer, und die Türen der Zimmer standen offen, die Verbindungstüren der einzelnen Gemächer und jene, die auf den Hausflur führten.

Es war kalt und traurig in den Zimmern. Ohne daß eines der Fenster geöffnet gewesen wäre, herrschte doch eine frostige Zugluft. Die Schritte hallten laut und mißtönig wider in der leeren Wohnung, und die Stimmen der Leute, die da aus und ein gingen, um das zu zerstören, was einmal ein Heim gewesen war, gaben ein lautes, rauhes und unnatürliches Echo zurück.

Adele Altwirth hatte nun alles hergerichtet und zum Transport bereitgestellt. Einige Koffer, die sie mit auf [S. 405] die Reise nehmen wollte, standen fast fertig gepackt in einem der halbleeren Zimmer. Morgen früh sollten die Männer kommen und alles zum Spediteur bringen. Und noch am gleichen Abend sollte sie von Innsbruck abreisen. So hatte es der Rat Leonhard angeordnet.

Der alte Herr war soeben bei Adele gewesen und hatte ihr dies alles mitgeteilt. Kurz und bündig und ohne Umschweife ... wie es seine Art war. Und trotzdem hatte er eine bange Sorge um die junge Frau. Sein Blick, mit dem er scharf beobachtend auf sie sah, hatte etwas Angstvolles in seinem Ausdruck.

„I weiß nit ... ob man Ihnen überhaupt allein reisen lassen kann ...“ sagte er in seiner gewöhnlichen mürrischen Art. „Sie schauen mir nit darnach aus ... als ob Sie überhaupt wissen täten, was Sie wollen!“ fügte er besorgt hinzu.

Adele lächelte wehmütig. „Doch ... Herr Rat ...“ sprach sie leise. „Ich soll nach München fahren ... haben Sie gesagt.“

„Ja ... und noch weiter fort, wenn möglich!“ sagte er energisch. Er entwickelte eine ganz ungewöhnliche Energie in dieser Zeit, der alte Herr. Er hätte es sich selber gar nicht zugetraut, wieviel Kraft und Interesse er noch imstande war, für ein anderes Wesen aufzubringen.

„Aber in München ... haben Sie da wohl jemand, der sich ein bissel um Ihnen bekümmert?“ fragte er dann neuerdings besorgt nach einer kleineren Pause. „Mir ist alleweil ... als wenn’s besser wär’ ... daß jemand mit Ihnen fahren tät’. Vielleicht ... wenn’s nit gar so weit wär’ ... dann könnt’ ich ...“ setzte er mit einiger Unsicherheit hinzu.

Eine Fahrt nach München und überhaupt eine Reise wäre für den alten Sonderling ein ganz ungeheures Unternehmen gewesen. Schon seit vielen, vielen Jahren war der Rat Leonhard nicht mehr aus Innsbruck hinausgekommen. [S. 406] Daß er jetzt diesen Gedanken in Erwähnung zog, bezeugte, in wie schwerer Besorgnis er wegen Adele war.

Adele Altwirth beruhigte den alten Herrn. Sie fühle sich ganz wohl ... sagte sie ... und würde sicher auf sich selber achten. Und in München habe sie schon ein paar Bekannte, zu denen sie gehen könne. Der Herr Rat solle sich ihretwegen keine Sorge mehr machen. Sie werde sicher ganz zurechtkommen und auch mit der Zeit wieder ganz ruhig werden. Aber Adele glaubte das alles, was sie sagte, selber nicht. Und der Herr Rat war auch nur für den Augenblick beruhigt.

Später ... als er von Adele gegangen war ... reifte der Entschluß immer mehr in ihm, für alle Fälle einmal einen Koffer bereit zu halten, um dann doch vielleicht mit ihr zu fahren. Vorderhand aber wollte er diesen heroischen Entschluß nicht auf die Spitze treiben. Dazu war ja morgen noch immer Zeit genug. Mußte nicht gerade jetzt sein ... beschwichtigte er sich selber.

