Title : Landesverein Sächsischer Heimatschutz — Mitteilungen Band XIV, Heft 1-2
Monatsschrift für Heimatschutz, Volkskunde und Denkmalpflege
Editor : Landesverein Sächsischer Heimatschutz
Release date : March 12, 2024 [eBook #73153]
Language : German
Original publication : Dresden: Landesverein Sächsischer Heimatschutz
Credits : The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
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Landesverein Sächsischer
Heimatschutz
Dresden
Monatsschrift für Heimatschutz, Volkskunde und Denkmalpflege
Band XIV
Inhalt : Mutzschen, ein vergessenes (romantisches) Kleinstadtidyll – Die Kirche zu Straßberg im Vogtlande – Bauernland – Auf den deutschböhmischen Kammhochflächen des östlichen Erzgebirges – Vogelkundliches aus alten sächsischen Chroniken – Der Luchsstein bei Hinterhermsdorf – Die Farbe im Stadtbild – Ehrenfriedersdorf – Aus der Praxis des Pflanzenphotographen
Einzelpreis dieses Heftes 2 Reichsmark
Geschäftsstelle: Dresden-A., Schießgasse 24
Bankkonto: Commerz- und Privatbank, Abteilung Pirnaischer Platz, Dresden
Bassenge & Fritzsche, Dresden
Dresden 1925
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Band XIII (1924)
Mark 1.50
und 30 Pfg. Postgeld und Verpackung
Landesverein Sächsischer Heimatschutz
Dresden-A. , Schießgasse 24
[1]
Die Mitteilungen des Vereins werden in Bänden zu 12 Nummern herausgegeben
Abgeschlossen am 31. Januar 1925
Von Konrad Haumann
Bilder aus dem Heimatschutz-Archiv durch Photograph Preuß
Abseits von der Heerstraße der Wanderer, zwischen Grimma und Oschatz, südlich vom Wermsdorfer Forst, auf einem Bergrücken malerisch aufgebaut, liegt das Ackerbaustädtchen Mutzschen. Wie sein Name sagt, ein slawisches Besitzerdorf; Musitscin wird 1081 urkundlich zuerst erwähnt. Der eherne Griffel der Geschichte vergaß, mit goldenen Lettern Heldentaten in des Städtleins Chronika zu schreiben. Das beklagenswerte Schicksal war ihm jedoch vorbehalten, von vier Feuersbrünsten 1637, 1681, 1685 und 1724 heimgesucht zu werden, die es dreimal bis auf den Grund einäscherten. Hieraus läßt sich auch des Städtleins sorgenzerfurchtes Antlitz erklären, dessen mit allen Fasern im Heimatboden wurzelnde Bewohner ihre Heimstätten immer wieder aus den Brandüberresten aufbauten. »Aschenbrödel« sollte darum des Städtchens deutscher Ehrenname sein.
Überraschend umweht einen der Geist des achtzehnten Jahrhunderts, sowie man nur den Fuß in den pittoresken, stillen Ort gesetzt hat. Da schaut aus jeder grasbewachsenen Mauerritze, aus dem huckligen Pflaster der aufkletternden Gassen, aus jedem der verhutzelten Häuserchen urtümliche Heimatseligkeit [2] und Heimatliebe, da liegt über spinnwebgrauen Giebeln und alten Toren schlichte Treue am Althergebrachten, wie es gleich echt nur selten in einer sächsischen Kleinstadt sich findet. Geruhsames, fast dörfliches Kleinstadttreiben, da man an einem Ende des Städtchens weiß, was in den Häuschen am anderen Ende zu Mittag gekocht wird, da sich höflich jedermann grüßt und anredet, da man Zeit findet über den gebrechlichen Zaun weg, zwischen zwei Arbeiten, noch ein Schwätzchen mit der Nachbarin zu machen, wo traumverloren eines Klaviers verwehte Klänge durch alte Gassen huschen und wo es sehr viele Alte gibt – ja, so ist es auch in Mutzschen. Aber Mutzschens Romantik haftet im Malerisch-Motivreichen, im Aschenbrödelgewand, und Meister Spitzweg hätte helle Freude gehabt, wenn er sich hätte bescheiden können, nicht so hoch in die Wolken hinein zu malen. – Da geht die »Hauptstraße« krumm und kleinstadtselig an trauten, weinumgrünten Giebelhäusern vorüber, wo samtpfötige Katzen hinter blitzblanken, blumengeschmückten Fenstern behaglich spinnen, krumm, wie eben nur eine Kleinstadtgasse laufen kann. Sie mündet in das winklige und verschobene Marktplätzchen, wo die Häuser runde Torbogen haben. Eng wird’s dann in den »Schloßhäusern«. Über die Brüstung einer altväterlichen Steinbrücke blickt man in eine wilde, struppige Schlucht, auf deren Sohle ein fast versiegendes Wässerlein rinnt. Drüber zwei schwere, mittelalterliche Brückenbogen, die an einem trotzigen Achteck-Turm vorüber zum Schloß führen, das über buntblühenden, von Freitreppen unterbrochenen Gartenterrassen behäbig thront. Es ist ein schlichter Bau, Anfang des achtzehnten Jahrhunderts errichtet (nachdem die mittelalterliche Burganlage 1681 niedergebrannt war), inschriftlich verziert und mit vornehmem Altan. Gegenüber ein bescheidenes, wunderlich angelegtes Turmgebäude, des Schloßverwalters Wohnsitz. Alles atmet mitsamt dem Park ganz den Geschmack jener Zeit. – Sprudelt ein Brünnlein ins grünvermooste Steinbecken. Wer sollte sich wundern, wenn seideknisternd ein galantes Reifrockdämchen mit kunstvoll gepudertem [7] Perückenbau, und in Kniehosen ein gleichfalls perückengeschmückter Kavalier mit zierlichem Degen, naturschwärmend konversierend, auftauchen würden. Auch beim Anblick der »Schloßhäuser« meint man noch Erbuntertänige zu schauen, im zwilchenen Kittel, die Nacken demütig gebeugt vorm vorüberreitenden Schloßherrn, aber ingrimmig vielleicht die Faust heimlich geballt über Willkür und Fron. Und endlich könnte auch ein Fähnlein pluderhosiger Landsknechte über die mittelalterliche Brücke daherziehen, fluchend oder lustig ein Liedlein singend vom Buhlen und von Frau Minne. Mag anno 1600 dort so ausgesehen haben und anno 1700 vorm letzten Brande, wie es heute wiederum aussieht. – Neben dem stattlichen Rittergut die 1834 erneuerte Kirche, auf trutzhafte Grundmauern gebaut, die durch Pfeiler gestützt sind – aber das Gebäude verbaut und merkwürdig nüchtern in dieser altertümlich-traulichen Umgebung. Im Tale die »Pfarrhäuser«, anmutig in Wiesengrün gebettete, verwetterte Häuserchen, die Anfang 1700 von der Kirche erbaut, bis Mitte 1800 dem Pfarrer als Erb-, Lehns- und Gerichtsherrn unterstellt waren. Am »Schloßberg«, der Fundstätte der altberühmten »Mutzschener Diamanten«, ruppiges Mauerwerk, im Grund eine romantische Mühle in der Nachbarschaft baufälliger Hütten. Auch im Tale jenseits, an der nach Grimma führenden Straße, allerorten winklige, engbrüstige Häuserchen, durch Treppen und Gäßchen verbunden, an den grünenden Hängen geschachteltes Fachwerk, verbaut, verklebt, wie eines Vögleins Nest – zigeunerbunt, malerisch. Und das Alter [8] wob ein ehrwürdiges Gewand um diese Häuserchen zwischen Gartengrün, um altertümliche Durchgänge, Mauern und Höfe.
Und nun, Wanderer, der du Mutzschen besuchst, das Städtlein mit dem »melodischen« Namen, der wie ein Kosename für Ehrwürdiges und Schlichtes anmutet – kein Bild aus grauer Urzeit, aber ein prächtig-altertümliches Landstädtchen wirst du finden, wo nur selten ein unechter, nicht bodenständiger Klang mißtönend aufklingen wird.
Von Paul Apitzsch , Oelsnitz i. V.
Mit photographischen Aufnahmen von Kurt Sippel, Plauen i. V.
Oberhalb der Kreisstadt Plauen liegen im breiten Wiesentale der Weißen Elster zwei behäbige Bauerndörfer mit bemerkenswerten Gotteshäusern: Kürbitz und Straßberg. Die von Urban Kaspar von Feilitzsch im Jahre 1624 gestiftete Kirche zu Kürbitz gilt als die schönste Dorfkirche des Vogtlandes. Von unbekannter Hand geschrieben, steht an der Holzvertäfelung eines Betstübchens der Kürbitzer Kirche folgendes Distichon:
Weniger bekannt und geschätzt ist die weiter elsterabwärts auf dem »Burgberg« gelegene Kirche zu Straßberg . Das Geschlecht derer von Straßberg gehört zu den ältesten Adelsfamilien des Vogtlandes. Ein Henricius advocatus de Strasberg wird urkundlich 1209 genannt. Das Stammschloß hinter der jetzigen Kirche wird bereits 1280 als zerstört aufgeführt. Ein Edler von Straßberg war es auch, der zwischen 1232 und 1248 Schloß Vogtsberg bei Oelsnitz erbauen ließ (Dr. Kurt von Raab: »Schloß und Amt Vogtsberg bis Mitte des sechzehnten Jahrhunderts«). Die Kirche in ihrer jetzigen Gestalt hat indes mit dem Geschlechte derer von Straßberg nichts zu tun. Sie ist an Stelle einer urkundlich 1284 genannten Capell zv Straszborgk , die unter dem Orden der Deutschritter stand, von Joachim von Reibold auf Schloß Neundorf im Jahre 1576 erbaut (Rich. Steche: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler, Heft 11). Dieser Joachim von Reibold muß ein sehr vermögender Herr gewesen sein; denn er besaß außer Neundorf und Straßberg auch Netzschkau, Sachsgrün, Ebmath, Haselbrunn, Rößnitz, Polenz, Gutenfürst, Kloschwitz und Thannhof. Nur einem so reich begüterten Patronatsherren war es möglich, die für mittelalterlich dörfliche Verhältnisse außergewöhnlich große dreijochige Hallenkirche zu schaffen.
Wolkenlos und sengend heiß brütet ein stiller Sommernachmittag über der weiten Elsteraue. Ich steige von der staubigen Landstraße den kurzen, steilen [10] Fußpfad zum Gotteshaus empor. Rechts des äußeren Friedhofseinganges schattet breitkronig eine alte Linde, und ihr Blütenduft, von keinem Windhauche verweht, versetzt urplötzlich ins Märchenreich der Romantik. Der weißhaarige Totengräber öffnet die Pforte, und – ich stehe gebannt von der Schönheit des Durchblicks, wie ihn Meister Sippel mit ausgesuchter Kühnheit in Abbildung 4 auf die Platte gebannt hat. Vom dunklen Vordergrund hebt sich lichtübergossen der Vorplatz mit dem schmucklosen, romanischen Porphyrportal ab. Ich trete ein in die kühle Vorhalle . Eine freudige Überraschung! [11] An den Wänden hängen drei alte Schnitzwerke. Zunächst der Mittelschrein eines Flügelaltars mit der heiligen Anna selbdritt, Johannes dem Täufer und einer heiligen Frau ohne Bezeichnung. Auf dem Kirchboden fand ich später die dazu gehörigen beiden Seitenflügel, innen ohne Schnitzwerke, außen mit Heiligenbildern bemalt. Das zweite, kleinere Schnitzwerk in der Vorhalle, die Fußwaschung Christi durch Maria Magdalena darstellend, scheint ein Innenfeld des einen Flügels ausgefüllt zu haben. Das dritte und kleinste Schnitzwerk, stark beschädigt und ohne Bemalung, stellt nach Steche die [12] Geißelung Christi, nach Ansicht anderer Kunstkenner die Geißelung Pauli dar. Es hat mit dem Flügelaltar nichts zu tun und stammt, wie die beiden anderen Holzbildwerke, aus der Zeit um 1500.
Von der Vorhalle im westlichen Turmbau führen zwei Wendeltreppen nach den Emporen und nach der genau über der Vorhalle gelegenen herrschaftlichen Betstube . An den Wänden verblichene Fresken vom Jahre 1626, Geburt und Himmelfahrt des Herrn darstellend. Das Kreuzgewölbe der Decke zeigt allerlei Stuckfiguren und plastische Engelsgestalten. Jetzt einfach weiß [13] getüncht, scheint diese Decke ehedem bunt bemalt gewesen zu sein. Als weiteren Schmuck weist die Kapelle die Wappen der Adelsgeschlechter von Reibold, von Feilitzsch, von Thoß und von Ende auf. An der dem Schiffe zugewendeten äußeren Brüstung ist das Bildnis des 1712 gestorbenen Hofmarschalls Philipp Ferdinand von Reibold angebracht. –
Etwas sehr Merkwürdiges zeigt sich uns, wenn wir nunmehr, von der herrschaftlichen Betstube aus weiter aufwärts steigend, die beiden nächsthöheren Stockwerke des Westbaues in Augenschein nehmen. Diese sind eigentümlicherweise als Wohnung eingerichtet. Das eine Stockwerk enthält zwei stattliche Wohnräume, eine Küche mit Herd, eine Wandnische zur Aufbewahrung von Speisen und einen Vorsaal. Von diesen Räumen führen zwei sich entsprechende Treppen nach dem obersten Geschoß, welches die ebenfalls schön gewölbten Schlafzimmer enthält. Steche vermutet, daß mit diesem Wohnungseinbau die Herren von Reibold einen Druck ausüben wollten, einen selbständigen Pfarrer zu erhalten; denn Straßberg war lange Zeit Filial von Plauen. Ob die hochgelegene Pfarrwohnung jemals als solche benutzt worden ist, läßt sich urkundlich nicht nachweisen.
Und nun steigen wir noch ein Stockwerk höher, hinauf zu den Glocken . Die Kirche zu Straßberg gehört zu den wenigen vogtländischen Gotteshäusern, denen es vergönnt war, ihr vollständiges Geläut, trotz der Metallknappheit des [14] letzten großen Krieges, behalten zu dürfen. Die größte der drei Glocken außer einer kurzen Widmung die Inschrift:
Die mittlere ist die älteste. Sie stammt aus dem Jahre 1673, und der Glockengießer heißt Hiob Breitinger.
Die kleine Glocke, gestiftet vom Kurfürstlichen Sächsischen Rittmeister Adolph Hauboldt Reibold, hat Daniel Hendel aus Zwickau anno 1688 gegossen.
Statten wir zuletzt dem alten Friedhofe , der rings um die Kirche sich breitet, einen Besuch ab. Ehrwürdige Lebensbäume verleihen ihm ein düsteres Gepräge ( Abb. 3 ). Eingesunkene Steinmale und rostkranke schmiedeeiserne Grabkreuze ragen aus einer Wildnis von Blättern und Blüten. Wundersam schmiegt sich aus dem Ostgiebel der Kirche die alte Sakristei an ( Abb. 5 ). Unter den Steinfließen des kleinen Gebäudes ruhen seit 1821 im herrschaftlichen Erbbegräbnis die Gebeine der Rittergutsfamilie Golle auf Neundorf. Später wurde eine Gruft an der im Bilde sichtbaren Außenseite der Sakristei angelegt. Hier wurden Rittergutsbesitzer Karl Bruno Golle (gestorben 1917), Hauptmann Bruno Herbert Golle (gestorben 1917) und Rechtsanwalt Karl Hans Golle (gestorben 1921), beigesetzt. Wilder Wein rankt am bröckelnden Gemäuer empor, und von der Kalktünche des Ostgiebels rieselt an nebelfeuchten Tagen Körnlein um Körnlein. Die seit 1832 nicht erneuerte Kirche zu Straßberg bedarf, soll sie nicht völlig dem Verfall entgegengehen, innen und außen einer gründlichen Erneuerung. Die Kirchgemeinde hat keine Mittel hierzu. Es ist Pflicht der staatlichen Behörden, des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz, des Landesamtes für Denkmalpflege und des Finanzministeriums, helfend einzugreifen und das gefährdete Kunst- und Kulturdenkmal zu retten, ehe es zu spät ist.
Die Abendglocke hebt an zu klingen. Weich weht der Talwind um die schlanken Pyramiden der Friedhofszypressen. Ich steige hinab ins Getriebe des Alltags, und lang noch im Weiterwandern muß ich gedenken des Schicksals der Kirche zu Straßberg.
Von Gerhard Platz , Weißer Hirsch
Das alte Meißen – eigentlich wollt’ ich ja stracks vom Bahnhof aus die Landstraße gewinnen, die mich heute wieder einmal so unwiderstehlich anzieht. Aber wie mich nun der Hauch Jahrhunderte alten Bürgertums umwittert aus all den krummen und holprigen Gassen, da bring’ ich es doch nicht fertig, so wie mit Scheuklappen durch die liebe Stadt zu hasten. Und wie es so geht in dem alten Gemäuer, es kommt immer wieder ’was neues, noch nicht beachtetes hinzu, das auch dem eiligen Wanderer noch zur freundlichen Gabe wird und [15] den Schatz an Erinnerungen vergrößert, den jeder echte Heimatfreund mit dem Namen Meißen verbindet. So beschließe ich denn, einen Umweg zu machen und mich, wenn auch kurz nur, an der Krone unserer obersächsischen Heimat zu freuen.
Die Superintendentenstufen geht es hinauf und an der hohen Schule vorbei, der Fürstenschule St. Afra. Hier bereits macht sich eine Erinnerung auf, die ich wohl immer behalten werde. Im Maien war es des vorigen Jahres, an einem kostbaren freien Werkeltag, da führte mein Weg hier herauf. Feierlich schwieg es im Bannkreis der Schule; es war, als hielten Bürgertum und Werktag respektvoll den Atem an vor dem Wehen klassischen Geistes. Aus [16] den offenen Fenstern hallten die Stimmen der Professoren, die ihre Schüler auf die Höhen des Wissens führten; aus dem Obergeschoß des linken Flügels sang eine Geige süß und weltvergessen – da, ein Schrei, ein schier böotisches Jauchzen und Jubeln! »Ich habb’se, hurra, zwee Maikäfer habb’ ich.« Ein kleiner Barfüßler aus der Unterstadt hatte sich auf die Brüstung der Einfahrt geschwungen und ein paar der gefräßigen Philister im braunen Bürgerrock gefangen. Was galten ihm die Zauberin Kirke und Eos, die rosenfingrige? Fest stand er auf seinen zwei braunen Beinchen im Tage.
