Title : Landesverein Sächsischer Heimatschutz — Mitteilungen Band XIII, Heft 9-10
Monatsschrift für Heimatschutz, Volkskunde und Denkmalpflege
Editor : Landesverein Sächsischer Heimatschutz
Release date : February 7, 2024 [eBook #72895]
Language : German
Original publication : Dresden: Landesverein Sächsischer Heimatschutz
Credits : The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist so ausgezeichnet . Im Original in Antiqua gesetzter Text ist so markiert .
Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches .
Landesverein Sächsischer
Heimatschutz
Dresden
Monatsschrift für Heimatschutz, Volkskunde und Denkmalpflege
Band XIII
Inhalt : Weihnachten und Heimat – Die wiedererstandene Burg Scharfenstein an der Zschopau – Burgen als Stätten für Volksfeste – Verfallende Schlösser in Sachsen – Die Kriechtiere und Lurche unseres sächsischen Vaterlandes – Otto Altenkirch – Vom Wisent – Vom Aschberg zum Kiel
Einzelpreis dieses Heftes 2 Goldmark
Geschäftsstelle: Dresden-A., Schießgasse 24
Bankkonto: Commerz- und Privatbank, Abteilung Pirnaischer Platz, Dresden
Bassenge & Fritzsche, Dresden
Dresden 1924
Mit Hilfe von Freunden und Gönnern des Heimatschutzes konnten jetzt sämtliche Räume des Erholungsheimes in Bienhof zweckentsprechend eingerichtet und ausgestattet werben. Ein lange gehegter Wunsch des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz ist damit erfüllt. Das Landhaus Bienhof und die im danebenstehenden Zechelhause befindlichen Räume stehen vom 1. November 1924 an, soweit sie nicht zu den in den Stiftungsgrundsätzen vorgesehenen Zwecken in Anspruch zu nehmen sind, allen Mitgliedern des Heimatschutzes das ganze Jahr über zur Benutzung offen.
In behaglich eingerichteten, zum größten Teil heizbaren Zimmern mit ein bis drei Betten und bei bester, preiswerter Verpflegung durch den Hausverwalter und dessen fürsorgliche Frau und Tochter, bietet der Landesverein Sächsischer Heimatschutz damit seinen, auch in schwerster Zeit in Treue zu ihm gestandenen Mitgliedern, Gelegenheit zu tageweisen oder auch längeren Aufenthalt in stiller, geschützter Gebirgslage.
Hier – inmitten einer an landschaftlichen Schönheiten und an erhaltenswerten Naturdenkmälern aller Art überaus reichen Gebirgsgegend, wird der Erholungssuchende alles finden, was Körper und Geist stärken und erfrischen kann. Wanderfreudigen und naturkundigen Heimatschutzmitgliedern aber öffnet sich hier eine dem Schutze der Heimatnatur geweihte Einkehrstätte und ein Stützpunkt für ernste Naturstudien.
Zehn Zimmer mit zusammen einundzwanzig Betten stehen zur Verfügung. Bei der großen Mitgliederzahl erscheint es geboten, daß Anmeldungen für die Sommermonate des nächsten Jahres rechtzeitig, spätestens bis 1. April 1925, eingehen.
Für die kommende Winterszeit ist unser Erholungsheim Bienhof ein ideal gelegener Ausgangspunkt für den Wintersport. Das Sattelberggebiet ist allen Skifahrern bestens bekannt. Sanftgeneigte, weite Flächen wechseln mit steilen Hängen und laden ein zu ruhigem Dahingleiten und zu kühnen Abfahrten. Für größere Fahrten winkt der nahe Gebirgskamm um Nollendorf und Streckenwald mit seinen unvergleichlichen Ausblicken ins Böhmerland. Für den Rodelschlitten lassen sich in unmittelbarer Nähe des Landhauses viele geeignete Bahnen finden und zum Schlittschuhlauf bietet der nahe Mühlteich beste Gelegenheit. Und wer nun einmal den Winter im Gebirge mit all seiner weißen Pracht schauen und erleben will, der findet hier den ganzen Winterzauber in unberührter Schönheit – modelliert und gemalt von dem gleichen Meister wie an all den anderen, oft überfüllten Wintersportplätzen.
Bienhof wird erreicht von der Bahnstation Gottleuba in eineinviertel Stunden, von der Haltestelle Zollhaus Hellendorf der Autolinie Gottleuba–Peterswald in fünfunddreißig Minuten.
Anmeldung für Übernachtung in der Geschäftsstelle des Heimatschutzes, Dresden, Schießgasse 24, wo auch jeden Freitag Auskunft über Schneeverhältnisse erteilt wird.
G. M.
Wir bitten unsere sehr geehrten Mitglieder, bei Erhalt dieses Heftes, das unserer Ansicht nach wieder sehr wertvolle Beiträge bietet, freundlichst nochmals werbend für unseren Verein tätig zu sein. Weihnachten steht vor der Tür, und da liegt es nahe, vielen in der Mitgliedschaft unseres Vereins ein Weihnachtsgeschenk zu machen, sind doch die Bücher, die wir bieten, so wertvoll, daß das allein schon den geringen Jahresbeitrag von monatlich 1 Mark, der bis auf 50 Pfennig bei wirtschaftlich Schwachen ermäßigt werden kann, aufwiegt. Wir bitten, die beigefügte Werbeliste zur Anmeldung neuer Mitglieder zu benutzen.
Landesverein Sächsischer Heimatschutz
[313]
Die Mitteilungen des Vereins werden in Bänden zu 12 Nummern herausgegeben
Abgeschlossen am 31. Oktober 1924
Von Pfarrer W. Hoffmann , Chemnitz
Weihnachten und Heimat gehören für uns Deutsche in ganz eigentümlicher Weise zusammen. Vielleicht noch inniger als bei anderen christlichen Völkern, sind sie bei uns beide miteinander verbunden, ja miteinander verwachsen.
Unter Heimat verstehen wir ja nicht nur das Land, in dem wir geboren sind, geschweige denn unsere staatliche Existenz, sondern vor allem auch den Charakter unseres Lebens, so wie er sich aus den Naturbedingungen des heimischen Bodens, aus dem Volkscharakter und aus der Geschichte unseres Volkes herausgebildet hat. Wenn daher ein Deutscher in der Fremde mit Sehnsucht an die Heimat denkt, so vergegenwärtigt er sich nicht nur, falls er vom Dorfe ist, die Heimatflur und den Waldrand, oder, falls er ein Stadtkind ist, die stille Gasse oder auch das öde Mietskasernenviertel, sondern er hört auch die Kirchenglocken der Heimat läuten und denkt an all das Besondere im Leben des Alltags und der Festtage, das er in der Fremde nicht mehr findet. Ganz allgemein aber ist es die Weihnachtszeit und der Weihnachtsabend, die in der Fremde den Zug zur Heimat am stärksten werden lassen, so daß man sich sogar Mühe gibt, irgend ein stachliches Gewächs, das man findet, zu einem Christbaum zurechtzuputzen, und wenn man ihn selbst aus nackten Hölzern zusammensetzen müßte.
[314]
Wer es sich also zur Aufgabe macht, den Heimatsinn und die Heimatliebe zu pflegen, der kann am Weihnachtsfest am allerwenigsten vorübergehen. Er wird überzeugt sein und auch andere davon überzeugen wollen, daß eine Entwurzelung des christlichen Volksgeistes zugleich eine ungeheure Schädigung und Verarmung unseres heimatlichen Lebens zur Folge haben müßte. Denn ohne eine geistige Grundlage, ohne einen Glauben, der Herzenssache ist, müßten auch die schönsten Volkssitten schließlich verkümmern. Allem Äußeren entspricht hier ein Inneres. Und wenn dieses Innere verdorrt, dann kann auch das Äußere mit allen Mitteln und mit aller Anstrengung auf die Dauer nicht aufrechterhalten werden; es kann das Äußere – ich meine die Volkssitte – nicht mit bloß äußeren Mitteln erhalten oder wieder belebt werden. Darum ist die geistige und seelische Verfassung unseres Volkes eine Angelegenheit, die auch uns Verfechtern des Heimatschutzgedankens nicht gleichgültig sein kann. Eine Materialisierung unseres Volksgeistes und Volkslebens würde auch unser Heimatleben mit all seinem Reichtum und seiner Schönheit schließlich der Verödung preisgeben. Denn das Wort bleibt wahr: Es ist der Geist, der sich den Körper baut. Es ist der Volksgeist, der sich sein Heimatleben immer neu schafft.
Es wird nun aber neuerdings immer wieder versucht, gerade um des Heimatgedankens willen, in unserem Weihnachtsfest das eigentlich Deutsche, das ursprünglich Germanische stärker zu betonen auf Kosten des Christlichen. Aber das kann zu nichts führen. Was ist nicht alles von einem germanischen Weihnachtsfest gefabelt worden! Es hat ein solches niemals gegeben. Und jeder, der ernstlich dem Ursprung unserer Weihnachtssitten nachforscht, erkennt von neuem die Unmöglichkeit, aus ihnen einen germanischen Kern herauszuschälen. So weit wir auch zurückgehen, immer finden wir bereits die innige Verschmelzung der Weihnachtsgeschichte von Bethlehem und der christlichen Gedanken mit der deutschen Sitte. Was allenfalls übrigbleibt, das sind die Schmausereien und Trinkgelage, in denen allerdings unsere vorchristlichen Altvordern groß gewesen zu sein scheinen. Diese aber noch mehr zur Hauptsache zu machen, als es ohnedies schon geschieht, das würde ganz gewiß nicht zu einer Erhöhung und Veredelung der deutschen Weihnachtsfeier führen.
Wir müssen schon die Tatsachen der Geschichte gelten lassen und können sie nicht korrigieren. Ein Volk lebt nun einmal aus seiner Geschichte, nicht aber von ungeschichtlichen Konstruktionen. Mit altgermanischer Götterromantik schaffen wir keine neue Weihnachtssitte, vor allem keine volkstümliche. Denn für Symbolgestalten ohne Realität hat unser Volk wenig Sinn. Darum wird Weihnachten ein christliches Fest bleiben, oder es wird aufhören zu sein. Wir können nicht einen neuen und noch dazu sehr zweifelhaften und gärenden Wein in die alten Schläuche füllen.
So wird das Christfest bei uns um so lebendiger bleiben, je entschiedener wir seinen christlichen Charakter festhalten, auch in der heimatlichen Weihnachtssitte. Alles, was nach dieser Richtung hin oder vielmehr von dieser Richtung her das Christfest belebt, das stärkt auch den Heimatsinn: die Ausgestaltung der kirchlichen Christvespern und Christmetten unter Anknüpfung an vorhandene oder vorhanden gewesene Sitten, das Choralblasen vom Kirchturm in der Frühe des [315] Christtages, die Herstellung von Weihnachtskrippen und Weihnachtsbergen, die Wiederbelebung der alten schönen Christspiele. Gerade von letzteren ist gesagt worden, daß man »Totes nicht wieder zum Leben erwecken könne«. Aber neuere Erfahrungen zeigen, wie wenig dieses Urteil zutrifft. Denn wirklich tot ist ja nur das, woran wir innerlich keinen Anschluß mehr finden. Meines Wissens ist denn auch überall, wo man ein Christspiel wieder aufzuführen gewagt hat, der Zuspruch groß und der Eindruck tief gewesen. Ein Wort sei auch über die Weihnachtslieder gesagt. Es ist ein großer Mangel, wenn in so mancher Familie der »Bedarf« an Weihnachtssang mit dem Liede »O Tannebaum« bestritten wird, natürlich weil es am allgemeinsten und also am wenigsten die Gedanken der Weihnachten ausspricht. Ich möchte das als »verschämte Armut« bezeichnen. Sie ist um so bedauerlicher, als kein anderes Volk der Erde einen solchen Schatz nicht nur an Weihnachtschorälen, sondern auch an weihnachtlichen Volksliedern aufzuweisen hat.
Habe ich bisher zu zeigen versucht, daß ein ausgesprochen christlicher Charakter des Weihnachtsfestes den Heimatsinn in jeder Weise stärkt und belebt, so möchte ich nun auch den umgekehrten Satz aufstellen: Wem an einem wirklich lebendigen Weihnachtsfest gelegen ist, der muß auch an den heimatlichen Weihnachtssitten ein starkes Interesse haben. Es gibt auch puritanisch Gerichtete, die um der Heiligkeit des Festes willen alle schönen Sitten verwerfen, weil sie zu einer Veräußerlichung dieses Festes führen müßten. Daß diese Gefahr besteht und immer bestanden hat, ist nicht zu bestreiten. Heute kommt diese Gefahr vor allem von jener Weihnachtsindustrie her, die ohne innere Fühlung mit der Volkssitte alle nur erdenklichen Massenartikel auf den Markt wirft, zur angeblichen »Verschönerung« und »ergreifenden« Gestaltung des Festes, der Weihnachtsstube, des Christbaumes usw. Wieviel ursprünglicher Sinn geht z. B. verloren durch die elektrischen Christbaumkerzen! In manchen Kirchen lassen sie sich zwar der Feuergefährlichkeit wegen leider nicht vermeiden. Aber im Haus ist es doch nur der »Effekt«, den man erzielen will, wenn man knipst und der Baum erstrahlt. Und so verzichtet man auf die lebendige, brennende, flammende, wehende Kerze, deren Wachsduft sich mit dem Duft der Tanne vermischt. Man verzichtet auf den Anblick des Niederbrennens bis zu den letzten Lichtern, wo dann die Schatten an der Decke und an den Wänden huschen und die Stube in geheimnisvolles Dämmerlicht versinkt.
Es ist ja überhaupt vom Übel, wenn man sich gerade für das Christfest alles »fix und fertig« liefern läßt, anstatt selber Hand anzulegen und sich die häusliche Weihnachtsfeier zu »gestalten«. Ich kenne noch heute Familien, die immer weiterbauen an ihrem Weihnachtsberg oder an ihrer Pyramide, so daß sie von Jahr zu Jahr schöner wird. Dringend zu raten ist auch, derjenigen Industrie rechte Beachtung zu schenken, die noch nicht ins rein Mechanische versunken ist. Das ist die erzgebirgische Spielwarenindustrie . Sie verdankt es wohl auch gerade ihrer Gestaltungsfähigkeit und Verbindung mit dem Kunsthandwerk, daß sie noch immer einen Weltruf genießt. Die schaffende und gestaltende Hand ist noch nicht durch die Maschine ausgeschaltet. So schenkt sie uns auch für Weihnachten viel Brauchbares und Wertvolles, bis hin zu den handgeschnitzten Krippenfiguren [316] der heiligen Familie, der Hirten und Schafe, der drei Könige und ihres Gefolges an Menschen und Tieren, der himmlischen Heerscharen. Natürlich müssen solche Figuren teurer sein, als die üblichen Industrieerzeugnisse. Aber ich weiß von manchen, die sich allmählich einen solchen kleinen Weihnachtsschatz sammeln, indem sie das eine Jahr einen »Heiligen-Drei-König«, das andere einen schönen Engel, das dritte zwei Schafe usw. hinzuerwerben. So können wir die Heimatkunst in den Dienst des schönsten aller Feste stellen, anstatt daß wir es nur mit Likörflaschen und mit Zigarren »in Geschenkverpackung« umrahmen. Und wo es im Ort ein Christspiel gibt, – wohl zu unterscheiden von einem bloß weihnachtlich zurechtgestutzten und innerlich zusammenhanglosen Theaterstück, – da führe man nun auch seine Kinder hin und komme vor allem auch selber mit. Alles, was uns Weihnachten veranschaulicht, dient dem Sinn dieses Festes. Denn so ganz »geistig« sind wir nun einmal nicht, und noch weniger sind es unsere Kinder, daß wir auf alles Äußerliche verzichten könnten. Und niemals kann dieses Äußerliche uns zu einer bloßen Ablenkung werden, so lange wir eben den eigentlichen Sinn des Festes stets im Auge behalten. Darum aber sind alle Bestrebungen freudig zu begrüßen, die unserem Christfest wieder einen recht heimatlichen, bodenbeständigen Charakter geben wollen.
Glaube und Heimat sind und bleiben die beiden Kraftquellen unseres Volkslebens.
Von Otto Eduard Schmidt
Mit Aufnahmen der Dresdner Photographischen Werkstätten, Dresden
Unter dem blauseidigen Himmel eines goldigen Herbstsonntags fuhr ich von Flöha aus das herrliche Zschopautal aufwärts. Noch nie hatte ich es in solcher Pracht gesehen. Der reiche Laubschmuck dieses Sommers (1924) hatte zwar schon sein Sterbekleid angelegt, aber es sprühte Licht und Farben, als ob der Tod in das Leben umgebogen werden könnte. Und was so siegprangend in die reine Luft leuchtete, das verdoppelte sich noch hie und da durch Spiegelung in dem ruhigen klaren Wasser der Wehrteiche, zu denen der Fluß sich überall anstaut, wo ein Mühlgraben abzweigt. Unten auf den smaragdgrünen Wiesen weideten buntscheckige Rinder und oben über dem golddurchwirkten Walde glänzten die kraftvoll durchgebildeten Ecktürme und Dächer der alles beherrschenden Augustusburg. Es folgt das behaglich um die altersgraue Feste Wildeck geschmiegte Städtchen Zschopau. Bald danach verkünden höher ansteigende schwarze Waldberge das Nahen der sagenumwobenen Burg Scharfenstein, der Perle des oberen Zschopautales – und nun liegt sie selbst vor mir, auf felsiger Anhöhe, vom Sonnengold umflossen, und bietet mir heute wieder fast denselben reizvollen Anblick wie vor sechs Jahren, als ich sie zuletzt sah. Aber zu genauerem Vergleich ist zunächst keine Zeit; denn im [317] Durchgang des Bahnhofs begrüßt mich der Burgherr Graf Alexander von Einsiedel, und im nächsten Augenblick trägt uns der Kraftwagen mit kaum glaublicher Tatkraft den steilen Felsen empor in den Burghof. Die breite Steintreppe führt uns in ein großes, helles Empfangszimmer mit schönem Blick in eine sich nach rechts hin erstreckende, mit Kreuzgewölben überdeckte Galerie. Hier wird der Burgherr auf kurze Zeit abgerufen – und nun erst komme ich dazu, meine abgebrochene Gedankenkette über das Wie und Wo wieder aufzunehmen.
Über die Anfänge von Scharfenstein besitzen wir weder eine Urkunde noch die Angabe eines zeitgenössischen Geschichtschreibers. Aber der Name deutet, gerade wie der verwandte Name des Schlosses Scharfenberg bei Meißen, auf Beziehungen zum Bergbau: Scharfenstein ist der Stein, in dessen Nähe »geschürft« wird. Zum Beweise führe ich folgendes an. Gleich die erste urkundliche Erwähnung Scharfensteins im Lehnsbuche Friedrichs des Strengen (1349/50): »Johann von Waldenburg trägt vom Markgrafen zu Lehen Wolkenstein, Grifenstein (Greifenstein), Zcinewerk (Ehrenfriedersdorf), Bergwerck (Geyer), dy Schape (Zschopau) Scharfenstein« zeigt die Burg in Verbindung mit Zinn- und Silberbergwerken, ebenso die Urkunde über den Verkauf von Scharfenstein im Jahre 1439 (s. unten S. 321 ), endlich beweisen auch Reste von Stollen und Gruben in größerer Nähe von Scharfenstein, daß dort bergmännische Tätigkeit zu Hause war. Dem gegenüber müssen die älteren Behauptungen, Burg Scharfenstein sei schon lange vor dem Jahre 1000 erbaut worden, in das Gebiet der Fabel verwiesen werden.
Mit dieser Grundstimmung begann ich die einzelnen alten Bauglieder der Burg genauer zu betrachten. ( Abb. 1. ) Zunächst den schon längst nicht mehr bewohnten Bergfried und die sich daran lehnenden Reste des Palas. Beide erheben sich auf der höchsten Spitze des gewachsenen Felsens (Kersantit) und sind mit uraltem, armstarkem Efeu bewachsen. Der kreisrunde Bergfried ist jetzt noch siebzehn Meter hoch, seinen Zinnenkranz und die Storchnesthaube als oberen Abschluß erhielt er 1850. Von zwei jüngeren Gliedern des Hauses Einsiedel unterstützt, maß ich die Mauerstärke: sie beträgt dreieindrittel Meter (der Bergfried in Zschopau drei Meter und siebzig Zentimeter), der innere Hohlraum ist nur ein Meter und fünfundachtzig Zentimeter weit. Das ziemlich hoch liegende Gemach des Bergfrieds war nur auf Leitern zugänglich, erst spät ist die untere Tür in den Steinpanzer gebrochen worden. Von Süden her ist der Angriff gegen den Bergfried erschwert durch den vierzehn Meter breiten und sehr tiefen Halsgraben, der den Talsporn, auf dem die Burg liegt, von den nach Süden zu höher ansteigenden Gebirgsstock lostrennt. Von der Plattform am Zinnenkranz genießt man eine entzückende Aussicht nördlich und südlich ins Zschopautal; der ernste Gipfel des Fichtelbergs war leider durch silbernen Duft verschleiert. Als wir dann zu Füßen des Steinriesen von seinen Schicksalen plauderten, trat der Burgherr wieder zu uns, und nun ging die Wanderung durch die Räume des Erdgeschosses ( Abb. 2 ) und in die Tiefe der Keller. Im tiefsten Keller, zwei Stockwerke unter der Erde, sah ich den einst bis auf den Wasserspiegel der Zschopau in den Felsen getriebenen Brunnen; um seine Tiefe einigermaßen zu ermessen, ließen wir angezündetes Papier hinunterflattern. Der Brunnen ist leer, auch ohne Wasserspiegel; als er 1832 ausgeräumt wurde, kamen [320] menschliche Gebeine und Waffen aller Art zum Vorschein; sie sollen von einer Erstürmung der Burg im Dreißigjährigen Krieg herrühren (s. unten S. 325 ). In den alten unteren Geschossen und Kellern habe ich von romanischer Bauweise keine Spur gefunden. Die ältesten Türgewände der Keller zeigten vielmehr die gotische Form des Eselsrückens. Man wird aber, wenn man die ältesten beglaubigten Nachrichten vom Scharfenstein und den baulichen Befund zusammenrechnet, die Anfänge der Burg frühestens um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts ansetzen dürfen. Zum Vergleiche bemerke ich, daß die erste urkundliche Erwähnung des benachbarten und vielfach mit Scharfenstein verschwisterten Schlosses Wolkenstein aus dem Jahre 1241 stammt.