Und dann schlich er ... in tiefes Nachdenken versunken ... langsam dahin. Den Kopf leicht zur Seite geneigt und die Hände am Rücken, und machte ein unsagbar verbissenes und zuwideres Gesicht ... der alte Herr ...

Es war am frühen Nachmittag, als der Rat Leonhard Adele verlassen hatte. Nun war sie allein in der halbleeren Wohnung und sah sinnend auf die Verwüstung, die in den letzten Tagen hier entstanden war.

Durch die kahlen, verstaubten Fensterscheiben lugte die Sonne. Suchte mit ihren Strahlen zu vergolden, was es an diesen traurigen Überresten noch zu vergolden gab. Sie fand nichts als das weiche, aschblonde Haar der jungen Frau. Und sie spielte mit ihm ... und wob einen feinen Strahlenkranz um ihr Haupt.

Bleich und müde saß Frau Adele in der Nähe des [S. 407] Fensters, auf einem der vielen Stühle, die verstreut und in Unordnung umherstanden. Tief nach vorne gebeugt und die Arme auf die Knie gestützt ... so saß Adele lange Zeit und starrte immer vor sich hin ...

Doktor Storf war zu ihr gekommen, um sie in sein Haus zu bitten. Sie sollte bei den Storfs wohnen, solange sie noch in Innsbruck war. Jetzt stand er vor ihr und brachte fast demütig seine Bitte vor. Auch Adele hatte sich erhoben und sah mit einem langen, traurigen Blick auf den Freund. Es war ihr mit einem Male so seltsam schwer zumute.

„Wollen Sie nicht zu uns kommen ... Frau Adele?“ bat Max Storf neuerdings. „Jetzt ... heute können Sie doch nicht mehr hier bleiben in dieser Wüste.“ Er versuchte es, einen leichten, scherzhaften Ton anzuschlagen. Aber seine Stimme klang gepreßt, und sein Blick war unruhig und unsicher.

„Ich reise morgen abend ...“ sagte Adele ruhig.

„Morgen schon?“ Erschrocken und bestürzt sah sie der Arzt an. „Schon morgen ... können Sie nicht ... Adele ... ich bitte Sie ... noch ein paar Tage ...“ fügte er verwirrt und stockend hinzu.

„Ein paar Tage ... und dann ... wir müssen uns ja doch einmal trennen ... Max.“ Adele sagte das weich und innig. Es war das erste Mal, daß sie ihn bei seinem Vornamen nannte.

Doktor Storf sah mit tiefer Bewegung auf Adele. Es war ihm ... als müßte er die Frau fest in seine Arme schließen ... und sie schützend durchs Leben führen. Fast übermächtig stark wallte dieses Gefühl in ihm auf.

Er durfte es nicht tun. Er wußte es. Er mußte an sich halten ... die Zähne aufeinander beißen und überwinden. Aber er fühlte es klar und deutlich ... daß mit Adele das echteste Empfinden ... das reinste und beste, das er je für ein Weib gehegt hatte ... dahin ging.

[S. 408]

Nun würde ihm nichts mehr bleiben als die Erinnerung. Er würde sein Leben weiterführen ... nur seiner Pflicht leben ... seiner Familie und seinen Kindern.

Sie sahen sich lange in die Augen. Sie sagten kein Wort und legten nicht einmal die Hände ineinander. Aber es lag eine ganze Welt in ihren Blicken ... eine Welt von Wünschen und Sehnen, von Leid und Entsagen.

„Dann wär’s ein Abschied ... jetzt ... Adele?“ sagte Max Storf leise, und seine Stimme bebte.

„Ja.“ Sie hauchte das Wort kaum hörbar. Starr und aufrecht stand sie vor ihm und mit einem Antlitz, das so bleich war und so regungslos wie der Tod.

Und wieder trieben die Strahlen der Sonne ihr loses Spiel. Lugten in alle Winkel und Ecken, hüpften auf und nieder und blieben an den beiden Menschen haften ... die jetzt für ewig im Leben voneinander Abschied nahmen.

