The Project Gutenberg eBook of Einer Mutter Sohn

This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org . If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.

Title : Einer Mutter Sohn

Author : Clara Viebig

Illustrator : Karl Köster

Release date : September 7, 2024 [eBook #74386]

Language : German

Original publication : Berlin: Egon Fleischel, 1911

Credits : Peter Becker, Martin Oswald and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK EINER MUTTER SOHN ***

Anmerkungen zur Transkription:

Das Umschlagbild wurde vom Bearbeiter unter Verwendung von Teilen des Original-Umschlagbildes geschaffen. Ein Urheberrecht wird nicht geltend gemacht. Das Bild darf von jedermann unbeschränkt genutzt werden.

Die Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originals wurde weitgehend übernommen, lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Die Originalvorlage ist in Fraktur gedruckt. Davon abweichende, in Antiqua gedruckte Textstellen sind hier kursiv dargestellt; gesperrt gedruckter Text erscheint je nach den Möglichkeiten des Lesegeräts kursiv oder gesperrt .

Am Ende des Textes befindet sich eine Liste korrigierter Druckfehler.

Original-Einband

Ausgewählte Werke

von

Clara Viebig

Sechster Band

Einer Mutter Sohn


Inhalt der Ausgewählten Werke

Erster Band: Rheinlandstöchter.

Zweiter Band: Kinder der Eifel. Vom Müller-Hannes.

Dritter Band: Es lebe die Kunst.

Vierter Band: Die Wacht am Rhein.

Fünfter Band: Das Schlafende Heer.

Sechster Band: Einer Mutter Sohn.


Clara Viebig

Ausgewählte Werke

Sechs Bände

Sechster Band

Einer Mutter Sohn

Verlagssignet

Egon Fleischel & Co.

Berlin

1911

Clara Viebig

Einer Mutter Sohn

Roman

Auflage

21–26

Verlagssignet

Egon Fleischel & Co.

Berlin

1911

Alle Rechte

vorbehalten


Die Zeichnung zum Original-

Einband ist von Karl Köster

[S. 1]

Erstes Buch


1

Sie waren ein schöngeistig veranlagtes Ehepaar, und da sie das Geld hatten, künstlerische Neigungen zu pflegen, schriftstellerte er ein wenig, und sie malte. Sie spielten auch vierhändig und sangen Duette, wenigstens hatten sie es in der ersten Zeit ihrer Ehe getan; jetzt besuchten sie um so fleißiger Konzerte und die Oper. Überall, wohin sie kamen, gefielen sie; sie besaßen Freunde, man nannte sie ›scharmante Leute‹, und doch fehlte ihnen etwas zum Glück – sie hatten keine Kinder.

Und sie würden wohl auch keine mehr bekommen, waren sie doch nun schon über die Zeit hinaus verheiratet, in der einem die Kinder geboren werden.

In unbewachten Augenblicken, wenn er in seinem Bureau am Schreibtisch saß, besonders aber, wenn er auf seinen Ritten, die er, teils seiner Gesundheit wegen, teils noch aus Liebhaberei von der Kavalleristenzeit her, in die weitere Umgebung Berlins machte, märkische Dörfer passierte, wo auf sandigen Straßen Scharen von kleinen Flachsköpfen sich tummeln, seufzte er wohl und zog die Stirn in Falten. Aber er ließ es seine Frau nicht merken, daß er etwas vermißte, denn er liebte sie.

Sie aber konnte sich nicht so beherrschen; je höher die Zahl ihrer Ehejahre stieg, desto nervöser wurde sie. Ohne [S. 2] Grund war sie zuweilen gereizt gegen ihren Mann; über die Geburtsanzeigen in der Zeitung sah sie mit einer gewissen Scheu beharrlich weg, und fiel doch einmal ihr Blick auf: ›Die glückliche Geburt eines Knaben zeigen hoch erfreut an‹ und so weiter, so legte sie hastig das Blatt hin.

Früher hatte Käte Schlieben allerlei niedliche Kindersachen gestrickt, gehäkelt, gestickt, genäht, – sie war ordentlich berühmt wegen der Zierlichkeit ihrer mit blau und rosa Band ausgeputzten Erstlingsjäckchen, jede ihrer jungverheirateten Bekannten erbat von ihr solch ein Wunderwerk – nun hatte sie diese Art von Handarbeit endgültig aufgegeben. Sie hoffte nicht mehr. Was half es ihr, daß sie ihre Zeigefinger in die winzigen Ärmelchen des Erstlingsjäckchens steckte und, es so vor sich hinhaltend, dieses mit träumerischem Blick lange, lange ansah?! Es machte ihr nur Pein.