In Rücksicht auf eine so späte Entstehung der Burg Scharfenstein halte ich es auch nicht für wahrscheinlich, daß die Burg längere Zeit nur aus dem Bergfried und dem kleinen daran gelehnten Palas bestanden habe. Dazu waren die Bedürfnisse des ritterlichen Adels um 1250 oder gar um 1300 schon zu weit fortgeschritten. Auch scheint die Sicherheit der Burg die Befestigung der ganzen Plattform des Felsens gefordert zu haben. Demnach sind die jetzt bewohnten, den Burghof im Dreiviertelkreis umgebenden Gebäude wenigstens zum Teil wohl gleichzeitig mit dem Bergfried und Palas oder nur wenig später erbaut worden; sie bildeten, untereinander durch Wehrgänge verbunden, den sogenannten Zwinger. So kann man die Burg in ihrem heutigen Umfange als ein beinahe gleichzeitig entstandenes Ganzes auffassen. Einzelne nach Westen zu sich der Talsohle nähernde Steintürme, von denen noch Trümmer vorhanden sind, bildeten, durch unterirdische Gänge miteinander und mit der Burg verbunden, eine Ergänzung dazu, die als Verbindungsglied zu der im Tale hinführenden Straße oder als Fluchtburg bei Gefahr für die Einwohner des Dorfes von Wichtigkeit war.
Diese meine Auffassung wird auch durch die nicht eben reichlich fließenden geschichtlichen Nachrichten über Scharfenstein bestätigt. Als Gründer und erste Inhaber der Burg müssen nach der obenerwähnten Angabe des Lehnsbuchs Friedrichs des Strengen die reichsunmittelbaren Herren von Waldenburg gelten, die seit 1241 auf Wolkenstein bezeugt sind, damals wohl das mächtigste Dynastengeschlecht der ganzen Gegend; denn sie besaßen in den Herrschaften Waldenburg, Rabenstein, Scharfenstein und Wolkenstein ein zusammenhängendes Gebiet, das von den sanften Hügelketten der mittleren Pleiße und Mulde bis hinauf zum Kamm des Gebirges (südlich von Wolkenstein) reichte. Daß es noch vor den Waldenburgern Kaiserliche Vögte von Scharfenstein gegeben habe, ist eine Vermutung, der jede Grundlage fehlt. Die Waldenburger verwendeten Scharfenstein, wie eine Urkunde vom 8. April 1386 ( C D S I , B 1, 131 f.) dartut, als Leibgedinge bzw. Witwensitz für ihre Gattinnen. Darin liegt schon ein Beweis dafür, daß Scharfenstein damals nicht nur eine kriegerische Wache war – 1389 war Hans von Forchheim »heupmann uff dem Scharfensteyn« unter Anarg und Heinrich von Waldenburg C D S II , 12, 1 S. 417 –, sondern auch für eine ritterliche Dame genügendes Quartier bot: die Dörfer Griesbach, Hopfgarten, Grünau, Groß-Olbersdorf, Schönbrunn, Falkenbach, Drebach, Herold und Glashütte lieferten Zinsen und Naturalabgaben. Im fünfzehnten Jahrhundert, als die Feste Greifenstein, die bis 1429 die Bergorte Thum, Ehrenfriedersdorf und Geyer [321] beschirmt hatte, von den Hussiten (?) zerstört war, übernahm Scharfenstein auch die Pflicht, diese Bergorte zu beschützen und die sich daraus ergebenden Rechte. Es gewann dadurch solche Bedeutung, daß der Landesherr Kurfürst Friedrich der Sanftmütige sein Auge darauf warf und, da die Vermögenslage der Herren von Waldenburg mißlich geworden war, sie 1439 durch Kauf erwarb, wobei der Münzmeister von Freiberg, Liborius von Senftleben, dessen Brüder und ein Stephan Glasperg als Mittelsmänner dienten. Sechs Jahre lang sollte es den Brüdern Heinrich und Anarg von Waldenburg freistehen, die Güter aus der Verpfändung einzulösen, aber sie vermochten es nicht. So erscheint schon 1445 der Kurfürst als Besitzer von Scharfenstein und seinem Zubehör. Diesem Umstande verdanken wir es, daß wir aus einem Verzeichnisse der landesherrlichen Einkünfte aus dem Jahre 1445 Wichtiges über die Einkünfte aus der Herrschaft Scharfenstein erfahren. Dazu gehören, je nach der Ausbeute steigend und fallend, jährlich zweieinhalb Schock von der Zinnschmelze in Ehrenfriedersdorf, dreißig Gulden von den Bänken der Schuster in den obengenannten Bergorten, zwei Schock Krämerzins und siebzehn Schock Zoll und Geleitsgeld. Dieser letzte Posten zeigt uns, daß Scharfenstein nicht nur Silber- und Zinnbergwerke zu beschirmen hatte, sondern auch eine Straße: den richtigen, von Öderan über Zschopau, Wolkenstein, Chemnitz, Komotau nach Prag führenden Paß. Übrigens behielt der Kurfürst von dem Scheinkaufe Senftlebens nur die Anrechte auf die Bergorte Ehrenfriedersdorf und Geyer, die er zum Amt Wolkenstein schlug, während Thum und Scharfenstein 1473 in den Händen des Heinrich von Schönberg waren, der sie mit Schellenberg und Zschopau vom Fürsten zu Lehen trug. Dieses Verfahren erinnert sehr an das Verhalten der sächsischen Fürsten beim Bankrott der Herrschaft Bärenstein 1491 (s. Kursächsische Streifzüge V. Bd. S. 314).
Von hier an fließen die urkundlichen Nachrichten in ununterbrochener Kette bis zur Gegenwart. Denn von 1486 an besitzen wir die Lehnsbriefe über Scharfenstein und die damit zusammenhängenden » Confirmationes et Consensus « (»Bestätigungen und Bewilligungen«) der Landesfürsten in vierzehn, meist sehr starken Bänden des Hauptstaatsarchivs, alles in allem ein überaus reiches Material mit vielen Briefen, das den unverdrossenen Forscher tief in das Innerste der Geschichte des Einsiedelschen Geschlechtes und der Burg Scharfenstein einführt. Der erste Lehnsbrief vom Jahre 1486 verleiht »Ern Heinrichen von Starschidel Rittern und seinen rechten Leibeslehenserben … Sloß Scharffenstein mit den Mennern dafur gesessen mit aller seiner Zubehörung … zu rechten Manslehen«. Der für uns wichtigste Lehnsbrief ist der vom Jahre 1492, durch den Scharfenstein an Heinrich von Einsiedel übergeht. In ihm sind auch alle die Vorbesitzer der Burg genannt, die sie nach dem oben besprochenen Kauf des Landesherrn (1439) zu Lehn getragen haben; dadurch wird die in der volkstümlichen Literatur über Scharfenstein verbreitete Legende, die Burg sei schon 1427 in den Besitz der Einsiedel gekommen, ohne weiteres als falsch erwiesen. Die wertvollsten Teile dieses Lehnbriefes lauten: » Anno domini etc. 1492 am Donerstage nach Pauli conversionis (des Paulus Bekehrung) hat mein gnediger Herr Herzog George von wegen und anstat seiner Gnaden Ern und Vatern Herzog Albrecht Ern Heinrich vom Einsiedel Rittern und seinen rechten Leibhslehenerben diese nachgeschriebene Sloß, Forwergk, Dorffer und [322] Guter, nemlich das Sloß Scharffenstein … item das Forwerg die Grunaw genant … item das Dorff Alberstorff (Groß-Olbersdorf), Grunaw, Königswalde, Grisbach, Hopfgarten, Hornsdorff mit Frone uff etlichen Leuthen und etlichen Leuthen Fronen Geld, wie ime (ihm) die Er Heinrich Starschedel verkaufft … und also in aller mase so solch Sloß, Forwerg, Dorffer mit aller irer Zcugehorunge von den Hochgeborn̄ Fürsten, Herzogen Ernst Curfürsten seliger Gedechtnus und Herzog Albrecht etc. seiner Gnaden lieben Herrn Vettern und Vatern an Heinrichen von Schonberg Amptmann uffm Schellenberg solch Sloß, Forwerg, Dorffer und Gutter, Friedrich Blancken und forder an Ern Heinrich Starschedel Ritter und darnach Er Heinrich von Einsiedel Ritter in Kaufweiß bracht und die alle obgemelt gebraucht, gnossen, innegehapt und besessen, zu rechten Manlehen gereicht geliehen, soviel sein Gnaden von Rechtswegen daran zu vorleyhen hat. Testes (Zeugen sind): Er Hans von Mingwitz, Obermarschalg, Er Ditterich von Schonberg, Hoffmeister Ritter, Cantzler, Siegmund von Maltitz. Actum Dreßden Anno etc. «
Im Jahre 1508 muß Heinrich von Einsiedel auf Scharfenstein verstorben sein; denn am Sonnabend Agathe Virginis 1508 ist ein neuer Lehnbrief über Scharfenstein für seine Söhne Hugold, Heinrich, Hildebrand und Heinrich Abraham von Einsiedel in Leipzig ausgefertigt worden (fol. 9) usw.
Die Baulichkeiten der Burg waren wohl unter den verschuldeten Waldenburger Herren, die überdies im Jahre 1479 ausgestorben waren, und dann unter den wechselnden Besitzern arg heruntergekommen. Die neuen Herren von Einsiedel ließen zwar die Ruinen des Bergfrieds und des Palas unergänzt liegen, aber die wohnlicheren Gebäude um den Hof fingen sie an zu erneuern. Die spätgotischen Fenster im Gange des Gesellschaftsflügels (s. oben Seite 317 ) deuten auf eine Bauzeit am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ( Abb. 3 ); umfassender waren die Erneuerungen Heinrichs von Einsiedel um 1533. Diese Jahreszahl trug ein nach dem Brande entdeckter, durch die Glut gespaltener Kragstein im ehemaligen Kinderzimmer des Wohnflügels ( Abb. 4 ), während einzelne Dachziegel in Pfannenform die Jahreszahlen 1538, 1543 zeigten. Der zwischen dem Torhaus und dem Kirchenflügel langgestreckte Witwenflügel soll nach mündlicher Überlieferung zuletzt gebaut worden sein. Ist das der Fall, so ist der Witwenflügel, wie vielleicht auch andere Bauteile der Burg, an die Stelle eines früheren Wehrgangs getreten; denn die Sicherheit der Burg erforderte, wie schon oben erwähnt, eine lückenlose Schließung des Umkreises von der westlichen Wange des Bergfrieds bis zur östlichen. Im Jahre 1570 hatte Haubold von Einsiedel die Einengung seiner Befugnisse durch Kurfürst August zu verspüren, indem er dem Kurfürsten auf den Einsiedelschen Gütern und den Gütern von dreiundzwanzig Mannen zu Einsiedel, Erfenschlag und Dittersdorf auf dreißig Jahre die hohe Jagd abtreten mußte. Freilich bekam Einsiedel dafür alljährlich sechshundert Meißner Gulden Jagdgeld, zwölf Stück Wild, vier Bachen und vier Frischlinge. Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges hauste auf dem Scharfenstein Heinrich Hildebrand von Einsiedel mit seiner Gemahlin Sophie, einer geborenen von Ponickau aus dem Hause Prietitz. Dieses Paar erbaute vor dem gotischen Tor der Burg, an dessen Innenwand man noch die Rillen der Eisenkette sieht, an denen die Zugbrücke auf- und niederging, am anderen Ende der Brücke ein schönes Renaissanceportal [325] mit dem Allianzwappen der beiden Familien. Zweimal wurde die Burg während dieser Zeit erstürmt: 1632 von Herzog Bernhard von Weimar und 1633 von den Schweden, die die ganze kaiserliche Besatzung niederhieben und die Leichen in den Burgbrunnen geworfen haben sollen (s. oben Seite 320 ).
Am Ende des siebzehnten Jahrhunderts war der Kurfürstliche Kammer- und Bergrat Curt Heinrich von Einsiedel Herr auf Scharfenstein. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatte hier vor dem äußeren Tor der Wildschütz Karl Stülpner seinen großen Tag, als er, nur durch einen Baum gedeckt, die zu seiner Ergreifung aufgebotenen achtzig Mann des Chemnitzer Regiments samt den Förstern der Umgegend einen ganzen Tag lang durch seine Büchse in Schach hielt und dem Oberförster von Geyer und dem Gerichtsdirektor von Thum, die trotzdem aus dem Schlosse herausreiten wollten, durch einen wohlgezielten Schuß großen Schrecken bereitete.
Seitdem ist mehr als ein Jahrhundert vergangen, voll von deutscher Not und deutscher Größe – die kriegerische Bedeutung der Burg trat zurück, sie wurde innerhalb einer stark mit Spinnereien und anderen Fabriken durchsetzten Gegend ein stiller Herrensitz, ein Zufluchtsort der Romantik; in ihrem Burggarten zu Füßen des efeubewachsenen Bergfrieds suchte der Wanderer die »blaue Blume« zu finden, die ihm die Geister der Vergangenheit und den Sinn des Lebens verständlich machen sollte – aber da kam die Nacht vom ersten zum zweiten Juni 1921, in der plötzlich der rote Hahn an den steilen Dächern emporzüngelte. Schauerlich schön spiegelte sich die rote Glut der Dachsparren und des gewaltigen Gebälks in der Sommernacht, und das ganze Schloß wäre wohl ein Raub der Flammen geworden, wenn nicht die Motorspritze der Patentpapierfabrik im Wilischtal mit ihrer tüchtigen Bemannung wenigstens das Hauptstück des Kirchenflügels und den ganzen Witwenflügel gerettet hätte. Dafür ging fast die ganze Habe des Grafen Einsiedel, der die Burg erst am 19. Dezember 1919 übernommen hatte, und ebenso die seines Gesindes zugrunde. Der anbrechende Morgen fand im Schloßhof ein ergreifendes Bild. »Neben dem Rest ihrer Habseligkeiten hockten apathisch mit vom Weinen geröteten Augen die Dienstboten. Der Schloßherr und die Schloßherrin, letztere hatte sogar Brandwunden davongetragen, ließ es sich nicht nehmen, auf der Unglücksstätte auszuharren. Besonders der Frau Gräfin wandte sich allgemeine Teilnahme zu. Ihrer Niederkunft entgegensehend, nur notdürftig bekleidet, Speise und Trank verschmähend, suchte sie noch hie und da helfend einzugreifen. Ihre Garderobe, ihre Wäsche ist fast völlig dem Feuer zum Opfer gefallen.« (Zschopauer Wochenblatt vom 4. Juni 1921.)
Die Teilnahme am Verluste der Burg ging weit über Sachsens Grenzen hinaus, besonders aber regten sich aus den Kreisen des Heimatschutzes, der sächsischen Denkmalpflege und der Burgenfreunde hilfsbereite Hände, um dem schwer getroffenen Besitzer den Wiederaufbau der Burg zu ermöglichen. Trotzdem war es kein leichter Entschluß, als Graf Alexander von Einsiedel wenige Tage nach der Katastrophe unter Zurücksetzung aller persönlicher Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten, die die Errichtung eines neuzeitlich behaglichen Baues sicherlich geboten hätte, bestimmte, daß die Burg möglichst genau in derselben Form wiedererstehen sollte, wie sie den Flammen zum Opfer gefallen war. Im Inneren mußten natürlich den neuzeitlichen [326] Bedürfnissen Zugeständnisse gemacht werden. Als Baumeister wurde der Geheime Hofbaurat Professor Bodo Ebhardt in Berlin-Grunewald, der bekannte Wiederhersteller deutscher Burgen, gewonnen, doch so, daß das sächsische Landesamt für Denkmalpflege die aufgestellten Pläne vor der Ausführung zu prüfen hatte. Am 10. Juni 1921 begannen die schon wegen des steil abfallenden Geländes sehr schwierigen Arbeiten des Aufräumens und der Sicherung der Unterbauten. So war z. B. am Gesellschaftsflügel, wo man schon lange vor dem Brande die nach außen überhängende Nordwestwand durch eiserne Zuganker mit Spannschlössern hatte sichern müssen, infolge starker plötzlicher Abkühlung beim Löschen eine ganze Ecke, ein Mauerblock von zehn Meter Höhe und zweieinhalb bis drei Meter Stärke einige Tage nach dem Brande in die Tiefe gestürzt. Hier mußte eine umfassende Notverankerung angebracht werden, um die übrige Wand, die nachzustürzen drohte, bis zu ihrer teilweisen Abtragung und Neubefestigung zu halten. Die Planungen für die Ergänzung der Unterbauten und den Wiederaufbau der zerstörten Wohnbauten gingen aus den »Hauptbaustuben« Ebhardts hervor, der auch persönlich mit dem Vorsitzenden des Landesamts für Denkmalpflege und dem Landeskonservator Fühlung nahm und mehrere Tage auf dem Scharfenstein zubrachte. Die örtliche Bauleitung lag in den Händen des preußischen Regierungsbaumeisters Kaske, der auch mehrere im Wiederaufbau von Burgen erfahrene Poliere zur Verfügung hatte. Obwohl ein Teil der Baukosten durch die Brandversicherung gedeckt war, obwohl der Staat in der Erwägung, daß es sich bei der Burg Scharfenstein um einen »dem ganzen Volke wertvollen Besitz« handelte, bei der Bauholzlieferung einen Preisnachlaß gewährte und obwohl der Besitzer durch Anspannung seines persönlichen Kredits erhebliche Mittel aufbrachte, so hat es doch nicht an Zeiten gefehlt, in denen infolge der immer steigenden Inflation die Fortführung des Baues unmöglich zu werden schien. Aber mit Hilfe der »Bausteine«, die andere Burgenbesitzer, einem Aufruf des Landesamts für Denkmalpflege und des Sächsischen Heimatschutzes folgend, seit dem Mai 1922 beisteuerten, gelang es doch, das Werk im Jahre 1923 zu vollenden. ( Abb. 5. )
Daß die erneuerte Burg in ihrer Wirkung vom Tal aus fast ganz der alten gleicht, wurde schon erwähnt. Aber auch, wenn man sie vom Burghof oder von der Plattform des Bergfrieds aus betrachtet, oder wenn man die erneuerten Teile aufmerksam durchwandert, kann man allen Beteiligten die rückhaltlose Anerkennung nicht versagen, daß hier ein schwieriges Wiederherstellungswerk in selbstloser Gesinnung und aus echt geschichtlichem Geiste mit ausdauerndem Fleiß und vortrefflichem Geschick geleistet worden ist. Natürlich ist der Neubau kein sklavisches Abbild des alten. ( Abb. 6. ) Einige Giebelkonstruktionen und die damit zusammenhängende Gestaltung des Daches, das beim alten Schloß wie ein schmiegsames Fell in sich zusammenhängend über alle die verschiedenartigen und verschiedenhohen Bauglieder gezogen worden war, sind teils in Rücksicht auf die Witterungseinflüsse und die Feuersicherheit, teils auch, weil die Kunst der heutigen Zimmerleute nicht mehr der des sechzehnten Jahrhunderts gleicht, etwas verändert worden. Auch reichten die vorhandenen Mittel nicht dazu aus, z. B. den im zweiten Oberstock des Wohnflügels vorhanden gewesenen »Rittersaal mit den schönen gewundenen Holzsäulen [329] und den geschnitzten Wappen am unteren Ende der Hängesäulen« zu erneuern, ebenso mußte die anfangs geplante Wiederherstellung der erst beim Brande hinter später eingezogenen Decken wieder aufgefundenen schönen Kassettendecken des sechzehnten Jahrhunderts und der wuchtigen profilierten Balken der Kosten wegen unterbleiben. Reste dieser profilierten Balken sind noch jetzt im gotischen Tor zu sehen. Auch das übrigens sehr schöne Herrenzimmer im halbrunden Turm des Gesellschaftsflügels ist durch den allzu dünnen und schmucklosen Ausfall der beiden Deckenbalken in seiner Wirkung geradezu beeinträchtigt worden. Aber gerade durch diese von der Not erzwungenen Mängel wird die erneuerte Burg Scharfenstein zugleich auch ein Denkmal unserer ernsten und schweren Zeit. Anderseits kann man manche Änderung der inneren Raumverteilung geradezu für eine Besserung des früheren Zustandes ansehen. So die bessere Unterbringung der Kinder und ihrer Erzieherin im Wohnflügel, die Herstellung einer offenen Halle im zweiten Oberstock des Gesellschaftsflügels und die Schaffung einer Burgkapelle, die es bisher trotz des »Kirchenflügels« im Schlosse nicht gab. Zur Burgkapelle ( Abb. 7 ) ist ein sehr schönes, zuletzt als Speisegewölbe benutztes Gemach im Erdgeschoß des Wohnflügels rechts von der Haupttreppe umgewandelt worden. Das durch hohe Stichkappen gegliederte Tonnengewölbe sowie die spätgotischen Türgewände bedurften keiner Veränderung. In der Mittelachse des Fensters steht der Taufstein, dem Fenster gegenüber ist ein schlichter, brauner gotischer Holzaltar errichtet, das Gestühl stammt aus Schlesien, Grabmäler längst heimgegangener Familienglieder heben sich von den schlichten, weißen Wänden ab ( Abb. 7 ). Besonders ergriffen hat mich das von V. Saila in Stuttgart gemalte Glasfenster: unter dem Kreuz sieben Engelsköpfchen mit den Anfangsbuchstaben der sieben Kinder, die dem gräflichen Paare bei der Einrichtung der Kapelle geboren waren. Eins davon, Mechtild, ist am 30. August 1921, also im Jahre des Brandes zur Welt gekommen. Im Ganzen sind es drei Knaben und vier Mädchen. An der dem Eingang gegenüberliegenden Tür steht der Spruch:
Später zeigte mir die Frau Gräfin noch die beim Brande größtenteils gerettete Bibliothek in einem Raume des Torhauses. Diese Bücherei hat allerdings durch das Feuer eine sehr anziehende Besonderheit verloren: den schön gebundenen Briefwechsel eines weltbekannten Liebespaares, eines zu Goethes Zeit am Weimarer Hofe lebenden Leutnants und Bergrats Johann August von Einsiedel – sein Bruder war der Weimarische Geheime-Rat und Oberhofmeister Friedrich Hildebrand von Einsiedel – und der Freifrau Emilie von Werthern-Beichlingen, die, um mit ihrem Geliebten entfliehen und eine Afrikareise antreten zu können, ihre Todesnachricht verbreiten und ein ihr gleichendes Wachsbild begraben ließ (1784). Andere wertvolle Schriftstücke aus dieser Zeit und aus dem Weimarer Kreise sind erhalten geblieben; ich sah Briefe von Wieland, Herder, Knebel, der Gräfin Tina von Brühl, Dorothea Schlegel u. a. Dann genoß ich die herbstliche Schönheit des vom Torhaus und Witwenflügel nach Westen zu liegenden Burggartens ( Abb. 8 ) mit der alten Bastion, die einen herrlichen Blick ins Tal gewährt und umwanderte, soweit es der noch nicht völlig beseitigte Bauschutt gestattete, dicht am Mauerwerk hin die West- und [332] Nordseite der Burg von außen. Dabei sieht man erst, wie kunstvoll sich hier uraltes Mauerwerk und die neuen Flickarbeiten, alte Unterbauten und neue Oberbauten einander durchdringen. Als ich mich danach im Schlosse verabschiedet hatte und die Treppe des Wohnflügels hinunterstieg, schaute ich, ehe ich in die noch immer goldene und wärmende Herbstsonne hinaustrat, noch einmal zur Tür der Burgkapelle hinüber – und gedachte der Kinderschar, die in diesen Räumen getauft und erzogen, hoffentlich einmal ein glücklicheres Deutschland sehen wird als das heutige. Aber weder das heutige noch das künftige Deutschland möge die alten Wurzeln seiner Kraft und seiner Kultur vergessen.