Max Storf zog die weiße, noch immer schöne und wohlgepflegte Hand der blonden Frau an seine Lippen und küßte sie. Küßte sie lange und küßte sie innig. Und dann ging er.

Sie hatten kein Wort mehr miteinander gesprochen, und ihre Lippen ... die sich zueinander sehnten ... hatten sich nicht gefunden.

Als Max Storf gegangen war ... da war es Adele ... als hätte die Sonne sich versteckt ... als sei es mit einem Male dunkler und düsterer und noch trauriger geworden im Zimmer.

Morgen ... schon morgen abend würde sie fort sein von hier ... Sie sagte es leise ... kaum hörbar vor sich hin.

Morgen abend ... War es ihr denn leid, fortzugehen von dieser Stadt?

Adele Altwirth atmete tief. Sie fühlte ... wie sich ein schwerer Druck auf ihre Brust legte ... wie er sie drückte gleich einem Alp.

[S. 409]

Es mußte wohl so sein ... Das Gefühl, das sie jetzt empfand ... schmerzte sie. Und eine Unruhe kam über sie und ein Sehnen ... eine große Sehnsucht nach ihm ... der jetzt von ihr gegangen war.

Sie hätte ihn zurückrufen mögen ... ihn bitten ... daß er sie zu sich nehme ... daß sie sich nimmer von ihm zu trennen brauchte.

Sie tat es nicht. Hielt an sich ... wie sie stets an sich gehalten hatte.

Aber es trieb sie fort von hier ... hinaus ins Freie. Sie konnte es nun mit einem Male nicht mehr aushalten in der öden ... zerstörten Wohnung.

Und Adele Altwirth ging in den hellen ... sonnenlachenden Wintertag. Ohne Ziel und ohne Zweck. Nur ruhig werden wollte sie ... die Gefühle niederkämpfen ... die so übermächtig in ihr geweckt worden waren. Nun wußte sie ... daß sie eine Lebende war ... nicht gestorben ... trotz allem Leide.

Adele Altwirth wanderte durch die stillen Straßen der Stadt. Es trieb sie ... noch ein letztes Mal die Wege aufzusuchen, die sie mit ihrem Kinde gegangen war. Noch einen letzten vollen Blick wollte sie auf die Stadt werfen ... die sie trotz allem lieb gewonnen hatte.

Sie wanderte hinüber zum Inn ... und hinauf zur Weiherburg. Vorbei an dem kleinen Häuschen, das einmal ihr Idyll gewesen war und ihr großes Leid gesehen hatte.

Und immer weiter ging sie ... immer höher empor. Und je weiter sie ging, desto leichter wurde es ihr. Fort ... Nur immer höher die Berge hinan.

Das Atmen wurde hier so leicht, und der schwere Druck löste sich allmählich von ihrer Seele. Nun war sie hoch oben ... hatte die Stadt tief zu ihren Füßen liegen.

Wie herrlich es hier oben war ... Wie frei und gottesnahe [S. 410] ... Sie wollte weiter gehen ... viel weiter ... fort ... und nie mehr wiederkehren ... nie mehr ...

Drunten im Tal lag die Stadt. Tief und ernst und schweigsam. Die Schatten senkten sich auf sie hernieder ... machten sie noch ernster und stiller.

In nordischer Pracht erstand im Süden die stolze, spitze Zacke der Serles. Reckte sich in den blauen Abendhimmel hinein ... kalt und vornehm und majestätisch.

Und golden schien die Sonne im Westen. Küßte noch ein letztes Mal mit ihren Strahlen alle Berge und Spitzen, küßte die tief verschneiten Wälder und Bergdörfer und neigte sich langsam zum Untergang. Wie grüßend spielte sie noch mit dem blonden Haar der hochgewachsenen Frau ... die langsam ... aufrecht und gelassen weiterschritt ... der Fremde entgegen.

Schlussvignette, Kapitel 22

[S. 411]

Dreiundzwanzigstes Kapitel.