Ja, die Jugend in Meißen. Der alte Adrian Ludwig hat’s gewußt, daß das junge Menschengewächs am holdesten in und vor altem Gemäuer emporglänzt. Und als schlüg ich ein Blatt aus seiner Mappe auf, so muten mich die vier Büblein und Mägdlein an, die kurz vor der Zinnenbrücke unterm blühenden Kornelkirschbaum hocken und aus voller Kehle singen: »Weißt du, wieviel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt?« Habt Dank ihr lieben Musikanten, ihr macht mir den Sinn leicht und froh in aller Trauer der Zeit. Einmal schon ward mir hier oben das Herze getröstet im Bannkreis des Domes. Das war in den letzten Tagen des tottraurigen Jahres Achtzehn. Ich war im Dome gewesen und hatte die Liebesoffenbarungen deutschen Geistes dort auf mich wirken lassen. Als ich aber wieder heraustrat in den Tag, da fiel mich der Kummer an wie ein reißender Wolf über des Vaterlandes Schande – und dann sah ich ihn stehen. Schlank und hoch, die grüne Mütze des Fürstenschülers [17] auf dem blonden Haar, so stand er unterm haushohen Fenster des fünften Joches am Langhaus, daran noch die glorreiche Hohenstaufenzeit gearbeitet, und blickte hinauf nach dem Westturm, ruhig und zukunftsfroh. Das feldgraue Gewand, aus dem Waffenrock umgearbeitet zum Bürgerkleid, verriet den Kriegsprimaner, der vom Schlachtfelde zurückgekehrt war für kurze Monate zur alten alma mater. Ich aber konnte den Blick nicht von ihm wenden – nein, noch war das Reich nicht erstorben. Hier stand die Jugend vor mir als Symbol – er mußte ja wieder kommen, der Tag der Deutschen! Das ist die zweite Erinnerung, um die mir der Burgberg so teuer.
[18]
Einen anderen schon, einen Großen, hat ja deutsche Jugend hier in Meißen gepackt, daß er der Grämlichkeit vergaß, in die er zum Leid seines Volkes versunken war – Goethe. Im April 1813 traf er hier mit einer Schar von Lützows schwarzen Jägern zusammen, als er sich auf der Durchreise nach Teplitz befand. Jubelnd umringten sie ihn und baten ihn, daß er ihre Waffen segne. Und siehe, der Mann, der mürrisch das Wort sprach: »Rüttelt nur an euren Ketten – er ist euch zu groß«, der wurde von all dem Jugendbrause doch schließlich gefaßt, daß er den Gruß fand: »Zieht hin mit Gott, und alles Gute werd’ eurem frischen deutschen Mute.«
Ein dritter Tag noch steigt vor mir herauf, wie ich mich der hohen gotischen Pforte nähere. Ein Ostersamstag war es, so wie heute, und ich schritt voll Ehrfurcht durch den Wald der Säulen, die dieses Domes Dach tragen. Vom Orgelchor herab ergoß sich ein Lied voll Glaubens und Jubelns – eine Frauenstimme probte noch einmal den Festgesang des kommenden Tages. Was hatte deutscher Glaube, deutsches Können hier für einen Tempel errichtet in Liebe und Kraft. Wie zog dies steinerne Gebet das Herz hier empor! Rainer Maria Rilkes Worte der Anbetung kamen mir in den Sinn, die also anheben:
Dann blickte ich um mich. Stand er da nicht neben mir, die Stirne gesenkt, das strahlende Auge auf den Boden geheftet, um die Lippen ein Lächeln, solch ein Hergereister aus heiliger Ferne? »Diese Stunde ist ein Geschenk,« flüsterte er mir zu, mein Freund, der Dresdner Maler Bruno Heinz; der Nazarener, wie sie ihn später genannt haben. Er hatte mich heute hierher geleitet und seine Seele tat sich auf, weit und ahnungsvoll an dieser Stätte. Wenn einer, so verstand er den Geist der Werkleute, die an diesem Tempel gebaut haben viele Jahrhunderte lang. Hier weilte er gern. Verkannt und verspottet, von wenigen nur geliebt und verstanden, ist er seine Straße gezogen. In viel äußerer Not und Kränklichkeit, er, der doch ein König war und ein Dichter. Er, von dem seine Getreuen bald darauf in schwarz geränderter Botschaft meldeten: »Er ging hinüber in jene Regionen, die zur Zeit seines dornenvollen Erdenwallens schon seine ureigene Heimat waren: er ging den Weg seiner Sehnsucht.« All sein Wollen und Können hat er grade damals noch in einer Ausstellung darlegen wollen, einer Rechenschaft über sein Leben. Ach, es waren nicht viele, die in der Kuppelhalle vor seinen gewaltigen Blättern verweilten – und war doch eine Stätte der Rast da für die Seele, ein Gottesdienst in wahrer Bedeutung! »Die aber vorübergingen, schüttelten ihre Köpfe« und schritten zum Nebensaal, wo ein tüchtiger Tiermaler prächtige Ochsen und Pferde ausgestellt hatte.
Heute, hier war er glücklich! Mit einem schier fröhlichen Ruck warf er sein Haar in den Nacken und schritt mit mir weiter durch all den Zauber in [19] Kreuzgang, Kapellen und Bildern. Dann aber standen wir unten am Strome, sahen noch einmal hinauf nach dem Berg, und mein Freund fluchte dem Zeitalter der Technik, das das Bild der reinen Magd über der Elbe geschändet hat und der Menschen Seele verwüstet.
Doch nun ade heute, mein Meißen. Hinaus will ich ja in das Land, zu dessen Schutz und Wehr du einstmals bestellt wardst, hinaus jetzt ins Freie!
Möwengekreisch, Dohlengejauchz und rispelndes Stromrauschen gehn mir zur Seite, wie ich jetzt flußabwärts den roten Klippen entgegenschreite. Noch nie sah ich die Albrechtsburg so schön und frei wie von hier aus. An der Schildmauer zwischen Bischofspfalz und Marien-Magdalenenkapelle klettert der Efeu empor und an der Burg gar strebt er hinauf in schwindelnde Höhe bis an die Fenster des zweiten Stockwerkes mit ihren gewaltigen spätgotischen Vorhangbögen. Ein Felsentor öffnet sich dann beim Gasthaus zur Knorre, und frei liegt der Wasserweg vor mir. Gar lieblich fließen die österlich frohen Farben der Landschaft ineinander über – das Junggrün der Saat und das Blaugrau des Stromes, über dem allen das Rot des Steinbruchgewändes am hohen Ufer. Will aber in all dem Sonnenglast das Auge dich schmerzen, so schau dich nur um und lasse den Blick einmal rasten auf dem ruhevoll grauen Altersgewande der Burg.
Wie der Steinbruch am Ufer nagt; nackt und kahl schießen gewaltige Wände gen Himmel. Aber versöhnlich breiten sich auf dem abgeräumten Gelände jetzt neue Weingärten mit frischem Gepfähl und jungem Rebwuchse aus. Da – hoch in den Lüften ein Sperber – stockstill steht er jetzt in dem brausenden Sturm, die Brust tief gesenkt, die Schwingen fast senkrecht gehoben, den langen Stoß aufgebogen vom Winde. Lange kann ich ihn durch das Glas so beobachten; dann geht ein elektrischer Ruck durch den Vogel und wie ein Pfeil schießt er herab ins Buschwerk des Hanges.
Hier nehme ich Abschied vom Strom. Durch sprießenden Laubwald geht’s einen Stufenpfad aufwärts, und unter festlichem Finkengeschmetter betrete ich die gesegneten Fluren von Zadel. Noch einmal aber schweift von hier aus der Blick zurück auf Fluß, Tal und Höhen, bis hinten im Morgendunst der Burgberg die Aussicht verriegelt. Wie reich ist hier wieder einmal unsere Heimat! Ich will nur hoffen, daß im kommenden Mai, wenn der Kirschbaum im Blütenkleid erjauchzt, diese Stätte von den Meißner Liebesleuten recht fleißig besucht werden wird; schöner als hier kann sich’s nirgends wohl träumen lassen von Lebensglück und Liebesdauer landaus und landein.
Zadel hat seine Bedeutung gehabt in der Geschichte der deutschen Besiedlung unserer Heimat. Es war Burgward und geriet früh unter die Klosterherrschaft von Zella. Unterm Krummstab ward die Rebe hier eingeführt und sie gedieh trefflich durch all die Jahrhunderte bis auf unsere Tage. Das alte Klostergut, seit der Reformation Staatsgut, und die benachbarten Hufen waren bevorzugte Weinlagen, und auch jetzt noch baut man hier einen Gutblau, Gutblank und Gutedel, der sich sehen lassen kann. Es hat Jahre gegeben, da hier St. Urban, der Rebenpatron, eine mächtige Segensfülle gespendet; so wurden [20] 1652 hundertunddreißig Faß hier gekeltert. Der Nutzen, der so aus dem Weinbau entsprang, veranlaßte die Bauern, die Weingärten immer mehr auszudehnen, nicht nur in den Hängen, sondern auch auf der Hochfläche, bis Johann Georg II. in volkswirtschaftlicher Erkenntnis dem entgegentrat. »Wo der Pflug kann gehen, soll kein Rebstock stehen,« ist ein richtiges Wort.
In früheren Zeiten bekam die Pfarre zu Zadel ein jährliches Mostdeputat aus den landesherrlichen Bergen. Diese, später gegen Geld abgelöste Gerechtsame hat sich und seinen Herren Amtsnachfolgern wohl der gelahrte Magister Petrus Dietrich verdient. An ihn, heißt es, war einst die Frau Kurfürstin während des öfters vorkommenden Hoflagers auf dem Kammergut herangetreten mit der Bitte, ihren Eheherrn ob seines mächtigen Durstes und dessen allzu bereitwilliger Löschung ein wenig »zu schütteln«. Der Magister versprach, das Seine zu tun; wie er am Sonntag aber den lieben Herrn in seiner ganzen behaglichen Fülle unter der Kanzel sitzen sah, da bracht’ er es doch nicht übers Herz, zu scharf mit ihm ins Gericht zu gehen. Immerhin soll er einige milde Hinweise auf die bedenklichen Folgen allzu scharfen Zechens getan, dann aber mit den Worten geschlossen haben: »Se. Kurfürstliche Gnaden hat’s, es bekommt ihr, Gott segne’s ihr. Amen.« Ergebnis – die oben erwähnte Jahresspende!
Überaus anmutig ist das Kernstück Zadels, das stattliche Kammergut, auf dessen Hof von ferner Höhe her die dreizackige Kirche von Lommatzsch hereingrüßt, und die Dorfkirche. Im Jahre 1842 ward dies Gotteshaus errichtet an Stelle des alten Baus aus dem Mittelalter. Gurlitt nennt die neue Kirche in ihrer noch tastenden Gotik ein nicht unwichtiges Beispiel der auf die ländliche Kunst sich erstreckenden Romantik; und in der Tat, sie ist lieblich.
Unter einer herrlichen Apfelbaumallee ziehe ich dann hinüber zum Golkwald, der die Meißner Gegend von der Großenhainer Pflege trennt. In der Wiese schnarren die Stare, hinter den Weiden am Gosebach taumeln die Kiebitze hoch, und steif und lendenlahm hoppelt Meister Osterhase über die blanke Sturze. Mit Gebraus fährt der Südwest durch den Altgoldschopf der Eiche im Wiesengrunde; dann packt er mich in Genick und Rücken und schiebt mich als lästigen Ausländer über die Zadeler Grenze, hinein in den Golk. Das ist ein schmales, langes Stück trefflich gepflegten Staatswaldes, in dessen Stangen und Schlägen überall gewaltige Felsbrocken verstreut liegen. Sind’s wohl die Reste der Riesensteine, der Geschosse, die jene zwei feindlichen Nachbarn aus dem Geschlechte der Riesen einst gegeneinander geschleudert haben, der eine beim deutschen Zadel, der andere beim slawischen Wantewitz stehend? In noch anderen Strichen des Koloniallandes hier weiß das Volk von solchen Gigantenkämpfen zu berichten. So stammt der Sockel des Königdenkmals im Dresdner Zwinger und der Würfel des Moreaudenkmals von den Riesensteinen in der Nassau. Man darf wohl annehmen, daß mit den gewaltigen Streitern die beiden artfremden Völkerschaften, Germanen und Slawen, gemeint sind, die hier erbittert um die Herrschaft gerungen. Verschwunden ist wendische Art [21] längst aus der Gegend, aber wenn die Bäuerin hierzulande die Gänse lockt mit dem Ruf: »Biele, biele« oder »husch-husch«, so sind das noch Überbleibsel aus der Sprache der Wenden.
Nach kurzer Waldwanderung grüßt mich wieder lachendes Bauernland, Laubach liegt vor mir. Über seine Fluren bin ich schon einmal geschritten, an einem Dezembertag im Schützenkessel. Die vielen Hasen, die allenthalben herumkobolzten, ließen mich damals nicht recht zur Betrachtung der Landschaft kommen. Heute, als schlichter Wanderer, habe ich mehr von ihr und kann mich ungestört an den roten Dächern und stattlichen Obstgärten des freundlichen Ortes freuen. Das Revier ist ja auch nicht mehr in Freundeshand; ich brauche also weiter nicht achtzugeben auf die Zahl der Hasen und Paarhühner, die ich antreffe, um daheim dem Revierherrn zu berichten. Knapp genug mag es übrigens selbst hier im milden Niederland für den armen Löffelmann im diesmaligen Winter zugegangen sein; jedes Weichholzgebüsch ist bis hoch hinauf blitzblank abgeknappert. – Der Gasthof zu Laubach besitzt eine Sammlung von überaus drolligen Öldruckbildern aus dem Jägerleben von Mitte des vorigen Jahrhunderts. Ich habe sie gern, diese derbbunten Blätter, die so lustig all die Verlegenheiten schildern, in die ein Jägersmann geraten kann bei der Suche auf Hase und Huhn, bei der Pirsch auf Hirsch, Reh und »Kittelwilpert«. Es ist das auch eine Art Volkskunst, meine ich.
In träumerischer Frühnachmittagsstunde geht es dann weiter hinaus ins stille Land mit seinen Windmühlen und schwarzen Pflaumenbaumalleen. [22] Kein brüllendes Auto, kein Fabriklärm stört den Frieden des stillen Tages der Grabesruhe; reines, ehrfürchtiges Bauernland schaut hier hinauf in den Himmel. Ganz selten einmal begegnet mir ein ländliches Fuhrwerk, fast stets dann mit wundervollen, edlen Pferden bespannt.
Dort, wo das Land sich zur höchsten Erhöhung aufwellt, steht die neue Kirche von Wantewitz, dem »Dorfe des Iwan«, des grimmigen Feindes von Zadel. Einen erstaunlich weiten Blick tust du von hier aus ins Land. Erdwälle sollen früher das hochgelegene Dorf umgeben haben, noch 1840 sollen sie sichtbar gewesen sein. Damals stand auch noch die alte Kirche hier oben, die so viel mehr für Herz und Gemüt dem Heimatmenschen geboten haben muß mit ihrem wuchtigen, bodenständigen Breitturm als der nüchterne Bau aus dem Jahre 1864. Aber so war es ja damals fast überall im Lande – die alten Kirchen mußten weg. »Baufälligkeit« war meist der Befund, und wenn es dann ans Abreißen ging, da brachte man das ungeheure Mauerwerk oft gar nicht nieder, und die Pioniere mußten kommen mit Pulver und Zündschnur. Manch herzliebes Dorfbild hätte uns erhalten bleiben können; nur mit wirklicher Wehmut kann man Vergleiche anstellen aus den Abbildungen der alten sächsischen Kirchengalerie etwa, die um 1840 herauskam, und denen der neuen Auflage dieses Werkes aus unseren Tagen. – Sauber und nüchtern liegt das Innere der Wantewitzer Kirche vor mir; den schönsten Schmuck hat sie wohl in den zwei Leuchtern auf dem Altar – Eisenguß in edler Hermenform mit [23] klassischer Lichtvase und ruhiger Ornamentik; ein beachtenswertes Werk aus der Frühzeit von Lauchhammer offenbar.
Wild fegt der Westwind jetzt über das Land, die Sonne ist hinter grauen Wolken verschwunden und der bunte Sonnenweiser am Halbhüfnerhaus von Wistauda kann seines Amtes nicht walten. Dorf Porschütz liegt hinter mir, und in der Ferne taucht Großenhain auf in einer auenartigen Landschaft, trotz aller Fabrikessenunzier noch ein trauliches Stadtbild mit seiner hohen graziösen Marienkirche. Fröstelnd blick ich mich um am Wegekreuz, etwas Melancholisches liegt über der Landschaft, und fürwahr, es ist eine traurige Stätte, an der ich jetzt stehe. Vor hundertundeinem Jahre hat sich hier eines jener Nachtstücke aus dem menschlichen Leben abgespielt. Ein junges Mädchen, eine Bürgerstochter aus Großenhain, ist hier einem Wüstling zum Opfer gefallen und unter seinen Fäusten verröchelt. Ins Elternhaus wollte sie heimkehren vom Besuch bei Verwandten über der Elbe, und als sie in den Abendstunden an diese Stätte hier kam, da früher ein Wäldchen gestanden, da brach aus den Büschen der Mörder hervor. Verzweifelt muß sie um ihr Leben gekämpft haben; ein Stück Tuch, aus dem Mantel des Mörders gerissen, verriet diesen später. Dabei ist ihr Hilfegeschrei nicht einmal ungehört verklungen; Landleute auf den benachbarten Feldern haben es gehört, haben es aber »nicht weiter beachtet« – ein bitterer Beitrag zur Geschichte menschlicher Trägheit und Torheit. So mußte dieses »schöne, allgeliebte und gute Mädchen«, wie das Großenhainer Wochenblättchen im Nachruf sie nennt, hier im Angesicht der [24] Vaterstadt sterben. Auf dem Friedhof zu Strießen liegt sie begraben; auf ihrem Leichenstein, zu dessen Füßen ein paar Veilchen hervorsprießen, find’ ich die rührenden Worte: »Groll und Rache sei vergessen, unserm Todt Feind sei verziehn.« Der Vater war ein ehrsamer Buchbindermeister und kannte seinen Schiller. Den kleinen Denkstein an der Mordstätte aber, der im Laufe des Jahrhunderts halb ins Erdreich versunken war, hat der durch zahlreiche Veröffentlichungen um die Heimatgeschichte des Kirchspiels wohlverdiente Pfarrer Hasche zu Strießen wieder heben lassen.