Anmerkung. Die Quellen zu dieser Arbeit sind außer dem wiederholten Besuch der Burg Scharfenstein und den Mitteilungen des Herrn Grafen und der Frau Gräfin von Einsiedel auf Scharfenstein die Akten des sächsischen Landesamts für Denkmalpflege, die Akten des ehemaligen Lehnshofes und mehrere den Bergbau im Erzgebirge betreffende Urkunden des sächsischen Hauptstaatsarchivs. Einzelne Hinweise verdanke ich der von Prof. Dr. Meiche ebenda angelegten Kartothek der Örter Sachsens.
Von Otto Eduard Schmidt
Die Burg ist, sprachlich betrachtet, der Ort, wo man sich birgt, wo man sich vor Feinden geborgen weiß. Und so wichtig und angesehen war in alten Zeiten die Burg, daß sich auch der vollberechtigte Einwohner der jüngeren Stadt mit Stolz als einen Burgmannen ( burgensis ) = Bürger bezeichnete, weil ihm die Stadt nicht anders erschien als eine größere Burg, hinter deren festen Mauern und Toren sich die Einwohner vor aller äußeren Not geborgen fühlten. In diesem Sinn hat schon König Heinrich I., der das Sorbenland für die Deutschen zurückeroberte, »Städte« gebaut, die nichts als größere Burgen waren, in denen die deutschen Bauern während des Ansturmes der Ungarn mit Weib und Kind ihre Zuflucht fanden. Aber freilich, als das mittelalterliche Kaisertum in Römerzügen gegen kaiserfeindliche Päpste und Stadtrepubliken und in Kreuzzügen gegen die Bekenner des Islam seine besten Kräfte verbraucht hatte und in Schwäche und Auflösung verfiel, da entartete, der kaiserlichen Leitung und des kaiserlichen Schutzes beraubt, vielfach auch das burggesessene Rittertum: aus dem Schirmer und Beschützer der Wehrlosen wurde hier und da ihr Bedrücker, und die Burg, die vorher die Zuflucht bedrängter Bauern und reisender Kaufleute gewesen war, wurde öfters der Ort ihrer Qual, wo sie beraubt und zerschlagen im Gefängnis schmachteten, bis ein Lösegeld oder das Dazwischentreten eines Mächtigeren die Pforten des Kerkers sprengte. Damals sind auch in unserem Sachsenland von volksfreundlichen Kaisern wie Rudolf von Habsburg und Karl IV., aber auch von Landesfürsten und verbündeten Städten Raubburgen in größerer Zahl gebrochen worden. Ihre malerischen Ruinen grüßen uns aus dem Dunkel des Waldes und aus schilfbewachsenen Gräben oder von aussichtsreicher Höhe und steilen Felsklippen.
Glücklicherweise sind nicht alle Burgen unseres Sachsenlandes zugrunde gegangen. Die meisten ritterlichen Geschlechter gewöhnten sich rechtzeitig daran, in [333] friedlicher Arbeit ihre Güter zu bebauen oder setzten ihre Ehre darein, sich im Staats- und Heeresdienst die Mittel für ein standesgemäßes Leben zu erwerben und hielten dabei die von den Ahnen ererbte Burg wie ein liebevoll gepflegtes Kleinod durch alle Zeitenstürme hindurch in Treue fest. Bei den furchtbaren Kriegsschicksalen, die unser Sachsen fast in allen seinen Teilen erduldete und bei der nachfolgenden starken Industrialisierung des Landes ist es fast ein Wunder, wie viele der alten Burgen sich mit leidlich heilen Gliedern in die Gegenwart herübergerettet haben. Solche Burgen, in der Regel Trägerinnen geheimnisvoller Sage und reichbewegter Geschichte, ragen in unsere Zeit hinein wie lebendig gebliebene Recken der Vorzeit, zu denen jedermann mit Liebe und Verehrung aufblickt. Sie sind alljährlich das Wanderziel für Tausende, und jeder schätzt sich glücklich, der von ihren inneren Reizen etwas mehr kennenlernen durfte als die anderen. Die alten Burgen haben in unserer schnellebigen Zeit die besondere Aufgabe, die alten Erinnerungen der Landschaft, in der sie erwachsen sind, durch ihre bauliche Anlage, durch den Eindruck ihrer Innenräume und ihrer altväterischen Ausstattung viel lebendiger zu erhalten, als es einzelne etwa in einem Museum aufgestellte Gegenstände vermöchten. So sind die alten Burgen geeignet, ganze Geschlechter mit geschichtlichem Sinn zu erfüllen und ihnen die Vergangenheit näher zu rücken, ohne deren Kenntnis wir die Gegenwart nicht recht verstehen können. Deshalb entsteht auch für die Besitzer gut erhaltener Burgen beinahe eine sittliche Verpflichtung, wenigstens an gewissen Tagen Teile ihrer Burg unter gewissen Bedingungen den Besuchern zu öffnen. Und es ist erfreulich zu sehen, wie großzügig und selbstlos manche Burgherren die mit dem Einlaß Fremder unzweifelhaft verbundenen Unbequemlichkeiten um des Volksganzenwillen auf sich nehmen.
Ein weithin leuchtendes Beispiel dieser Gesinnung haben im letzten Sommer Herr und Frau von Arnim auf Kriebstein gegeben, indem sie ihre Burg, und zwar nicht nur den Burghof, sondern auch den größten Teil der Innenräume für ein Volksfest großen Stils herrichteten und einer nach vielen Hunderten zählenden Menge von Gästen öffneten. Sechs ländliche Hausfrauenvereine der Umgegend von Döbeln und Waldheim hatten sich zusammengeschlossen, um ihren Mitgliedern dieses außergewöhnliche Fest zu bieten und hatten bei der Schloßherrschaft feines Verständnis für den ganzen Plan und opferwilliges Entgegenkommen gefunden. Nach monatelangen Beratungen und wochenlangen Proben, bei denen das Mitglied des Leipziger Schauspielhauses Dr. Brauer und der in der dramatischen Kunst wohlerfahrene Student Görner als Regisseure dienten, kam endlich der große Tag, an dem alles von Stapel lief, Sonntag der 5. Juli. Am Morgen schien es, als ob Regen und Gewitter den Verlauf des Festes stören würden, aber als der Mittag nahte, stand die Sonne klar und golden am Firmament. Es war ein heißer Tag, aber trotzdem sah man auf allen Wegen festliche Scharen zum Kriebstein ziehen. Er hat schon an und für sich eine starke Anziehungskraft, denn er ist nach Lage und Bauweise die schönste Burg des Sachsenlandes, der kein Geringerer als der große Arnold von Westfalen den Stempel seines Geistes aufgedrückt hat. ( Abb. 1 ). Das Fest, das in diesem stimmungsvollen Gehäuse gefeiert werden sollte, erhöhte den Reiz. Schon um zwei Uhr war der ganze zwischen Palas und Wehrgang sich zum »Zwinger« [334] absenkende Burghof mit Gästen gefüllt. Da saßen auf Stühlen und Bänken, aber auch auf Brettern, die man auf stehende Fässer gelegt hatte, der adelige Rittergutsbesitzer neben dem bäuerlichen Knecht, die Fabrikarbeitersfrau neben dem Offizier der Reichswehr, der städtische Kaufmann neben dem Waldarbeiter als eng verbundene, durch gemeinsame Schicksale aufeinander angewiesene Glieder eines Volkes. Doch horch! – Trompetenton macht die laute Unterhaltung verstummen: die Harthauer Musikanten in Jägeruniform blasen den »Willekum« von den Türmen und Zinnen der Burg. Vier Pfarrer der Umgegend, als Mönche in braune Kutten gekleidet, singen vom Söller der Freitreppe ein feierliches Gloria in excelsis Deo . Dann [335] stürmt die Otzdorfer Jugend, braungebrannte Mädchen und Burschen, in phantastischer Kleidung, um den Zigeunerkarren geschart, mit Jauchzen und Tamburingeklapper durchs Tor und schwingt sich bei loderndem Feuer in wildem Tanze. Danach gebietet der Herold Ruhe und verkündet den Beginn des ritterlichen Spiels »Die treue Frau von Kriebenstein«, das den Mittelpunkt des Festes bilden soll. Eine alte Sage, die um den Burgfelsen webt, an die von den Weibern von Weinsberg erinnernd, war von Frau Valerie Friedrich-Thiergen, der begnadeten Dichterin des Jahresrings deutscher Festspiele »Von Bornkinnel über den Maienbaum zum Knecht Ruprecht« (Dresden 1925 Verlag des Heimatschutzes) für diesen Tag zum Volksstück umgedichtet worden und wurde von Verwandten und Bekannten der Burgherrschaft unter Mitwirkung der beiden obengenannten Herren mit den denkbar einfachsten Mitteln aufgeführt. In der von unten gesehenen rechten oberen Ecke des Hofes stand das Zelt, von dem aus Markgraf Friedrich der Streitbare die Belagerung des Kriebsteins leitete. ( Abb. 2 ). In dieser Burg hatte sich nämlich der Raubritter Staupitz festgesetzt und verübte von ihr aus schwere Ungebühr gegen die umwohnenden Bürger und Bauern. Der von ihm vertriebene rechtmäßige Burgherr, Dietrich von Beerwalde, hatte gegen ihn die Hilfe seines Lehnsherrn, des Markgrafen, angerufen. So deutete die echte alte Feldschlange vor dem Zelt das Heerlager an; die Krieger des Markgrafen aber traten, wie sie gebraucht wurden, aus dem Dunkel der Torhalle hervor, während Staupitz mit seinen Leuten etwas weiter abwärts in der Richtung, die die Feldschlange weist, im Wehrgange hausten. Außer dem Kriegsvolk ist im Lager des Markgrafen auch der Böhme Grabissa mit seinem Buben Wenzel. Grabissa hat vom Prager Hofe den geheimen Auftrag, dem Markgrafen seine Braut, die böhmische Prinzessin Anna, durch Verleumdungen zu verleiden ( Abb. 3 ), damit der Markgraf freiwillig die Verlobung löse und der Böhmenkönig nicht die zehntausend Groschen zu zahlen brauche, die als Reugeld für die Versagung der Braut ausgemacht waren. Unterdessen wird die belagerte Burg sturmreif.
Da erscheint Marie, Staupitzens Gattin, vor dem Markgrafen und bittet, obwohl auch sie vom rauhen Gatten hart behandelt wird, für ihn um Gnade. Aber des Ritters Schuld ist noch durch die Klage der Heymannschmiedin, deren Haus er verbrannt, deren Sohn er körperlich schwer geschädigt hat, verstärkt worden; so gibt es für ihn keine Gnade, nur seiner Gattin wird erlaubt, die Burg vor der Erstürmung mit all ihrem Schmuck zu verlassen. Die Schönheit und edle Weiblichkeit der Staupitzin hat auf den Fürsten tiefen Eindruck gemacht, und Grabissa redet ihm noch zu, sich der »Beute« zu bemächtigen. Aber der Markgraf weist die ihm angesonnene Niedrigkeit mannhaft zurück, und Marie trägt mit Hilfe einer Magd den Gatten als ihr höchstes Kleinod aus der Burg. Seinem Versprechen gemäß schenkt ihm der Fürst Leben und Freiheit, die ritterlichen Ehren erkennt er ihm ab. ( Abb. 4. ) Aber Staupitz will unter dieser Bedingung keine Gnade, er verlangt, daß seine Frau dem Markgrafen sein Wort zurückgebe und will den Tod. »In diesem Augenblick höchster Spannung entflieht Grabissa mit seinem Buben zu Roß als wortbrüchiger Verräter. Der Markgraf beschließt den Rachezug gegen Prag und eröffnet dem Staupitz die Aussicht, auf diesem Heereszug [336] seine Ritterehre wiederzugewinnen. Marie segnet den Ritter zum Beginn eines neuen Lebens, selbst die Heymannschmiedin, die Trägerin des Volksgewissens, ist bereit, dem Ritter seine Frevel christlich zu verzeihen, und der Fähnrich schließt das Stück mit dem Gelübde ( Abb. 5 ):
So hat die Dichterin den einfachen Stoff der Sage verfeinert und im rein Menschlichen vertieft: das Sehnen unserer Zeit nach Versöhnung der Gegensätze und nach [337] Freiheit wird ergreifend zum Ausdruck gebracht, deutsche Treue siegt über slawische Tücke.«
An das Festspiel schloß sich zunächst eine längere Pause, in der die Gäste sich über das Gesehene aussprechen und Hunger und Durst stillen konnten. In verschiedenen Räumen der Burg wurde duftender Kaffee und Kuchen verkauft, anderswo gab es ein Bier- und Würstchenzelt, außerdem wurden Süßigkeiten aller Art feilgeboten. Der Reinertrag davon wie von den Eintrittsgeldern floß in die Kassen der Hausfrauenvereine, die dadurch Mittel gewannen für Krankenpflege und nachbarliche Nothilfe. Im zweiten Teil des Festes zeigte sich der Meienberger [338] Jugendbund in einem prächtigen Bauerntanze, den eine altertümliche, aus Wien bezogene Musik begleitete, außerdem wurden Kinderreigen getanzt, eine Bettelmusikantenschar trat auf, und Student Görner sang Landsknechtslieder zur Laute. Aber das beweglichste Bild bot doch der allgemeine Tanz im Rittersaal. Da wogte Alt und Jung, Vornehm und Einfach in Drehern und Walzern, die nach den sonst üblichen »Schiebetänzen« Auge und Ohr wahrhaft entzückten. Und was nicht tanzte, das wallte die geheimnisreichen Treppen hinauf und hinab, die in die romantische Halle des Oberstockes führten, aus der man in die gotische Burgkapelle eintritt mit dem schönen Flügelaltar und der blau-goldenen Decke, dem gewachsenen Felsen, der hier in langer Klippe zutage tritt, und den alten Bildern. Ja sogar bis zum Boden hinauf flutete der Gästestrom, wo man unter uraltem Gebälk die geschnitzten Truhen und den großen Webstuhl der Hausfrau bewunderte. Noch heute steht mir diese Sommerabendstunde inmitten der festlich froh bewegten Menge, die dankbar das ihr hier geschenkte Vertrauen rechtfertigte, in lebhafter Erinnerung, und ich würde es tief beklagen, wenn dieses herrlich verlaufene Burgfest in Kriebstein das einzige seiner Art bleiben sollte. Zunächst ist wohl in Kriebstein selbst etwa im Sommer 1926, eine Wiederholung des für den Ort geschaffenen Festspieles, vielleicht sogar in derselben ausgezeichneten Besetzung der Rollen möglich; die Wiederholung dieses Burgfestes mit zwei- bis dreijährigen Pausen wird hoffentlich eine schöne Regel und feste Gewohnheit werden, auf deren Wiederkehr sich immer größere Kreise der halb bäuerlichen und halb industriellen Umgegend freuen. So wird ja auch in Rothenburg ob der Tauber fast alljährlich zu Pfingsten dasselbe der Geschichte des Orts entsprossene und der Stadt angepaßte Festspiel mit großem Erfolg aufgeführt. Aber es gibt auch andere Burgen in Sachsen mit volksfreundlichen Besitzern. Und fast um jede dieser Burgen schwebt ein dramatisch gestaltbares Stöfflein, das man nur einzufangen und durch den rechten dichterischen Genius behandeln zu lassen braucht, und der wichtigste Mittelpunkt eines wiederkehrenden Festspieltages ist geschaffen, eines Festspieltages, der alle Schichten der Bevölkerung vereint und den öden Parteihader im tiefsten Burgverließ begräbt. Wer seine Burg solchem edlen Spiel und so hoher, beglückender Freude öffnet oder zum Gelingen des Ganzen andere Opfer bringt oder auch selbst hilfreiche Hand anlegt, der wisse, daß er in rechter Weise mitbaut am neuen Vaterland und an der großen deutschen Volksgemeinschaft, die das wichtigste Ziel aller künftigen Entwicklung ist. Der Landesverein Sächsischer Heimatschutz wird gern ratend und helfend zur Seite stehen.
Von Landeskonservator Dr. Bachmann
Wer als Wanderer durch Sachsens Gaue zieht, den wird so manchesmal eine in Trümmern liegende alte Burg, eine malerische Ruine von den Höhen des Erzgebirges, im Elster- oder Muldental gegrüßt haben, ein stummer Zeuge sagenhaft gewordener Kämpfe, eine letzte Erinnerung an vergangene Geschlechter. Mancher [339] wird sich auch wohl fragen, ob nur Krieg und Kampfeswirren allein so starken Verfall bedingten, haben doch oft dicht benachbart solchen Ruinen stattliche Schlösser und Herrensitze ihren Platz gefunden. Und in der Tat entstanden gar viele dieser Burgenreste in Zeiten des Friedens, als die adligen Geschlechter höfisch wurden und Fürstendienste nahmen, als ruhige Zeiten es ihnen ermöglichten inmitten ihrer Felder und Kulturen selbst sich anzusiedeln. Dann verfielen schnell die alten Zufluchtsorte auf Bergeshöhen, die kunstvoll gegründeten Wasserburgen im Sumpfgelände. Das wertvolle Bauholz, Dachziegel und alles sonst verwendbare wanderte zum Neubau hinüber und der Rest blieb den Stürmen, den Eulen und Dohlen überlassen. Die romantische Ruine war fertig, und die Volksphantasie eifrig geschäftig, sie mit verborgenen Schätzen, mit weißen Frauen und spukenden Rittern zu beleben.
Heute, so sollte man meinen, entstehen keine Ruinen mehr. Die nachfolgenden Zeilen mögen das Gegenteil beweisen.
Noch vor rund vierzig Jahren stand dicht neben dem stattlichen Rittergut Geilsdorf i. V. eine reizvolle, alte Wasserburg, aufrecht und wohlerhalten, von der Professor Steche, Sachsens erster Denkmalspfleger um 1888 im staatlichen Inventar folgende Schilderung gab. »Die von drei Seiten jetzt noch von Wasser umgebene, rechtwinklige Anlage mit vier vortretenden achtseitigen Ecktürmen, deren gewellte Hauben Feueressen krönen, wurde nach dem Jahre 1667 und wohl mit Benutzung der ursprünglichen Unterbauten durch die Grafen von Tattenbach, deren einer, Johann Ernst, Kammerherr des Kurfürsten Friedrich August I. war, erneuert und reich im Stile der Zeit ausgestattet. Das Schloß enthält eine vornehme Treppenanlage und stattliche Wohnräume nebst Saal, treffliche Gewölbe wie Figurennischen und erinnert in seinem gesamten inneren Wesen lebhaft an das Palais im Großen Garten zu Dresden, ist aber in rettungslosem Verfall und seiner Ausstattung bis auf geringe Reste entkleidet. Eine Restaurierung erfolgte laut Inschrift 1719.« Bedauerlich bleibt, daß sich damals niemand fand, der uns genaue Pläne und Abbildungen der wertvollen Anlage überlieferte. Schon in jenen Tagen war das Schloß unbewohnt, und der Schwamm, eine notwendige Folge der umgebenden, stagnierenden Wassergräben hatte Pfahlrostgründungen, Balken- und Mauerwerk durchwuchert. Stück für Stück sank das Gebäude in sich zusammen und heute kündet nur noch ein einziger Eckturm von vergangener Herrlichkeit, in wenig Monaten wird auch dieser letzte Rest des Wasserschlosses Geilsdorf verschwunden sein. Zum Gedenken möge hier den Heimatfreunden ein Bild gegeben sein, daß das Gebäude noch unversehrt zeigt. ( Abb. 1 ).
Auch die sächsische Lausitz kann ein altes Schloß aufweisen, das schwer bedroht in seinem Bestand erscheint. Wer von Herrnhut kommend, die große Staatsstraße nach Zittau zu entlang wandert, dem wird ein Stündchen hinter Herrnhut eine reizvolle Baumallee auffallen, die zur Linken hinüber zum Dorfe Großhennersdorf führt. Verlockt ihn der dunkle Laubengang der seltsam verschlungenen Bäume ( Abb. 2 ) zum Abschweifen vom Wege, so kommt er bald beim alten, stattlichen Kretscham des Dorfes an, wird aber zunächst vergeblich um sich schauen, was eigentlich das Hauptziel der stolzen Baumpromenade gewesen sein mag. Schließlich wird er, nach einigem hin und her, auf ein altes Wasserschloß stoßen, daß unter [341] Bäumen versteckt, umgeben von ausgetrockneten Wassergräben, umzogen von einer verfallenen Brüstungsmauer stumm und verlassen dahinträumt. Der Stumpf eines verwitterten Turmes, dessen dereinstige, lustige Barockkugelhaube den Stürmen seit langem zum Opfer fiel, bewacht den einzigen Zugang, den wir über eine alte Steinbrücke hinweg erreichen ( Abb. 3 ).