D ie Innsbrucker hatten wenig Mitleid mit dem Schicksal der Sophie Rapp. Kein Mensch kümmerte sich um sie. Niemand suchte sie auf.

Nur die Ennemoserin war zu ihr gekommen. Gleich nachdem sie von dem Unglück erfahren hatte. Sie hatte die Pflegetochter aufgesucht in ihrer Schande und hatte mit ihr geweint. Denn Sophie Rapp konnte nicht viel sprechen. Sie weinte nur ... weinte ...

Die alte Frau hatte es nicht begreifen können und nicht fassen, wie das nur möglich war ... wie so ein Unglück hatte geschehen können. Wie konnte der Herrgott im Himmel droben so ein Übel dulden?

„Ennemoserin, du hast kein Glück mit Kinder!“ sagten die Leute in Rattenberg.

Es mußte wohl so sein. Sie hatte kein Glück mit Kindern ... die Alte.

Und noch fleißiger als bisher ging sie von jetzt an zur Kirche. Kniete dort und betete ... betete immerzu und unaufhörlich. Jetzt hatte sie noch ein sündiges Kind, für das sie die Gnade des Himmels erflehen mußte. Die Ennemoserin kümmerte sich um nichts mehr auf der Welt. Ihr ganzes Leben war nun ein einziges Gebet geworden ...

Sie hatten die Sophie Rapp zu jahrelanger Zuchthausstrafe verurteilt.

Ihre Richter waren nicht barmherzig gewesen, und sie hatte keine Barmherzigkeit von ihnen verlangt.

Mit niemandem war sie in Berührung gekommen während ihrer Untersuchungshaft ... hatte mit keinem Menschen gesprochen ... außer mit der Ennemoserin und mit ihrem Verteidiger.

Dieser war es auch, der ihr von dem Tode des Malers Altwirth sprach. Warum er es ihr sagte? Hoffte er ihr [S. 412] ein Geständnis zu entlocken ... daß sie nicht allein beteiligt war bei der Tat?

Aber Sophie sagte nichts. Kein Wort. Wenn Felix tot war ... warum sollte sie den Toten verraten, wo sie für den Lebenden hatte leiden wollen?

Sie blieb ruhig. Ganz ruhig. Aber es war ihr recht ... daß Felix tot war. Sie freute sich über seinen Tod als über eine frohe Kunde. Es war ihr ... als hätte er ihr die letzte Botschaft seiner Liebe kund getan.

Auch davon sprach ihr der Verteidiger, daß Adele Altwirth heimlich von Innsbruck gegangen war. Und dann redete er lange und gut zu Sophie. Suchte zu ergründen, ob zwischen ihrer Tat und den Altwirths ein Zusammenhang bestände.

Nein. Sophie blieb fest. Sie war die Täterin. Sie ganz allein. Im Zorn hatte sie den Gatten ermordet. Niemand war dabei. Niemand wußte davon. Kein Mensch.

So mußte denn Sophie ihre Strafe antreten ... die Tat büßen, durch eine jahrelange Haft.

Es würde nicht lange dauern mit ihr ... das fühlte Sophie. Und sie freute sich darüber ... freute sich ...

Man hatte sie in die Strafanstalt gebracht ... hinunter in das Unterinntal ... in das alte freundliche Städtchen Schwaz ... Und sie war gern gegangen ... ganz gerne.

Nun lebte sie dahin in strenger Zucht ... in Schweigen, in Arbeiten und in Gebeten. Ganz für sich. Sie hatte an keinen Menschen Anschluß, und sie suchte auch keinen.

Aber eine Begegnung hatte sie ... die ihr lieb war und die sie freute.

Die Schwester Salesia war zu ihr gekommen ... steinalt ... aber noch immer rüstig. Und gut und frisch und munter. Bei dem Anblick der alten Schwester war es Sophie, als ob die Jahre ihrer Kindheit aufs neue für sie erstünden. Sie fühlte sich wieder zum Kinde werden ... [S. 413] und sie lernte wieder glauben und beten und auf Gott vertrauen.