Dieses Strießen mit seiner umfangreichen Geschichte darf wohl als typisches Dorf der Großenhainer Pflege gelten. Viel Beachtliches aus altsächsisch dörflicher Vergangenheit bieten seine Annalen. Da sind die »neuen Rügen«, die der Justizamtmann von Großenhain im achtzehnten Jahrhundert für das eingepfarrte Medessen festsetzte. Ein Paragraph aus ihnen gefällt mir besonders. »Auf jedem Hof,« heißt es da, »sollen zwei Samengänse gehalten werden und ein Gänsch. Der Zuwachs an dem Bestand aber soll zu Martini in jedem Jahr bei Strafe von einem Groschen gänzlich abgeschafft sein.« Ist das nicht eine gar fürsorgliche Anhaltung, den Genuß des edlen Gänsebratens bei denen Untertanen nach Kräften zu verbreiten? Gemeint wird die Vorschrift ja haben, den übermäßigen Weidegang der Martinsvögel einzuschränken. Von Interesse dürfte auch der Gutsübergabevertrag sein, der im Jahre 1740 hierzulande abgeschlossen ward und der einen beachtlichen wirtschaftsgeschichtlichen Beitrag liefert.
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Da wird der Sohn verpflichtet, der das Gut an ihn abtretenden Mutter jährlich sechs Scheffel Getreide zu liefern und mahlen zu lassen. Beim Backen hat er ihr immer von ihrem Mehl zwei Brote und einen Kuchen in die mittelste Reihe des Backofens zu setzen. Er muß für sie eine Metze Lein aussäen, ihr einige Beete im Grätzegärtchen überlassen, dazu ein anderthalbjähriges Schwein und einen »tüchtigen« Stall, auch zwölf Kannen Butter, sechs Kannen Mai-, sechs Kannen Herbstbutter, ein Schock Käse, ein Schock Eier, den vierten Teil von allem Obst, freies Getränke »soweit er es selbst hat,« alle Sonntage eine Kanne Milch für sie bereitstellen. Der Mutter steht die Mitbenutzung des Kirchenstuhls zu, die der Mandelkammer, und der nötige Raum in der Stube, besonders die Hölle am Ofen. Sie darf bei des Sohnes Feuer kochen; wird sie krank, darf sie ihr Bett in die Stube stellen lassen, auch muß ihr eine Wärterin gehalten werden. – Ein guter Rückversicherungsvertrag wahrlich.
Im Jahre 1813 litt das Dorf besonders stark unter den Kriegslasten. Als Napoleon sich endlich am 27. September über die Elbe zurückziehen mußte, gab er den Befehl, das Land nach Möglichkeit zu verwüsten, alle Obstbäume niederzuhauen, sämtliches Vieh fortzutreiben, die Wälder zu verbrennen und alle Nahrungsmittel zu zerstören. Glücklicherweise verhinderte das rasche Vordringen der Verbündeten die Ausführung dieses Befehls. Die sächsischen Truppen aber sollen über die harte Behandlung ihrer Heimat so erbittert gewesen sein, daß sie bei einer großen Parade trotz des brausenden vive l’empereur der französischen Regimenter beim Vorüberreiten des Kaisers in völliger Lautlosigkeit verharrten, obwohl sie Napoleon sogar mit einer Ansprache beehrte.
Gar viel haben wir zwei Heimatfreunde, der Herr pastor loci und meine Wenigkeit, im traulichen Studierzimmer der Strießner Pfarre noch zu erörtern vor uns, da tritt das Pfarrtöchterchen herein: »In zwölf Minuten geht der Zug in Priestewitz ab.« Und so würdelos der Abschied wirken mag – wie ein gehetzter Bösewicht sause ich die Dorfstraße hinunter, und muß das liebe Dorf, das mir mit seinen gemütlichen Bauernhöfen und ummauerten Grasvorgärten beim Einmarsch so wohl gefiel, unbesehen lassen. »Ein und ein halb Kilometer bis zum Bahnhof« steht am Wegestein – und rund zehn Minuten nur Zeit! Da heißt es hergeben, was an Wanderlust noch in den Gliedern geblieben! Aber ich schaff’ es, querfeldein über Wiesen und Äcker; doch erst in Dresden komme ich wieder richtig zu Atem.
Von A. Eichhorn , Glashütte
Aufnahmen: Max Nowak , Dresden
Abseits von den belebten Fremdenorten auf der Nordabdachung des östlichen Erzgebirges liegt unser heutiges Wandergebiet. Noch vor zwei Jahrzehnten [26] ruhte über diesem und jenem Dörflein und Städtlein der genannten Landschaft die Bergeinsamkeit. Da erwachte in den Menschen der Großstadt die Sehnsucht, aus Lärm und stauberfüllter Luft für Wochen in reine Luft und Stille zu fliehen, einmal in einfacheren Lebensverhältnissen zu sein. Das war ein edles und wertvolles Vorhaben. So mancher Häusler kam durch seine Sommergäste zu einem Sparpfennig. Aber bald brachten die »Fremden« das, wovor sie flohen, in die Abgeschiedenheit mit, und manches Stück Bodenständigkeit der Einheimischen in Sprache, Kleidung, Wohnungseinrichtung und Volkssitte schwand dahin.
Abseits von den vielbegangenen Wanderstraßen, die über Nollendorf, das Mückentürmchen und durch den Seegrund führen, dehnen sich die weiten Hochflächen im deutschböhmischen Teil des östlichen Erzgebirges. Nur eine kleine Zahl vom großen Heere der Bergwanderer zieht auf dem Kammwege dahin, der über sie hinwegführt. Und die hier oben wandern, haben nur zu oft ihre vorwärtsdrängende Hast nicht daheim gelassen und können auf der dehnenden Weite nicht zur Ruhe kommen. Wer aber beharrenden Geist mitführt und im beschaulichen Verweilen mitunter den Kammweg verläßt, dem rinnt der Quell der Entdeckerfreuden, dem wird das »Neuland« zum Erlebnis. Nur der flüchtig schauende Wanderer kann diese Landschaft, die sich von Peterswalde an über Streckenwalde, Adolfsgrün, Vorderzinnwald, Hinterzinnwald, Neustadt, Willersdorf, Ullersdorf, Grünwald, Motzdorf, Fleyh bis Georgendorf breitet, »öde« nennen. Dem Kenner bleibt sie ein liebes Wandergebiet.
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Dies Hochland trägt noch den Wintermantel, wenn die Menschen im Tiefland unter blühenden Bäumen den Frühling einatmen. Es ist eine erstorbene Landschaft um die Zeit, wenn die schweren Spätherbstnebel wochenlang darüber liegen. Es ist ein ergreifend Stück Heimaterde zur Mittsommerzeit, da alles seine Farben trägt und über die breitenden Hochwiesen sich ein weiter blauer Himmel spannt.
Zu solcher Stunde tritt einmal an den Rand der Hochfläche, vielleicht auf den Keilberg bei Neustadt, auf den Stürmer, die basaltne Strobnitz oder gar auf den zerblockten wegfernen Wieselstein. Jäh verstürzt sich der gewulstete Rand in eine weite Ebene, darüber sich viele gewaltige Basalt- und Klingsteinkegel türmen. Dein Gedankenlauf geht zurück in graue Zeitferne, da der Steinteig feuerflüssig aus der Erde quoll und zum drohenden Donnersberg, Kletschen, Schladnig, Borschen, Sellnitzer und Radelstein erstarrte, wie Wasser, Eis, Sonne und Wind an ihren Körpern nagten und mit umgestaltender Kraft um ihre Füße ein reiches Pflugland breiteten. Du schaust hinab auf eine einzige, riesige, verdunstete Werkstatt, daraus hunderte von Schloten starren, denen der Rauch in hoher Säule entsteigt und sich im Steigen zur breiten Wolke lockert oder breiig träge über den Rand quillt. Und all die wechselnden hellen und dunklen Qualmmengen fließen zum drückenden Dunstmeer zusammen. In der dunstschwangeren Ebene kriechen viele schwarze Schlangen mit qualmspeienden Köpfen. Das sind die langen Kohlenzüge, die aus dem Kohlenbecken die verkohlten Baumgestalten tertiärer Wälder zu den Dampfkesseln der Werkorte fahren, darinnen mit nervenzerrüttendem Lärm rastloser Menschenfleiß schafft.
Nach solchem Blick in die gärende Tiefe betritt wieder die Hochfläche. Verschwunden sind die aufgeregten Formen. Wie ein Greis in seiner wohltuenden Ausgeglichenheit begegnet dir die Landschaft, wo Wald, Wiese und Moor sich dehnen, die Ebereschenstraße zieht, die Berge sich als sanfte Hügel wölben und dazwischen in der flachen Wiesenmulde, bachentlang, sich das Hochdorf duckt oder verstreut auf freiem Plane hockt.
Du wirst diesen Gang tun mit dem Gefühl, einem erstickend machenden Dunst entronnen zu sein. Deine Atemzüge gehen tiefer. Oh, hier streicht reine Höhenluft, hier scheint die Sonne heller! Das Hehre der Einsamkeit wird dir nun erst bewußt.
Ja, hier oben atmet sichs leichter. Aber es ist eine karge Heimat. Kampf und Entsagung spricht aus ihrem Antlitz. Kämpfen und entsagen müssen Pflanze, Tier und Mensch. Durch alle Monde hindurch währt der Kampf mit den Wetterkräften.
Reißender Sturm und Nebel führen miteinander einen zerzausenden Kampf. Vorbei jagt das weiße Gebrodel, und hinter dem Tarnschleier ahnt der Nebelwanderer die weite Wiese, den Wald. Immer währt ein Kommen und Gehen von weißem Geschiebe. Es ist Erregung in diesem Treiben. Aus [29] der nebelverwischten Landschaft kommt nahes Wasserrauschen. Doch wenige Schritte vorwärts, und das Auge sagt, dem getäuschten Ohr, daß der Sturm mit dem Bergwald ringt. Aber nichts Körperhaftes ist am Walde: Ein schwingender, rauschender Schatten.
Drinnen im Wald wird der Nebel ziehend, wälzend, schleichend. Schwermut liegt im Nebelwald. Ein zeitloses Versinnen überkommt den Wanderer beim Gehen durch das graue Dämmer, das zwischen den Stämmen träge zieht, zuweilen regungslos zu schweben scheint.
Da plötzlich schlägt der Bergfink im Nebelwald. Aber nur mit Mühe vermag das Ohr die Richtung des Schalles zu bestimmen. Es ist, als litte das Ohr, wenn das Auge im Blick zum bunten Sänger gehemmt wird. Dann ruht der Bergwald wieder in seiner erschauernden Schwermut.
Und mit der nebelschwangeren Bergluft atmet der Wanderer die Schwermut ein. Im Versunkensein wird der hastende Geist zur Ruhe gebracht, wird manch Samenkörnlein für kommendes Schaffen erworben.
Ein erschauernder Zauber liegt im nebeltriefenden, sturmzerkämpften Wald. Millionen Tröpfchen hängen am Waldgras, am Nadelgehänge der Fichten. Mit dem Bergwald trieft des Wanderers Mantel, an dessen Saum sich der zu Tropfen gewordene Nebel speicherte. Vom Licht- und Schattenspiel ruht der Wald. Ausgelöscht sind die Waldfarben. Als drohende Gestalten geistern die Überhaltstämme auf der Lichtung.
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Aus dem Nebel löst sich eine Menschengestalt, schreitet mit kargem Gruß vorüber, um sogleich wieder zu Nebel zu werden. Nebelverwischt zieht der Berghirsch über den Weg von Waldwand zu Waldwand.
Unmerklich endete der Wald. Hier lag an Sonnentagen das Hochdorf so wundersam verloren auf seinen Wiesen. Und heute? Doch nah, recht nah muß es sein, denn immer sind Dorfgeräusche vernehmbar, und der Zwitscherlaut der Schwalbe schrillt ans Ohr, die nahrungsuchend durch das Dämmer jagt. Ja, ein harter Kampf ist es für ein Schwalbenpaar, die Kinder zu erhalten, wenn selbst um des Jahres Hochzeit tagelang die mückenleere Nebelluft über den Hochflächen lagert. Wie schreien die kleinen Vogelkinder, wenn die wärmenden Eltern einmal für wenige Augenblicke nestfern sind. Auch die Stare gehören im Hochdorf zu liebgewordenen Sommergästen. Im Starkasten auf der sturmgerüttelten Eberesche wohnen sie. Wohl macht ihnen der Nahrungserwerb nicht so viel Mühe wie den Schwalben, aber kalte Tage bedeuten auch für sie karge Tage, weil das Gewürm im Boden bleibt. Auch jeglichem Haar- und Federwild sind die langwährende Nässe und Kühle zwei schlimme Feinde.
Aus durchwärmter Stube schaut das Auge in das weißgraue Dämmern, das kaum bis zum Nachbarhaus sich öffnet. Da verstärkt sich das Gefühl größter Abgeschiedenheit. Aber sollte heute, an des Jahres längstem Tage, der Nebel sich nicht lockern, nicht weggeblasen werden vom reißenden Luftstrom? Sie geben keine Hoffnung, die nebelkundigen Siedler. Mit tagelanger Nebelhülle auch zur Jahreshöhe sind sie vertraut. Und die bettelnde, wettertrotzende Zigeunerin schreitet barfuß mit ihrem Säugling im Rückentuch in den ziehenden Nebel, dessen nasser Hauch keinen wärmenden Sonnenstrahl zur Erde läßt.
Um die Mitternachtsstunde verglimmen die letzten dampfenden Glühaugen aus regungslos hockenden Gestalten. Totenstill ruht das Hochdorf in seinem Nebelsarge. –
Zerkämpfte Gestalten stehen im Wald und an den Straßen. Windgeschert sind Buche, Fichte, Eberesche. Der Bergwind stellte sie schief am Straßenrande und die Seite, die ihm zugekehrt, schor er ab. Nun gleicht die Baumkrone einem nach hinten zu wehenden Schopf. All die Zweige, die dem dauernd streichenden Winde zugekehrt sind, leiden an übergroßer Verdunstung, denn die wehende Luft wirkt aussaugend auf die Zwischenzellräume in den Blättern, ausgetrocknet wird der Boden und er vermag der übermäßigen Verdunstungsseite des Baumes nicht genug an Lebenssaft zuzuführen. Die Zweige verkümmern, sterben ab. Durch die monatelang gleichgerichtete Zugkraft zwingt der Wind die Äste der Gegenseite in seiner Streichrichtung zu wachsen. In einem so langen, ununterbrochenen Kampfe verlieren die Holz- und Bastzellen ihre Schnellkraft, die Fähigkeit, nach dem Anprall des Luftstromes wieder in ihre alte Lage zurückzuweichen. Die Baumkrone wird windschief.
Feuchtende Nebel, zerzausende Wetterschauer und lastende Eismantel schufen die zerkämpften, zum Teil erstorbenen und wie blitzgetroffen anzuschauenden Baumgestalten auf dem Wieselstein. Trümmerholz in maßloser [32] Menge, entrindet, gebleicht, vereint sich mit dem Blockgewirr zum fußhemmenden Kampffeld. Von jahrtausendelangem Kampfe mit den nagenden Wetterkräften zeugen die zerschundenen Felsmassen, um die sich das Haufwerk von Blöcken schart.
Stürmer! Es mag wohl sein, daß ihm seine Lage an einer der sturmreichsten Randaufwölbung der Kammhochflächen diesen Namen eintrug. Noch nirgends auf dem ganzen Erzgebirge sah ich einen so zerstürmten Buchen wald wie an des Stürmers sanft geneigter Westseite.
Moos- und flechtenüberkrustet sind Baum und Stein im feuchten Hochflächenwald. An den Wurzeln hocken die Becherflechten mit ihren roten Fruchtkörperchen. Unzählbar gelbe Schüsselchen vereinen sich zum leuchtenden Farbenpolster. Auf glatten Buchenstämmen zeichnet die Schriftflechte ihre Runen. Im Verein mit den Flechten haben sich die Moose in den Klüften der zerfurchten Fichtenrinden eingenistet. Hier rinnt das Wasser nicht so schnell herab, da können die winzigen Geschöpfe trinken nach Herzenslust. Gar verschieden sind sie an Farbe, vom hellgelblichen Grün durch alle Grüntöne hindurch wechselnd bis zum dunklen Samtgrün. Der Bergwanderer muß sein Leben schon nach dem Stifterschen Moossucher gestalten, wenn er den Artenreichtum dieses Pflanzengeschlechts ergründen will, das seine volle Farbenpracht im Regen leuchten läßt und mit seiner Schwellung ein Stück Regenschönheit von eigenem Zauber wird droben in der Einsamkeit. –
Es ist eine ernste Zeit für die Siedler, wenn das Heimsen auf den Hochwiesen anhebt. Mit erstem Dämmerschein zischen die Sensen durchs taugenäßte Gras, und wenn das Frühglöckel im Dorfe schwingt, dann eilt Weib und Kind hinaus und hilft mit streuen, wenden, laden. Selbst die kleinste Kraft muß dienen und sei es, daß sie die Heubüschel wiederholt, die der frische Bergwind wegblies, der die perlenden Stirnen kühlt. Mit dem Bergwind streicht würziger Heuruch über die Weiten. Dängelhammergeklirr verhallt sich im Walde.