Und die Pein ward doppelt fühlbar in jenen grauen Tagen, die ohne Grund plötzlich da sind, die auf leisen Sohlen auch mitten im Sonnenschein gehuscht kommen. Dann lag sie auf dem Ruhebett in ihrem mit allem Geschmack, wahrhaft künstlerisch ausgestatteten Zimmer und kniff die Augen zu – von der Straße herauf, von der Promenade unter den Kastanienbäumen, stieg ein Ruf auf, hell, durchdringend, jauchzend wie segelnder Schwalben Schrei. Sie hielt sich die Ohren zu vor diesem Schrei, der weiter drang als jeder andre Ton, der sich pfeilschnell hinauf in den Äther schwang und hoch und selig sich wiegte. Sie konnte so etwas nicht hören. Das wurde krankhaft.

Ach, wenn sie nun beide alt waren, schwer aufnahmefähig, zu müde, um sich die Anregung außen zu holen, wer würde ihnen die dann ins Haus bringen?! Wer würde ihnen etwas zutragen von all dem da draußen? Ihnen mit [S. 3] seiner Frische, mit der Freudigkeit, die die Zwanzig umhüllt wie ein köstliches Gewand, die wie Wärme und Sonne von faltenlosen Stirnen strahlt, einen Hauch der Jugend wiedergeben, die ihnen nach den Gesetzen der Zeit schon entschwunden war?! Wer würde sich begeistern an dem, was sie einst begeistert hatte und das sie nun wiederum genossen, als wäre es auch ihnen neu?! Wer würde mit seinem Lachen Haus und Garten füllen, mit jenem sorglosen Lachen, das so ansteckend wirkt?! Wer würde sie mit warmen Lippen küssen und sie froh machen mit seiner Zärtlichkeit?! Wer würde sie auf seinen Schwingen mittragen, so daß sie nicht fühlten, daß sie müde waren?!

Ach, den Kinderlosen blüht keine zweite Jugend! Niemand würde das Erbe antreten, das sie hinterließen an Schönheitsfreude, an Schönheitssinn, an Begeisterung für Kunst und Künstler; niemand würde ein pietätvoller Hüter sein all jener hundert Sachen und Sächelchen, die sie mit Geschmack und Sammlerfreude in den Räumen ihrer Wohnung zusammengetragen hatten. Ach, und niemand würde, wenn jene letzte schwere Stunde kommt, vor der alle bangen, mit liebenden Händen die erkaltende Hand festhalten wollen: ›Vater, Mutter, geht nicht! Noch nicht!‹ – O Gott, o Gott, solch liebende Hände würden ihnen nicht die Augen zudrücken – – –!

Wenn jetzt Schlieben aus dem Kontor nach Hause kam – er war Mitinhaber einer großen Handelsfirma, die sein Großvater einst begründet und sein Vater zu hohem Ansehen gebracht hatte –, fand er das liebenswürdige Gesicht seiner Frau oft rotfleckig, den ganzen zarten Teint durch anhaltendes Weinen zerstört. Und der Mund zwang sich nur zum Lächeln, und in den schönen braunen Augen lauerte es wie Trübsinn. [S. 4]

Der Hausarzt zuckte die Achseln: die gute Frau war eben nervös, sie hatte zu viel Zeit zum Grübeln, war zu sehr sich selbst überlassen!

Um dies zu ändern, schied der besorgte Ehemann für unbegrenzte Zeit aus dem Geschäft aus: seine Sozien machten das ja auch ebensogut ohne ihn, der Arzt hatte recht, er mußte sich mehr seiner Frau widmen; sie waren ja beide so allein, so ganz und gar aufeinander angewiesen!

Man beschloß, auf Reisen zu gehen; es war ja durchaus kein Zwang da, zu Hause zu bleiben. Die schöne Wohnung gab man auf; die Möbel, die ganze kostbare Einrichtung kam zum Spediteur. Wenn es einem gefiel, konnte man nun Jahre fortbleiben, Eindrücke sammeln, sich zerstreuen; Käte würde in schönen Gegenden landschaftern, und er, Schlieben, nun, wenn ihm die gewohnte Arbeit fehlte, konnte er ja leicht in schriftstellerischer Tätigkeit Ersatz finden!

Sie reisten nach Italien und Korsika, noch weiter, nach Ägypten und Griechenland; sie sahen das schottische Hochland, Schweden und Norwegen, unendlich viel Herrliches.