[342]
[343]
Hier öffnet sich sofort ein reizvoll malerischer Durchblick in den rechteckig umgrenzten kleinen Schloßhof, den an zwei Seiten Rundbogenhallen umrahmen und den einige sonnendurchleuchtete, herbstlich bunte Bäume beschatten ( Abb. 4 ). Das Gesamtbild wird ursprünglich viel bewegter gewesen sein, als noch die oberen Galerien in Fachwerkbögen sich ebenfalls nach dem Hofe zu öffneten und Einblick in die Verbindungskorridore gestatteten, von denen aus auch die Festsäle des Obergeschosses zugänglich waren. Es sind deren zwei, die nebeneinander liegen und durch zwei Geschosse hindurchreichen. Heute sind sie ihrer Decken beraubt und anstatt auf barocke Deckengemälde in verschnörkelter Stuckfassung blickt das Auge in das offen [345] zutage liegende Gerippe des mächtigen Dachstuhles. Der sechsfenstrige Ecksaal mit seinen beiden Erkerausbauten bietet noch immer wunderschöne Fernblicke auf das Lausitzer Land, und wir hören gerne, wie der alte Führer berichtet, daß der junge Graf von Zinzendorf hier als Kind gespielt habe, betreut von der Frau Großmutter, der alten Exzellenz von Gersdorf. Hier hat er auch mit seiner jungen Gattin im Jahre 1722 geweilt, als er die ersten böhmischen Ansiedler auf seinem Grund und Boden am Hutberge, dem späteren Herrnhut besuchte. Hier haben auch vom 29. Juli bis 10. August 1748 die Sitzungen der vom Landesherren ernannten Kommission stattgefunden, die zu prüfen hatte, »ob die Lehre der Evangelischen Brüdergemeinden für übereinstimmend mit der Augsburger Konfession zu halten sei.«
Rund um den kleinen Hof ziehen sich die gewölbten Wirtschaftsräume, die alten Ställe und Keller im Erdgeschoß, die großen und kleinen Kammern der Obergeschosse, nicht alle zu gleicher Zeit, sondern nach Bedürfnis nach und nach im sechzehnten bis achtzehnten Jahrhundert entstanden. Barock umrahmte, einfache Stuckdecken und Stuckkamine, Reste gemalter Tapeten sind alles, was von der Innenausstattung erhalten ist. Noch besteht eine reizvolle alte Wendeltreppe in einer Hofecke, noch ist die breitere Haupttreppe von der Eingangshalle beim Turme her begehbar ( Abb. 5 Grundriß des Obergeschosses), aber nur wenige von den Räumen sind noch in wohnlichem Zustand und ein Zug des Verfalls geht durch das ganze Schloß.
Eine Tuschzeichnung vom Jahre 1755 ( Abb. 6 ) läßt uns erkennen, wie das alte Schloß in seinen besten Tagen ausgesehen hat. Wir finden da im Mittelpunkte [346] des Bildes auch noch die graziöse, barocke Gartenanlage mit Orangeriegebäude, wie solche damals zu jedem besseren Schloßanwesen gehörte. Nur die völlig verbaute Orangerie und ein Rest des Gartentores, nebst einem Gartenhäuschen sind davon bis heute erhalten geblieben. Auch der große, im Bilde vorn links sichtbare Gebäudekomplex des alten Katharinenhofes hat längst schon einem Neubau weichen müssen.
Soll das auch das Schicksal des alten Wasserschlosses sein? Die Brüdergemeinde in Herrnhut, die Besitzerin des Anwesens, hat in der jetzigen schweren Zeit nicht die Mittel übrig, den großen Gebäudekomplex zu unterhalten. Die Belegung mit Kriegsgefangenen in den Kriegsjahren hat ein weiteres getan, den Bestand zu gefährden. Sollte es aber nicht trotzdem möglich sein, dem alten Schlosse, das ja in einem der schönsten Teile unseres Sachsenlandes gelegen ist, neues Leben zu geben?! Sind nicht im Lande Sport- und Wandervereine genug vorhanden, denen hier ein schönes Heim geschaffen werden könnte?!
Ganz gewiß sind zunächst Mittel vonnöten, den verbrauchten Bau zu sichern und ihn wieder wohnlich zu gestalten, doch wird es ohne weiteres möglich sein, dies schrittweise, von Jahr zu Jahr fortschreitend zu bewerkstelligen. Sicher ist aber, daß hier in herrlichster Lage damit ein Asyl geschaffen werden könnte, wie es sich unsere deutsche Jugend nicht besser wünschen und erträumen könnte.
Von Rud. Zimmermann , Dresden
Mit Abbildungen nach Naturaufnahmen des Verfassers
Von den einunddreißig für Deutschland nachgewiesenen Kriechtier- und Lurcharten gehören dreiundzwanzig, also über zwei Drittel, auch der sächsischen Tierwelt an. Es sind dies von den Kriechtieren die Zaun- und die Berg-(oder Wald-)eidechse, die Blindschleiche, die Ringel- und die Glatte (oder Hasel-)Natter sowie die giftige Kreuzotter als in Sachsen ziemlich weitverbreitete Arten. Ihnen reihen sich noch die Würfelnatter als eine dem Süden angehörende, in Sachsen bei Meißen nachgewiesene, entweder verschleppte oder längs der Elbe aus Böhmen eingewanderte Art und die verschiedentlich (so in der Leipziger Gegend, bei Rochlitz und an der Elbe) gefundene Sumpfschildkröte an. Das Vorkommen der letzteren ist noch recht umstritten; die Mehrzahl der Tierkundigen führt es auf Aussetzungen zurück und vertritt damit eine Anschauung, die ich persönlich jedoch nicht für alle gemeldeten Funde teilen kann und worüber ich mich ausführlicher bereits an anderer Stelle ausgelassen habe [2] . Die Lurche sind in Sachsen durch den Wasser- und den größeren Seefrosch, den man früher nur als eine Varietät des ersteren ansah, heute aber wohl allgemein [347] als eine eigene Art anerkennt, den Gras- und den Moorfrosch, die Erd-, die Grüne (oder Wechsel-) und die Kreuzkröte, den Laubfrosch, die Rotbauch- und die seltene, nur lokal vorkommende Gelbbauchunke (ein Nachprüfen des Vorkommens ist dringend erwünscht!), die Knoblauchskröte, den Feuersalamander, den Kamm-, den Berg- und den Teichmolch vertreten. Von den übrigen deutschen Arten fehlen unserem Sachsenlande die in Süd- und Westdeutschland vorkommende und wohl aus dem Süden eingewanderte Mauereidechse, die ebenfalls dem Süden entstammende, an einigen wenigen Orten nur beobachtete Smaragdeidechse, die bei Schlangenbad im Taunus und bei Schlitz in Oberhessen sowie noch an einigen anderen Orten sich findende Äskulapnatter, die wiederum ein Tier des Südens und als solches entweder bei uns eingewandert oder nach einer anderen Lesart durch die Römer eingebürgert worden ist, sowie die der Kreuzotter ähnliche, ebenfalls giftige Aspisviper, die bei Passau und an einigen Stellen im oberen Teile Badens nachgewiesen worden ist; der lokal in Süddeutschland beobachtete Springfrosch, die interessante Geburtshelferkröte, der auf die bayerischen Alpen beschränkte und an einigen anderen Orten Süddeutschlands vorkommende Alpensalamander, der vor einer Reihe von Jahren von einem sächsischen Lurchpfleger bei Dresden ausgesetzt worden ist, über dessen Vorkommen aus jüngerer Zeit aber keine Nachrichten mehr vorliegen, sowie der Leistenmolch.
Über die Verbreitung einer Anzahl der vorgenannten Arten innerhalb der weißgrünen Grenzpfähle sind wir bei weitem noch nicht in der wünschenswerten Klarheit unterrichtet; an der sicheren Festlegung ihrer Vorkommen kann sich jeder [348] ernste, sich für unsere Tierwelt interessierende Naturfreund beteiligen und dabei durch ihm vielleicht unbedeutend scheinende Beobachtungen, der Wissenschaft doch recht nützliche Dienste leisten.
Der Moorfrosch z. B., der im nordsächsischen Flachlande weit verbreitet und besonders dessen ausgedehnten Teichgebieten eigen ist, steigt von hier aus auch in das Hügelland und unsere Mittelgebirge empor – das von mir festgestellte Vorkommen von Limbach gehört hierher –, und wird schließlich, obwohl er eigentlich ein Tieflandbewohner ist, an geeigneten Stellen selbst in höheren Lagen noch angetroffen, wie die von mir gemachten Funde des Tieres an den Großhartmannsdorfer Teichen, südlich Freiberg, beweisen. Die genaue Festlegung seiner südlichsten Verbreitungsgrenze, die zu ziehen uns heute in Ermangelung der notwendigen Unterlagen noch nicht möglich ist, wäre tiergeographisch aber von großem Werte. – Die Unterscheidung von unserem Grasfrosche, dem er äußerlich so auffallend ähnelt, daß er als eigene Art erst in verhältnismäßig später Zeit erkannt worden ist, und dann auch lange noch ein Streitobjekt gebildet hat, wird den Anfänger allerdings noch einige Schwierigkeiten bereiten, ihm mit Sicherheit aber möglich sein, sobald er beide Arten einmal gleichzeitig nebeneinander gehabt hat und miteinander hat vergleichen können. Der Moorfrosch unterscheidet sich vom Grasfrosch durch die etwas schmalere Stirn und die spitzer auslaufende Schnauze, durch den stets ungefleckten Bauch (beim Grasfrosch ist er fast immer dunkel gefleckt) und untrüglich durch den sogenannten Fersenhöcker, eine längliche, schwielenartige Erhebung an der Wurzel der inneren Zehe der Hinterfüße, der allen Fröschen eigen ist und ein sicheres Artmerkmal [349] bildet. Beim Moorfrosch ist er stark und hart, schaufelartig seitlich zusammengedrückt und immer länger als die halbe Innenzehe, beim Grasfrosch dagegen ist er schwach und weich und bildet einen länglich-stumpfen Wulst von jederzeit geringerer Länge als die Hälfte der Innenzehe.
Ähnlich wie beim Moorfrosch ist die genaue Festlegung der Südgrenze des Vorkommens auch von der Grünen und der Kreuzkröte vonnöten. Die Grüne Kröte ist eine häufige Erscheinung in der gesamten Leipziger Tieflandsbucht, aus der sie zum mindesten auch bis ins sächsische Mittelgebirge aufsteigt; ich konnte sie bei Göppersdorf bei Burgstädt als an den bisher bekannten südlichsten Fundort nachweisen. Dann tritt sie wieder zahlreich im Flußgebiet der Elbe auf, in dem sie in der ganzen weiten Umgebung Dresdens vorkommt und stromaufwärts bis über Pirna hinauf ihr Vorkommen ausdehnt. Aus dem Osten unseres Landes waren Vorkommen unserer Art im Schrifttum bisher zwar noch nicht festgelegt, doch fehlt sie ihm keineswegs, sondern verbreitet sich von der Elbe aus in östlicher Richtung, zum mindesten über das gesamte Oberlausitzer Teichgebiet, in dem ich sie in den letzten Jahren wiederholt als durchaus nicht selten feststellen konnte. Aus dem [350] Gebiete zwischen Mulde und Elbe ist sie bisher noch nicht nachgewiesen worden, wahrscheinlich, weil dieses bisher so herzlich wenig ihre Beobachtungen auch bekannt gebende Naturbeobachter aufzuweisen gehabt hat. Die Kreuzkröte kommt zunächst in der unmittelbarsten Umgebung Leipzigs vor, scheint sich aber von hier aus nicht wie die Grüne Kröte weiter südwärts zu verbreiten – mir wenigstens glückte bisher trotz jahrelanger Nachforschungen der Nachweis ihres Vorkommens hier noch nicht –, wird aber dann wieder, durch ein räumlich recht großes Gebiet vom Leipziger Vorkommen getrennt, von Chemnitz erwähnt und konnte von mir im Sommer 1919 in großer Zahl auch bei Limbach festgestellt werden. Das Chemnitz-Limbacher Vorkommen scheint ein völlig in sich Geschlossenes, inselartiges zu bilden. Dann ist sie auch, wiederum durch das Gebiet zwischen Mulde und Elbe von den westsächsischen Vorkommen getrennt, in der Umgebung Dresdens nachgewiesen. Aus der Lausitz war sie bisher nicht bekannt, dürfte aber wohl auch hier noch an manchem Ort nachzuweisen sein, nachdem ich sie im Sommer 1924 bei Königswartha aufgefunden habe.
Die drei Kröten sind äußerlich recht gut voneinander unterschieden und ihre sichere Bestimmung dürfte selbst dem Ungeübten keine großen Schwierigkeiten bereiten. Die Erdkröte, die verbreitetste und wohl überall gleich häufige der Sippe, ist von graubrauner, bald ins asch- und schwärzlichgraue, bald wieder ins gelblich- und oliven-graue und -bräunliche übergehender Farbe, die sich allmählich in den helleren Ton der Unterseite auflöst; die Grüne Kröte ist auf hellerem ledergelben bis gelbgrauen Grunde ziemlich dicht mit satten samt- bis grasgrünen Flecken [351] gezeichnet, von denen sich besonders an den Seiten und am Halse zahlreiche rote Wärzchen abheben, während die unterseits ebenfalls wieder in hellere Töne übergehende Farbe der Kreuzkröte ein bald mehr ins gelbliche oder graue, bald wieder ins braune übergehendes Oliv ist, durch das längs der Rückenmitte ein etwas vertiefter, schwefelgelber Streifen verläuft.
Eine ähnliche Verbreitung wie der Moorfrosch und die Grüne Kröte besitzt in Sachsen auch die froschähnliche (und der Familie der Froschkröten angehörende) [355] Knoblauchskröte, die erheblich kleiner als die eben betrachteten Vertreter der echten Kröten ist, und der auch die für diese so bezeichnende warzige Hautoberfläche abgeht. Ihre Farbe ist ein helleres oder dunkleres Grau oder Braun, das mit kastanienbraunen bis schwärzlichen Flecken und allerlei roten Punkten und Tüpfelchen gezeichnet ist. Als ein Tier des Tieflandes verbreitet sie sich zunächst wiederum über die gesamte Leipziger Tieflandsbucht und steigt aus dieser dann auch ins Hügelland und ins Mittelgebirge empor, wo sie bei Lunzenau nachgewiesen werden konnte. Dann kommt sie gleichfalls wieder im Flußgebiet der Elbe vor und scheint sich hier stromaufwärts ähnlich wie die Grüne Kröte bis Pirna hinauf, und in östlicher Richtung über das Oberlausitzer Tieflandsgebiet zu verbreiten. – Nicht so weit [356] südwärts wie die eben genannten Arten scheint sich dagegen die Rotbauchunke zu verbreiten, die auch innerhalb ihres durch das nordsächsische Tiefland gekennzeichneten Vorkommens sehr lückenhaft verbreitet zu sein scheint.
Waren die bisher betrachteten Arten Tieflandsbewohner, deren genaue Verbreitungsgrenze vor allem gebirgswärts noch festzulegen ist, so besitzen wir im Feuersalamander und im Bergmolch zwei Lurche, die Bewohner des Berg- und Hügellandes sind und von denen neben ihrer genauen Verbreitung innerhalb desselben vor allem noch die unteren Verbreitungsgrenzen festzulegen sind. Der Feuersalamander erreicht in Westsachsen auf dem Rochlitzer Berge die Nordgrenze seiner Verbreitung und dehnt von hier aus sein Vorkommen nur im Muldentale noch bis [357] in die Colditzer und Grimmaer Gegend aus, während ich ihn im Zschopautale am weitesten nördlich bei Waldheim gefunden habe. Die Grenzen des Vorkommens des Bergmolches dagegen liegen noch nördlicher, ich begegnete ihm noch bei Geithain und im Muldental ebenfalls bis in die Gegend von Grimma, von wo aus er sich dann noch bis in die Pflege von Beucha-Brandis verbreitet. Im Gebiete der Elbe scheint das Vorkommen des Feuersalamanders kurz vor Meißen auszuklingen, der Bergmolch aber auch hier noch weiter ins Tiefland vorzudringen. –
Von den vier Schlangen Sachsens ist die Ringelnatter die häufigste und eine über das ganze Land verbreitete Art; es dürfte bei uns kaum ein größeres Gebiet geben, dem sie fehlt. Ihre größte Häufigkeit erreicht sie in den teich- und wasserreichen Landschaften des Flachlandes, wo sie, wie z. B. an vielen Teichen der Oberlausitzer Niederung in manches Mal fast unglaublichen Mengen sich findet. – Groß (und jedenfalls bei weitem größer, als so mancher meint) ist auch das Verbreitungsgebiet der Kreuzotter, die aus den gebirgigen Teilen des Landes – Vogtland und Erzgebirge beherbergen sie in besonders großer Zahl – bis weit ins nordsächsische Flachland hinein und darüber hinaus vordringt. Als kreuzotterfrei gilt nur der äußerste von der Elsteraue eingenommene Nordwesten des Landes sowie ein Gebiet, das rechts der Vereinigten Mulde beginnt, im Süden auf die Freiberger Mulde trifft und sich bis nördlich Freiberg ausbuchtet, dann südlich Meißen die Elbe kreuzt und östlich Großenhain im Norden auf die Landesgrenze stößt. Gebildet wird es von Teilen der Amtshauptmannschaften Oschatz, Döbeln, Meißen und Großenhain. Kreuzotterfrei scheint endlich noch der äußerste Osten der Lausitz, etwa aus der Gegend von Bautzen an bis zu den Vorbergen des Zittauer Gebirges zu sein, während die nördlichen Teichgebiete – ich konnte erst im vergangenen Frühjahr wieder eine Anzahl diesbezüglicher Feststellungen machen – die Schlange überall noch beherbergen und durchaus nicht als »Storch«gebiete kreuzotterfrei sind.
In vielem mangelhaft dagegen sind wir noch über die Verbreitung der Glatten Natter in Sachsen unterrichtet. Sie ist ebenfalls nicht selten, scheint aber ein kleineres Verbreitungsgebiet als ihre Verwandten zu besitzen. Sie steigt bei uns aus dem Flachland in das Hügelland, in dem sie in Sachsen auch ihre größte Häufigkeit zu erreichen scheint, und in die niederen und wärmeren Lagen der Gebirge empor; sie ist ungleich wärmebedürftiger als die Kreuzotter und scheint dazu allen höheren und rauheren Teilen völlig zu fehlen.
Bei diesen wenigen Hinweisen auf noch offene Fragen der Kriechtier- und Lurchverbreitung in Sachsen soll es jedoch für heute bleiben, obwohl ich sie leicht noch weiter ausdehnen könnte. Ihr Anschneiden an dieser Stelle soll lediglich eine Anregung für die Leser der »Mitteilungen« sein, nach Kräften an ihrer Lösung mitzuarbeiten. Mitteilungen nimmt der Verfasser (Dresden, Marienstr. 32) jederzeit mit Dank entgegen; sie werden Verwendung finden in der in Arbeit befindlichen »Sächsischen Wirbeltierfauna«, die ich zusammen mit R. Heyder und R. Zaunick bearbeite.
Fußnoten:
[1] Siehe auch: Zimmermann, Rud., Ein Beitrag zur Lurch- und Kriechtierfauna des ehemaligen Königreichs Sachsen. Archiv für Naturgeschichte 88, 1922 A , 8. Heft, 245–267.
[2] Zimmermann, Rud., Das Vorkommen der Sumpfschildkröte im Gebiet des ehemaligen Königreichs Sachsen. Fischerei-Zeitung 24, Neudamm 1921, 250–253.
[358]
Von Edgar Hahnewald
Der Heller flimmert in brandigem Dunst. Die Sandflächen breiten ein fahles Gelbgrau über den Vordergrund, von dem sich einige schmale Heidekrautinseln in trockenem Braunviolett mit vereinzelten grünen Flecken darin abheben. Weiter hinten streckt sich eine Windgrassteppe, weich wie Haar und kupfern in der Farbe, vor einem Waldstreifen, dessen Kiefernwipfel einer schweren Wolke gleich tief auf der Fläche zu liegen scheinen und nur am Rande, wo der Wald sich lockert, von einzelnen Stämmen wie von Stützen über der Erde gehalten werden. Über dem Walde steht hoch, prachtvoll, in einem stumpfen, dunklen Stahlblau eine Gewitterwolke wie ein riesenhaftes Haupt ohne Antlitz, von einer Aureole hervorbrechender Lichter umstrahlt. Sie steht regungslos, als warte sie noch, ehe sie mit rollender Donnerstimme in die Landschaft spricht. Unter diesem Wolkenhaupt drängt sich das bißchen Landschaft noch enger an die bleiche Erde. Nur eine Birke steht ganz allein mitten in der Sandfläche auf einem kleinen zerrissenen Teppich von Heidekraut. Ihr von vielen Stürmen verbogener Stamm, vor dem Stahlblau unwahrscheinlich weiß, überschneidet den fernen Waldstreifen und hält einen Laubbüschel wie eine zerfetzte Fahne hoch vor die drohende Wand.
Und noch jemand steht in der spärlichen Fläche. Ein Maler vor seiner Staffelei. Die Krempe eines in vielen Wettern verblichenen Hutes beschattet seine Augen. Er trägt eine alte, mit allen Farben seiner Palette beklexte Jacke und blank getretene Holzpantoffeln, die ihm das stundenlange Stehen erleichtern. Er sieht in dieser Kleidung einem Handwerker ähnlicher als einem Künstler. Ein Blick auf seine Leinwand auf der Staffelei zeigt, daß er ein Künstler ist. Im kleineren Abbild ist dort die Landschaft noch einmal, der Sand, das Heidekraut, das Windgras, der Wald, die Birke, die Gewitterwand. Das Bild läßt erkennen, was in dieser scheinbar kargen eintönigen Sandebene den Maler reizte: das einsame Aufstehen der Birke über dem ganz tiefgenommenen Horizont, ihr Hinaufweisen in die hohe drohende Wolke, die vier Fünftel des Bildraumes beherrscht. Aber nicht allein das, nicht nur die beinahe trotzige, beinahe tragische Einsamkeit der Birke mit der zerschlissenen Laubfahne in der kargen Landschaft macht diesen künstlerisch gesehenen Ausschnitt zum Bilde. Das rein malerische des Motivs zog den Künstler an. Die flimmernde, von sommerlichen Dünsten geschwängerte Atmosphäre, das irrende Spiel fliehender Lichter am Himmel und über den Farben des Sandes und der Heide, das beinahe Geängstete, Erschreckte dieser Landschaft unter dem schweren Dunkel der riesenhaften Wolke. Der eigenartige Gegensatz zwischen dieser drohenden Erscheinung, die in ihrer stahlblauen Ruhe und Ballung wie ein Dämon wirkt und doch schwere, sommerliche Sättigung verheißt – der Gegensatz zwischen ihr und der flimmernden Unrast, der Erregung in der kleinen Landschaft, die bleich in zitternder Luft sich hinschmiegt, den ersten Donnerschlag fürchtend und doch die Sättigung mit aller Glut des trockenen Sandes erwartend – das ist in freilich literarischer Übertragung der malerische Reiz dieser Landschaft, an der [359] nach der Meinung des Laien »aber auch gar nichts« ist. Einfach: Anreiz für den Maler ist der unendliche Zauber des Lichts, und das landschaftliche Motiv ist nur der Träger, an dem dieser Zauber sichtbar wird.
Der Maler ist stumm an sein Werk hingegeben. Aus dem Hutschatten hervor prüfen die zusammengekniffenen Augen immer wieder bald die Landschaft, bald das Bild. Unter der großen Palette hervor sprießen bereit gehaltene Pinsel wie ein starrer Strauß. Der Maler arbeitet mit dem Spachtel, diesem kleinen Werkzeug aus federndem Stahl, an das hölzerne Heft angebogen wie eine Kelle und schmal wie ein Brieföffner. Auf der Palette mischt der Spachtel leise klingend die gebrauchte Farbe und mit einem Spachteldruck verwandelt sich das Klexchen Farbenpaste auf der Leinwand in einen Büschel violetter Heide, der wie eine lebendige Flamme im bleichen Sande lodert.