„Kind ... Kind!“ meinte die Schwester mit mildem Vorwurf. „Daß du dazu gekommen bist ... dazu ... mit deinem wilden Blut?“

Langsam schlichen die Tage in der Anstalt und langsam die Wochen und Monate. Und immer war es derselbe Lauf des Tages ... immer dasselbe Einerlei ... Schweigen ... arbeiten und beten.

Und Sophie Rapp betete. Sie betete mit dem alten Glauben ihrer Kindheit. Sie betete um das Ende ... daß es bald nahe ... daß es sie mit jenen vereinigen sollte, die sie lieb gehabt hatte auf Erden.

Langsam strichen die Tage dahin. Endlos langsam. Dem Frühling folgte der Sommer und dem Sommer der Herbst.

Als der Winter seine rauhe Herrschaft angetreten hatte, als der Eiswind brauste durchs Tal mit Sturm und Macht ... und an den schwer vergitterten Fenstern rüttelte, als wünschte er, allen den reuigen und nicht reuigen Büßerinnen da drinnen die Freiheit wieder zu bringen ... da legte sich Sophie Rapp zum Sterben.

Sie hatte ihn schon lange gefühlt, den stechenden Schmerz. Sie wußte, daß er an ihrem Lebensmark zehrte ... daß ihre Kraft abnahm von Tag zu Tag. Eingefallen und hohlwangig sah sie aus und abgezehrt und mager. Aber ihre Augen leuchteten im unnatürlichen Feuer ... leuchteten von der Fieberglut, die ihr Leben vernichtete.

Nur mühsam konnte sie sich noch dahinschleppen, und ein bellender, trockener Husten erschütterte ihren verfallenen Körper.

Galoppierende Schwindsucht konstatierte der Arzt. Ihr Leben konnte nur mehr Tage dauern.

Der Priester kam, um ihr die letzten Sakramente zu [S. 414] spenden. Friedlich und wie verklärt lag Sophie Rapp in ihren Kissen. Sie war so glücklich und so zufrieden, daß es nun zu Ende ging.

Viele Stunden lang schlief sie. Dann bat sie ... daß man die alte Schwester Salesia zu ihr rufen möge.

Es war ein mäßig großes Zimmer, in dem Sophie lag. Rein und sauber, aber kahl und nüchtern. Ohne Schmuck und ohne Zierde. Ein großes Kreuz hing über dem Bette. Mit mildem, verzeihendem Blick sah der sterbende Heiland hernieder.

Das Bett stand frei in der Mitte des Zimmers. Nur das Kopfende war an die Wand gerückt. Ein kleines, weißgedecktes Tischchen war in der Nähe. Darauf standen eine große Wachskerze und ein Glas Wasser. Neben dem Bette hing ein kleiner zinnerner Weihbrunnkessel. Das war alles.

Zu Füßen des Bettes saß die Schwester Salesia und betete den Rosenkranz. Ihre Hände, die knochig und runzlig waren und vom Alter gegerbt, zitterten leicht. Ihre Lippen bewegten sich im lautlosen Gebete. Perle um Perle ließ die alte Schwester von dem Rosenkranz fallen und sah dabei mit einem Blick, der immer ängstlicher wurde, auf die Sterbende ... beobachtete jeden Zug und jede Veränderung in dem verfallenen Gesicht.

Wie jung die Sophie aussah. Noch immer jung und hübsch. Trotz allem. Das braune Gesichtchen war eingefallen und länglich geworden ... die Lippen waren voll und brennend rot ... zu rot.

Die alte Schwester mit dem rührend guten Gesicht, durch das jetzt viele ungezählte Furchen zogen, sah mitleidig auf das kranke Weib, das in heißen Fieberträumen wiederholt unruhig und schmerzhaft aufstöhnte.

Immerfort mußte die Schwester auf die Kranke sehen ... sie anschauen ... und in ihren Zügen die schwere Schuld lesen, die sie auf sich geladen hatte.