Heuzeit, heilige Zeit! In diesen Tagen bedeutet die Wiese für den Häusler die Kirche. Gar selten wird von den Heumachern ein Wörtlein laut. Es ist ein schweigsames Heimsen unter dem Sonnensegen, als gelte es, einen Schatz zu bergen, der verlorengeht, wenn Menschenlaut das Bergen stört. So ist es auch. Dem Häusler bedeutet sein Heu den größten Schatz und jede Stunde, ungenützt im verweilenden Gespräch, kann ihm sein Kleinod entwerten, wenn tückisch schnell sich nasser Nebel naht und tagelang nicht wieder weicht.
Hat die Kuh ihr kräftig Heu, dann gibts auch Nahrung und von der Milch bescheidenen Erlös, erworben im stillen Heldentum der Arbeit. Der Bergwanderer nimmt das Mühen wahr, wenn er zu früher Morgenstunde am Steilhang weilt. Wägelchen auf Wägelchen, beladen mit zwei, drei und vier Milchkannen, rollt hinab in die Kurstadt und ihre Vororte. Dem Verkauf folgt die dreistündige, kraftfordernde Heimfahrt. Täglich wird der sechsstündige Lauf vollbracht neben aller Häuslerarbeit, auch wenn die Wiese höchste Kraft verlangt zu ernster Heuzeit.
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Erst wenn die knisternde Ernte unters hohe Schindeldach gezwängt ist, dürfen sich die müden, schmerzenden Glieder in gewohnter Arbeit erholen. Dann folgt dem stillen Belebtsein auf den Hochwiesen durch die Heumacher ein ander Leben. Glöckelnd grasendes Milchvieh schreitet darüber und verwischt mit geräuschvollem Grasen die bogigen Sensenspuren. Des Hüters greller Ruf schreckt das Bergschweigen.
Nur wenige Wochen genießen des Häuslers Kuh und Ziege den freien Weidegang. Während ihre Artgenossen im Tieflande sonnige Gilbhardtstage im Freien verbringen, hocken sie schon wieder im engen Stalle. Und draußen streicht feuchtender Nebel. Draußen heult der Sturm. Im Reif frösteln die Hochwiesen.
Ist die Heuernte geborgen, dann werden die Krüge mit Blaubeeren gefüllt, auf dem Moore die Rauschbeeren gestreift. Einen guten Korn gießt der Vater darüber, dann gibts nach einigen Wochen einen wohltuenden Trunkelbeerschnaps für Magen und Unwohlsein. Und weit habens die Häuslerkinder in ihrer Kunst gebracht, »Schwämme« aufzustöbern. Es muß auch ein großer Vorrat sein, wenn im Winter oft das Schwammlmahl auf dem Tische stehen soll. Der Winter ist ja so lang, so lang.
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Entsagen müssen die Häusler jeglicher Obstfrucht, kein bunter Apfel, keine Birne reift da droben. Nur in der Ferne schauen sie unten ein üppiges Obstland. Grünen Bändern gleich dehnen sich die Fruchtbaumreihen in gelben Weizenflächen und an Straßen. Dort liegt gebender Boden. Dort scheint die Sonne wärmer. Entsagen muß auf der Kammweite das Auge dem Anblick von manneshohem, windgewelltem Halmenmeer, darinnen Rot und Blau und Weiß mit Ährengelb zum Farbeneinklange sich schart.
Der Siedler kann zuweilen nur kniehoch den Brothalm sensen. Erst spät im Herbste reift mit Müh der Hafer. Zum seltnen Klang im Dorfe wird des Flegels Polterschlag. Abgerungen will der Boden seine karge Gabe haben. Bodentreue Herzen gebiert dies Hochland, zufrieden in ihrem Entsagen. Und lieb, lieb gewinnen sie ihr Fleckchen Heimaterde im werbenden Schweiße. –
Ein tüchtig Holz gilts auch immer bereit zu halten, denn keine Kohle kocht das Mahl, und der Backofen will ein kernig Scheit haben, wenn das Brot geraten soll. Zwei, drei und zuzeiten auch mehr behäbige Holztürme aus Stockholz und Scheiten stehen ums Häusl, hoch bis zum Schindelgiebel. Die besten Mitkämpfer sinds gegen des Winters Tücken, für die Zeit, da aus schneeträchtigen Wolken vom Abend zum Morgen, vom Morgen zum Abend ein begrabend Niederschütten anhebt. Langsam, unaufhaltsam versinken Weg, Brücke und Strauch im Schnee. Im Wald schart sich das weiße Flocken zur [39] drückenden Last, knickt Ästchen, bricht Äste, senkt Wipfel, verzaubert Baum und Bäumchen zu bittenden, drohenden, fliehenden Menschen- und Tiergestalten.
Am Wetterhäusl vor der Haustür schaufeln die Leute den Weg frei zum Brunnenhäusl, schaufeln und schaufeln, es schneit und schneit, bald wird die Haustür am Giebel zum Ausgang.
Kein Holz kann aus dem Wald in die Werkorte geführt werden. Die Brettmühlen im Dorfe feiern. Aber auch Schnee gibt Brot. Das Herdfeuer in der Schmiede kommt nimmer zur Ruhe. Gleitschiene um Gleitschiene muß es für die Schlitten hitzen. Ungeduldig verlangen die Zuggäule nach den Wintereisen an ihre Hornschuhe. Dann kommen Männer, vermummt gegen Kälte und Schneesturm, und holen Hacken und Schaufeln, die der Schmied angriffsfest schuf zum Kampf gegen Wächten, Wehen und Eis. Auf der Bezirksstraße schaffen sie um ihren Tagelohn. Über der regsamen Schar streicht der »Schneevogel« (Goldammer) hin und wieder.
In den stockholzdurchwärmten Stuben schleißen Frauen und Kinder die Federn der mühsam gezogenen Gans, binden die gesammelten Reiser zu Besen, vollenden manch kunstvoll Bast- und Strohgeflecht, schnitzen die Väter Stiele für Hämmer, Rechen und Karst, biegen den Sensenwurf, schärfen Axt und Säge für kommende Waldarbeit.
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Und draußen dehnt sich die verschneite Weite, glitzert in müder Wintersonne, schattenbemustert in vollmondheller Frostnacht. Schneegeborgen träumt der verschüttete Jungwald. Ruhe liegt über dem Kammland und die Einsamkeit hält Wacht.
In weiten, flachen Mulden, am Grunde mit wasserstauendem Ton und Lehm gedichtet, sammelten sich die Wasser von Regen und Schneeschmelze zu kleinen und großen Seen. Sie waren die Augen der Hochflächen, darinnen gewaltiger Wolkenflug und blauer Berghimmel ihr Widerbild fanden. Millionen kleinster Lebewesen schwammen oder schwebten darin, deren verwesende Leiber den Grund mit Faulschlamm deckten. Da fanden die Wassergräser nährenden Boden. Bald nisteten die Torfmoose unter ihnen. Brüderlich verschlangen sie sich zu einem einzigen, unzerreißbaren Filze. Langsam, unaufhaltsam erblindeten die hellen Augen der Hochflächen.
Ein Stück Eigenart der Kammlandschaft sind die Hochmoore. Über ihnen schwebt Wehmut. Den Hochsiedlern sind sie vertraute Fleckchen. Jedes bekam seinen besonderen Namen. Der Bergwanderer durchquert die »Bildwiese« bei Jungferndorf, verweilt »in den Nässen« von Obervoitsdorf, steigt in die »Moorbodengrube« bei Hinterzinnwald, erinnert sich der Sage vom »Gräfinsbad«, [41] schaut vom Hochstand über die »Kiefernweiche« bei Georgenfeld, erschauert vor den Spukgestalten der Sumpfkiefern auf dem »Seemoor« am Bornhauberg, verweilt »in der Klietsch« bei Ullersdorf, schreitet hier auch über »die Quieke« und »Moosbeerpresse«, rastet in der »Moorlislheede« bei Willersdorf.
In den Mooren werden die Flüsse geboren, die zur Elbe rinnen oder in kurzem Lauf den Südsteilhang hinabspringen. Oft nur wenige Minuten voneinander getrennt sind die Quellböden zweier Wasseradern, die von hier in entgegengesetzter Talfahrt die Tiefe suchen. Aus den benachbarten Moorgründen am Keiblerberg fließt nach Nordwesten die Gottleuba, nach Südosten der Leichengrundbach ab. Ja, mitunter laufen die Wässer aus gleichem Quelland nach Norden und Süden fort. Dies geschieht beim Moor östlich von Streckenwalde, das vom Nitschgrundbach nach Norden, vom Tellnitzbach nach Süden entwässert wird, und der Moorboden nordöstlich von Ebersdorf schickt sowohl zur Elbe wie zur Eger einen Sernitzbach. Aus den Moorgründen zwischen Neustadt und Willersdorf sickern die Wilde Weißeritz und die Flöha. Unzählbar namenlose Gräben füllen die Moorwässer.
Urland sind die Kammoore. Aber selten blieb eines von ihnen unberührt von Menschenhand. Hacke und Spaten haben schon arg gehaust. Ein Fuder schwarzbrauner Boden wird täglich aus der »Moorbodengrube« ins Theresienbad [42] nach Eichwald gefahren, und täglich kommen zwei Fuhrwerke zum »Seemoor«, um dies Urland zum heilkräftigen Bad nach Teplitz zu holen. Drei Meter hoch ragt die Abstichwand, ohne damit die ganze Mächtigkeit des Moores anzudeuten.
Um kargen Lohn steht die Mutter aus dem entfernten Hochdorf auf dem nassen Grund. Vom Morgen bis zum Spätnachmittag hackt sie an der Moorwand. Acht Kronen, sind zehn Groschen, bringt das mühevolle Tagewerk.
Zu Torfstreu wandelten die Neustädter ihren Moorboden. Seit Jahreslauf ruhen sie von dieser Arbeit. Der Sturm stürzte die leeren Horden, darauf Tausende und Abertausende Moorziegeln im Winde vertrockneten.
Auf dem Torfstich von Fleyh trocknen auch noch heute die Torfziegel zu Brennstoff für die Siedler.
Jeder Hackenhieb, jeder Spatenstich hilft einem Stück Urlandschaft zum Vergehen, die einen Wesenszug von ernster Schönheit für die Kammhochflächen bedeutet. Mag wirtschaftlich der Moorabbau begründet erscheinen, größer wird der Schaden, den die Wirtschaft trifft, wenn nicht weitschauender Geist in letzter Stunde die natürlichen Wasserspeicher für unantastbar erklärt.
Polsterförmig überzieht das Torfmoos den Boden, bleichgrün bei Trockenheit, hellgrün an Regentagen. Und nimmst du vom Urgrund ein Pflänzchen zwischen deine Finger, so wird dirs schwer zu glauben, daß dies bescheidene [43] Geschöpflein mit seinem Vergehen und seiner wunderbaren Verjüngung zum gewaltigsten Wasserverwahrer werden kann. Nur das Mikroskop vermag dies Rätsel zu lösen. Zwei Zellenarten wechseln im Querschnitt des Blattes miteinander, farblose und grüne. Die grünen bergen Blattgrün, die farblosen bei Trockenheit nur Luft, und die luftgefüllten Räume mit den durchscheinenden Wänden schimmern im auffallenden Licht weiß. Kommt Regen, dann füllen sich die farblosen Zellen, deren Wände kreisrunde Löcher haben, sofort mit Wasser. Das Blatt beginnt zu schimmern. Millionen Pflänzchen vereint schaffen die grünleuchtenden Kissen.
Hast du schon einmal die gigantische Trinkkraft des Torfmooses geprüft?
Lege zwei Gramm wochenlang ohne Wasser gewesenes Torfmoos fünf Minuten lang wieder in das belebende Element. Dann wiege die vollgetrunkenen Pflänzchen. Achtundzwanzig Gramm sinds geworden, das vierzehnfache ihres ursprünglichen Gewichtes. Und das bedeutet für dich: Wiegst du angenommen sechzig Kilogramm, dann mußt du in fünf Minuten eine Wassermenge von achthundertundvierzig Kilogramm schlucken, wenn deine Leistung dem Können des Torfmooses nicht nachstehen soll. Achthundertvierzig Kilogramm Wasser sind achthundertvierzig Liter, zu trinken in fünf Minuten!
Nur an feuchten Orten vermag das Torfmoos zu leben, trägt es ja doch nur in seiner Jugend Haftfasern gleich Würzelchen. Wenn es später wurzellos [45] wird, dann müssen ihm Tau und Regen helfen, dann zieht es den Nebel ein, der hier oben seine Heimat hat und über manches Kammdorf hundertfünfzig sonnenlose Jahrestage breitet.
Hebst du ein Stück Polster in die Höhe, so kommt dir ein Gewirr blätterloser brauner Stengel vors Auge. Eine noch dunkler gefärbte Masse lagert darunter. Das ist Torf, aus den Stengeln geworden, die aus Mangel an Luft und Licht abstarben. Das saure Moorwasser ließ sie nicht vollkommen verwesen. An der Spitze wächst das Torfmoos unaufhörlich weiter. Jungwerden am Spitzentrieb, Sterben in den unteren Teilen, das ist sein Lebenslauf. Und nach jedem vierten Blättchen an jedem seitlichen Ästchen setzt sich ein neues Zweigbüschel an. Dessen Sprossen gabeln sich wieder. So breitet sich in endlosem Fortgang Geschlecht neben Geschlecht.
Einen Heidestreifen durchschreitest du beim Gang zum Moor, durchzogen von Rinnsalen, die das Moor entwässern. Dann betrittst du den Boden, den noch keine Menschenhand bändigte, kein schollenstürzender Pflug wendete.
Wenn Wochen hindurch die Mittsommersonne über dem Urboden scheint, dann gibt er dem Fuße sicheren Grund. All die kleinen, flachen Wassertümpel verdunsten: Überall schwarze, rissige, brüchige Erdflecken. Dann strecke dich zur Rast auf das Heidekraut, pflücke mit lässiger Bewegung die [46] Trunkelbeere, beschaue die purpurnen Moosbeerblütchen und die zierlichen Blättchen der Krähenbeere.
Im »Seemoor« verträume die Mittagsstunde zwischen den niederkauernden, sich bückenden, knienden, schleichenden Gestalten. Im weichen Grund sanken die Sumpfkiefern schief. Ihre Lichtstrebigkeit half die krummen Stämme formen. Ja, wenn du im Südteil dieses Moores weilst, darfst du getrost sagen: Hier schaue ich das urhafteste Krummholzmoor vom östlichen Erzgebirge.
Im Mittagswinde schwingen die weißen Schöpfe vom Scheiden- und Binsenwollgras, schwanken die langen Halme der Fadensimse. Kein Vogellaut klingt.
Eine Spur im teigigen Boden verrät des Hochwildes Wechsel. Und nachts schreckt das Moor auf, wenn vom hohen Stand der Kugeltod darübersaust.
Über die »Kiefernweiche« mußt du wandern, wenn das Moor tagelang das Regenwasser trank und die Krummholzkiefern wie tückische Gespenster im Bergnebel lauern. Dann ruhen neben den großen Tümpeln noch viele, viele kleine, trügerisch überdeckt vom Heidekraut. Mit jedem Schritt wird das Moor laut unter den lastenden Füßen, strahlt das braunrote Moorblut empor.
Da, schnell auf dies feste Büschel! Im Augenblick schon sinkt der Fuß in Schlamm. Wie rettende Arme ergreifst du die Äste der Moorkiefern, tastest [47] nach sichrem Boden. Auf und nieder geht der Körper. Im Schuh kluckst das Moorwasser. O, das macht müd, übers satte Moor zu gehn. Schwankender Boden macht heiß. Und gewinnst du ein festes Eiland zur Rast, dann wird dir bang vor dem tiefen Moorschweigen.
Im Moornebel geistern die Kiefern. Mit spannenden Sinnen wagst du das Weitertasten über den wiegenden Boden.
Wo der Kornbau seltner wird, und die Wiese die Haupternte schenkt, dort bedarf es keiner großen Scheuern, da vermag des Hauses Dachraum den Wintervorrat zu bergen. Freilich, gar hoch ist das Dach, ein Stockwerk für sich, höher als der steinerne Unterbau. Das ganze »Häusl« zeigt, daß es besonders in Wintermonden im harten Kampfe mit den Wetterkräften steht. Steil sitzen die Dachflächen auf dem Unterbau, ein hoher »Wetterhut«, von dem der Schnee abrutscht. Schindelgepanzert trotzen die Giebel. Mit ihrer dunklen Wetterfarbe sind sie wohltuend der Landschaft eingefügt. Ruhe veratmet Dach und Giebel mit Wald und Wiese. Kein Farbenschrei schreckt unser Auge. Aber die weißgetünchten Mauern überall? Nein! Schreiend und leuchtend muß wohl geschieden werden. Freundliche Gesichter sinds, darinnen glänzende Augen stecken und darüber ein verwetterter, dunkler Kampfhut sitzt. Dunkles [48] Wettergrau, leuchtend Weiß und helles Wiesengrün, umrahmt vom schwarzgrünen Wald, überwölbt vom blauen Himmel: Ein wundersamer Farbenbund. Kunst sind die Kammhäusel, als Ganzes geschaut, echte bodenständige Volkskunst.
Volkskunst offenbart sich auch in ihren Teilen. Selten sind die Schindeln am Giebel in einfacher Reihung zusammengefügt. Mannigfache Anordnungen zu formenschönen Mustern zeugen von des Dorfhandwerkers Kunstsinn. Alle Schindelformen, vom einfachen rechteckigen Brettchen bis zum sorgsam zugespitzten, gerundeten, gelockten und verzierten, weiß er beim Fügen zu meistern. Dem Freunde dieser Volkskunst wird es wenig Mühe bereiten, in den Kammorten Neustadt, Willersdorf, Fleyh fünfzig verschiedene Muster zu suchen. Fünf voneinander abweichende Schindelgiebel schauen wir auf unserem Bilde von Fleyh, dies auf kleinstem Raume. Und beim Forsthausgiebel bekommt jedes Fenster noch seinen besonderen Kopfschmuck.
Der Blick zum kunstvoll beschindelten Forsthausgiebel, wo aus weißer Umrahmung ein sonnenbeschienener Farbenquell quoll, da der alte Förster von echter deutscher Art im Sonntagsrock durchs Pförtlein schreitet, das war ein Schauen mit Feierstimmung.