Über den Heller kommen zwei Frauen mit Heidelbeerkrügen. Das drohende Gewitter hat sie aus dem Walde vertrieben. Beim Maler bleiben sie stehen. In seiner beklexten Jacke, in seinen Holzpantoffeln halten sie ihn für ihresgleichen, für einen erwerbslosen Malergesellen vielleicht, der auf diese Weise sich ein paar Mark zu verdienen sucht. Sie halten darum mit ihrer Kritik auch nicht hinterm Berge. Sie meinen, es gibt schönere Sachen, die man malen könnte als da den Sand und die dumme Birke. Aber die Wolke mit dem dahinter hervorbrechenden Licht findet ihre Anerkennung. Und wie lange er an einem solchen Bilde male? [360] So – im Varieté hat die eine Frau einmal einen Schnellmaler gesehen, der malte in fünf Minuten ein Bild, größer als das hier, mit einem Fluß und Bergen, Schiffen und einer Windmühle. Und gleich so mit dem Pinsel los. Der konnte was!
Der Maler antwortet auf die naiven Fragen der Frauen, ohne sich lustig zu machen. Er ist innerlich dem einfachen Volke nahegeblieben, aus dem er stammt. Ihm ist diese einfache Gedankenwelt vertraut. Und es gab eine Zeit, wo er als arbeitsloser Malergeselle in Bukarest Hintergründe für ein Panoptikum malte. Damals malte er an eine Kerkerwand, vor der Maria Stuart in Wachs sitzen sollte, einen Schwerverbrecher in stahlblauen Fesseln.
Die eine der Frauen sieht den Spachtel, mit dem der Maler arbeitet. Vielleicht meint sie, der arme Teufel wolle die teuren Pinsel schonen. Aber ein bißchen muß sie doch lächeln darüber, daß der Maler mit diesem blechernen Ding »malt«. Dann fragt sie, wie viel er denn für so ein Bild bekomme. Der Maler nennt mit einem leisen diabolischen Vergnügen den ungefähren Preis. Das Gelächter der Frauen schallt über den Sand. »Und das bringen sie Ihnen auch noch ins Haus, was!« Die eine lacht über den vermeintlichen Witz, die andere aber lacht mit einem Streifblick auf die Holzpantoffeln und mit einer Miene, die deutlich sagt: Es kann diesen Malern noch so schlecht gehen – große Aufschneider bleiben sie doch!
[361]
Das hohe Wolkenhaupt spricht einen ersten verhaltenen Donner in den von Spannung erfüllten Raum. Ein Schauer fährt in die Birke. Am Rande des Hellers erhebt sich eine graue hinwirbelnde Sandsäule.
Die Frauen verabschieden sich eilig und gehen.
Der Maler zeichnet mit dem Pinselstiel seinen Namen in die frische Farbe des Bildes: Otto Altenkirch. Dann packt er sein Malgerät zusammen. Während er die Mischfarben von der Palette wischt, sieht er den Frauen nach, die schon weit fort als zwei dunkle Körperchen über den bleichen Sand eilen. Er lacht leise, freundschaftlich, so wie jemand, der in andere Lebenskreise hineingewachsen ist, einmal über eine naive Äußerung seiner alten Mutter lacht, voller Liebe und voller Achtung vor der einfachen Tüchtigkeit, der er selber alles zu danken hat.
Mit erhobener Stimme donnert die Wolke. Sie reckt sich riesenhaft über den Himmel. Und während der Maler seinem Arbeitsquartier in der alten Hellerkaserne hinter den hohen Bäumen zuschreitet, schlagen die ersten groschengroßen Tropfen in den durstig zerfallenden Sand.
Am 2. Januar 1925 feiert Professor Otto Altenkirch seinen fünfzigsten Geburtstag. Er wird ihn im Kreise seiner Freunde feiern, lächelnd und wortkarg, wie es sein Wesen ist. In jener Gelassenheit, die es fertig bringt, mit einer Antwort, einem [362] Einwand auf eine Frage zurückzugreifen, die acht Tage zuvor in der Runde besprochen wurde, und es so zu tun, als sei eben in diesem Augenblick die kleine Pause im Gespräch eingetreten, in der er nun sprechen kann. Es ist jene Gelassenheit des märkischen Blutes, neben der wir Sachsen, denen doch nicht gerade das Temperament aus den Poren spritzt, wie nervöse Wiesel wirken. Sie ist ohne Schwere, sie ist nur Ruhe.
Die Mark ist Otto Altenkirchs Heimat. In Ziesar, einem kleinen ereignislosen Städtchen bei Magdeburg, stand seine Wiege in der Behausung eines kleinen Sattlermeisters. Altenkirch ist später mit Malkasten und Staffelei auch in seine Heimat gegangen, und rund um das Ackerbürgerstädtchen entdeckte er die heimatliche Landschaft gewissermaßen noch einmal: flach hingebreitetes Land, verlorene Gehöfte unter aufragenden Bäumen, blinkende Wasser, in denen sich die Wolken spiegeln. Es stellte sich heraus, daß durch alle seine Bilder, so verschieden sie nach Motiv und Stimmung sein mögen, immer wieder die Heimat durchschimmerte. Wo deutsche und vornehmlich sächsische Landschaft die stillere und verhaltenere Sprache seiner Heimat redete, dort hat er sie aufgesucht, geliebt und gemalt. Und die nährenden [363] Wurzeln seines künstlerischen Tuns führen in ihren letzten zarten Verästelungen in den Boden der märkischen Heimat.
In Ziesar trabt Altenkirch acht Jahre lang mit den Kindern der Kleinbürger und Bauern in die Volksschule damaliger Primitivität. Immerhin gibt es in dieser Schule schon einen Zeichenlehrer und Altenkirch macht die Entdeckung, daß man die Welt zeichnend und malend darstellen kann. Irgendwelche schlechte Öldrucke, vor denen er bewundernd steht, bekräftigen das und begeistern ihn. Und nun macht er vor den alten Gemäuern Ziesars die ersten Zeichenversuche, die seinen Lehrer so stark von einem vorhandenen Talent überzeugen, daß er Altenkirchs Vater rät, den Jungen Maler lernen zu lassen. Der Sattlermeister befolgt den Rat auch. – Altenkirch kommt nach Beendigung seiner Schulzeit in die Lehre zu einem Berliner Dekorationsmaler, dessen Stolz es ist, daß seine Werkstatt im Rufe steht, tadellose Fußbodenanstriche zu liefern. Die Lehrjahre verstreichen – Altenkirch »verstreicht« sie mit Ringpinsel und Bernsteinlack. Er arbeitet elf, zwölf, ja vierzehn Stunden täglich und schiebt den Malerkarren durch die Straßen Berlins in jener guten alten Zeit, als noch niemand sich um das Schicksal der Lehrlinge kümmerte. In heimlichen Stunden erwachen immer wieder noch ganz gestaltenlose Träume. Wer sieht einem armen geschundenen Lehrling an, daß der Kuß der Muse auf seiner Stirne [364] glüht? Die tausendmal geschriebene Geschichte vom häßlichen Entlein schreibt das Leben immer wieder von neuem. Altenkirch bittet seinen Lehrmeister um die Erlaubnis, in die Zeichenstunde der Berliner Fortbildungsschule gehen zu dürfen. Es wird ihm erlaubt. Altenkirch ist glücklich. Er lernt, er zeichnet und malt nachts, Sonntags, in allen Freistunden. Seine Mitschüler machen ihm klar, daß er gar nicht so schuften brauche, das werde gar nicht verlangt. Für sie ist die Sonntagsschule nur eine begreiflicherweise begrüßte Gelegenheit, der Sonntagsarbeit in der Werkstatt des Meisters zu entgehen. Der Lehrer aber wird auf Altenkirch aufmerksam. Er hatte die Gepflogenheit, die talentierten seiner Schüler in die vorderen zwei Reihen zu setzen und sich nur um diese zu kümmern. Die übrigen, von denen er wußte, daß bei ihnen eine noch so eifrige Bemühung des Lehrers nicht vorhandene Talente nicht wecken könnte, vertaten im Hintergrunde ihre Zeit. Wie in einer Lesebuchgeschichte taucht dieser Lehrer über ein Menschenalter später, kurz vor Altenkirchs fünfzigstem Geburtstag noch einmal auf: als Besuch in Altenkirchs Atelier, in dem er vor den Gemälden seines ehemaligen Sonntagsschülers steht und fragt und Notizen [365] macht für den Unterricht an der Kunstschule, zu deren Lehrer er selber sich heraufgearbeitet hat. Beide, der Lehrer und der Schüler von damals sind nun Professoren, und die mitgekommene Gattin des Lehrers formuliert die Pointe dieser Anekdote: »Sehen Sie – erst haben Sie von meinem Mann gelernt und nun lernt mein Mann von Ihnen.«
Die Lehrjahre vergehen. Altenkirch ist nun Malergeselle. Am Tage arbeitet er auf Neubauten, die in Berlin wie Pilze aus der Erde schießen. Die Freistunden widmet er der sehnsüchtig erstrebten Kunst. Sein Lehrer im Zeichenkursus der Fortbildungsschule ist jetzt der Maler Hugo Händler, der wertvollen Einfluß auf den Gesellen ausübt. Auch er kreuzt später noch einmal, und zwar entscheidend Altenkirchs Weg.
Dann packt den jungen Malergesellen der alte deutsche Wandertrieb. Die Erzählung reisender Malergesellen in den Frühstückspausen zwischen Hobelspänen und Farbentöpfen hatten in ihm die Sehnsucht nach der Ferne geweckt. Altenkirch geht mit sechzig Mark in der Tasche auf Wanderschaft, die nach Rumänien, in die Türkei, nach Ägypten und über Italien und die Schweiz zurückführen soll. In Bukarest bleibt er hängen. In der rumänischen Metropole kennen die Gebrannten nur drei Malerwerkstätten, in denen es für geleistete Arbeit auch Lohn gibt. Altenkirch gerät als unerfahrener Neuling natürlich in eine der anderen. Statt Lohn [366] zu zahlen, borgt der Meister seine Gesellen an. Dann brennt er durch. Ein Unglück kommt auch hier nicht allein: Altenkirchs Mantel mit sämtlichen Papieren wird gestohlen und verschwindet in irgendeinem Trödlerladen der farbigen Balkanstadt. Betrogen und bestohlen sucht der Malergeselle Hilfe beim deutschen Konsulat. Er erhält drei Franken und vom Konsulatsarzt die Versicherung, daß er tauglich sei und seiner Militärpflicht in Deutschland genügen müsse. Altenkirch erarbeitet sich das Geld für die Heimreise. Er malt Hintergründe für die Wachsfiguren eines Panoptikums – es sind Vorspiele seiner späteren Theatermalerei, ohne daß er das ahnt. Nebenher füllt er seine Skizzenbücher mit den bunten Erscheinungen dieser für ihn so abenteuerlichen Stadt. Ein Brief der Mutter ruft ihn in die Heimat zurück. Die Träume von Konstantinopel, Jerusalem, Kairo versinken. Die Kaserne der Ortelsburger Jäger nimmt den unsicheren Kantonisten auf. Altenkirch dient seine zwei Jahre ab. Und auch in der Schoßtasche des Waffenrocks steckt das Skizzenbuch.
Nach der Militärzeit nimmt er wieder Unterricht beim Maler Händler. Der schickt ihn eines Tages mit einem Bündel Zeichnungen und einem Empfehlungsschreiben zu Eugen Bracht, der damals an der Berliner Akademie das Atelier für Landschaftsmalerei leitete. Der große Traum wird Wirklichkeit. Altenkirch kann 1899 als Hospitant und später als Vollschüler in die Landschaftszeichenklasse Paul Vorgangs eintreten. Seinen Lebensunterhalt erarbeitet er sich immer noch als Malergeselle. Nach drei ungewissen, an Arbeit, Hoffnungen und Entbehrungen überreichen Jahren wird er, obwohl ihm die sonst geforderte Schulbildung fehlt, als Studierender der Akademie in das Atelier Brachts aufgenommen. Als Bracht nach einem Vierteljahr einem Ruf an die Dresdner Akademie folgt, nimmt er Altenkirch mit sich. Er bleibt Brachts Schüler und Assistent bis 1906. Gleichzeitig treibt er bei Emanuel Hegenbarth Tierstudien. Die Tiermalerei spielt später keine Rolle in Altenkirchs Schaffen, aber Hegenbarth beeinflußte sein Werden mindestens ebenso stark wie Eugen Bracht. Altenkirch lernte von ihm die feine Einfühlung, die malerische Vollendung, die Hegenbarths Bilder auszeichnet. Und wer Altenkirchs malerisches Werk kennt, konnte in der Hegenbarth-Gedächtnisausstellung, die der Sächsische Kunstverein im Herbst dieses Jahres in Dresden zusammenbrachte, erkennen, wie viel ihm dieser Meister gegeben hat, und es hat seinen Reiz, den Anregungen und ihren individuellen Wandlungen von Zügel zu Hegenbarth, von Hegenbarth und Bracht zu Altenkirch nachzuspüren.
Aus den Ateliers seiner Meister heraus ging Altenkirch schon als Schüler eigene Wege. An seinen Landschaftsstudien aus dieser Zeit kann man, wenn er sie einmal aus den Winkeln seines Ateliers hervorholt, beinahe den Monat bestimmen, in dem er sich von den manchmal fast zu »schönen« Farben Brachts freimacht und die herberen Farbenreize der Landschaft sucht, für die ihn Neigung und Hegenbarths Einfluß empfänglich macht. Er sucht die einfachere, herbere Landschaft, in der Brachts majestätische Baumschläge und die dekorativ geballten Wolken sich gleichsam schlichter geben. Er sucht und findet sie. Noch als Studierender entdeckt er 1903 den Dresdner Heller für sich, für seine Malerei. Es ist die scheinbar karge Landschaft, in der später seine Meisterschaft reifte.
[367]
Im Sommer 1906 verläßt er die Akademie – nun ist er Maler. Der große Traum ist erfüllt. Aber das Leben ist nicht leicht. Er schlägt sich kümmerlich durch. Als Malgebiet erwählt er sich die Muldenlandschaft um Siebenlehn, Reinsberg und Biberstein. Außer den Motiven für seine Malerei ziehen ihn zarte Fäden in das alte Studiengebiet – in Siebenlehn fand er die Gattin. Außer in der baumreichen Muldenlandschaft findet er seine Motive im Kamenzer Teichgebiet, um den Deutsch-Baselitzer Großteich, der Hegenbarths bevorzugtes Studiengebiet war. Es ist die Zeit der »Elbier«, denen zusammen mit Ufer, Dorsch, Fritz Beckert, Bendrath, Hegenbarth, Wilkens, Georg Erler auch Altenkirch angehört. Seine Kunst geht nach Brot. Es ist trotz mancher Bildverkäufe ein so karges Brot, daß Altenkirch nahe daran ist, der Kunst Lebewohl zu sagen und wieder auf die Bockleiter des Stubenmalers zu steigen.
In jenen kritischen Tagen kommt ihm der Zufall zu Hilfe. Altenkirch hilft dem Maler Georg Erler bei der Herstellung der Dekorationen für ein Fest des Dresdner Alpenvereins. Sein handwerkliches Können, die Vertrautheit mit dem Material, der Leimfarbe, kommt ihm dabei zu statten. Und als Erler der freigewordene Posten eines leitenden Theatermalers der damaligen Hoftheater angeboten wird, verweist er auf Altenkirch, der für diese Aufgabe alle Voraussetzungen mitbringt: künstlerische Berufung und handwerkliches Können. Graf Seebach, der damalige Intendant, und Geheimrat Dr. Adolph, der zu jener Zeit in der Theaterleitung tätig war, sahen, was Altenkirch konnte. Altenkirch selber traut sich nicht recht. Die Bescheidenheit des Malergesellen hemmt ihn. Graf und Geheimrat – vor den Trägern solcher Titel wird er schüchtern. Er schreckt vor dieser ihm ganz und gar nicht vertrauten Welt, vor ihren Formen, die ihm nicht geläufig sind, fast noch stärker zurück als vor der Aufgabe selbst. Aber Geheimrat Adolph handelte, und ehe sichs Altenkirch eigentlich versah, hatte er den unterzeichneten Vertrag schon in der Tasche. Nun war er Leiter des Malsaales der Königlichen Hoftheater mit einem Gehalt, daß ihm, dem ewig Darbenden, unermeßlich erschien.
Anfang 1910 trat er sein Amt an. Zehn Jahre lang hat er ihm vorgestanden, und in diesen zehn Jahren sind schier unzählige Dekorationen aus dem seiner Leitung unterstellten Malsaal hervorgegangen. Von ihm stammten nicht nur die Entwürfe. Er legte als erfahrener, mit dem Handwerk vertrauter Praktiker der Leimfarbentechnik selbst Hand an und mancher Rundhorizont trägt den unverkennbaren Stempel seiner künstlerischen Arbeit. Es sind landschaftliche Kolossalgemälde – der Prospekt im Rheingold mit der Götterburg auf steilem Felsen ist zweiundzwanzig Meter hoch und sechzig Meter breit.
Die Periode der Theatermalerei ist ein Abschnitt in Altenkirchs Schaffen, dem gerecht zu werden auf diesem knapp bemessenen Raum gar nicht möglich ist. Sein Name bleibt für immer verknüpft mit jener Epoche der Dresdner Theater, die die Aera Graf Seebach-Zeiß war. Und noch lange wird der erdfrische Duft seiner Flußlandschaft zu Fausts Osterspaziergang, die sonnige Weite seiner Böhmerwald-Landschaft in Shakespeares Wintermärchen, die prachtvollen Wartburg-Prospekte im Tannhäuser, die märchenhafte Gralsburg im Parsival, die in aller Pracht des Winters prangende Waldlandschaft in Humperdincks Königskindern, [368] die riesigen Szenerien im Ring der Nibelungen – um nur einige der unzähligen Dekorationen von seiner Hand zu nennen – die Besucher der Oper und des Schauspielhauses entzücken.
In diese Zeit seines Schaffens, das ihm 1917 den Professorentitel als verdiente Ehrung eintrug, fallen Studienreisen nach Süddeutschland, in die Schweiz, nach Italien und Norwegen und schließlich auch eine halbjährige Kriegsfahrt als Landsturmmann, aus der heraus ihn eine ernsthafte Krankheit wieder seinem Berufe zuführte. Diese Reisen führen ihn, der schon Rumänien kannte, in reichere [369] Landschaften. Er studiert auch auf Reisen, malt und zeichnet, und auch als Landstürmer füllt er seine Skizzenbücher mit den Maaslandschaften um das unglückliche Dinant. Immer, unter der hohen Sonne Italiens, angesichts der Schneegipfel der Alpen und der Fjordlandschaften Norwegens, bleibt ihm die Natur die Lehrmeisterin. Aber es geht ihm wie Ludwig Richter: von allen Reisen bringt er nur das geschärftere Auge, die vertieftere Liebe zur heimatlichen Landschaft mit, deren intime Reize zu malen er nie müde wird. Immer wieder stellt er seine Staffelei vor [370] den Birken und Kiefern des Dresdner Hellers, vor den Waldhängen und Wasserspiegeln des Muldentals auf. Daß er »bedeutendere« Landschaften sah und erlebte und sie auch künstlerisch für seine Theaterdekorationen bewältigen mußte und doch den Kiefern und Birken, den Sanddünen und Aehrenfeldern, den Eichen und Gemäuern, den hohen Himmeln und stürmenden Gewölken seiner Hellerlandschaft treu blieb, zeigt, wie tief seine künstlerische Liebe im heimatlichen Boden verwurzelt ist. Alle Reisen in die Ferne vertieften diese Liebe, die nun in anderem Lichte steht als sie stünde, wenn Altenkirch nie über die windzerstreuten Sanddünen seines Hellers hinausgesehen hätte.
Als er 1920 von der Leitung des Theatermalsaales zurücktrat, zog er sich nach Siebenlehn zurück, in die Heimat seiner Gattin und in jene Landschaft an der Mulde, in der er immer wieder starke Anregungen für sein künstlerisches Schaffen findet. Hatte ihn die Theatermalerei in seiner künstlerischen Entwicklung insofern gefördert, als er seiner Kunst nicht das tägliche Brot abzuringen brauchte, sondern ohne Sorgen das schaffen konnte, wozu es ihn künstlerisch trieb, so befreite ihn der Rücktritt nun in seiner Reife von beruflichen Bindungen. Er konnte sich nun völlig seiner Landschaftsmalerei widmen, die sich längst die Aufmerksamkeit ernsthafter Kunstfreunde erworben hatte. Als er nach Siebenlehn ging und seine Staffelei um Reinsberg und Biberstein aufstellte, sagte er sich aber nicht von den Birken und Kiefern der Hellerlandschaft los. Immer wieder kehrt er seitdem für kürzere oder längere Zeit nach Dresden zurück, um »auf den Heller« zu gehen und zu malen, umgeben von der kleinen Welt, in der er die kleinen Birken zu großen Birken und die Schulmädchen aus der alten Kaserne zu jungen Müttern hat heranwachsen sehen. Und dort, unter den einfachen Leuten dieses abgelegenen Lebenskreises, kennt man den Professor Altenkirch so gut, wie er die rissigen Stämme der alten Schatzeichen und die schlanken Kiefern des Trompeterwäldchens kennt.
Das ist sein Weg, der Lebensweg eines Meisters, der sich aus kleinbürgerlicher, fast proletarischer Herkunft zäh und zum guten Teil aus eigener Kraft zum Künstler von Ruf und Geltung heraufgearbeitet hat. Es ist der Weg, der ihn immer wieder und schließlich für dauernd in die sächsische Landschaft zurückführt, in der in fleißiger Arbeit und in schier unübersehbarer Folge seine Bilder entstehen.
Er malt sie mit den Mitteln einer reifen Kunst. Seine Bilder zeigen noch in jedem Quadratzentimeter tüchtiges handwerkliches Können. Sie sind Zoll um Zoll gediegene Malerei. Der alte Schadow pflegte seinen Schülern auf die Frage, wie sie malen sollten, zu antworten: »Setzt die richtigen Farben auf den richtigen Fleck.« Darum allein handelt es sich bei der Malerei. Und diese Kunst beherrscht Altenkirch mit einer Selbstverständlichkeit, die den kritischen Betrachter entzückt.