[S. 415]

So waren die beiden ganz allein ... viele ... viele Stunden lang. Bis der Abend kam und eine junge Schwester die Alte ablöste, um die Nachtwache bei der Sterbenden anzutreten.

Noch nie hatte Sophie das Bewußtsein erlangt, seit die Schwester Salesia bei ihr war. Sie dämmerte nur so dahin oder warf sich unruhig und gequält im Bette herum.

„Schwester ...“ bat die alte Klosterfrau flüsternd ... „tun’s mir’s sagen ... wenn’s zu Ende geht mit ihr. Tun’s mich rufen. Wissen’s, ich hab’ sie als Kind kennt. Ist nit schlecht g’wesen ... die Sophie ...“ sagte sie mit zitternder Stimme. „G’wiß nit. Nur a bissel wild ... a bissel zu wild ...“ fügte sie entschuldigend hinzu.

In den Morgenstunden ... als die Glocken der Kirche zur Frühmesse läuteten, kam die junge Schwester, die alte Klosterfrau zu holen.

Sophie lag jetzt ganz ruhig da ... mit offenen Augen und bei klarem Bewußtsein. Sie fühle sich viel wohler, sagte sie.

Schwester Salesia hatte ihren Stuhl ganz nahe an das Bett gerückt und hielt die heiße, trockene Hand der Kranken in ihrer eigenen.

Im Zimmer brannte das schwache Licht einer kleinen Lampe. Der Schein fiel gedämpft auf Sophie, die jetzt mit einem fast verklärten Antlitz auf die Schwester sah.

„Schwester Salesia ...“ fing Sophie zu reden an ... „wirklich ... ist’s so weit?“ Sie zeigte mit einer matten Bewegung ihrer Hand auf die Wachskerze ... deren Bedeutung sie kannte. Es war die Sterbekerze ... hochgeweiht und gesegnet. Bei dem ersten Anzeichen des letzten Kampfes sollte sie entzündet werden.

„Still sein, Sophele ... Still sein ...“ begütigte die Schwester. Unwillkürlich und wie selbstverständlich kam ihr diese Anrede, die sie der Frau als Kind gegeben hatte. [S. 416] „Deswegen brauchst nit zu sterben, kannst schon wieder besser werden. Ganz gut ...“ tröstete sie. „Ganz wie’s unsers Herrn Willen ist.“

„Ich will aber gern sterben ... Schwester ...“ sagte Sophie ruhig. „Recht gern. Freu’ mich drauf ...“ fügte sie matt hinzu.

„Und hast so gern gelebt ...“ Die alte Schwester sagte es mit Wehmut.

Ein tiefer ... glücklicher Seufzer hob die kranke Brust der Sterbenden.

„So gern ... So unendlich gern ...“ flüsterte sie selig. Dann schloß sie die Augen und lag still und friedlich da.

Die alte Klosterschwester neigte sich lauschend über sie.

„Tu’ alle Sünd’ bereuen ... Sophie ...“ mahnte sie mit zitternder Stimme. „Tu’ dein Leben aufopfern ...“

„Schwester ...“ Voll und weit schlug Sophie die Augen auf und schaute auf die alte Schwester, die mit angstvollem Blicke sah, wie plötzlich fahle Blässe über das Gesicht der Kranken zog.

„Schwester ...“

„Kind ... wir wollen beten ...“ sagte die Schwester. „Beten zu unserer lieben Frau ... um eine glückliche Sterbstund’ ...“

„Schwester ...“ flüsterte die Kranke wieder ... „Kann man was bereuen ... das einen so glücklich g’macht hat?“

„Kind ... alle Sünden kommen vom Bösen ...“ Mit bebender Stimme sagte es die alte Schwester. Sie sah, daß die Schatten des Todes immer näher kamen, und ihr Herz klopfte aufgeregt und unruhig. Leise erhob sie sich und zündete die Wachskerze an. Rückte das Tischchen näher an das Bett, legte die Hände der Sterbenden ineinander und umwand sie mit ihrem eigenen Rosenkranz. Dann kniete sie nieder ... faltete die Hände und betete.