Am Fenster hat der Häusler dort oben sein Blumengärtlein. Der allzukurze Sommer vermag draußen ums Häusl die Buntheit nicht zu schaffen. Drum wird die Fensternische zum Blumenheim, das Winterglück des Häuslers in rauhen Wintermonden. Seine Blumen beobachtet er gar sorgsam, pflegt sie wie liebgewonnene Menschen, wenn sie kränkeln.
Wieviel scharfe Beobachtung, poetischen Sinn und tiefes Gemüt verraten die Blumennamen! Gottesauge, Jesuauge, Leiden Christi, Brautschleier, Annl, stinkende Liese sind ihm vertraute Klänge.
Häuslerglück und Häuslerkunst sind die Blumen am Fenster.
Schlichte Volkskunst begegnet dem Wanderer in den vielen religiösen Malen am Wege. Freilich sind mitunter die Farben gar hart und unpassend nebeneinander gesetzt, und manche ungelenke Stellung und allzusehr verzerrte Gebärde hat der Dorfhandwerker beim »Heiligen« geschnitzt oder gemeißelt.
Hier stimmt die Gemeinde beim Bittgang durch die Felder ihren Betruf an: »Vor Blitz und Ungewitter befreie uns Herr Jesu Christi.« Aber auch mancher stille Beter sucht hier seelische Zuflucht. Der Kleinbauer kniet in stiller Andacht davor, daß Gott ihm Vieh und Feldfrucht beschirme vor den argen Wettern, die erbarmungslos ihre halmknickenden Eiskörner über die Kornfrucht schleudern, die mühsam gebaute, und schwere Sorge ums Brot mit niederschütten. Manch Häuslerheim ward auf der schutzlosen Hochfläche zur Wüstung, wenn aus dem brüllenden Wolkenballen der vernichtende Strahl zuckte.
Überschattet wird der stille Beter vom Ebereschenbaum, umträumt von seinem Feldfrieden.
Manch Andachtsmal schuf dieser Glaube am Waldrande, wo die Bergfichten weit übers dürftige Haferfeld ästen, mitten im Wald, wo lebende Säule neben lebender Säule ragt und ungezählte Wipfel zum Dämmerlicht gebenden [52] Dach sich schließen. Gesundheit und gute Wegfahrt erfleht das alte Mütterlein. Wer wollte leugnen, daß solch baumgeborgne Stätte auch den Andersgläubigen andachtsvoll stimmen könnte?
Sonntag ist’s. Im Kirchdorf wird das Hochamt eingeläutet. Da kommen die Häusler aus den eingepfarrten Orten durch ihren sommerlichen Feldsegen zum alten Holzkirchlein gezogen, im buntgeblumten Kopftuch Großmutter, Mutter und Kind.
Und wenn der eherne Betruf verklungen, dann träumt die Landschaft nach der bunten Bewegung in ihrem Feiertagsfrieden.
Nach der Andacht belebt sich der schmucklose, kreuzüberfüllte Friedhof. Vor den Kreuzen aus Holz und Eisen weilen die Kirchgänger, entblößten Hauptes die Männer, und ein murmelnd Bittgebet für des Verstorbenen Seele geht über ihre Lippen. Sich bekreuzend gehen sie hinweg. Auch zur Winterszeit, wenn nur des Kreuzes Spitze das Grab verrät, kommen die Beter an die verborgene Ruhestatt ihrer Lieben.
Im Plaudern kürzt sich der Heimweg. Mitteilsam wird immer der Heimgang vom Erntedank. Das macht die Vorfreude auf den farbenbunten Ernteumzug am Nachmittag. Auf dem Erntewagen stehen Hafergarben. Wohlgeschüttet lagern die Kartoffeln. In gelbem Blattgefieder hängen schwer der Eberesche rote Trauben. Marschmusik strafft den Gang bei alt und jung. Und abends gibts Erntetanz in des Dorfes »Schanknahrung«, wo der Baßgeiger ohne baumelnde Pfeife streicht, die bei der Übung am Samstagabend immer im Munde hing, wo der kleine »Schlagwerker« mit Händen und Füßen Töne schafft und mit dem Kinn den Takt zuckt.
Wenn nebelverhüllt das Kammland düstert, der Eberesche Blätter verwesend unterm kahlen Baum liegen, dann kommt ein ernster Tag. Jeder Grabhügel hat seinen Schmuck, auf jedem brennt ein Flämmlein, zuweilen in einer Nische, und durch des Türleins Scheibe quillt aus farbigem Glase ein milder Schein. Lautlos wandeln die Menschen. Versonnene Beter knien ungestört.
Wieder ist der Heimgang plaudersam. Doch viel wird heute erzählt vom kurzen Leben und raschen Tod, vom frühverschiedenen Kind, das vor wenig Wochen erst dem Knospenschlaf entsprungen, vom rastlos schaffenden Vater, von der liebegebenden Mutter, von Bruder und Schwester, von Greis und Greisin.
Am irdischen Vergehen hängt der Gedankenlauf.
Und einmal im Jahre wirds auf dem schneeverschütteten Hochland beim Sternenglanz lebendig. Schwarze Gestalten, vermummt gegen den schneidenden Nachtwind, schreiten dem Scheine des wegstampfenden Lichtträgers nach. »Heilige Weihnacht« wollen die Hochsiedler feiern um diese Stunde im kerzenerleuchteten Gotteshaus.
Im dämmervollen Winkel belauscht der Fremde das mitternächtliche Hochamt.
[53]
Immer wieder ziehts mich hin auf die Kammweiten, wo der Wetterkräfte Spuren jedem Blicke eigen sind, wo dürftig Ackerland mit jungfräulichem Boden raint, wo stille Kämpfer um deutsche Art, ausgesöhnt mit ihrer kargen Heimat, wurzelfest die väterliche Scholle hüten, wo kleiner Leute Kunst und Glaube herbe Einsamkeit beseelt.
Von Prof. Dr. Bernh. Hoffmann
Eine der hervorragendsten Chroniken unseres engeren Vaterlandes ist das Leipziger Geschichts-Buch (von M. Joh. Vogeln in Leipzig), das 1714 erschienen ist und »in welchem die meisten merckwürdigsten Geschichte und geschehene Veränderungen, die in und bey belobter Stadt und Gegend – – – von Anno 661 nach Christi Geburth an, biß in das 1714. Jahr, von Tage zu Tage sich begeben haben, enthalten sind«. Es heißt da u. a.: »Umb Philippi Jacobi 1517 [1] sind seltzame Vögel / so unbekandt / umb Leipzig gesehen und gefangen worden / an der Grösse wie die Schwalben / mit langen Schnäbeln / der Obertheil am Kopff / Hals und Rücken war dunkelbraun / die Flügel dunkelblau / der Leib schwartz / die Kehle gelbe / hatten kurtze Füsse / und thäten denen Bienen und Fischen grossen Schaden.« Es kann kein Zweifel darüber herrschen, daß wir es hier – obgleich die Beschreibung besonders betreffs der Unterseite nicht ganz stimmt – mit sogenannten Europäischen Bienenfressern ( Merops apiaster L ) zu tun haben. Auch in ihren Lebensgewohnheiten ähneln diese Vögel den Schwalben, sofern sie wie diese andauernd in den Lüften herumjagen und Insekten fangen. Mit Vorliebe vertilgen sie freilich Wespen, Hummeln, Bienen usw., die sie mitsamt dem Stachel hinunterschlucken [2] . Meist halten sie in kleinen oder größeren Scharen zusammen und bauen ihre Nester in steile Flußufer oder andere erdige Wände in Gestalt langer Röhren oft ein bis zwei Meter weit in das Erdreich hinein, wodurch sie an Uferschwalben und Eisvögel erinnern. Die Bienenfresser bewohnen hauptsächlich Süd-Europa, Nordafrika, sowie Mittel- und Südasien; auf dem Herbstzuge wandern sie bis ins Kapland. In Sachsen ist diese Vogelart nur gelegentlich und verhältnismäßig selten zu Gaste. Vielleicht, daß besonders günstiges Wetter (Föhnstimmung über Mitteleuropa) sie dann und wann einmal veranlaßt, im Frühjahr die Rückwanderung aus dem fernen Süden über die Alpen bis zu uns herein auszudehnen. Auf alle Fälle hat das mehrzählige plötzliche Erscheinen von Bienenfressern in der Umgegend von Leipzig verdient, daß es in obiger Chronik verzeichnet wurde [3] .
[54]
In einer Frankenberger Chronik vom Archidiakono C. A. Bahn, erschienen im Jahre 1755, ist weiterhin folgendes zu lesen: »Anno 1679, den 9. Dezember, haben sich in Frankenberg zwei frembde und unbekannte Vögel auf die Kirche, hernach aufs Rathhaus und dann auf den Markt gesetzet. Sie hatten die Gestalt einer Endten, schneeweise Köpffe und weise Flügel; auf dem Rücken, am Halse und Bauche waren sie schwartz, und hatten lange grüne Schwäntze. Später sind sie auf und davongeflogen.« Diese Mitteilung ist deshalb von Bedeutung, weil es sich darin, trotz der etwas unzutreffenden Beschreibung der Vögel, höchstwahrscheinlich um Eisenten ( Nyroca hyemalis L ) handelt, welche bei uns nur als sehr seltene Wintergäste bekannt sind. Ihre Heimat ist der hohe Norden beider Erdhälften. Sie wandern (nach Reichenow) im Winter bis nach Süd-Europa und dem Kaspischen Meere, in Amerika bis Florida und Kalifornien. Jedenfalls sind die erwähnten Stücke sehr ermüdet gewesen und haben erst nach einiger Zeit des Ausruhens, wozu sie sich freilich recht ungewohnte Plätze ausgesucht haben, die Wanderung fortgesetzt, die sie übrigens an sich schon sehr spät angetreten zu haben scheinen [4] .
An einer anderen Stelle derselben Chronik heißt es: »In diesem Jahre (1706) im Monat Oktober entstund in Dittersbach des Nachts eine große Feuersbrunst. Bey derselbigen versammelten sich wilde Enten, wilde Gänse, wilde Tauben, Fischreiher, Schnepffen, Zippen, Droßeln, Finken, Quäcker [5] , Kybitzen, Sperber, Eulen, Lerchen, Rothkehlchen; darzu kamen gegen Morgen Raben und Krähen und führten ein gräßliches Geschrey. Diese Vögel flogen ums Feuer herum, viele verbrannten, viele wurden von den Leuten gefangen,« usw. – Wir können mit großer Sicherheit annehmen, daß die meisten der genannten Vögel auf ihrem Herbstzuge nach dem warmen Süden waren und zwar hauptsächlich wohl als Nachtwanderer. Ferner ersehen wir aus vorstehender Meldung, daß gewaltige Brände auf die Vögel ähnlich einwirken wie unsere neuzeitlichen großen Leuchttürme, an denen ja auch in gewissen Zugnächten Hunderte, ja Tausende von Wandervögeln zugrunde gehen oder schwer verletzt herabstürzen, so daß sie »von den Leuten gefangen« werden. Daß auch Raben und Krähen, die wir heute artlich nicht mehr auseinanderhalten, dazu gekommen sind, hängt wohl damit zusammen, daß in jener Zeit die Schweden von Polen aus nach Sachsen eingerückt waren, und in dem obenerwähnten Jahre 1706 hier Winterquartier bezogen hatten. Wie im letzten großen Völkerringen sind wahrscheinlich auch damals die Raben und Krähen den kämpfenden Massen in großen Scharen gefolgt. Sie sind erst am Morgen an der Brandstelle eingetroffen, weil sie ihre Schlafplätze in der Regel nicht vor Tagesanbruch zu verlassen pflegen.
Fußnoten:
[1] d. h. um den 1. Mai.
[2] Daß die Bienenfresser den Fischen schaden sollen, ist ein Irrtum, der daher kommt, daß diese Vögel sich auf der Suche nach Insekten auch an und über Gewässern herumtreiben, wobei sie möglicherweise einmal ein Insekt von der Wasseroberfläche aufnehmen.
[3] Sehr unwahrscheinlich erscheint dagegen ein neuerdings gemeldetes Auftreten von zwölf bis fünfzehn Bienenfressern im Jahre 1914 im Tale der Biela, die – von den Thyssaer Wänden kommend – sich bei Königstein in die Elbe ergießt. Leider mangelt es an jedweder Bestätigung dieses Vorkommens von fachmännischer Seite. Immerhin sei bei dieser Gelegenheit die Aufmerksamkeit der Vogelkenner und -freunde auf die Bienenfresser gelenkt. Vielleicht glückt es doch einem oder dem anderen, derartige seltene Vögel einmal an geeigneter Stelle aufzufinden. Aber es sei davor gewarnt, die etwaige Beobachtung gleich an eine zu große Glocke zu hängen, da sonst die Vögel der auffälligen Schönheit des Gefieders wegen, leicht Naturschändern zum Opfer fallen könnten!
[4] Es ist übrigens auch möglich, daß unsere Eisenten auf der Zschopau überwintert sind und daß sie von hier aus einen allerdings etwas eigenartigen »Ausflug« unternommen haben.
[5] Das sind nordische Bergfinken, die obigen Namen wegen ihrer Rufe quäk, quäk erhalten haben.
Forstmeister i. R. Sinz in Naunhof
In Abteilung 49 des Staatsforstrevieres Hinterhermsdorf, unweit des Raumberges und der Thorwalder Wände, und zwar in dem die Landesgrenze zwischen Sachsen und Böhmen haltenden Ziegengrunde, abseits der Wege und Straßen, welche der gewöhnliche »Schweizwanderer« benützt, befindet sich der sogenannte Luchsstein. Er besteht aus einem im Waldesdunkel am schmalen Ziegengrundwege gelegenen, nur wenige Meter von der Landesgrenze entfernten [55] Sandsteinblock mit Inschrift und eingehauener Luchsfigur. Die Inschrift lautet: Allhier habe ich Joh. Gottfried Puttrich, Königlicher Förster aus Hinterhermsdorf einen Luchs mit einem Selbstschuß erlegt. Anno 1743. Puttrich war kurfürstlicher Beamter. Der damaligen Gepflogenheit entsprechend bezeichnete er sich jedoch als königlicher Förster, weil der Kurfürst von Sachsen gleichzeitig König von Polen war. Inschrift und Luchs waren Ende des vorigen Jahrhunderts stark verwittert. Der Unterzeichnete, damals Verwalter des Hinterhermsdorfer Staatsforstrevieres, ließ sie, so gut es ging, wieder herstellen. Gegenwärtig ist die Inschrift noch ziemlich gut leserlich. Bubenhände haben leider den Luchs stark beschädigt und mit üblen Farben beschmiert. Nach Überlieferungen sollen die letzten Luchse im Innern Deutschlands 1817 und [56] 1818 im Harz zur Strecke gebracht worden sein. Ob unser Luchs hier der letzte gewesen ist, der in der Sächsischen Schweiz erlegt wurde, läßt sich nicht nachweisen. Jedenfalls gibt uns das Denkmal aber davon Kunde, daß dieses bei uns nun längst ausgestorbene Raubwild, dem aus jagdlichen Gründen seinerzeit eifrig nachgestellt wurde, bis zum Jahre 1743 in dem damals noch mehr wie heute unzugänglichen Gelände noch hauste.
Seit Kriegsende sind vielerorts farbige Übermalungen von Gebäudeaußenseiten in Aufnahme gekommen und in einer Weise durchgeführt, die den »Landesverein Sächsischer Heimatschutz« zur Stellungnahme zwingt.
Den äußeren Anlaß dazu bot die Absicht der alten schönen Stadt Kamenz, alle Markthäuser durchgehend neu zu übermalen, eine Absicht, die inzwischen bereits großenteils durchgeführt wurde.
In dem Bemühen, für die hierhergehörigen Fragen, die in jüngster Zeit eine immer größere Bedeutung erhielten oder zu erhalten scheinen, eine tunlichst maßgebliche Beantwortung zu erwirken, bildete der »Landesverein Sächsischer Heimatschutz« einen Gutachter-Ausschuß, bestehend aus den Herren
Dieser Ausschuß war am 15. Dezember in Kamenz und hat dann nach eingehenden Beratungen Herrn Professor Dr. Tessenow beauftragt, die Meinungen und Gesichtspunkte aller Ausschußmitglieder – besonders auch soweit es sich um die hierhergehörigen Fragen allgemeiner Natur handelt – zusammenfassend niederzuschreiben.
Diese Niederschrift, der alle obengenannten Herren zustimmen, sei hiermit auch der Öffentlichkeit mitgeteilt:
Die Farbe hat als Gestaltungsmittel wohl ungefähr die gleiche Kraft, die gleiche Bedeutung, gleiche Geltung oder Wichtigkeit wie die Form. Jeder Mensch, soweit er sich mit der Gestaltung unserer Erscheinungswelt besonders beschäftigt, wird neben der Form immer auch wie ganz selbstverständlich – wenn auch vielleicht sehr unwissentlich – die Farbe berücksichtigen; und man kann mit vielem Rechte behaupten etwa: Soweit die Form mehr gilt als die Farbe oder – umgekehrt – die Farbe mehr gilt als die Form, hat das Ganze nicht seine Richtigkeit, und dies heißt ungefähr auch: Viel Form will viel Farbe, und wenig Farbe will wenig Form.
Große Farbenfreudigkeit ist nie ohne große Formenfreudigkeit; die eine wie die andere ist etwas sehr Natürliches oder Naturhaftes oder hat sehr viel mit dem natürlichen Triebleben zu tun, oder unsere betonte Liebe zu [57] reichen Formen und starken Farben beweist immer, daß wir sehr nahe mit der Natur verbunden sind; so z. B. liebt der sehr eingewurzelte Landbewohner – sagen wir der Bauer – nirgends einfache oder ärmliche Formen oder stille, zurücktretende »dezente« Farben, sondern immer reiche Formen und viele und kräftigste Farben.
Die einfachen oder stillen Formen ganz ebenso wie die stillen, zurücktretenden Farben sind immer etwas wesentlich Städtisches oder sind – wenn man so will – immer etwas sehr Soziales; unsere Liebe zu ihnen setzt immer voraus, daß wir die Welt nicht nur als etwas sehr einfach Natürliches, sondern auch als etwas sehr kompliziert Unnatürliches begreifen, oder setzt immer voraus, daß uns nicht nur der urwüchsige Naturwille, sondern daß uns auch die allgemein-menschlichen Willensrichtungen sehr interessieren, die dem einfach Natürlichen immer insofern entgegen sind als sie auf eine Beherrschung der Natur hinzielen.