Meisterhaft ist seine Beherrschung der Luft. Sie umspielt alles Dargestellte auf seinen Bildern und gibt ihm die körperliche Erscheinung. Sie wird selbst zur Erscheinung. Sie rieselt durch das Goldlaub herbstlicher Birken, sie zittert über dem Sande in heißer Mittagssonne, sie liegt als feiner duftiger Schleier über der Ferne und hüllt kahle Bäume an trüben Tagen in melancholischen Flor. Ueber [371] morgenkühlen Wasserspiegeln steigt sie als silberner Atem auf und zwischen den feuchten Stämmen stimmungsschwerer Tauwetterlandschaften dampft sie als weicher Brodem. Wundervoll, nur in der Reproduktion leider nicht wiederzugeben, glitzert die geradezu kristallisierte Luft im Geäst der vom Rauhreif verzauberten Bäume. Man denkt an Alexander von Villers schönen Satz: »Die Sonne wäre außerstande, den dichtesten Busch im Walde so innerlich zu beleuchten, wie dieser Staub des Himmels es mit seiner weichen Ruhe vermag.«
Ebenso meisterhaft, wie Altenkirch den Zauber des Lichts und der Luft bezwingt, ist die Sicherheit, mit der er sein Bild aus dem großen Raum der Landschaft herauslöst. Es ist nie ein Zuviel und nie ein Zuwenig. Immer gibt er ein in sich beruhendes Bild. Das ist nicht leicht. Liebhaberphotographen wissen davon zu erzählen, wie oft eine Aufnahme sie enttäuschte, weil sie noch nicht den richtigen Bildausschnitt zu finden verstanden. Altenkirch zählt zu den Malern, die uns Schönheit noch im einfachsten Stück Natur überhaupt erst sehen lehren. Oder ist es nicht überraschend, wie schön ein morastiger überschwemmter Weg, in dessen Tümpeln blauer Himmel und herbstliche Birken sich spiegeln, auf einmal sein kann, wenn er ihn uns zeigt?
Mit diesen Fähigkeiten vereint sich in Altenkirch jene malerische Phantasie, unter der Liebermann die den malerischen Mitteln am meisten entsprechende Auffassung der Natur versteht. »Je ausdrucksvoller durch die Form oder durch die Farbe oder durch beides zusammen der Maler sein inneres Gesicht auf die Leinwand zu bringen imstande war, desto größere, stärkere Phantasietätigkeit war zur Erzeugung seines Werkes nötig«. Das heißt also: malerische Phantasie ist die Kraft, die das seelische Erlebnis des Malers mit den Mitteln seiner Kunst sichtbar macht und in uns ein gleiches Erlebnis wach ruft. Es ist die Uebertragung der Seele des Künstlers in sein Werk. Er gibt uns, was ihn bewegte, und es bewegt uns. Sein Werk berührt unser Innerstes nicht, wenn der Maler nicht innerlich beteiligt war, als er es schuf. Der Dichter Hans Bethge schrieb einmal: »Calame hat auf großen Gemälden mächtige Szenerien des Hochgebirges im Aufruhr der Elemente dargestellt, aber unser Herz bleibt kalt dabei wie Hundeschnauze. Cézanne hat auf Bildchen, die nicht größer sind als ein paar Handflächen, einige Aepfel gemalt, und die mystischen Tiefen wehen uns ergreifend daraus entgegen, wir fühlen ein Stück Ewigkeit in überirdischem Glanz«.
Altenkirch malt die heimatliche Landschaft, wo sie am schlichtesten ist. Schlicht und still wie er selbst. Er malt die tragische Einsamkeit knorriger Kiefern unter stürmenden Himmeln, das Spiel der Sonnenlichter unter sommerlich sausenden Linden. Er malt das Erschauern, die reglose Unergründlichkeit eines Teiches im Waldschatten, die blanke Spiegelung herbstlicher Birken in den Tümpeln eines überschwemmten Weges. Er malt den Durchblick in blaue Fernen im Rahmen einiger Stämme, die zarten Versprechungen eines Vorfrühlingstages im Flußtale, den zitternden Glanz eines Sommermorgens unter weißen Wolken. Er malt die stille Sommerlegende eines Sandweges zwischen blühenden Heideteppichen, die graue Melancholie einiger herbstlicher Obstbäume an einsamer Landstraße. Er malt die prangende Pracht des Winters und die dunklen Wolkenberge eines Gewitterhimmels. [372] Das alles malt er als Impressionist. Seine Bilder geben schlicht ein Stück schlichter Natur ohne tiefsinnige Philosophie. Und doch spricht aus seinen Bildern tiefes inneres Erleben. Er malt keine Bilderrätsel, mit denen der Betrachter ohne fremdwortreiche Erläuterung ihrer mysteriösen Bedeutung nichts anzufangen weiß. Er malt ganz einfach den Baum, die Straße, den Teich, den Sand, den Schnee. Auch der einfache voraussetzungslose Beschauer findet in seinen Bildern die Welt wieder, in der er selber lebt. So sind Altenkirchs Bilder gemeinverständliche Kunst und sie sind auf ihre Art und in ihrer künstlerischen Sprache dem schlichten Empfinden so wenig fremd wie die Bilder, die Van Gogh meinte, als er sich vornahm, Bilder zu malen, die den Matrosen gefallen sollten.
Altenkirch malt Baum und Straße, Teich und Schnee. Aber er gibt mehr. Ihm ist es weder um das photographisch getreue Abbild noch um die Darbietung artistischer Künste zu tun. Er gestaltet mit den Mitteln seiner Kunst jenes tiefere Erlebnis, das uns die heimatliche Natur noch in ihrem bescheidensten Winkel lieben läßt. Er hat den innigen Zusammenhang der uns umgebenden Natur mit uns selber erfaßt. Und auch der einfache Beschauer seiner Bilder empfindet das tiefere Erlebnis, das in diesen Bildern sichtbaren künstlerischen Ausdruck gefunden hat, das Erlebnis des seelischen Verbundenseins, das uns noch in jedem Baum ein verwandtes Sein ahnen läßt.
Altenkirchs Hellerlandschaften zeigen, wie unendlich viele, unendlich feine Reize in einer Landschaft verborgen liegen, die als reizlos geschmäht und gemieden wird. Spaziergänger, die die »Wüste« des Hellersandes mißmutig und eilig überwinden, wundern sich über den Maler in farbenbeklexter Jacke, der da seine Staffelei vor einem fahlgelben Sandstrich mit einer zerzausten Birke und einer Wolke darüber aufstellt. Sie ahnen nichts von der Schönheit der anonymen Landschaft, die gar nicht berühmt ist, die erst Maler für sie entdecken müssen und die ihnen nun vor einem Bilde aufgeht. Sie verdanken einem Künstler die Offenbarung, daß die Heimat auch noch in ihrem unberühmtesten Winkel schön und liebenswert ist. Und wenn man die Maler nennt, die uns die Augen für die Schönheit der heimatlichen Erde geöffnet und geschärft haben, wird man immer auch Otto Altenkirch nennen und ihm danken müssen.
von Rud. Zimmermann Dresden
Mit 7 Abbildungen, zum Teil nach photographischen Naturaufnahmen des Verfassers
Der unglücksreiche Ausgang des letzten Krieges hat auch Europas größte Säugetierart und das eine sich bis auf unsere Tage gehaltene seiner beiden ehemaligen Wildrinder, den Wisent, dem Untergang nahegebracht. An zwei Stellen nur, in dem eigenartigen Urwaldgebiet von Bialowies (Bjelowjesch) in Westrußland und im Kaukasus noch in freier Wildbahn vorgekommen, wurde der durch die [373] Kriegshandlungen stark gelichtete, von der deutschen Militärverwaltung nach der 1915 erfolgten Einnahme von Bialowies aber sorgfältig gehütete und auch wieder höher gebrachte Restbestand ein Opfer der Nachkriegswirren: russische Bauern knallten ihn zusammen, während im Kaukasus die Rätetruppen in den Jahren 1918 und 1919 mit Maschinengewehren und unter Aufbietung ganzer Regimenter als Treiber und Schützen unter dem Bestande derart gewüstet haben, daß er ebenfalls als verloren gelten kann, selbst wenn sich doch noch einige Tiere den Verfolgungen entzogen haben sollten. Für eine Nachricht aus Rußland, daß im Bezirke Bobrujsk, Gouvernement Minsk (ca. dreihundert Kilometer östlich von Bialowies) eine Anzahl versprengter Wisente gesichtet und unter Schutz genommen sein sollten, ließ sich bisher ebensowenig eine Bestätigung beibringen wie für die Mitteilung des während des Krieges sich in besonderer Mission in Persien aufgehaltenen Tiermalers Peter Paschen, daß möglicherweise in einem unserer Kenntnis sich bisher entzogenen Bestande der Wisent noch in Nordpersien freilebend vorkommt. Wir besitzen daher mit Sicherheit zunächst nur noch gegen sechzig sich in Zoologischen Gärten und privaten Wildparks befindliche Wisente. Um diesen kleinen Rest vor dem allmählichen, ohne besondere Vorsichtsmaßnahmen auch unabwendbaren Aussterben zu bewahren, hat sich im August vorigen Jahres die »Internationale Gesellschaft zur Erhaltung des Wisents« (Vorsitzender Direktor Dr. K. Priemel, Frankfurt a. M., Zoologischer Garten) gebildet, die unter den noch vorhandenen Tieren planmäßig züchten und versuchen will, einen wieder größeren Bestand heranzuziehen und bei günstigem Erfolg unser Tier wieder in freie Wildbahn überzuführen. Die Aussichten für die Bestrebungen der Gesellschaft sind die besten, und es wäre nur zu wünschen, daß ihr reiche Erfolge und die baldige Verwirklichung ihrer Pläne beschieden sein möchten. Unser Sachsen hat ein besonderes Interesse an der Erhaltung des Wisents; spielt dieser Urwaldrecke in der Geschichte des Landes doch eine nicht unbedeutende Rolle. Freilich nicht mehr als wildlebendes Tier – als solches ist er frühzeitig schon ausgestorben –, sondern, wie wir später noch sehen werden, als gehegtes und besonders zu den in Sachsen so prunkvollen Kampfjagden viel verwendetes Tier. –
Ich lernte den Wisent im letzten Kriegsjahre in Bialowies kennen. Ueber meine Begegnung mit ihm habe ich wiederholt an anderer Stelle berichtet [3] und es sei hier daraus kurz das folgende wiederholt:
»Meine erste Begegnung mit dem Wisent erfolgte im Januar 1918, als ich von meiner Dienststelle im Westen zur Leitung photo- und kinematographischer Aufnahmen, die der Bund für Vogelschutz in Stuttgart vornehmen ließ, nach Bialowies beurlaubt worden war. Der erste Eindruck, den ich von den Tieren erhielt, enttäuschte allerdings etwas. Die Herde von siebzehn Stück, die auf einem Kahlschlag stand und der strengen Kälte und des hohen Schnees wegen von Zeit zu Zeit in Waldheu etwas Futter dargeboten erhielt, ließ wenig von der erwarteten [374] und den Tieren sonst auch eigenen Wildheit ahnen. Die Winterfütterung des Wisents war unter russischer Herrschaft zu einer alle gebotenen Grenzen überschreitenden Regel geworden und hatte das Wesen und die Natur der Tiere in der denkbar ungünstigsten Weise beeinflußt. Der Wisent war verweichlicht worden, und die dabei alle Scheu vor dem Menschen abgelegten Urwaldriesen muteten manchesmal fast wie halbzahme Stallrinder an. Diese große Vertrautheit wurde dem Tiere besonders in der Zeit der Besitzkämpfe um das Waldgebiet zum Verhängnis; sie machte den Abschuß spielend leicht und manch einer der Recken erlag der tötlichen Kugel, vor der ihm eine größere Scheu sicher bewahrt hätte [4] . Unter der deutschen Verwaltung war allerdings mit der bis dahin geübten Fütterungsweise gebrochen worden; die Tiere, die sich so sehr an die Fütterung gewöhnt hatten, daß sie unter russischer Herrschaft bereits im Oktober, wenn der Wald ihnen noch hinreichende Aesung bot, an den Fütterungsstellen sich einfanden [5] , erhielten nur jetzt mehr ausnahmsweise bei strengster Kälte und tiefem Schnee in mäßiger Weise (zumeist in gefällten Weichhölzern: Aspen usw.) Futter dargeboten. Der Erfolg dieser Methode war ein guter; der Wisent wurde wieder zäher und ausdauernder und man wird Escherich Recht geben müssen, wenn er einen großen Teil der günstigen Erfolge der deutschen Hege, die die Ergebnisse der zarischen wesentlich übertrafen, auf diese Abkehr von der ehemals geübten Fütterungsweise zurückführt.
Die seinem Wesen gar nicht entsprechende große Vertrautheit, die der Wisent während der ersten Zeit der deutschen Verwaltung zeigte, hatte er zu meiner Zeit zwar größtenteils bereits wieder abgelegt, doch konnte er wenigstens winters über die ihm durch eine jahrelange Gewohnheit anerzogene Eigenheit nicht ganz verleugnen, und so mußte daher um diese Zeit sein Bild den Eindruck, den man von dem urigen Wilde hatte, noch immer ungünstig beeinflussen. Anders war es schon, wenn man ihn abseits von den Futterstellen im dichtesten Walde begegnete, ihm hier vielleicht beizukommen versuchte und dann zuschauen durfte, wie die Tiere, flüchtig geworden, durch den schneeverhangenen, winterlichen Wald dahinstürmten. Mit einer seltenen Deutlichkeit steht mir da noch das Bild einer Herde in Erinnerung, die ich wenige Tage später antraf und sich in so hastigen Fluchten meiner Gegenwart entzog, daß trotz der hohen, schalldämpfenden Schneedecke der Boden doch noch immer unter ihren Tritten dröhnte und lange noch, nachdem sie den Blicken entschwunden war, eine dichte Wolke von den unterwüchsigen Fichten aufgewirbelten Schnees den Weg bezeichnete, den sie genommen hatte. Und nicht minder unverwischbar in der Erinnerung haben sich dann die Begegnungen eingegraben, die ich in der sommerlichen Jahreszeit nach meiner im April 1918 erfolgten Versetzung [375] nach Bialowies mit dem Tiere hatte und die mir das reckenhafte Wild in seiner ganzen ursprünglichen Schönheit und Wildheit zeigten. So stieß ich – aus der Fülle der Erinnerungen sei hier diese eine mitgeteilt – beispielsweise am 15. Mai 1918 in einem von unterwüchsigen Fichten reichlich durchsetzten Laubholzbestand, der von drei Seiten von schwer zu begehendem Sumpf- und Bruchwald umgeben war, mit der vierten aber an einen freien, noch aus russischer Zeit herrührenden Kahlschlag angrenzte, auf eine ruhende Herde von schätzungsweise fünfzehn bis zwanzig Köpfen. Die Tiere hatten sich am Boden niedergetan oder standen, der lästigen Insekten wegen lebhaft mit den Wedeln peitschend, im Schatten der Bäume. Ein starker Stier, neben einem im Winter beobachteten Einzelgänger wohl der stärkste der von mir gesehenen, stand etwas abseits und uns – in meiner Begleitung befand sich noch einer unserer Jäger – am nächsten; er schien mit dem ihm zweifellos zukommenden Amt des Alterspräsiden noch das des Wächters der Herde zu bekleiden. Die Entfernung zwischen uns und der Herde mochte etwa zweihundert Meter betragen. Vorsichtig pirschten wir uns von Baum zu Baum bis auf vierzig bis fünfzig Meter an sie heran. Der Stier war, trotz aller beobachteten Vorsicht beim Anpirschen doch schon etwas unruhig geworden, er hob – wie ich glaube deutlich gehört zu haben, unter einem leisen, verhaltenen Grollen – windend den ursprünglich gesenkten Kopf und peitschte erregter mit dem Wedel. Seine Unruhe schien auch auf einige der ihm zunächst befindlichen Kühe übergegangen zu sein, wenn eine nur geringe Wendung ihrer Köpfe in der Richtung unseres Standortes einen dahingehenden Schluß gestattete. Immerhin blieb uns Gelegenheit, das sich für immer ins Gedächtnis eingegrabene Bild, das die Herde in den urwüchsigen [376] Bestande bot, in dessen grünem Dämmer einige leuchtende Sonnenflecken umherirrten, längere Zeit auf uns wirken zu lassen. Erst als wir uns von neuem, jetzt allerdings ein weites Stück fast deckungslos, weiter anzupirschen versuchten, kam ein erhöhteres Leben in die Tiere. Die uns am nächsten stehenden Kühe trotteten, ursprünglich allerdings noch recht gemächlich, als hielten sie die Gegenwart von Menschen gar nicht für so bedeutend, rückwärts, die am Boden ruhenden erhoben sich und folgten ihnen nach, bis dann auf einmal, völlig unvermittelt, alles zu einer wilden Flucht wurde. Nur der Stier stand noch an seinem Platze, regungslos, uns zugekehrt und den Kopf tief gesenkt. Dann richtete er ihn hoch auf, blähte unter deutlich grollendem Schnaufen die Nüstern – es sah aus, als ob er uns annehmen wollte, und ich muß gestehen, daß in diesem Augenblick ein leichtes Zittern meinen Körper durchlief –, wandte sich aber dann rückwärts, zunächst ebenfalls noch ganz bedächtig, so wie es anfangs auch die anderen Tiere getan hatten, stürmte aber dann nach dieser gemächlichen Wendung in um so hastigeren Fluchten, daß Erdreich und Laub hoch emporwirbelten, der eben den Blicken entschwindenden Herde nach. »Heute habe ich es begriffen, was der Wisent für den Wald bedeutet, und mehr denn je wünsche ich, daß dieses an ferne Urzeiten erinnernde Wild ihm auch dauernd erhalten bliebe. Mit dem Schwarzwild [377] – die vorhergegangene, unverhoffte Begegnung mit der führenden Bache in der Wildnis des Sumpfwaldes hat dieses Empfinden nur noch verstärkt –, dem Rotwild und dem sich hoffentlich wieder einstellenden Elch würde der Wald für den Zoologen und Jäger ein Paradies werden, wie es in Europa ohnegleichen wäre«. Nicht ohne eine große Wehmut wiederhole ich heute, nachdem wir alle unsere an Bialowies geknüpften naturschützerischen Hoffnungen haben zu Grabe tragen müssen, meine damals unter dem frischen Eindruck des eben Gesehenen und Erlebten niedergeschriebenen Worte.
Das Dröhnen des Bodens, das Knacken brechender Zweige und junger Bäumchen, das hinter den Flüchtigen herklang, war verstummt. Vorsichtig folgten wir der Herde, die in einem, namentlich von jüngerem Holze dicht bestandenen Erlenbruch verschwunden war, in der Erwartung, sie nochmals zu Gesicht zu bekommen. In dem Bruch, das – wie die aufgefundenen Spuren bewiesen, den ständigen Aufenthalt der Herde bildete –, war aber leider nicht mehr an die Tiere heranzukommen. Obwohl in ihm die Deckung eine ganz vorzügliche war, war doch bei der Dichte des Pflanzenbestandes und dem manchesmal kaum zu bewältigendem alten Fallholz das Vordringen nicht immer ganz lautlos zu bewerkstelligen. Noch ehe wir es erwartet hatten, kaum vierhundert Meter vom ersten Standort der Herde entfernt, erhob sich dicht seitlich von uns ein Getöse, das das vorher Gehörte noch übertrumpfte, in das laute Knacken und Brechen grünen und dürren Holzes klangen deutlich grollende Schnauftöne hinein: die Herde, an die wir, wie wir aus den Spuren feststellen konnten, bis auf nur knappe zehn Meter herangekommen waren, war zum zweiten Male vor uns flüchtig geworden.« –
Einige Angaben über die Größe des ehemaligen Wisentbestandes dürften hier nicht uninteressant sein.
Nach der sehr sorgfältigen Zusammenstellung von B. Szalay [6] betrug die Zahl der in Bialowies vorhandenen Wisente im Jahre 1832 siebenhundertsiebenundsiebzig Stück, sie stieg von da an ständig, bis sie mit eintausendachthundertachtundneunzig Stück im Jahre 1857 ihre Höchstzahl überhaupt erreichte. Dann sank sie wieder, vor allem auch unter den Wirkungen der polnischen Revolution, bis auf nur noch fünfhundertachtundzwanzig Stück im Jahre 1872. 1882 war der Bestand wieder auf sechshundert angewachsen, verminderte sich in den folgenden Jahren aber von neuem (1885: dreihundertvierundachtzig und 1889: dreihundertachtzig Stück) und hatte danach mit etwa siebenhundert Stück im Jahre 1899 eine nochmalige erfreuliche Steigerung erfahren. Ebenfalls wieder mit gegen siebenhundert wird der Bestand für die Jahre 1903 und 1909 angegeben, worauf er aber infolge einer Wildseuche, die als Folge einer geradezu unsinnigen Übervölkerung des Waldes mit Wild auftrat, auf kaum sechshundert Stück im Jahre 1911 zurückging. Doch erholte er sich auch jetzt wieder; für 1914 bezifferte Escherich auf Grund vorgefundener russischer Unterlagen die Zahl der vorhandenen Tiere auf siebenhundertsiebenunddreißig und für 1915 gibt ihn Szalay (nach Oberst von Spieß) mit siebenhundertsiebenzig an.
[378]
Unter den vernichtenden Wirkungen der Kriegshandlungen aber erlitt der 1914/15 noch so erfreuliche Bestand seine bis dahin schwerste Schädigung; eine anfangs 1916 von der deutschen Militärforstverwaltung vorgenommene Schätzung bezifferte die Menge der vorhandenen Tiere auf nur noch einhundertundfünfzig bis einhundertundsechzig, dem traurigen Abglanz eines besseren Einst! Was viele nicht zu hoffen wagten, geschah jedoch noch einmal: der Bestand erholte sich auch jetzt wieder und unter der sorgsamen Hege der Militärforstverwaltung stieg die Zahl der Tiere bis auf gegen zweihundert zur Zeit der erzwungenen Räumung des Gebietes. Die letztere aber vernichtete mit einem Schlage alle unsere Arbeit und besiegelte den endlichen Untergang des Bialowieser Wisents.
Über die ehemalige Höhe des Kaukasusbestandes sind wir weit unvollkommener unterrichtet; der russische Zoologe Filatow, der zum Studium des Tieres von 1909–1911 drei Reisen in den Kaukasus unternommen hatte, schrieb, daß die Zahl der hier vorhandenen Wisente »schwerlich weniger als hundert betragen, andererseits aber wohl kaum an tausend herangereicht haben dürfte«.