Der graue Morgen sah zu dem Fenster herein mit [S. 417] einem vollen Schimmer und mengte sich mit dem trüben Licht der dämmerigen Lampe und der Sterbekerze.

Sophie hatte die Augen geschlossen und lächelte. Lächelte innig und lächelte selig. Und ihre Lippen öffneten sich sehnsüchtig und verlangend.

„Und vergib uns unsere Schuld!“ betete die Schwester mit lauter, aber zitteriger Stimme.

„Schuld?“ hauchte Sophie mit stockendem Atem. „Schuld?“

„Tu’ beten ... Sophie ... bereu’ ...“ drängte die Schwester Salesia angstvoll. „Du hast dein’ Mann getötet ... bereu’ ...“

Und wieder seufzte die Sterbende. Aber sie sagte kein Wort. Sie lächelte nur.

„Und vergib uns unsere Schuld ... als auch wir vergeben unsern Schuldigern!“ betete die Alte mit zitternder Stimme.

„Und erlöse uns von dem Übel ...“

„Amen.“ Leise und gebrochen sagte es die Sterbende. Dann preßte sie die Hände ... die ihr die Schwester gefaltet hatte ... in einem letzten Krampf fest ineinander.

Und dann starb sie.

Als die Sonne des klaren Wintertages aufzog über die Berge des Unterinntals ... da bimmelte die Glocke in der Sträflingsanstalt zu Sankt Martin draußen vor der Stadt. Sie bimmelte kläglich und in wehen Tönen und erzählte ... von Sophie Zöttl ... dem Karrnermädel ... deren heißes ... leidenschaftliches Herz den letzten Schlag getan hatte.

Schlussvignette, Kapitel 23

Von Rudolf Greinz

erschienen im Verlag von L. Staackmann in Leipzig:

Der Garten Gottes

Roman

Fünfzehntes Tausend

Geheftet M. 7.—, in Pappband M. 9.50, in Leinen M. 11.—

Ein deutscher Liebesroman von seltener Innigkeit, Glut und Tiefe ist dieses neueste Werk von Rudolf Greinz, in dem uns der Dichter wiederum nach dem sonnigen Südland von Meran führt, jenem Garten Gottes, der ungezählten Tausenden Heiligtum, Sehnsucht und zauberhafte Rückerinnerung bedeutet.

Krähwinkel

Lustige Kleinstadtgeschichten

Fünfzehntes Tausend

Geheftet M. 5.—, gebunden M. 7.—

Echter, sonniger Humor , von dem der Leser, sofern er nicht ein unverbesserlicher Griesgram ist, mitgerissen wird. Stofflich ganz verschieden, sind alle Geschichten unterhaltsam und belustigend. Nur frohe Dichterlaune konnte uns ein solches Buch schenken.

„Die Bergstadt.“

Rund um den Kirchturm

Lustige Tiroler Geschichten

Sechzehntes Tausend

Geheftet M. 6.—, gebunden M. 8.—

Wie ein frisches Bergwasser, das aus dem Felsen hervorsprudelt, den wegmüden Wanderer erquickt, so erheitert dies Geschichtenbuch durch seine Klarheit und Ursprünglichkeit .

„Braunschweigische Landeszeitung.“

Abtissin Verena

Roman

Siebzehntes Tausend

Geheftet M. 6.50, gebunden M. 9.—

Die Handlung schreitet mit starken , wie erzklirrenden Schritten vorwärts; Kapitel auf Kapitel — geschlossene, zu großen Steigerungen getürmte Szenen, in denen Leidenschaft auf Leidenschaft prallt . Das Starke, Urgesunde zieht dieses Buch sicherlich aus der frohen, allem Grübeln abgeneigten Natur des Tiroler Dichters, die frisch zupackt , wo sich der Stoff bietet.

„Der Bund“, Bern.