Dieser menschliche Herrscherwille der Natur gegenüber ist die stärkste Triebkraft dafür, daß wir Menschen uns immer wieder großgesellschaftlich verbinden und Städte bauen, oder ist letzten Endes die einzige Rechtfertigung für unseren Glauben an das Städtische oder an das menschlich Großgemeinschaftliche, das uns immer zwingt, unseren natürlich persönlichen oder individualistischen Willen zugunsten des Großgemeinschaftlichen zurückzudrängen, oder uns immer wieder zwingt, mit unseren natürlichen Triebkräften, sehr persönlichen Meinungen, Geschmacksrichtungen usw. zurückzuhalten oder in das Uneigenartige oder Allgemeine hinein zu entwickeln oder hinein zu neutralisieren.
So hat der Bauer allermeistens viel mehr als der Städter mit Eigenbrödelei zu tun, die für den Städter und besonders für die städtische breite Öffentlichkeit immer eigentlich unerlaubt ist; für ihr Gedeihen ist es hervorragend wichtig, daß alles Natürliche, Persönlich-Eigenartige zurücktrete.
Und so werden auch die Formen wie die Farben, die wir innerhalb der großen Gemeinschaften oder innerhalb der menschlichen breiten Öffentlichkeit zeigen, notwendig um so unauffälliger, bekannter oder neutraler sein, je mehr wir das Städtische lieben oder je besser unsere menschlichen großmassigen Gemeinschaften funktionieren.
Und wenn wir in jüngster Zeit sehr oft die städtischen Häuser mit sehr auffälligen Farben anpinseln, so kann das als ein guter Beweis dafür gelten, daß unser Gemeinschaftsleben sehr krank ist.
Die Gesundheit unseres Lebens und Treibens ist immer dann in besonders großer Gefahr, wenn wir soeben einen großen Gewinn oder einen großen Verlust hatten. Jeder große Sieg, ganz ebenso wie jede starke Niederlage, die wir haben, heißt auch, daß unser Leben und Treiben sehr verändert wurde oder daß wir vor neuen großen Aufgaben stehen; je größer und vielfacher aber unsere Aufgaben sind und je plötzlicher sie sich vor uns hinstellen, um so natürlicher oder häufiger ist es, daß wir zunächst viele und große Dummheiten machen.
[58]
Und so steht z. B. die dumme, unbeholfene oder unkünstlerische Art unserer deutschen nachsiebziger Häuser ebenso unmittelbar in Beziehung zu unserem siebziger Siege wie die vielen neugeschichtlichen Mißgestaltungen in aller modernen Welt so etwas wie eine sehr natürliche Frucht unserer neugeschichtlichen großen Erfolge sind, die wir in aller Welt auf zivilisatorischem Gebiete haben, und genau ebenso stehen unsere neuesten auffälligen Hausanstriche in unmittelbarer Beziehung zu der starken politischen Niederlage, die unser Gemeinschaftsleben in eine große Unordnung gebracht hat, so daß wir uns plötzlich vor großgesellschaftliche Fragen gestellt sehen, die innerhalb des gesunden Gemeinschaftslebens so gut wie überhaupt nicht als besondere Fragen auftreten und die sich als solche kaum beantworten lassen.
Die großgesellschaftliche Frage, ob wir viel Form oder viel Farbe oder wenig Form oder wenig Farbe nehmen sollen, ist eine sehr unglückliche oder sehr unheimliche oder sehr drohende Frage; sie beweist, daß unser sogenannter schöpferischer Instinkt sehr gelitten hat oder daß uns großgesellschaftlich ein Übermaß unserer arbeitlichen Aufgaben beschreit, so daß wir sehr allgemein nicht mehr gut verstehen können, was unsere »innere Stimme« uns zuflüstert.
Man behauptet gelegentlich wohl:
Größte, vorbildlichste Menschenwerke seien immer auch etwas Still-Einfaches; man kann – ganz anders herum – ebensogut wohl behaupten, größte Menschenwerke seien immer außerordentlich formen- und farbenreich; und also letzten Endes kann man viel Form und viel Farbe wohl ebensogut rechtfertigen, wie man wenig Form und wenig Farbe rechtfertigen kann; aber ganz sicher ist viel Form und viel Farbe, ohne daß ein besonders großes gestaltendes Können oder ohne daß eine hohe gesellschaftliche Kultur dahinter steht, immer wie des Teufels.
Die auffallenden, hier besonders interessierenden städtischen Hausanstriche bedeuten betontermaßen eine Abwehr gegen eine gewisse stumpfsinnige Unfarbigkeit, in die unsere Straßenbilder mehr und mehr hinein geraten sind.
Man kann sehr vernünftigerweise die Meinung betonen: wir hätten innerhalb der jüngeren Baugeschichte bei der Gestaltung unserer Hausansichten die Farbe vernachlässigt; aber wenn wir hier nun aus vielem nichtssagendem Grau heraus plötzlich alles mit Farbe zu überschreien suchen, so rennen wir damit von einem Extrem ins andere; ein solches Hin und Her ist sicher eine sehr moderne Bewegung, aber gehört zu der Modernität, die heute die ganze Welt zu zermürben sucht.
Was jeder Wichtigtuer gerne tut und leicht tun kann, ist immer übel; und unsere gelegentlichen allerneuesten Hausanstriche sind so, als seien sie ganz extra für die Gesellschaft der Wichtigtuer bestimmt.
Wir Menschen alle glauben gern an ein Leben und Treiben, das überall auch voller reichster Formen und stärkster Farben sei, und gewissermaßen, um diesen Glauben immer wieder zu bekennen, hängen wir unsere Festtage voller Fahnen und Girlanden und können wir im Karneval die Formen kaum wild und die Farben kaum stark genug bekommen und opponieren wir gelegentlich [59] überhaupt gern gegen alles, was grau oder neutral oder mürrisch ist, und es ist wohl sehr schön, wenn die Farbigkeit unsere seltenen Festtage auch in das unvermeidlich viele Grau unseres Alltags hinüberstrahlt. Es gehört zu den selbstverständlichsten Liebenswürdigkeiten, wenn wir suchen, unserer Hausansicht eine gewisse lächelnde Freundlichkeit zu geben; es ist immer wie eine stille Hilfe oder wie ein stiller Trost, wenn in vielen grauen alltäglichen Mühen und Sorgen die Menschen oder Dinge uns freundlich grüßen; und solches Grüßen hat hinsichtlich unserer Hausbilder sehr viel auch mit einer gewissen Farbigkeit, aber hat hier ebensoviel auch mit einer gewissen stillen verbindlichen Zurückhaltung zu tun.
So wie in hundert Fällen etwa neunundneunzigmal der Grundton des städtischen alltäglichen Straßenbildes oder überhaupt des öffentlichen Alltags wie naturnotwendig ein grauer Ton ist, so können wir mit unserer städtischen Hausansicht ausgesprochen farbig eigentlich nur sein, indem wir mit der Farbe spektakeln.
Die Kultur der städtischen Hausfarbe ergibt fast ausnahmslos ein sehr gedämpftes Farbenklingen oder wehrt sich nie besonders gegen das dämpfende neutralisierende Grau, das im städtischen Alltag immer überlegen stark ist. Die graue Farbe ist vielleicht nicht ohne weiteres die allerbeste, ist aber ganz gewiß die selbstverständlichste Hausfarbe oder ist der besten Hausfarbe immer ganz nahe verwandt.
Die graue Farbe ist neben allen sonstigen Farben ungefähr das gleiche, was innerhalb der gesamten Formenwelt die sogenannten Architekturformen sind, deren Wesen oder Vornehmheit darin besteht, daß sie eine starke Allerweltsneutralität haben, oder daß sie – was hier ungefähr dasselbe ist – einen ganz großen einzieligen Gemeinschaftswillen zeigen. Deswegen ist unsere Architektur oder sind unsere Hausformen um so minderwertiger, je wichtiger uns das sehr Persönlich-Eigenartige oder je wichtiger uns überhaupt das Eigenartige ist. In Gesellschaft mit vielen Eigenartigkeiten und neben deren Verherrlichung ist die Architektur immer etwas sehr Uninteressantes und ist sie notwendig um so uninteressanter, je nobler sie ist, genau so wie in einer solchen Gesellschaft der Eigenartigkeiten die graue Farbe als die uneigenartigste oder alltäglichste Farbe notwendig in Verruf kommen muß.
Die graue Farbe ist nicht die Farbe der großen Freude oder die Farbe der tiefen Trauer oder der heißesten Liebe oder des wildesten Krieges oder des schlafmützigsten Friedens, sondern ist die Farbe, die alles still verbindet oder ins Verbindliche neutralisiert, ist die Farbe der großen Arbeit, ist die Lieblingsfarbe der Architektur oder der Baukunst oder die Lieblingsfarbe jeder stark aufbauenden großen Gemeinschaft.
Je mehr wir großgesellschaftlich niederreißen, je bissiger wir kritisieren, je kriegerischer oder revolutionärer wir sind, oder je unsicherer wir dem großen Ganzen gegenüberstehen, je fragwürdiger uns ringsumher alles zu sein scheint, um so mehr »reklamieren« wir, machen wir Reklame und um so auffälliger bepinseln wir unsere Häuser und um so ferner liegt uns die graue Farbe [60] und ihre Kultur oder um so mehr fehlt uns das Baumeisterliche, ganz gleich, an welchen besonderen Wirkungskreis wir hierbei denken mögen.
Jedes gedeihliche großgemeinschaftliche Leben und Treiben erwirkt für alles Alltägliche und besonders für alles alltäglich Straßenseitige ohne weiteres eine starke Uniform oder einen »durchgehenden Stil«, so daß dort dann – besonders wieder an der Straße – jedes einzelne im Allgemeinen wie etwas sehr Selbstverständliches, Unauffälliges oder wie etwas sehr allgemein Anerkanntes erscheint.
Das Selbstverständliche, Unauffällige, Neutrale usw. wie auch das Graufarbige ist zwar nicht der einzige Beweis für ein starkes Gemeinschaftsleben, aber ist dort in dem großen Ganzen der Erscheinungswelt das Allersichtbarste.
Ein krankes oder schwächliches, minderwertiges Städtisches wird gewiß nicht dadurch sogleich gesund und stark und hochwertig, daß wir in ihm irgendwie zwangsmäßig alle Häuser straßenseitig grau anpinseln, aber ganz sicher werden alle stabil-förderlichen Maßnahmen, die getroffen werden können, daß ein krankes Gemeinschaftsleben gesunde, auf eine starke Neutralität oder Unauffälligkeit der einzelnen Hausbilder oder Hausfarben hinziele; dort werden die einzelnen Häuser sehr eigenartige oder sehr individualistische Formen und Farbigkeiten schließlich nur zeigen, soweit es sich um gewisse kleinmassige Hausteile – etwa um Haustüren, Firmenschilder, einzelne Schmuckteile, Fensterumrahmungen oder ähnliches handelt.
Der Städter, der sein Haus in der hellen Straße von unten bis oben, über die ganze Hausfläche hinweg mit irgendwelchen heftigen Farben und möglicherweise noch mit blitzenden Ölfarben anpinseln läßt, ist allermeistens ganz zuverlässig ein ausgemachter Querkopf mit sehr geringem Gemeinschaftssinn oder ist eigentlich überhaupt kein Städter, sondern gehört eigentlich in die wildeste, einsamste Natur hinaus.
Und soweit wir sehr empfänglich für den Ausdruck oder für die Gesichter der Dinge sind, können uns die vollfarbigen städtischen Hausanstriche, die uns in neuester Zeit mehr und mehr begegnen, etwas sehr Furchtbares bedeuten.
Diese Hausanstriche sind wie ein letzter Trumpf, den der Zerfall der Architektur auszuspielen hat oder auszuspielen beginnt, und den er nur ausspielen kann, weil uns im allgemeinen die Architektur oder ihr Zerfall immer gleichgültiger geworden ist.
Wenn uns aber großgesellschaftlich die Architektur oder höchste Baumeisterlichkeit nicht weiter besonders interessiert, dann haben wir ernsteste Ursache, für die Zukunft unseres Gemeinschaftslebens zu fürchten; sie wird dort eben so gewiß sehr kriegerisch durcheinander zerstörend sein, wie es sicher ist, daß die Baukunst die blühenden großgesellschaftlichen Kulturen am treuesten begleitet.
Vielleicht sind die Hausanstriche, um die es sich hier besonders handelt, so etwas wie die sichtbarsten Vorläufer einer großgesellschaftlichen Zersetzung, die überhaupt nicht mehr zurückgedrängt werden kann, und so ist es dann [61] vielleicht sehr viel vernünftiger, zu suchen, solche Zersetzung zu beschleunigen oder zu fördern, als zu suchen, sie zu verhüten; aber so furchtbar wie es ist, ganz vorsätzlich planmäßig ein bestehendes Großgesellschaftliches zu zerstören, oder so natürlich, wie es für uns Menschen ist, neben allerlei Zerstörungswut doch immer wieder an das zuverlässig Aufbauende oder Baumeisterliche zu glauben, so vernünftig ist es auch, daß wir immer wieder suchen, innerhalb der großen städtischen Gemeinschaft, an der Straße, in erster Linie männlich-ruhig oder unauffällig zu sein und daß wir als Städter immer wieder suchen, alles das, was betontermaßen mit unserem persönlichen Geschmack, mit unseren besonderen Lieblingsfarben, überhaupt mit unseren ganz persönlichen Eigenheiten zu tun hat, möglichst nur dort zu betonen, wo die Welt uns sehr persönlich zugehört. Und das ist hier – im besonderen Hinblick auf unsere Häuser – das Haus innere .
Je eigenartiger und stärker die Farben sind, mit denen wir irgend etwas gestalten, um so komplizierter werden im allgemeinen auch die Formen sein, die wir wählen und um so eifriger werden wir für das Ganze einen starken Rahmen suchen und umgekehrt: je weniger wir ein Ganzes einrahmen oder für sich abschließen können, oder je unmittelbarer wir ein Ganzes mit andern Ganzheiten verbinden oder zu verbinden suchen, um so selbstverständlicher ist es, daß wir uns um Verbindlichkeit, um Friedlichkeit, um Neutralität usw. bemühen oder daß wir mit unsern Formen und Farben eine gewisse stille Zurückhaltung üben.
Für das Fassadenbild eines städtischen Reihenhauses ist ein besonderer Rahmen so gut wie überhaupt nicht möglich; in der Reihe der städtischen Häuser erscheint das einzelne Haus immer nur als ein Teil eines viel größeren, und dies allein ist eigentlich Grund genug, jede städtische – und besonders jede städtische eingebaute – Hausansicht abzulehnen, die sich als etwas sehr Selbstherrliches zu spreizen sucht.
Das Innere eines jeden Hauses aber ist immer etwas stark Rahmendes oder Einrahmendes und ist darum immer noch ohne weiteres ein bester oder paßlichster Tummelplatz für unsere Selbstherrlichkeiten.
Sehr ähnlich so, wie unser persönliches Innere, etwa unsere eigenen Gedanken »frei« sind und still in uns die tollsten Sprünge machen dürfen, ist auch unser Haus inneres eine Welt, in der wir sehr nach unserm persönlichsten Belieben tun und lassen können, was wir wollen; sobald wir aber diese stark abgeschlossene, stark eingerahmte Welt verlassen und auf die Straße, in die große städtische Gemeinschaft, hinaustreten, handelt es sich um einen bestimmten Komment, dessen Wesentliches etwas Männliches, Sicheinordnendes, Verschwiegenes oder auch Graufarbiges ist.
So wie das sehr Eigenartige, sehr Auffällige, sehr Reizvolle usw. allermeistens etwas sehr Unmännliches ist, so ist es allermeistens auch etwas sehr Unstraßiges.
Das betont Eigenartige kann der breiten Öffentlichkeit gegenüber nur durch eine außerordentlich große gestaltende Kraft gerechtfertigt werden, und [62] so selten wie solche Kraft ist, so häufig ist alles betont Eigenartige etwas Schwächliches, Schutzbedürftiges, Frauenhaftes, etwas, das für seine beste Wirkung eines starken Rahmens bedarf oder etwas, das wir am besten in das Innere einzuschließen suchen oder am besten nur innerhalb unserer »vier Wände« zur Geltung bringen.
Innerlich können wir kaum eigenartig und äußerlich kaum allgemein genug sein.
»Wes das Herz voll ist, des fließt der Mund über.« Sind wir innerlich leer, so ist es leicht für uns, still oder nichtssagend zu sein; aber so wie der flüssige Schwatz nicht immer ein volles Herz erweist, so ist das äußerliche Stillesein noch kein Beweis für eine innerliche Leere, sondern es kann eine männlichste, großartigste Disziplin bedeuten. Sicher ist, daß jeder innerliche Reichtum auch sehr nach außen hin drängt, aber ebenso sicher ist, daß die menschliche Kultur nicht einfach laufen läßt, was laufen will.
Je innerlicher oder inniger oder tiefer oder unantastbarer oder edler, um so mehr Hemmendes, Schutzwandliches, Toriges oder Verschleierndes ist zu passieren, bevor das Innere sich zeigt oder begreiflich ist; und so hat jede Äußerung, die auf tiefster, wertvollster Innerlichkeit beruht, nicht nur immer etwas sehr Filtriertes oder sehr Abgeklärtes, sondern dort ist es immer auch deutlich so, als liege hinter dem Begreiflichen, hinter der sichtbaren Form und Farbe etwas sehr Unbegreifliches oder etwas viel Formen- und viel Farbenreicheres.
Sind die Formen sehr reich und die Farben sehr stark, und haben wir dann – davorstehend – noch das deutliche Gefühl, daß sozusagen hinter ihnen, unsichtbar, noch viel reichere und viel stärkere Formen und Farben sind, so stehen wir vor allerhöchsten Werken.