Das Waldgebiet von Bialowies, wenn ich hier noch einige wenige Worte darüber sagen darf, bedeckt eine Fläche von gegen dreizehnhundert Quadratkilometern und kommt damit an Größe fast dem ehemaligen Herzogtum Altenburg gleich. Es bildet ein einziges großes, zusammenhängendes Waldmeer, das im Norden, Westen und Süden größtenteils in Wiesen- und Feldlandschaften übergeht, im Osten aber in feuchte Niederungen, mit Erlen- und krüppelhaften Fichtenbeständen oder in weite baumlose Sumpfflächen ausläuft, die weiter östlich in den Pripjetsümpfen ihre Fortsetzung finden. Forstlich setzt sich der Wald zusammen aus der Kiefer als den verbreitetsten Waldbaum überhaupt und der meist sekundär auftretenden Fichte sowie einer Anzahl Laubholzarten: Hainbuche, Eiche, Winterlinde, Spitzahorn, Esche, Ulme, Birke, Aspe und Schwarzerle. Diese Bäume bringen es zu ganz erstaunlichen Wuchsleistungen und überraschen den Besucher des Waldes durch ihre gewaltigen Höhen ebensosehr wie durch die Schönheit ihrer Wuchsformen. Die größte von uns gemessene Fichte beispielsweise war zweiundfünfzig Meter lang, Höhen von fünfundvierzig bis sechsundvierzig Meter bei Stammstärken von einem Meter und darüber waren etwas ganz normales. Kiefern maß ich bis zu achtunddreißig Meter, Laubbäume, wie Eichen, Linden, Eschen usw. bis zu fünfunddreißig Meter und darüber und selbst Birken und Aspen blieben in ihrem Höhenwachstum nicht hinter diesen Maßen zurück. Überaus reizvoll war die große Mannigfaltigkeit und der bunte Wechsel der Bestandsformen. Üppigster Laubwald, in dem bald durch das Vorherrschen der Hainbuche ein ganz eigenartig wirkendes grünes Halbdunkel herrschte, das dem Photographen nur zu oft seine launischen Tücken offenbarte, und der an anderen Stellen wieder durch stärkeres Auftreten der Eiche und dem Einstellen der Kiefer ein lichterer wurde und dann eine nicht nur blütenreiche, sondern ganz besonders auch eine farbenbunte Bodenflora im Gefolge hatte, wechselte ab mit dunklen Fichtenbeständen, in denen die grüngoldenen Moospolster am Boden oft eine so eigenartige Wechselwirkung zu dem Silbergrau der flechtenüberzogenen Stämme bildeten; nassestem Bruchwald, in dem bald Fichten und Erlen überwogen, bald aber auch wieder andere Laubhölzer die Erle verdrängten [379] oder die Fichte zur allein herrschenden Holzart wurde, und in dem das Eindringen oft überaus schwierig war, ja manchesmal fast zur Unmöglichkeit wurde, schloß sich trockenster Kiefernwald auf Sandboden an, in dem eingesprengte, weißstämmige Birken und unterständige Fichten nicht selten die malerischsten Wirkungen hervorbrachten. Dazwischen hinein schoben sich von Sauergräsern bestandene Moorwiesen, an deren Rändern Fichten und Erlen, Kiefern und Birken kümmerten, oder eigenartig wirkende Waldmoore, deren wachsende Sphagnumpolster mit dem Sumpfporst und der braunroten Moosbeere die beginnende Hochmoorbildung verrieten. Meistens fehlten zwischen den einzelnen Bestandsformen alle vermittelnden Übergänge; ein nur geringer, dem Auge gar nicht auffallender Bodenunterschied und der dadurch bedingte Wechsel in der Höhe des Grundwasserstandes ließen die eine Form fast immer unvermittelt und schroff aus der anderen hervorgehen. Begegnete man dann in diesem Wald dem Wisent, so konnte man sich in jene entlegene Zeiten zurückversetzt wähnen, in denen auch noch der deutsche Wald das gleiche Aussehen besaß und in seinem dämmernden Grün ähnliche Urwaldrecken ihr Wesen trieben. –
Die lange Zeit und bis fast in die Gegenwart hinein heiß umstrittene Frage, ob in Europa nur ein oder zwei Wildrinder vorgekommen sind, ist heute endgültig entschieden; wir wissen, daß zwei: der Ur und der Wisent, noch in historischer Zeit hier nebeneinander lebten. Neben aufgefundenen Resten des Ures, der sich bis ins siebzehnte Jahrhundert hinein am längsten in Polen gehalten hat, besitzen wir auch einige alte Abbildungen von ihm [7] , die uns aufs überzeugendste die grundlegenden Unterschiede zeigen, die ihn von seinem Vetter, dem Wisent, trennten.
Daß beide, der Ur sowohl wie der Wisent, ehedem auch unser heutiges Sachsenland bevölkerten, kann als unbedingt sicher gelten, wenn wir auch über ihr Vorkommen im Lande keinerlei geschriebene Kunde besitzen und daher leider auch ihrem Verschwinden bei uns heute nicht mehr nachkommen können. Am frühesten wohl ereilte dem Ur [8] sein Schicksal. Nach Szalay bis ins siebente Jahrhundert nach [380] Christi die häufigste der beiden Wildrindarten, starb er in Süddeutschland aber schon im neunten oder zehnten Jahrhundert aus und dürfte um die Jahrtausendwende auch den meisten übrigen deutschen Gauen bereits gefehlt haben. Am längsten hat er sich in Deutschland in Ostpreußen gehalten; Szalay neigt aber im Gegensatz zu der verbreiteten Annahme, daß in einigen Wäldern daselbst noch um 1450 Ure wild lebten, zu der Auffassung, daß er auch hier schon im vierzehnten Jahrhundert ausgestorben gewesen ist und die späteren Erwähnungen des Tieres sich auf eingeführte masovische Ure beziehen. In Polen lebte er, wie schon erwähnt, noch etwas länger; er wurde hier zwar ebenfalls im dreizehnten oder vierzehnten Jahrhundert selten, kam in einigen kleinen Beständen aber doch noch bis zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts vor. Der letzte überhaupt starb im Jahre 1627. Wir gehen nach dem eben gehörten wohl kaum fehl, wenn wir das Verschwinden des Ures in Sachsen in die Zeit um die erste Jahrtausendwende verlegen.
Länger als der Ur hat sich der Wisent gehalten; sein Vorkommen in freier Wildbahn ist für eine ganze Anzahl deutscher Landschaften noch für spätere Jahrhunderte als das des Ures belegt; der letzte freilebende deutsche Wisent ist um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in Ostpreußen seinem Schicksal erlegen. Über sein Aussterben in Sachsen liegt ebenso wie über das des Ures ein ungelüftetes und vielleicht kaum noch zu lüftendes Dunkel; vielleicht, das er bei uns etwa gleichzeitig mit dem Ur verschwunden ist, möglich aber auch, daß er sich wie in anderen deutschen Gauen auch in Sachsen noch etwas länger zu halten vermocht hat.
Kunde von dem ehemaligen Vorkommen von Wildrindern in unserem Vaterlande geben uns noch einige auf »Auer« usw. lautende Ortsnamen, von denen [381] Szalay in seiner fleißigen Zusammenstellung »Der Wisent im Ortsnamen« (Zoologische Annalen 7, 1915, Seite 1–80) aus Sachsen zehn (?) nennt und ihnen noch Weißensee bei Zittau (im Jahre 1360 = Wisensee) als möglicherweise, aber nicht unbedingt, auf den Wisent zurückgehend angliedert. Die Gemeinde Taura bei Burgstädt leitet ihren Namen ebenfalls von dem Ur (= Tur) ab und führt neuerdings (das sei hier zur Nachahmung in ähnlichen Fällen empfohlen) daher auch ein Wildrind in ihrem Gemeindesiegel. Es stellt allerdings nicht den Ur, sondern den Wisent dar.
Lange nach seinem Verschwinden aus freier Wildbahn begann der Wisent in unserem Vaterlande nochmals eine nicht unbedeutende Rolle zu spielen; er wurde, wie das auch anderwärts geschah, neu eingeführt und in besonderen Wisent-(Auer-)Gärten gehegt und gezüchtet; Szalay, dem besten Kenner der Geschichte des Wisents, verdanken wir darüber die umfangreiche und wertvolle Arbeit »Wisente im Zwinger« (Zoologischer Beobachter 57–60, 1916–1919). Unser Sachsenland hat an der Wisenthege einen besonders großen Anteil gehabt, und es bereitet nicht nur dem Zoologen viel Freude, sondern ist auch kulturgeschichtlich von großem Interesse, an der Hand der leider nur recht spärlich fließenden Quellen der Geschichte der Wisenthaltung weiter nachzugehen.
Die ersten nachweisbaren Wisenteinführungen in Sachsen erfolgten zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts; eine Angabe von Koepert in dessen »Jagdzoologisches aus Altsachsen [9] «, daß 1717 der Wisent in Sachsen zuerst genannt wird, ist ein Irrtum und mutet etwas eigentümlich an, nachdem er unter seinen Quellen auch von Schimpff aufführt, der den älteren Nachweis beibringt. Wenn Szalay (»Wisente im Zwinger«) es für nicht ausgeschlossen hält, daß bereits unter der Regierungszeit Friedrichs des Weisen (1486–1525), der Hochmeister des Deutschordens in Preußen wurde und daher in engere Fühlung mit dem Lande kam, das die ersten Wisente lieferte, Wisente in Sachsen eingeführt worden sind, so fehlen uns dafür doch (Szalay weist selbst darauf hin) jegliche Unterlagen. Erst unter dem tierliebenden und leidenschaftlich der Jagd huldigenden Kurfürsten Johann Georg I., der an Stelle eines noch im vorhergegangenen Jahrhundert errichteten Löwenzwingers 1612 ein eigenes Löwenhaus bauen und den alten Jägerhof bedeutend vergrößern und verschönern ließ – die Weihe desselben fand 1617 statt – hören wir von Wisenteinführungen; von Schimpff berichtet uns, daß der Kurfürst eine wertvolle Menagerie errichtete und für diese »weiße Rehe, schwarze Füchse, Gemsen, Auerochsen, barbarische Schafe, Renntiere, Dromedare, indianische Mäuse, nordländische Katzen und Paviane« aus »aller Herren Länder« kommen ließ. Die Auerochsen sind natürlich Wisente gewesen, die ohne allen Zweifel aus Ostpreußen bezogen wurden.
In einem Verzeichnis des von seinem Nachfolger, dem Kurfürsten Johann Georg II., während der Jahre 1657–1680 erlegten Wildes werden sechs »Büffel« [382] als zur Strecke gekommen aufgeführt, und es ist wohl möglich, daß wir unter diesen Wisente zu verstehen haben. Szalay vermutet, daß sie »der Kurfürst gewiß im eigenen Wildparke züchtete und jagte«. Unter seinen Vorfahren scheinen nach Ausweis des von diesen erlegten Wildes Wisente noch nicht gejagt, aber möglicherweise schon zu den damals so beliebten Tierkämpfen und Kampfjagden, die unter August dem Starken und seinem Nachfolger in Sachsen ihre größte Blüte erlangten, verwendet worden zu sein. Das » Theatrum europaeum «, 1685, z. B. berichtet, daß am 3. Februar 1651 auf dem Schloßhof zu Dresden eine »Hatz« abgehalten wurde, bei der »ein Beer mit einem grimmigen Büffel-Ochsen sehr lustig und wohl gekämpffet« hat. Unentschieden muß hierbei noch bleiben, ob unter dem Büffelochsen bereits ein Wisent oder ein Hausbüffel zu verstehen ist, da beide Tiere zu den Kampfjagden Verwendung fanden und wenigstens in den späteren Berichten dann auch immer auseinandergehalten werden. So hören wir z. B., daß zu einer 1721 im Löwenhaus zu Dresden veranstalteten Kampfjagd ein Löwe, ein Tiger, drei Bären, vier hauende Schweine, ein Keiler, eine Bache, ein Auer- und ein Büffelochse verwendet wurden, während auf einer anderen, 1739 im Jägerhof abgehaltenen, zwei Bären, ein Auerochse und ein Stier auf dem Platze blieben, und von einem vierten, am 8. Februar 1740 veranstalteten Kampfjagen es unter anderem heißt: »Der Auerochs gab der Mauleselin mit den Hörnern einen Stoß, womit er ihr den Leib aufschlitzte«. Die in den Berichten erwähnten Auerochsen sind immer Wisente gewesen.
Unter Friedrich August dem Starken (1694–1733) und seinem Nachfolger, Friedrich August II. (1733–1763), die beide neben der sächsischen Kurwürde ja auch noch die polnische Königswürde bekleideten, geschahen die Wisenteinführungen im großen; sie erfolgten in der Hauptsache wohl oder sogar ausschließlich aus Polen, dem neuen Herrschaftsgebiete der beiden Fürsten, das an Wisenten ja noch sehr reich war. Ob, wie Szalay auf Grund eines am 21. Juli 1733 veröffentlichten kurfürstlichen Patents, in dem es heißt: »Nachdem wir entschlossen, unterschiedene Stücke Auer und dergleichen Wild aus dem Auergarten bei Königsburg in das Freie zu lassen«, annimmt, damals auch noch preußische Tiere vorhanden waren, möchte ich vorläufig hier noch unentschieden lassen; ich vermute, daß der Ausdruck »Königsburg« gar nicht auf Königsberg in Preußen zu beziehen ist, sondern eine lokale, mit Moritzburg (dem »Königsschloß«) in Verbindung stehende Bedeutung hat, wie ich an einer anderen zeitgenössischen Stelle Schloß Moritzburg als die »Königsburg« bezeichnet fand. Zwei Jahre vorher war ja auch erst ein Transport Wisente aus Litauen (Polen) eingetroffen.
Die in dem eben genannten Patent erwähnte Aussetzung ins Freie geschah in der Liebenwerdaer Heide (nördlich Elsterwerda, in der heutigen Provinz Sachsen); [383] Koepert berichtet darüber, daß der Kurfürst im Juni 1733 den Oberhofjägermeister von Wolffersdorff den Auftrag dazu erteilt hat, und gibt dann das Bestätigungsschreiben des letzteren wieder, in dem es u. a. heißt: »Ew. Kgl. Hoheit haben gestrigen Tages mir mündlichen gnädigst Befehl zu erteilen beliebet, daß ich neunundvierzig Stück derjenigen Auer, so seither in dem Auergarten im Amte Moritzburg erhalten werden, nach Liebenwerda und dasiger Gegend ins Freye schaffe« usw. Über den weiteren Verlauf der Aussetzung erfahren wir aber leider nichts; eine Nachprüfung der Koepert als Quelle gedienten, nach ihrem Standort im Hauptstaatsarchiv von ihm bedauerlicherweise aber nicht näher bezeichneten Archivalien und im Anschluß daran weitere Nachforschungen waren mir bisher noch nicht möglich. Bemerkenswert ist es aber, daß bei der Auflösung des Auergartens zu Kreyern die nach v. Schimpff unterm 29. Juli 1793 das Hofjournal verzeichnet, der dabei noch vorhandene Bestand an Wisenten ebenfalls nach der Liebenwerdaer Heide überführt worden ist.
Zeitlich vielleicht ungefähr zusammen mit der ersten Aussetzung des Wisents in der Liebenwerdaer Heide oder nur um ein weniges später erfolgte ein weiterer Aussetzungsversuch in Grethen bei Grimma, über den wir als einzige bisher bekannte zeitgenössische Quelle Doebels 1746 erschienene »Jäger-Practica« besitzen. Es heißt dort in Kap. 3 (Vom Auerochsen): »… sondern es sind auch welche im Freien bei Grehden vor einigen Jahren ausgesetzt worden [10] «. In dem sich dieser Angabe unmittelbar anschließendem Satze: »Die Vermehrung ist aber doch so stark nicht von denselbigen hier in Deutschland, als wo sie in ihrem ordentlichen Vaterlande sein. Ob sie gleich alle Jahre brunften, so gehen und bleiben sie doch sehr vielfältig gelte«, die sich zunächst ganz allgemein auf die in Deutschland überhaupt gehegten Wisente bezieht, ist aber wohl gleichzeitig auch ein Urteil über die Grethener Tiere mit enthalten, über deren weitere Geschicke wir dann aber ebensowenig etwas erfahren, wie über die bei Liebenwerda ausgesetzten Wisente.
Die im Lande eingeführten Tiere fanden zunächst wohl in Moritzburg Aufnahme, wo bereits vor dem Jahre 1703 einige Stallungen vorhanden waren, die auf einem alten Baurisse des Schlosses ausdrücklich als Auerochsen- und Büffelställe bezeichnet sind. Im Jahre 1727 richtete man dann an der Dresden–Großenhainer [384] Straße auf Kreyener Revier (westlich von Moritzburg) einen eigenen Auergarten ein, an den heute noch die Auerschänke die Erinnerung aufrecht erhält. Über die Zahl und die Zeiten der erfolgten Wisenteinführungen sind wir bisher nur auf das allerdürftigste unterrichtet; sicherlich sind die vorhandenen Quellen, die uns hierüber Auskunft geben können, bei weitem noch nicht erschlossen. Von Koepert hören wir nur, daß im Jahre 1731 eine Anzahl Wisente aus Litauen in Kreyern eintraf und Freiherr von Friesen (Beiträge zur Jagdchronik des sächs. Hofes. Tharandter Forstl. Jahrb. 15, 1863, 304) vermeldet, daß nach dem Hofjournal vom 14. April 1747 der Posthalter Opfermann »von Warschau anhergekommen sei und zwei Auerochsen in Kasten mitgebracht habe«. Auch über die Mengen der in Moritzburg und Kreyern vorhanden gewesenen Tiere erfahren wir nur wenig; nach Koepert befanden sich 1740 im Friedewalder (Kreyener) Auergarten fünfundzwanzig junge Wisente, im November 1742 elf ebenfalls junge in Moritzburg. Diese Angaben und vor allem auch die Zahl der 1733 nach Liebenwerda überführten Tiere (neunundvierzig Stück) lassen auf das Vorhandensein von zeitweilig recht ansehnlichen Mengen schließen. – Die Auflösung des Kreyener Auergartens erfolgte, wie wir bereits hörten, im Jahre 1793 und die damals in ihm noch vorhanden gewesenen Wisente wurden nach der Liebenwerdaer Heide überführt. Mit dieser Nachricht endet für uns die Geschichte der Wisenthege in Sachsen; ihre Kenntnis ist, wie aus unseren Darlegungen hervorgeht, noch eine recht lückenhafte, und dem Historiker bietet sich daher eine dankbare Aufgabe dar, sie weiter klarzulegen. Insbesondere wäre es von großem Wert, weitere Kunde über die in der Liebenwerdaer Heide und bei Grethen erfolgten Aussetzungen und ihre Erfolge zu erhalten. –
Des Interesses halber sei hier noch erwähnt, daß in den Jahren um 1770 in den europäischen Großstädten ein nordamerikanischer Bison herumgeführt und zur Schau gestellt wurde. Auch in Dresden wurde er gezeigt, scheint hier aber nicht [385] allzuviel Interesse gefunden zu haben. In »Einige Nachricht von dem allhier, und neuerlich zu Leipzig fürs Geld gezeigten Bisont oder Buckelochsen« in den Misc. Saxonia VI, 1772, S. 162–164 nämlich lesen wir: »Da dieses Thier hier unter dem Namen eines Americaners herumgeführt und aus denselben eine so große Seltenheit gemacht worden; So hat ein gewisses inländisches Wochenblatt eine kurze und richtige Beschreibung desselben gegeben, worinnen zugleich gezeigt wird, daß der Bison jubatus eben kein so fremdes Thier gewesen sei. Der Name ist … wahrscheinlicherweise deutschen Ursprunges. Das Thier selbst ist vom Auerochsen [= Wisent. Der Verf.] wenig unterschieden. Masecov hat … das Bild des Bisont (Wisent, oder Wesent, wie es von alters hier in Deutschland hieß) stechen lassen, und es hat mit dem herumgeführten alle Aehnlichkeit … Hieraus erhellet einigermaßen, daß der hier so genannte Americanische Bison jubatus nichts anders als der große wilde Auerochse, oder Waldochse, den man sonst in Litthauen, in der Ukraine, in Pohlen, Preußen, Pommern u. s. w., also ganz in der Nähe findet, und daß dieses eigentliche Vaterland etwan die nördliche Gegend von Europa sey. Hier in Dresden hat der Herumführer nicht eben viel Beyfall und fast gar keine Bewunderer seines Bisonts gefunden, und die ihn ja für sehenswert gehalten, werden eben nicht bedauern, daß er nunmehr in Berlin mit Hunden und einem seiner Stiefgeschwister, dem Auerochsen, gehetzt werden soll … Beydes also, die wenige Seltenheit sowohl, als die gegenwärtigen Zeitläufte, machen uns dergleichen Neuigkeiten vollkommen entbehrlich«.
Etwas eigentümlich mutet es an, daß dem ungenannten Verfasser der »Nachricht« es nicht bekannt gewesen zu sein scheint, daß Wisente noch kurz vor seiner Zeit in Dresden zu den Kampfjagden verwendet wurden und daß sie lebend jedenfalls noch in unmittelbarster Nähe der Stadt, im Kreyener Auergarten vorhanden waren. Denn dieser wurde ja erst 1793 aufgelöst und enthielt zu dieser Zeit bestimmt noch einige Wisente.
Fußnoten:
[3] Europas letzte Wisente. Zeitschr. f. Vogelsch. u. a. Gebiete des Naturschutzes 2, Berlin 1921, 63–73. – Meine Begegnung mit dem Wisent in Bialowies und die Geschichte seines Unterganges. a ) Pallasia, Zeitschr. f. Wirbeltierkunde, herausgeg. v. Rud. Zimmermann. 1, 1923/24, 55–64. b ) Helft uns den Wisent erhalten! Eine Werbeschrift, herausgeg. v. d. Int. Gesellsch. z. Erhaltung d. Wisents, 1923, 15–25.
[4] »Die Wisente, die anscheinend durch die ständige Fütterung vollkommen an den Menschen gewöhnt waren, trotteten (beim Einmarsch der deutschen Truppen) teilweise neben den Kolonnen her, vielleicht in der Annahme, daß es Futterwagen wären. Es machte keine Schwierigkeiten, bis auf zehn Schritte an die Herden heranzukommen … Leider wurde bei dieser Gelegenheit so manches Stück dieses fast ganz ausgestorbenen Wildes … niedergeknallt« (Hpt. Gruber in »Bialowies i. d. V.«, S. 6).
[5] »Stumpfsinnig standen die Kolosse dem Futterstadel zugewandt im nahen Stangenholz. Nahezu unbeweglich, das mächtige Haupt gesenkt, warteten sie dort, eigene Nahrungssuche verschmähend, daß ihnen der Tisch gedeckt werde« (G. Escherich, Bialowies i. d. V., S. 200).