Die kleine Welt

Tiroler Dorfgeschichten

Zwölftes Tausend

Geheftet M. 6.—, gebunden M. 8.50

In jedem einzelnen dieser dörflichen Lebensausschnitte schlägt das Herz des schlichten Bergbewohners . Mit der scharfen Gestaltungskraft und dem feinen, verstehenden Lächeln , das ihn uns so wert macht, zeichnet Greinz die Gestalten, die er in den Mittelpunkt seiner Erzählungen stellt.

„Berliner Morgenpost.“

Die Schellenkappe

Lustige Historien

Fünftes Tausend

Geheftet M. 3.—, gebunden M. 5.—

Die lustigen Bücher Greinz’ sind uns wie eine liebe Gewohnheit geworden. Man greift zu jedem neuen mit einer gewissen Zuversicht; denn man ist davon überzeugt, in ihm etwas zum Lachen zu finden .

Leo Möller in den „Münchener Neuesten Nachrichten“.

Unterm roten Adler

Lustige Tiroler Geschichten

Dreizehntes Tausend

Geheftet M. 6.—, gebunden M. 8.50

Diese Erzählungen haben Kulturwert ... Alles ist naturwahr , mit einer eigenartigen persönlichen Note erzählt ... Jede Geschichte ist ein Stück Original , was das Werk höchst vorteilhaft von so vielen platten Elaboraten unterscheidet, denen niemand das Milieu glaubt.

„Mannheimer Tageblatt“.

Gertraud Sonnweber

Roman

Achtzehntes Tausend

Geheftet M. 5.—, gebunden M. 7.—

Der Roman liest sich und wirkt wie ein Drama, knapp in der Führung, kühn im Aufbau, voll Spannung und Kraft ... Neben dem literarischen und dem nicht minder großen Kulturwerte kommt dem Buche noch eine Bedeutung zu: es ist der erste Tiroler Bauernroman modernen Stils .

„Münchener Neueste Nachrichten“.

Auf der Sonnseit’n

Lustige Tiroler Geschichten

Siebzehntes Tausend

Geheftet M. 6.—, gebunden M. 8.50

Mit diesem Bande setzt Greinz die stattliche Reihe seiner humoristischen Schriften fort, die so viel dazu beigetragen haben, den Tiroler Witz zu propagieren und zu — entdecken . Denn das ist ein Hauptverdienst des Dichters, die tief-heitere Gemütlichkeit in diesem Volke aufgezeigt zu haben , das meist nur von der ernsten, enthusiastischen Seite geschildert wird.

„Das Literarische Deutsch-Österreich“.

Allerseelen

Ein Tiroler Roman

Achtundzwanzigstes Tausend

Geheftet M. 6.—, gebunden M. 8.50

Allerseelen ist ein heißes, glutvolles Buch, ein Immortellenkranz aus dem alten Burggrafenamt, keine Tendenzschrift, sondern ein vollblütiges Künstlerbuch, ein Lied so süß, so schwer, so bang, wie damals das alte Märlein, das uns von „Tristan und Isolde“ singt.

„Leipziger Tageblatt“.

Das Haus Michael Senn

Ein Tiroler Roman

Siebzehntes Tausend

Geheftet M. 7.—, gebunden M. 9.50

Der starke Band des von Jahr zu Jahr höher emporwachsenden Autors, in dem wir wohl den besten Tiroler Dichter der Neuzeit erblicken dürfen, ist wieder ein Prachtstück schollenständiger Heimatkunst und echter Menschenschilderung.

„Der Sammler (Augsburger Abendzeitung)“.

Aus’m heiligen Landl

Lustige Tiroler Geschichten

Sechzehntes Tausend

Geheftet M. 6.—, gebunden M. 8.50

Bei ihm geht wirklich die Heimat restlos in der Kunst auf ; nichts ist fremd, angelernt oder abgelauscht in seinen Gemälden, und ob auch das Gewand seiner Erzählungen wohlgemessen und mit allem modernen Geschick gearbeitet ist: die Menschen, die in diesem Gewand stecken, die Helden seiner Geschichten, sind immer echt bis auf die Knochen und bleiben es.

„Münchener Neueste Nachrichten“.