Sind aber die Formen und Farben, die »dahinter sind«, z. B. – um es hier grob praktisch zu nehmen – die hinter der Hausansicht, im Innern des Hauses, sind, schwächer oder uninteressanter oder ärmlicher usw. als die Formen und Farben, die wir ganz obenauf oder ganz oberflächlich sehen, so haben wir es mit Formen und Farben zu tun, »hinter denen nichts Rechtes steckt«, oder die das gleiche sind, was wir auch meinen, wenn wir von »leeren Worten« sprechen, die in aller Welt um so übler sind, je wichtiger sie tun.
Das, was wir innerhalb des besten gestaltenden Arbeitens oder innerhalb der Kunst ablehnend als »Äußerliches« bezeichnen, ist immer etwas, das sozusagen stabil auf der Oberfläche sitzt, während das hohe Kunstwerk immer ist, als habe es die Oberfläche überhaupt nicht gestaltet, sondern als habe es eine vorhandene neutrale Oberfläche durchscheinend gemacht; und es ist beinahe richtig, hier zu folgern: jede gute Plastik ist immer so, als habe man sie aus ihrem Innern heraus geformt, oder jedes gute Bild ist immer so, als sei es von der Bildrückseite her durch die Leinewand hindurchgemalt, oder jede gute Musik ist immer so, als sitze der eigentlich Musizierende im Instrumenten-Innern, oder jede gute städtische Hausfarbe ist immer so, als habe man sie aus dem Hausinnern heraus durch die Mauer hindurch nach außen [63] hin filtriert in die vorhandene graue Straßenschicht hinein, während jeder Hausanstrich, der uns sehr sozusagen an Maler und Farbentopf und Pinsel denken läßt, im Sinne des Gestaltens immer minderwertig ist.
Streng genommen dürften die Hausfarben nie angepinselt werden, sondern müßten sie – wenigstens größtenteils – die natürlichen Farben der gewählten Baustoffe sein. Besondere großflächige Hausanstriche sind immer nur soweit nötig, wie – nach baumeisterlicher Beurteilung – unsolide gebaut wird; so gehört besonders auch jeder äußere Kalkmörtelverputz zu den hausbaulichen Minderwertigkeiten; er wird innerhalb des gesamten Baulebens wohl immer eine gewisse Wertschätzung oder immer seine Verdienste behalten, aber jedenfalls ist auf seine eigentliche Minderwertigkeit um so dringlicher hinzuweisen, je mehr man ihn sozusagen zu verherrlichen sucht oder je notwendiger es ist, überall in der Welt nachzusehen, was hinter den äußersten Oberflächen los ist oder je mehr unsere Oberflächlichkeiten uns bedrohen, wichtiger zu werden als unsere Innerlichkeiten sind.
Die Kamenzer Hausanstriche, die den besonderen Anlaß zu den vorstehenden Ausführungen bilden, widersprechen diesen in betonter Weise. Der Marktplatz dort ist viel mehr kunterbunt als farbig geworden, die einzelnen Häuser sind größtenteils – wie ohne jedes Bedenken – mit eigenartigsten schreienden Farben gestrichen, und es ist, als hätte man dort im Eifer die große hellgraue Fläche der Marktplatzpflasterung und die großen sehr gleichfarbigen alten Dachflächen als gegebene Farbenmassen überhaupt nicht empfunden; jedenfalls sieht es dort nicht so aus, als ob man sich bemüht hätte, diese großen sehr bestimmten Farbtöne in einen Zusammenklang mit den neuen Hausanstrichen zu bringen.
Nur einige wenige Häuser dort, besonders
das Haus | Markt 11 |
und das Haus | Markt 12 |
und das Haus | Kurzestraße 2 |
haben in ihren neuen Anstrichen etwas still-freundlich Liebenswürdiges oder haben neben all’ ihrer besonderen Farbigkeit doch auch durchaus etwas bescheiden Zurücktretendes.
Jeder arbeitliche Mensch weiß, daß es leicht ist, ein fertiges Werk zu bemängeln und außerordentlich schwer ist, heute etwas zu gestalten, das einer ernsten Kritik gegenüber bestehen kann, und so soll hier das Kritisieren nicht weiter ausgesponnen werden; im Gegenteil, es sei hier betont, daß wir es schließlich für sehr viel respektabler halten, daß man – wie man es in Kamenz mit den Hausanstrichen getan hat – bestehende schwierige Probleme überhaupt anpackt als daß man – wie man es vielerorts tut – in die Weltgeschichte hinein – schläft. – Aber je mehr wir uns mit der Bearbeitung unserer Probleme in die breite Öffentlichkeit hinein stellen, um so nötiger ist es auch, daß unsere Arbeit öffentlich auf ihre Richtigkeiten und Unrichtigkeiten [64] hin untersucht werde, besonders auch, damit das als unrichtig Erkannte nicht »fortzeugend Unrichtiges gebäre.«
Im übrigen möge unser Respekt, den wir vor den hier in Betracht stehenden Kamenzer Bemühungen haben, damit erwiesen sein, daß wir hier – wir nehmen an, sehr offensichtlich – in ernstester Weise suchten, die vielen (gewiß nicht immer leichten) Fragen behilflich zu beantworten, um die es sich mit unseren neuesten städtischen Hausanstrichen handelt.
Schließlich sei hier gleich noch bemerkt, daß der »Landesverein Sächsischer Heimatschutz« im Verfolg dieser Kamenzer Hausanstriche beschlossen hat, unter der Leitung des Herrn Geheimrat Professor Gußmann und des Herrn Professor Rößler, Dresden, einzelne Farbtöne und Tonzusammenstellungen zu bestimmen, die im allgemeinen für neue Hausanstriche als empfehlenswert gelten können; es ist hierbei besonders daran gedacht, daß innerhalb der kleineren und kleinsten Ortschaften in den allermeisten Fällen ohne weiteres kaum die Möglichkeit besteht, sich für die Ausführung geplanter Hausanstriche sehr gut beraten zu lassen; und so wird nun von nächster Zeit ab die »Bauberatungsstelle des Sächsischen Heimatschutzes« mit den genannten Farbentönen in neuer Weise praktisch behilflich sein können, was hier besonders auch den Gemeindeämtern mitgeteilt sein möge.
Von Edgar Hahnewald
Über die halbdunklen Bahnsteige des Dresdner Hauptbahnhofes strömten schweigsame Arbeiterscharen hinaus in den schlüpfrigen Tauschmutz des Januarmorgens, den die Gaslaternen verdrießlich und übernächtig beleuchteten.
Fünf Stunden später, nach langsam steigender Fahrt durch weißen Winterglanz liegt die kleine erzgebirgische Stadt vor uns. Wir stehen über ihren Dächern. Jenseits steigt der Sauberg auf. Über seiner weißen Fläche schweben die Halden der verlassenen Bergwerke beschneit und blaubeschattet wie blumenblaue Wolken am helleren Himmel. Schachtanlagen sind schwarz in das Schattengewölk eingezeichnet.
Dort oben begab sich die »lange Schicht« von Ehrenfriedersdorf. Ein junger Bergmann Oswald Barthel wurde im Jahre 1508, nach andrer Lesart 1507 verschüttet. Sechzig Jahre später fand man ihn wieder, unversehrt und mit allen Kleidern. Der Pfarrer, der ihm die Grabrede hielt, begann sie: Es ist groß zu verwundern, daß ein Pfarrer einem die Leichenpredigt tun soll, welcher fünfunddreißig Jahre eher, als der Pfarrer geboren, gestorben ist. Die Legende erzählt, daß der Bergmann so jung und blühend, wie er gewesen, als der Berg ihn in sich begrub, wiedergefunden worden sei, und sie dichtete nach einer ähnlichen viel späteren Begebenheit im Bergwerk zu Falun, die von [65] Friedrich Rückert, Johann Peter Hebel und E. T. A. Hoffmann dichterisch bearbeitet worden ist, auch die treue Braut hinzu, die als zitternde Greisin an der Bahre des Wiedergefundenen die späte Brautmyrte sich ins weiße Haar flicht und sterbend niedersinkt. So erlebten wir als Kinder die lange Schicht zu Ehrenfriedersdorf in Apels Marionettentheater und so hat sie Widar Ziehnert in den sächsischen Volkssagen in einem Gedicht von vierundvierzig Strophen besungen.
Der Bergbau ist erloschen. Da und dort steht in Museen noch ein Gerät aus Ehrenfriedersdorfer Zinn. Während des Weltkrieges wurden die Halden und Schächte noch einmal nach Wolfram und letzten Zinnresten durchwühlt. Nun ist auch das vorbei, und »Ehrndorf« begnügt sich wieder wie vordem damit, Schuhe, Spielbälle, Posamenten und Strümpfe zu fabrizieren.
Ehrenfriedersdorf ist ein echt erzgebirgisches Städtchen, lang hingestreckt in eine Talsohle eingebettet, rings vom Walde umgeben. Brände haben die Stadt zuletzt 1802 und 1866 verheert und die alten vordem errichteten niedrigen Häuser sind nur noch vereinzelt zu finden. Das Städtchen macht auf den Fremdling einen freundlichen, sauberen und geräumigen Eindruck, die Straßen sind tadellos instand gehalten, der Markt nimmt die ganze Breite der Talsohle ein, hüben und drüben müssen die Straßen steigen.
Eine der steilen Straßen steigt zur Kirche hinauf, die seit fünfhundert Jahren wie eine kleine kantige Burg am Hang die Stadt bewacht.
Im weißen Schiff unter gotischen Gewölben steht ein Kunstwerk, das die Besucher von weither in das entlegene Städtchen lockt: der Ehrenfriedersdorfer Altar.
Fünf Jahre lang, von 1916 bis 1921 war er nach vollzogener Ausbesserung kleiner Schäden in der Dresdner Gemäldegalerie untergebracht. Dresden wollte ihn behalten, aber die Ehrenfriedersdorfer ließen nicht locker und haben ihn nun wieder.
In der Galerie stand er im deutschen Pavillon, in der Gesellschaft Cranachs. Ein glanzvolles Museumsstück, vor dem die Kunstfreunde verweilten. Aber ein Museumsstück unter tausend Bildern, von der Sixtina, von Dürer, Holbein, Rembrandt, Rubens, Correggio, Giorgione, Tizian, von allen großen Sternen überstrahlt.
Nun steht er wieder in der kleinen weißgetünchten Kirche, in die er gehört. Orgelklang rauscht wieder über das alte vergoldete Holz. Beim Eintritt sieht man ihn im Durchblick unter einem Mauerbogen zwischen schweren Pfeilern leuchten. Im weißen Raum, in dessen Gewinkel an diesem Tage Schneelicht und Sonnenschein durch klare Fenster fiel.
Tritt man, des Blickes über die weiten winterlichen Flächen, über das weiße Tal mit der kleinen blaugedächerten Stadt noch gewärtig, in die weiße Halle der Kirche ein, so leuchtet der edle Goldglanz des Altars wie eine milde Sonne über den weißen Höhen der herben erzgebirgischen Landschaft.
[66]
[67]
Wie ein torflügelhohes Bilderbuch erhebt sich der Schrein über dem geschnitzten und vergoldeten Sockel. Auf die vier Flügel sind Heilige und Apostel gemalt: Wolfgang, Andreas, Bartholomäus, Martin. Von der würdevollen Ruhe der Heiligen in reicher Bischofstracht und der märtyrerhaften Ergebung des graubärtigen Apostels Andreas hebt sich Bartholomäus seltsam ab. Sein rötlichgelbes, grün gemustertes Gewand ist mit derselben peinlichen Sorgfalt gemalt, die der Künstler auf die prächtigen Bischofsgewänder Wolfgangs und Martins verwendete. Aber darüber hängt, das Gewand fast verdeckend, der weiße, rötlich überhauchte Mantel in flauen flatternden Falten, die an Grünewalds geisterhafte Heilandsgewänder denken lassen. Und über dem weißen Mantel, leicht geneigt wie lauschend, fast lauernd, von der goldnen Glorie umleuchtet, blickt das Gesicht des Apostels aus der schwarzen Fülle des Haares und Bartes. Auf Mund, Nase und linke Wange fällt Glorienschein, und in [68] diesem erhellten Apostelgesicht glüht das Auge in dunkler Leidenschaft, die auch in der mit dem Messer spielenden Hand zuckt. Es ist, als glimme in diesem schwarzen Auge ein Funke vom Fanatismus jener Nacht, die des Apostels Namen trägt, in der die Pariser Hugenotten um des Glaubens willen geschunden wurden wie er in Armenien. Es ist ein Kalenderzufall, der die Pariser Bartholomäusnacht mit dem Namen des Apostels verknüpft, aber man findet Beziehungen, wenn man dieses verhalten glühende Auge sieht, das dreiviertel Jahrhundert vor jener Blutnacht von einer unbekannten Hand gemalt wurde.
Der Küster schlägt die Flügel wie Flügel eines schweren Tores auf und vier andere Bilder erscheinen: das Abendmahl, Christus im Garten Gethsemane, Christi Gefangennahme, Christus vor Kaiphas. Der Maler hat mit Erschütterungen gerungen, die die große Ruhe des Werkes erregt durchzittern. Und wieder liegt ein von innen heraus leuchtendes Zwielicht über den Farben, über dem vergeistigten Graurosa des Heilandgewandes, über dem Fahlgrün des Rockes Ischariots, das an Grünewald denken läßt. Dieses, man könnte sagen: zweideutige Grün, in das Judas gekleidet ist, kennzeichnet den Verräter unleugbarer als das Teufelchen, das ihm beim Abendmahl aus dem Munde schlüpft, als die Geste des heftigen, vom Schauder vor der eigenen Tat schon gejagten Kusses. Schon beim Abendmahl trägt Judas das zwiespältige Gelb-Grün. Es hebt ihn heraus aus der Runde der Jünger, die mit verschiedener Anteilnahme an der Szene zwischen Christus und Judas vor ihren viereckigen Holztellern und den merkwürdig kubistisch geformten Brotstücken sitzen. Christus blickt zur Seite, auf ein nahes, schmerzliches, unabwendbares Schicksal. [69] Er ist schon nicht mehr bei den Jüngern in diesem Augenblick, in dem seine Hand dem Verräter den Bissen Brot reicht und seine Linke den von schmerzlichen Ahnungen erschütterten Johannes umarmt. Zwei schwarze Streifen des weißen Tischtuches laufen wie weisende Male auf Ischariot zu und trennen ihn aus der Runde der andern, vor denen sich Gerät und Speise des Mahles, Brot, Fleisch und roter Wein, das Frühstück mittelalterlicher Bürger ausbreitet. Das alles ist mit geduldiger Sorgfalt, mit liebevoller Hingabe an das spielende Glanzlicht auf einem Glase in der Hand eines unbekümmerten Trinkers zu Ischariots Rechten gemalt. Nur über den zwei Hauptgestalten der Szene, über Christus und Judas, über dem zarten Graurosa und dem Fahlgrün ihrer Gewänder liegt ein Schein, der an Grünewald erinnert.
Auf dem zweiten Bilde schlafen die drei Jünger zu Füßen des betenden Heilands. Petrus hält den weißhaarigen Bauernschädel zwanghaft gewendet, die Hände krampfen über Kreuz ins Gewand, als ob Traumgesichte den Schlafenden quälten. Und wieder, wie auf dem Abendmahlsbilde bei Johannes spricht die Haltung eines Jüngers aus, was der Herr durchlebt. Noch in der gestreckten Starre des Beines, dessen nackter Fuß mitzubeten scheint, kommt die Inbrunst des Mit-sich-Ringens ergreifend zum Ausdruck.
In erduldender Ergebung läßt dann Christus die Gefangennahme und die Mißhandlungen vor Kaiphas über sich ergehen, während die leidenschaftlich [70] verzerrten Gebärden seiner Widersacher die schimmernde Gestalt umgeben. In der Szene vor Kaiphas bellt ein springendes, löwenartig frisiertes Schoßhündchen den einen der Häscher an. Jünger sind nicht mehr um Christus – in rührender Besorgnis trug der unbekannte Maler einer ohnmächtigen Kreatur auf, Anteil an der Qual des Gepeinigten auszudrücken, wo niemand mehr sich seiner erbarmt.
Der Maler des Ehrenfriedersdorfer Altars ist unbekannt. Niemand kann sagen, wie er hieß und woher er kam. Die Forscher haben herausgefunden, daß der Altar um 1510, frühestens 1507 entstanden ist. Um 1510 schuf Grünewald in Frankfurt am Main. Kannte der Maler des Ehrenfriedersdorfer Altars die Werke des Meisters von Isenheim als ein Kleinerer, Strebender, ein Könner, der zum Meister lernend aufsah? Wo schuf er? Und wie kam das kostbare Werk in die kleine erzgebirgische Stadt? Niemand weiß es. Das große Bilderbuch des Altars erzählt viel – über seinen Schöpfer schweigt es.
Die Überlieferung verbindet den Namen eines Meisters Hans von Köln mit dem Werke. Flechsig hat festgestellt, daß ein Hans von Köln 1508 in Chemnitz Steuern bezahlt und nach 1515 in Annaberg gewohnt hat. Steche dagegen bezeichnet den mutmaßlichen Meister dieses Namens als eine mystische [71] Persönlichkeit der Kunstgeschichte, für deren Existenz jeder stichhaltige Beweis fehle. Seiner Ansicht nach gehört die Malerei des Ehrenfriedersdorfer Altars der fränkischen Schule um die Wende des fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert an. Flechsig dagegen meint, fränkisch sei diese Kunst nicht, am allerwenigsten nürnbergisch. Eher sei ein niederländischer Einfluß zu spüren.
Also: wir wissen nichts und können nur bewundern.
Die alten Angeln knarren zum zweiten Male. Das zweite Flügelpaar öffnet sich und der Schrein tut sich auf, der die köstliche Schnitzerei birgt.
[72]
Zwei winzige Engel tragen mit kindlicher Anstrengung, als hätten sie das von Zimmerleuten beim Gebälkrichten abgeguckt, einen Halbmond, in dessen Bogen Maria in holder, himmelfahrtsbereiter Ruhe tritt. Sie rafft das schwergoldene, blaudurchwirkte Gewand mit zarter Hand, den kleinen Finger damenhaft abspreizend. Schwere magdliche Flechten fallen über die Schultern auf den Mantel. Durchbrochene Baldachine aus verschlungenem Rankenwerk wölben sich über ihr, aus denen wie aus Taubenschlägen die Dreieinigkeit schwebt, um die Himmelskönigin zu krönen. Unter den Baldachinen dunkelt tiefes, tuchweiches Blau – es ist bemaltes Holz.