[6] Wisente im Zwinger. Zoologischer Beobachter 57–60, 1916–19 besonders 60, 1919, Seite 124 folg., 149 folg.
[7] Eine der bekanntesten und trotz einer gewissen Steifheit in der Darstellung auch wertvollsten Abbildung verdanken wir dem österreichischen Gesandten Freiherrn von Herberstain, der um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts den Ur sowohl wie auch den Wisent in Polen kennen lernte und beide (wohl noch in seinem Besitze befindlichen ausgestopften Stücke) zeichnen ließ und die Zeichnungen mit Beschreibungen der Tiere in seiner 1557 in Wien erschienenen »Moscovia« veröffentlichte. Ein anderes Urbild ist das sogenannte »Augsburger Urbild«, das der englische Zoologe Smith gegen Anfang des vergangenen Jahrhunderts bei einem Augsburger Altertumshändler entdeckte und 1827 in einer guten Wiedergabe veröffentlichte. Leider aber ist das Original inzwischen wieder verloren gegangen. – Die Herberstainschen Abbildungen sowohl wie das Augsburger Urbild habe ich unseren Ausführungen beigegeben.
[8] Der für den Ur (oder das Urrind) vor allem nach dem Vorbilde Nehrings gebrauchte Name Auerochs bezieht sich gar nicht auf diesen, sondern ist, wie der gründlich schürfende Szalay nachgewiesen hat, eine erst um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts in Aufnahme gekommene Bezeichnung für den Wisent, dessen Name seit etwa 1600 so gut wie vergessen war und erst nach 1850 wieder gebraucht wurde, sich allgemeiner aber erst nach 1870 einbürgerte. Seiner verhängnisvollen Doppelsinnigkeit wegen (er hat in der Tat auch bereits große Verwirrungen angerichtet) sollte der Name Auerochs daher zugunsten der klaren Bezeichnungen Ur und Wisent auch gar nicht mehr gebraucht werden.
[9] Beilage zum Jahresbericht des Vitzthumschen Gymnasiums in Dresden aus dem Schuljahre 1913/14, Dresden 1914. – Es ist allerdings bedauerlich, ja direkt unverständlich, daß der Verfasser auf die bei allen derartigen Arbeiten ganz selbstverständliche Standortsangabe der von ihm benutzten Archivalien verzichtet. Dadurch hat er nicht nur die Benutzung seiner sonst so verdienstvollen Arbeit ungemein erschwert, sondern auch ihren Wert künstlich erheblich herabgedrückt.
[10] Ist in dem, erst nach der vom Kurfürsten Friedrich August bereits im Juni angeordneten Überführung von Wisenten nach der Liebenwerdaer Heide, am 21. Juli veröffentlichten Patent, das keinerlei Angaben über den oder die Orte der Aussetzungen enthält, schon ein unausgesprochener Hinweis auf die Grethener Aussetzung enthalten? Szalays Angabe (Wisente im Zwinger): »1746 (mit Fußnote: »Oder etwas früher«) hat man in Grethen bei Grimma einige Wisente … ausgesetzt«, muß nach dem oben gehörten in »Einige Jahre vor 1746« abgeändert werden.
Von Paul Apitzsch , Oelsnitz i. V.
Mit sieben photographischen Aufnahmen von Curt Sippel, Plauen
Ein klarer Wintertag liegt über den Waldbergen des südöstlichen Vogtlandes. Ich steige mutterseelenallein von Klingenthal auf steilen, eisbekrusteten Pfaden zum Ortsteil Körnerberg empor. Im Schnee vergraben, hocken am Hange die letzten Hütten. Tief unten das engbebaute Zwotatal. Gegenüber ein blendendweißes, dunkelgesäumtes Wiesenband zu beiden Seiten des Markhausener Baches mit dem bewaldeten Nebelberg (758,9 Meter) und dem kahlen Falkenberg (744,3 Meter). Südostwärts weiterwandernd, ändert sich urplötzlich die Szenerie. Von den gewundenen Wegen der »Quittenbachalpen« aus wird ein wahrhaft alpiner Tief- [386] und Fernblick gegen Süden frei. Kurz hinter Kamerun wird zum ersten Male die Schneekuppe des Aschberges sichtbar. Rechts, gegen Süden, erscheinen die Graslitzer Berge: Hausberg, Eibenberg und Grünberg; dahinter breitgelagert Glasberg und Muckenbühl sowie die prachtvolle Silhouette des Königs im Grenzgebirge, des Silberbacher Spitzberges (994,3 Meter). Jenseits des Waldgutes Untersachsenberg nimmt die sächsisch-böhmische Grenzstraße den Charakter eines ausgesprochenen Kammweges an. Schneidender Höhenwind peitscht und biegt die Vogelbeerebereschen am Wege. Brennendrote Fruchtbündel hängen noch immer im Geäst, und schillernde Krammetsvögel streichen lautlos von dannen beim Nahen menschlicher Tritte. Allmählich erschließt sich nordwärts der Blick in die Täler des Brunndöbra- und Steindöbrabaches, während anderseits immer noch das böhmische Gipfeltriumvirat Glasberg-Muckenbühl-Spitzberg das Landschaftsbild beherrscht. Ein alter, siebzigjähriger Schwaderbacher Einwohner, der mit schwerer Bürde am Gestänge des Wegrandes ausruht, bezeichnet mir die Grenzstraße als »evangelische Strassen«. Tatsächlich ist hier die politische Grenze identisch mit der konfessionellen.
Der nun folgende Ortsteil »Grenzstraße« schneidet genau das sächsische Untersachsenberg von dem böhmischen Schwaderbach ( Abb. 1 ), dessen graues katholisches Gotteshaus inmitten verstreuter Holzhütten aufragt. Der Weg erreicht bei Grenzstein 600 den Ort Obersachsenberg . Beim Waldgut Obersachsenberg weder links, noch rechts abbiegen, sondern den steilansteigenden Grenzweg geradeaus. Oberhalb der zweiten, struppigen jungen Buche, unweit der letzten, höchsten Hütten von Schwaderbach und Aschberg, da, wo die im Schnee verschütteten Steingeröllmauern des Gipfelplateaus beginnen, steht in etwa neunhundert Meter Seehöhe [387] der Grenzstein 606 . Hier stoße den Wanderstab in die kristallene Kruste des Hartschnees; hier halte inne und schaue rückwärts. Denn hier bei Grenzstein 606 am Westhange des Aschberges, nicht auf dem Gipfel des Aschberges, ist, meiner persönlichen Auffassung nach, der bedeutendste Aussichtspunkt des gesamten Vogtlandes .
Im zweiten Jahrgange seiner Monatszeitschrift »Das Vogtland und seine Nachbargebiete« warf Kurt Arnold Findeisen die Preisfrage auf: Welches ist der hervorragendste Aussichtspunkt des Vogtlandes? Ich beteiligte mich an dem Preisausschreiben, sprach dem Silberbacher Spitzberg die Siegespalme zu und heimste einen Preis ein. Heute, zehn Jahre später, bin ich andrer Ansicht. Ich habe seitdem auf meinen Wanderfahrten kreuz und quer durchs Vogtland mancherlei Neues geschaut, aber nirgends einen Fernblick gefunden, der sich messen könnte mit dem vom Grenzstein 606 aus. Nach Einheitlichkeit, Geschlossenheit, Großzügigkeit und Eigenart steht für mich auch heute noch der Silberbacher Spitzberg an erster Stelle. Aber die allseitig geschlossenen, starren Waldkonturen und der Blick auf ein beinahe unbebautes Gelände verleihen der Rundschau vom Granitgipfel des Spitzberges etwas unsagbar Totes, Einsames, Gedrücktes. Es fehlt das Belebende menschlicher Wohnstätten, das Abwechselnde in Form und Farbe, das Frohe und Freudige. Und gerade das bietet der Blick vom Grenzstein 606 aus in überreichem Maße. Die zahllosen, verstreuten Häuschen und Hüttchen von Schwaderbach und Quittenbach, von Ober- und Untersachsenberg, von Brunndöbra, Steindöbra und Georgenthal, die stattlichen Gotteshäuser und Schulgebäude im Tal, die schmucken Stätten der Industrie und anheimelnde Landhäuser im Heimatstil geben dem Bilde etwas [388] ungemein Liebliches. Graue Sträßchen und schmale Fußsteige ziehen im Sommer von Haus zu Haus durchs grüne Gelände. Wedelnde Wäsche auf schwanken Leinen in den Farben der nahen Tschechoslowakei, weiß, blau und rot, flattert im Bergwind vor den Hütten. Überall wird das Grün der Hänge und Hügel unterbrochen und belebt von bunten Farbflecken.
Heut’ freilich ist alles in einfache Formen und einheitliche Farben gegossen. Wuchtig hebt sich Terrasse über Terrasse, reiht sich Kuppe an Kuppe ( Abb. 2 ). Alle Einzelheiten verwischt, alles Kleinliche getilgt, die ganze weite Winterwelt in blendender Größe als Einheit vor uns hingestellt.
Im Westen glutet blutigrot der Feuerball der scheidenden Sonne. Rasch senkt sich Dämmerung über das Waldland. Wie mit krallenden Fingern kriecht und klettert die Dunkelheit aus den Tälern herauf zu meinem sonnigen Hochsitz. Und dann kommt das Schönste. Wie ein Lichtlein nach dem anderen in tausend Fensterchen aufglimmt, wie mählich die Linien der Ferne und die Umrisse der Nähe zergehen, wie aus der stärker einsetzenden Nacht immer zahlreicher und deutlicher die stillen Lichter aufflammen und wie schließlich ein irdisches Sternenheer in schier überirdischer Schönheit uns entgegenleuchtet. In den Tälern die Lichtflecken gehäuft, an den Hängen die Lichtfünklein weiter voneinander entfernt, auf den Höhen hier und da ein einsames Leuchten. Und ganz in der Weite der fleckenlose, fahle Schein fernabgelegener größerer Ortschaften. Das Bellen eines Hundes, das Rattern eines Eisenbahnzuges, sonst kaum ein Geräusch in weiter Runde.
Kurz vor der Schlafenszeit der Waldbewohner erreicht die Schönheit des Lichterglanzes ihren Höhepunkt. Und dann verlöscht ein Fünklein nach dem anderen. [389] Nur einigen wenigen fleißigen Arbeitsbienen oder wohl auch fröhlich-faulen Zechern leuchten die letzten Lichter, bis auch diese verlöschen und rabenschwarz die Bergnacht über dem Grenzgebirge liegt.
So stehe ich lange, lange mit schmauchendem Pfeiflein am Grenzstein 606, sehe den Wintertag schwinden und die Winternacht heraufziehen, sehe das Lichtermeer des südvogtländischen Musikwinkels kommen und gehen und steige in später Stunde hinab zu den Wohnstätten der schlafenden Waldbewohner. –
Am anderen Morgen, in aller Herrgottsfrühe, geht’s empor zum Gipfel des Aschberges . ( Abb. 3. ) Winterpracht! Rauhreif liegt über den Höhen. Jede junge Fichte eine Kristallkrone, jede Kiefer ein Gespenst, jedes Wacholderbäumchen eine [390] duftigzarte Filigranarbeit. Alle Formen einseitig verzerrt. Die dünnen Stangen des Wildgatters sind zu breiten Brettern, die Bretter zu Balken geworden. Am Boden ragen die starren Stengel des Wegerichs, die buschigen Schäfte der Schafgarbe und zierlich mit Eisnadeln besetzte Dolden über die Schnee-Ebene. An der unbewaldeten Seite des Gipfels ziehen zahllose parallele Skifahrerfährten geradlinig dahin. Die glatten Felsen des Kulminationspunktes mit der Triangulierungssäule (939,5 Meter) sind an der Wetterseite mit gewellten Eisplatten bekrustet. Von Böhmen herüber schieben sich Nebelschwaden vor und geistern zwischen einseitig bereiften Fichtenstangen. ( Abb. 4. ) Und nun steuere ich weglos nach der Senke zwischen Aschberg und Großem Rammelsberg, um bei Grenzstein 624 die von Obersachsenberg nach Morgenröthe führende Waldstraße zu erreichen. Die Nebelfetzen wachsen an zu Wolkenbalken, und da die von Schneemassen überwuchteten Grenzsteine kaum erkennbar sind, ist größte Aufmerksamkeit erforderlich. Trotz der frühen Morgenstunde ist die Waldstraße belebt von Skifahrern, die auf leichten Brettern nach der rechts des Weges gelegenen Kurt-Seydel-Sprungschanze gleiten. Der mächtige Holzbau, heute überzuckert mit Rauhreif und Neuschnee, wurde 1923 vom Wintersportverein »Aschberg« errichtet und bietet prächtige Blicke hinab ins Tal und empor zu den Waldhängen des 962,7 Meter hohen Rammelsberges. Ich aber biege links ab und folge den blauen Zackenzeichen des Erzgebirgskammweges bis zur Staatsstraße »Klingenthal–Auerbach« ( Abb. 5 ). Im »Buschhaus« zu Mühlleithen halte ich Mittagsrast und breche, um vor Anbruch der Dämmerung den Abendzug in Muldenberg zu erreichen, zeitig auf. Mein Nachmittagsziel ist der 941,3 Meter hohe Kiel . Es ist dies kein eigentlicher Berg, sondern ein Gebirgsstock, der sich in einer Gesamtflächenausdehnung [391] von fünfundzwanzig Quadratkilometern stufenförmig aus den Tälern des Steinbaches, der kleinen Pyra, der Boda, des Sau- und Silberbaches, also im Wasserscheidengebiet Mulde–Eger, aufbaut und von einem Vasallenkranz von zwölf Vorbergen umgürtet wird. Das Aschberggebiet mit seiner dichten Besiedelung, mit seinen Skihütten und Sprungschanzen tritt von Jahr zu Jahr mehr aus seiner Wintereinsamkeit heraus. An klaren Wintersonntagen wimmeln seine Hänge von skifahrenden Naturgenießern. Am Kiel, bei Winselburg und um den Schneckenstein, steht schweigend der weite Winterwald. Der Massensportbetrieb konnte hier noch nicht festen Fuß fassen. Es fehlen die waldlosen, geneigten Flächen, und wenn auch hier und da zwischen weitständigem Hochwald eine Blöße lagert, so gibt es am Kiel doch zu viele Fichtendickungen, die dem [392] Sportsmanne das Fortkommen erschweren. Und doch lockt mehr als eine breite Schneise den Fahrer zu Tal. ( Abb. 6. ) Weite Fernsichten lassen die Höhenwanderer nicht los, obwohl schon dämmerig lange Baumschatten über den Weg huschen.
Außer den sieben Häuschen von Winselburg gibt es am Kiel keine Siedlung. Die blinkenden Fenster der allerobersten Hütte schauen weit hinaus nach Norden und Osten, hinüber zu den Waldbergen des westlichen Erzgebirges, auf Kuhberg und Auersberg ( Abb. 7 ), die von hier aus bei starkem Schneebehang des Hochwinters nicht als graue Waldrücken erscheinen, sondern als leuchtendweiße Schneewände über tieferliegende dunkle Vorberge und Talgründe emporragen.
Lebe wohl, mein Wintersonnenland! Wenn des Vorfrühlings Föhn wieder über grüne Waldwipfel fegt, dann: Auf Wiedersehen am Aschberg und Kiel!
Für die Schriftleitung des Textes verantwortlich: Werner Schmidt – Druck: Lehmannsche Buchdruckerei
Klischees von Römmler & Jonas, sämtlich in Dresden
Der Landesverein Sächsischer Heimatschutz bietet seinen Mitgliedern und Freunden eine
Weihnachtsgabe von unvergänglichem Werte
in dem » Jahresring deutscher Festspiele « von
Valerie Friedrich-Thiergen:
Vom Bornkindel über den Maienbaum
zum Knecht Rupprecht
Die Dichterin, eine der begabtesten, die dem sächsischen Stamme erblüht sind, umspannt in zehn Dramen alle Festzeiten des Jahres: Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Totensonntag, aber auch die alten deutschen Volksfeste des Dreikönigabends, der Fastnacht, des Maienbaums. Sie hat sich für ihr Werk in gedrungenem Aufbau und echt volkstümlicher, kernhafter Sprache einen »eigenwüchsigen Stil« geschaffen, der die Seele im Innersten packt und ergreift und in der Erfassung der Ewigkeitswerte fördert. Mit ihrer Mischung von tiefgründigem Ernst und schalkhaftem Humor eignen sich diese Festspiele ebensogut zu beschaulicher Lektüre, wie zum Vorlesen am Familientische, wie zu dramatischer Aufführung in kleineren und größeren Volkskreisen. Valerie Friedrich-Thiergens Werk ist etwas ganz Besonderes und kann auch durch keinen zweiten Band vermehrt werden, da die Dichterin am 19. November 1924 von allen, die sie kannten, aufs tiefste betrauert, eines frühen Todes verstorben ist.
Der künstlerisch sehr gelungene Einband ist vom Professor Georg Erler gezeichnet, die Geleitsworte sind von Otto Eduard Schmidt und Karl Reuschel geschrieben worden. Der Preis des in Halbleinen gebundenen Buches ist 3 M., bei direkter Übersendung vom Landesverein Sächsischer Heimatschutz, Dresden-A., Schießgasse 24, ausschließlich 30 Pfg. Postgeld und Verpackung.
Außerdem vermittelt auch jede Buchhandlung die Bestellung.
» Aus grauen Mauern und grünen Weiten «
Schauen und Sinnen auf Heimatwegen
von
Gustav Rieß
5. Band der Heimatbücherei des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz, Dresden-A.
»Endlich!« rief ich frohgelaunt aus, als ich in der Vereinsleitung die Neuerscheinungen mir ansah – »endlich ein Buch von Gustav Rieß!« Und gleich nahm ich es unter den Arm und machte mich daheim drüber her. Daß es etwas Gediegenes sein würde, dafür bürgte mir ja der Name des Verfassers, daß er mir aber Augenblicke so hohen Genusses bereiten würde, das hätte ich selbst bei meiner hochgespannten Erwartung nicht zu hoffen gewagt.
»Wer ist Gustav Rieß?« höre ich aus dem Leserkreis fragen? Nun, lieber Vereinsbruder, du stehst sicher noch nicht lange in unseren Reihen, sonst müßtest du’s wissen. Zu deiner Entschuldigung sei immerhin zugegeben, daß der Träger dieses Namens in letzter Zeit seinen Mund in unseren Vereinsberichten lange nicht aufgetan hat, aber wir Älteren und Alten aus der Heimschutzarbeit, wir wissen, wer Gustav Rieß ist! Wir wissen, welche Fülle von Liebe, von Treue und Aufopferung für den Heimatschutz in diesem Manne sich einet. Haben wir nicht oft schon in den Vereinsabenden zu seinen Füßen gesessen und seinen Vorträgen gelauscht, haben wir nicht so oft seine Beiträge in den grünen Heften gelesen, und war es uns nicht dabei immer, als müßten wir dem Manne, der solches zu sagen und zu schreiben wußte, die Hand drücken in Verehrung und Dankbarkeit, ihn, den die Liebe zur Heimat zum Dichter macht, aber auch zum berufenen, klug wägenden Berater in allem, was der Heimat frommt; zum Vorkämpfer und Führer in den Reihen unseres Vereins?
Wie es nicht mehr gut angängig ist, den Namen Kursachsen auszusprechen oder zu lesen, ohne dabei an den Kursächsischen Wandersmann Otto Eduard Schmidt zu denken, so wird es nach Erscheinen dieses Buches und seinem hoffentlich recht tiefen Eindringen in die Bevölkerung nicht mehr möglich sein, den Namen der alten Bergstadt Freiberg zu nennen, ohne dabei sich an Gustav Rieß zu erinnern.
Denn dieser altersgrauen Stadt droben im Erzgebirge gehört Dienst, Lebe und Leben unseres Verfassers. Als technischer wissenschaftlicher Beamter, als Stadtbaurat, wirkt er in Freiberg. Und fürwahr, in keine treuere Hand, an kein wärmeres Herz hätte der Rat wohl das bauliche Geschick seiner Stadt legen können. Denn der Posten eines Stadtbaurates ist gerade in unserer Zeit, die zu erwachen begonnen hat aus dem bleiernen Schlafe, des Stumpfsinns in Kunst- und Bausachen, im Rate wohl jeder deutschen Stadt einer der wichtigsten. Auf wie viele Spuren am segensreichen Wirken unseres Freundes trifft der aufmerksame Beobachter, der Kenner von Freiberg, bei seinen Gängen durch die alte Stadt! Und hätte Rieß weiter nichts getan, als das in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, in spießbürgerlichem Sinne so arg verschandelte Rathaus wieder herauszureißen aus Kleinlichkeit und Kümmerlichkeit, sein Name würde allein dieserhalb in der Stadtgeschichte leben. Mit seinem Buch aber tritt Gustav Rieß weit hinaus aus dem Mauerring von Altfreiberg.
Wohl singt und klingt’s von altem sächsischen Bergmannsgeist, von Freiberger Bürgertreue und Freiberger Gelehrsamkeit in den Blättern des Buches, aber die Seele des Werkes ist so deutsch schlechthin, daß dieses ganz gewiß ein Freund in den Häusern jeden deutschen Stammes werden kann. Neben gründlichen wissenschaftlichen Hinweisen, besonders baukünstlerischem und geschichtlichem Inhaltes enthüllt sich in dem Werk ein so schönes, geläutertes Menschentum, eine so reine Naturnähe, eine so wohltuend belebende Wärme ohne alle falsche, so oft als »poetisch« mißverstandene Sentimentalität, daß das Buch ganz besonders unsrer heranwachsenden Jugend in die Hand gegeben werden sollte, um so mehr, als es doch auch an Romantik, aber an echter, kernhafter, in den Blättern beileibe nicht mangelt.
Ich will nichts näheres aus dem Inhalt dieses neuen, des fünften Bandes unserer Vereinsbücherei berichten, so sehr mich’s dazu auch treibt. Es ist alles gut, rein und echt. Ein Heimatbuch, wie es nicht gleich wieder erscheinen dürfte. Darum – nehmt und genießt, was der Verfasser Euch bringt, der Mann, der in unseren Vereinsheften einmal das Wort fand von der Heimatliebe, die mit der Abendröte zieht übers Land – freut Euch seines Schaffens und dankt es ihm dadurch, daß Ihr sein Werk eindringen lasset in die weitesten Schichten unseres Volkes – denn dieses Buch, es verdient’s!
Gerhard Platz.
Preis M. 4.— geschmackvoll gebunden, Großoktav, 380 Seiten
Bestellkarte in diesem Heft!
Lehmannsche Buchdruckerei
Dresden-N.–Obergraben.
Weitere Anmerkungen zur Transkription
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ansonsten wurden unterschiedliche Schreibweisen insbesondere bei Namen wie im Original bebehalten. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.