Neben Maria stehen die heilige Katharina mit dem Schwert und Sankt Nikolaus, dem die Kirche geweiht war, und auf den Seitenflügeln die heilige Barbara mit dem Kelch und Sankt Erasmus mit der Winde, auf die der Legende nach seine Gedärme bei lebendigem Leibe gewunden wurden.
Über dem Schrein in Gold und tiefen Leuchtfarben wächst bis zu den steinernen Gewölberippen hinauf ein zartes Geflecht von Gittern, Ranken und Fialen um geschnitzte Darstellungen des Ecce homo , der Handwaschung und der Kreuzigung. Das feingliedrige Schnitzwerk rankt im seitlich einfallenden Licht in pflanzenhafter Leichtigkeit. Es ist wie ein heiteres auflösendes Spielen, an dem die Hände des Meisters nach getanem Werke Gefallen fanden. Die Fialen biegen sich in launigen Windungen, als ob sie der lange geübten Strenge ausweichen wollten, als ob die Renaissance in die gotische Formenwelt schon lockernd eingriffe.
Der ganze Schrein ist übersponnen. Auf den Flächen des Sockels, über der beschatteten Laube der Predella um Christi Grab, an den Konsolen zu Füßen [73] Marias und der Heiligen, an den Umrahmungen des Schreins und der Flügel, auf den teppichartigen Flächen hinter den Figuren, an den Baldachinen über ihren Häuptern, in den Gittern, Baldachinen und Fialen der Bekrönung, überall rankt und spinnt pflanzenhaft, blumenlicht das goldene Schnitzwerk. An Schmach und Pein und Tod mahnen die Darstellungen, aber darüber, in freudiger Vermählung von Gold und Licht, in jubelnder Leichtigkeit, blüht es wie ein himmlischer Garten, zu dem die jugendliche schöne Göttin im Goldgewand aufschwebt. Von der inbrünstigen Streckung der kindlichen Körper der kleinen Engel, die mit vor Anstrengung gespreizten Flügeln der ruhevoll schwebenden Göttin den Halbmond unter den Fuß halten, der sich von der Erde schon löste, bis zur zierlichen Kreuzblume der höchsten im Lichte flirrenden Fiale geht dieser aufstrebende Zug durch das ganze Werk wie ein Jauchzer durch einen goldenen Garten.
Auch den Schnitzer kennt die Kunstgeschichte nicht. Dehio schließt auf den unbekannten Annaberger Meister WZ von 1512, während Steche die Hand des Meisters HW zu erkennen glaubt, von dem Werke in Annaberg und Borna [74] erhalten geblieben sind und in dem Steche auch den Meister der Freiberger Tulpenkanzel vermutet. Wiederum: wir wissen nicht, wer dieses Werk schuf, und können nur bewundern.
Mit einem letzten Blick umfaßt man das hohe Goldgeleucht des Schreins, wenn der Küster die Bilderbuchflügel wieder schließt und nun Wolfgang und Andreas, Bartholomäus und Martin wie Wächter am Tore stehen. Und man gönnt diesen Schatz der kleinen Stadt, die in ihm den schönsten Altar Sachsens besitzt und deren einziger Kunstbesitz er ist.
Eine Merkwürdigkeit gibt es in der weißhellen Kirche noch: zwei alte kupferne Kesselpauken, die an hohen Festen donnernd zur Orgel dröhnen. Sie hängen an der Empore. Der Pfarrer machte ein einziges Mal den Versuch, den Paukendonner durch Chorgesang zu ersetzen. Aber den Ehrenfriedersdorfer [75] Kirchgängern gefiel das nicht. Sie wollen, daß zwiegestimmter Paukendonner über sie hindräut, wenn sie vorm Goldaltar zur Orgel singen.
Sie haben das Turmblasen in weihnachtlichen Nächten, wenn der Glöckner seine Mansarde illuminiert und sie auf verschneitem Markt nächtlich promenieren, sie haben den Gesang der Bergleute aus der Grabestiefe des Schachtes hoch über der Stadt am Morgen des Weihnachtstages, sie basteln an Weihnachtskrippen und Pyramiden, stellen Bergmannsleuchter mit brennenden Lichtern und nach der Bescherung die Weihnachtsgeschenke der Kinder in alle Fenster, sie halten so viele Bräuche in schönen Ehren – warum sollen nicht auch die Kesselpauken donnern, wenn sie ihrem Gotte dienen? Also wird weitergepaukt, und der verwunderte Gast, der die Pauken in der Kirche hängen sieht, möchte das kriegerische Weltgerichtsgedröhn im Orgelbrausen gern einmal hören, weil es das – Orgel und Pauken ohne Orchester – sonst nirgends gibt.
Dann stiegen wir zum Glöckner hinauf. Der Weg führt über hochstufige glitzernde Gneistreppen, dann auf hölzerner Laufbahn unterm Dachstuhl hin und im weiten viereckigen Turmschacht, den das Geläut der Glocke von oben durchdröhnt, auf hölzernen Treppen aufwärts. Unverhofft, weil der Turm gar nicht hoch und eigentlich gar kein Turm ist, steht man in einem kleinen bewohnten Vorraum. Hinter einer schmalen offenen Tür schwingt und dröhnt die Glocke dicht über den Dielen. Eine junge Frau greift jedesmal, wenn die Glocke kommt, mit beiden Händen hemmend nach dem Klöppel, damit er schneller ausschwingt. Das junge Weib ist schlank, fast mager. Unter ihren leichten blauen Röcken errät man die Formen eines wohlgebauten Körpers in der Bewegung der Arbeit. Der Gegensatz zwischen der schweren lallenden Last der schwingenden Glocke und der mädchenhaften Biegsamkeit der weiblichen Gestalt ist von eigenartigem Reiz. Aus dem Dröhnen lacht die Frau uns zu. Sie hat ein angenehmes erzgebirgisches Gesicht. Nun ergreift sie einen ledernen Zügel. Es sieht aus, als spiele sie Pferdchen mit der Glocke. Dann, nach einem letzten Schlag, schlingt sie die Lederschlaufe rasch um den Klöppel, der nun den Anschlag nicht mehr erreichen kann. Dann hängt die Glocke leise verklingend. Darüber aus einer Lücke gucken die Männer. Die Glocke wird nicht am Seil gezogen, sie wird von einem schaukelartigen Brett am Glockenlager aus stehend »getreten«, wobei sich die Männer an quer angebrachten Handstangen anhalten.
Wir schmiegen uns an der Glocke vorbei, die fast die ganze Breite des hölzernen Kämmerchens ausfüllt und deren glatter Bronzeleib sich wie belebte kühle Haut anfühlt. Das offene Schallfenster rahmt die frische weiße Landschaft ein. Unter uns liegt die blaugedächerte Stadt weich in weiße Höhen eingebettet. Wir sehen das weiße sonnige Tal, durch das wir dann nach der nächsten Bahnstation wandern werden.
Und vor dieser hellen weißen Landschaft unter blauem Himmel, in der die Schneeschatten wie blumenblaue Gewölbe schweben, ersteht noch einmal das Bild der schlichten weißen, von Sonne durchgossenen Kirche, in der der strenge [76] erzgebirgische Winter seine weißen Flächen ausgebreitet zu haben scheint und in der der Goldaltar wie eine goldene Sonne über diesen winterlichen Höhen leuchtet.
Von Georg Marschner , Dresden
I.
Es ist nicht meine Absicht, Ratschläge zu geben, wie man Pflanzen photographiert, das alles steht in vielen Büchern. Aber weil ich einmal gelesen habe, zum photographieren von Pflanzen seien botanische Kenntnisse nicht erforderlich, und weil dies an sich richtig ist, will ich einiges erzählen von der Pflanzenphotographie, als Teilgebiet jenes unerschöpflichen Arbeitsfeldes photographischer Kunst, das man allgemein mit Naturphotographie bezeichnet.
Vorher aber möchte ich erwähnen, daß mit der bildlichen Darstellung von Naturobjekten die Naturphotographie nicht erschöpft ist. Auch die photographisch einwandfreieste Wiedergabe eines Naturobjektes ist durchaus nicht bestimmend für den dokumentarischen Wert eines Bildes und darauf kommt es an, sondern das Objekt selber, seine Beziehungen zur umgebenden Natur und seine Stellung zum großen Naturganzen sind die Wertmesser photographischer Naturaufnahmen.
Die freundliche Wissenschaft hatte es mir angetan von Kindesbeinen an. Und von den Pflanzen der Heimat waren es die Farne, die meine ersten naturphotographischen Anstrengungen sahen. Gerade die häufig vorkommenden Arten dieser großen Pflanzenfamilie bilden oft Gruppen von außerordentlicher Schönheit, deren bildliche Wiedergabe keine besonderen Schwierigkeiten macht. Aber aus der Literatur kannte ich auch die anderen, die vornehmen und ganz vornehmen und auch ihre Standorte. Ich hatte mir damals vorgenommen, von allen im Sachsenlande noch vorkommenden Farnen Bilder zu schaffen. Eine Aufgabe, die ich zu jener Zeit sehr unterschätzt habe. Aber dieser Irrtum gleich im Anfange, ist meinem Vorhaben nur förderlich gewesen. Die Sache wurde schwierig, als ich anfing, den weniger häufigen und den nur sehr vereinzelt vorkommenden zu Leibe zu gehen. Das heißt, nicht etwa schon mit der Kamera, so einfach war das nicht. Ich mußte ja die einzelnen Nummern meiner langen Liste erst suchen und das dauerte manchmal sehr lange. Hier schon erkannte ich, wie das rein photographische oft ganz zurücktreten mußte, zugunsten des botanischen Spürsinnes, und auch der versagte zuweilen. Fast zwanzig Jahre bin ich älter geworden und meine Liste zeigt noch immer einige bedeutungsvolle Lücken.
Da war z. B. der grünstielige Streifenfarn, Asplenium viride , dessen braunstieliger Vetter A. Trichomanes durchaus nicht selten die Felswände unserer Gebirgstäler schmückt. »Im Kirnitzschtale« sollte er nach einem 1878 erschienenen [77] Standortsverzeichnisse vorkommen. Nun, wer das Kirnitzschtal in seiner ganzen geschlängelten Länge von Schandau bis zur böhmischen Grenze bei Hinterdittersbach kennt, der wird ermessen, was es zu bedeuten hat, in diesem stundenlangen Tale, und bei den gewiß mehr als dürftigen Angaben, den etwa fingerlangen, zierlichen Farn zu suchen, um von ihm eine photographische Aufnahme zu machen. Freunden und langjährigen Wandergenossen, denen ich in einer schwachen Stunde meine Absicht entwickelte und im stillen auf ihre tatkräftige Unterstützung hoffte, hatten für mein naturfreundliches Vorhaben nur ein mitleidiges Lächeln. Ich habe seit dieser Zeit niemals wieder versucht, Helfer zu finden, und von selber ist bis heute auch keiner gekommen. Viele Sonntage sah mich das stille Tal und sein munterer Bach, und manche naturfrohe Stunde war mir hier im waldumrauschten Wiesengrunde beschert. Ich lernte es gründlich kennen, entdeckte viel verborgene Schönheit und schaffte die Vorbedingungen für so manchen Erfolg späterer photobotanischer Streifzüge. Es war mir bekannt, daß der Gesuchte, gleich seinem Vetter an Felswänden wächst. Ich wußte auch, daß der Standort in der Nähe der Talstraße sein mußte. War doch in dem bewußten Standortsverzeichnisse erwähnt, daß sein Standort infolge des Straßenbaues sehr vermindert sei. Aber das war alles sehr lange her und es gab so viele Wände an der Straße. Da erinnerte ich mich, daß ich weit hinten im Tale, bei der Lichtenhainer Mühle, einen guten, alten Bekannten hatte. Es war der langjährige Straßenwart Wagner im Ottendorfer Chausseehause. Nach langem vergeblichen Suchen sollte die Auffrischung dieser vor Jahren gemachten Bekanntschaft entscheidend für das Gelingen meines Vorhabens sein. Ich gedenke gern dieses alten, biederen Mannes, der mir noch oft Mitteilung von wertvollen Naturbeobachtungen aus seinem, von der Natur so herrlich ausgestatteten Wirkungskreise machte. Er erzählte mir damals, daß vor etwa zwanzig Jahren auch jemand dagewesen und nach einem Farn gesucht habe, aber ohne Erfolg. Nannte mir auch Namen und Wohnort des Betreffenden. Es war der Verfasser des Standortverzeichnisses, dessen Angaben auch mich hierher führten.
Für mich eine ganz besonders wertvolle Kunde. Mein Gewährsmann hat mir dann die Felswände, an denen mein Vorgänger vergeblich suchte, beschrieben. Und ich hatte mehr Glück. An einem der nächsten Sonntage suchte ich mit Hilfe einer von Freund Wagner entliehenen fünfundzwanzig Sprossen langen Leiter die zerklüfteten Wände ab und fand den lange Gesuchten in einigen schönen Exemplaren vor. Die Aufnahme, etwa sechs Meter über der Straße, das Stativ mit einem Beine auf der schwankenden Leiter, mit zwei Beinen an der Felswand, machte einige Schwierigkeiten und kostete manchen Schweißtropfen. Von Bemerkungen Vorübergehender will ich schweigen. In Erwartung des so heiß ersehnten Bildes wurde alles leicht überwunden. ( Abb. 1. )
Dann waren noch zwei andere Farne, der Mondrautenfarn, Botrychium Lunaria , und der Natterzungenfarn, Ophioglossum vulgatum . Beides kaum spannenhohe, in ihrem Äußeren ganz farnunähnliche Pflänzchen, die mich jahrelang im Schwunge gehalten haben. Ihnen zuliebe bin ich manchen Kilometer [78] mit schwerem Rucksack gewandert, bin manche nasse Wiese auf den Knien durchrutscht. Dabei immer auf dem Sprunge, falls der Besitzer mein ihm gänzlich unverständliches Treiben mit einem Machtworte zu unterbrechen drohte. Es hat lange gedauert, ehe mir ein Erfolg beschieden war, und ich habe mehrmals zehn lange Monate warten müssen, ehe ich wieder im Mai und Juni des folgenden Jahres mein Suchen fortsetzen konnte. Endlich kam mir der Zufall zuhilfe und brachte mir in einem Jahre beide so sehnsüchtig Gesuchte vor die Platte.
Der Mai des Jahres 1911 fand mich auf einer Bergwiese im Sattelberggebiete. Auf halber Höhe der ziemlich steil ansteigenden Wiese entdeckte ich da einen roten Flecken, der sich beim Näherkommen als eine wundervolle Gruppe der schwarz-purpurn blühenden Brandorchis, Orchis ustulata , entpuppte. Eine hochwillkommene Gelegenheit zu einer wertvollen Naturaufnahme. Als ich bei niedrig gestelltem Stativ unter das Einstelltuch kroch, fiel mein Blick naturnotwendig auf das Stückchen Wiese unter der Kamera. Und was erblickte ich dort? Gleich mehrere, noch im Jugendstadium befindliche Mondrautenfarne. Ich mußte sie befühlen, ehe ich es glauben konnte, daß die so lange Ersehnten endlich vor mir standen. Es ist dies einer der schönsten Augenblicke gewesen, die mir in meiner langen, an so vielen unvergessenen Stunden reichen naturphotographischen Tätigkeit beschert gewesen sind. Vierzehn Tage später war ich wieder zur Stelle und konnte nun die vollentwickelten Pflanzen für immer [79] im Bilde festhalten. ( Abb. 2. ) Der Bann war damit gebrochen, mit dem sich der Allermannsharnisch gern umkleidet. Ich habe ihn später oft an anderer Stelle gefunden, auch in der Nähe von Dresden.
Vom andern, dem Natterzungenfarn, besagt das erwähnte Standortsverzeichnis: Gemein bei Ölsen. Eine recht einfache Angabe, welche dem botanischen Spürsinn wieder einen recht großen Spielraum läßt. Fünfzehn Jahre habe ich in dieser Gegend zur rechten Zeit gesucht. Ein einzelnes, kümmerliches Wedelblatt war bis heute alles, was ich fand. Vielleicht ist ein anderer glücklicher gewesen, ich weiß aber auch davon nichts.
Im ungewöhnlich trockenen Sommer 1911 war ich auch wieder einmal im Kirnitzschtal. Am frühen Sonntagmorgen wanderte ich talaufwärts. Da erregten auf der Sohle des im Jahre zuvor ausgeräumten Straßengrabens kleine Pflänzchen meine Aufmerksamkeit. Es war der Natterzungenfarn. In die helle Entdeckerfreude mischte sich hier aber leises Bedauern. Umgefallen, verschmachtet, verdurstet, lagen alle auf der steinhart getrockneten [80] Grabensohle. Guter Rat war teuer. Endlich hatte ein glücklicher Zufall mir die Ersehnten in den Weg geführt und nun war ein photographieren unmöglich. Ich habe dann mein Frühstück ausgepackt und im Feldkessel klares Kirnitzschwasser geholt und die Durstigen fein säuberlich wie Gartenpflanzen gegossen, gefrühstückt – es hat selten so gut geschmeckt – und noch einmal gegossen. Als ich dann am Nachmittag wiederkam, da standen alle zum Danke für den Liebesdienst erfrischt und gestärkt schön aufrecht da. Freilich machte die Aufnahme im Straßengraben einige Schwierigkeiten, weil die Pflänzchen alle die Grabenböschung ansahen. Aber es ist gegangen. ( Abb. 3. ) Dieser Standort besteht nicht mehr. Durch Wasser hergetragene Sporen hatten hier Wurzel geschlagen. Die Pflanzen gingen wieder zugrunde, weil die Lebensbedingungen im Straßengraben doch zu ungünstig waren. Wie oft mag wanderlustigen Pflanzen das gleiche Schicksal beschieden sein – und doch umwanderten viele den ganzen Erdball.
Wo aber kamen die Sporen her? Vielleicht finde ich auch den Hauptstandort noch einmal. –
Für die Schriftleitung des Textes verantwortlich: Werner Schmidt –
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Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die doppelte Werbeseite auf dem äußeren Umschlag wurde entfernt.