Dankbar drückte Käte ihrem Paul die Hand; sie schwelgte. Ihr empfängliches Gemüt begeisterte sich, und ihr nicht ganz unbedeutendes Maltalent fühlte sich auf einmal mächtig angeregt. Ach, all das malen können, auf der Leinwand festhalten, was an Farbenglut und Stimmungszauber sich dem entzückten Auge enthüllte!

Am Morgen schon zog die Eifrige mit ihren Malsachen aus, ob’s nun auf dem Felsen von Capri, am blauen Bosporus oder im gelben Sand der Wüste, ob’s angesichts der schroffen Zinken der Fjorde oder in den Rosengärten der Riviera war. Ihr zartes Gesicht verbrannte; selbst auf ihre Hände, die sie sonst sorgfältig gepflegt hatte, [S. 5] achtete sie nicht mehr. Das Fieber der Betätigung hatte sie erfaßt. Gott sei Dank, jetzt konnte sie etwas schaffen! Das klägliche Gefühl eines nutzlosen Lebens war nicht mehr da, nicht mehr das peinigende Bewußtsein: dein Leben hört auf mit dem Augenblick, in dem deine Augen sich schließen, da ist nichts von dir, was dich überdauert! Jetzt hinterließ sie doch wenigstens etwas Selbstgeborenes – wenn’s auch nur ein Bild war. Die Werke mehrten sich; eine ganze Menge von Rollen bemalter Leinwand schleppte man nun schon mit sich herum. Es hatte Schlieben anfänglich große Freude gemacht, seine Käte so eifrig zu sehen. Galant trug er ihr Feldstuhl und Staffelei nach und verlor nicht die Geduld, Stunden und Stunden bei ihrer Arbeit zugegen zu sein. Er lag im spärlichen Schatten einer Palme und folgte, über sein Buch wegblickend, den Bewegungen ihres Pinsels. Welch ein Glück, daß sie so viel Befriedigung in ihrer Kunst fand! Wenn es auch für ihn ein wenig ermüdend war, so untätig umherzuliegen – nein, er durfte doch kein Wort sagen, hatte er ihr doch nichts, gar nichts als Ersatz zu bieten!

Und er seufzte. Das war derselbe Seufzer, der ihm entfahren war, wenn auf den sandigen Straßen der Mark die unzähligen Flachsköpfe spielten, derselbe Seufzer, den ihm die Sonntage entlockten, an denen er das ganze städtische Proletariat – Mann und Weib und Kinder, Kinder, Kinder – hatte nach dem Tiergarten wallen sehen. Ja, schon recht – ein wenig nervös fuhr er sich über die Stirn – jener Schriftsteller hatte schon recht – welcher war es doch gleich? – der da einmal irgendwo sagte: ›Warum heiratet der Mann? Nur um Kinder zu haben, Erben seines Leibes, seines Blutes. Kinder, denen er weitergeben kann, was in ihm ist an Wünschen, Hoffnungen und auch an Errungenschaften; Kinder, die von ihm abstammen wie die [S. 6] Schößlinge von einem Baum, Kinder, die dem Menschen ein Fortleben in Ewigkeit ermöglichen.‹ So allein war das Leben nach dem Tode aufzufassen – das ewige Leben! Die Auferstehung des Fleisches, die die Kirche verheißt, war zu verstehen als das Sicherneuen der eignen Persönlichkeit in folgenden Geschlechtern. Ach, es war doch etwas Großes, etwas unbeschreiblich Beruhigendes in solchem Fortleben!

»Grübelst du?« fragte Frau Käte. Sie hatte für einen Augenblick von ihrer Staffelei aufgesehen.

»Was – wie – sagtest du was, mein Herz?« Erschrocken fuhr er auf, wie ein auf verbotenem Wege Schweifender.

Sie lachte über seine Zerstreutheit: die wurde ja immer schlimmer! Woran dachte er nur? Geschäfte – sicher nicht! Aber vielleicht wollte er eine Novelle schreiben, einen Roman? Warum sollte er’s nicht einmal damit versuchen?! Das war doch noch etwas andres, als kleine Reiseplaudereien an die ›Vossische‹ oder an die ›Frankfurter Zeitung‹ schicken! Und es würde ihm schon glücken; Leute, die nicht halb die Bildung hatten, nicht halb das Wissen, nicht halb das ästhetische Feingefühl wie er, schrieben doch ganz lesbare Bücher!

Sie redete heiter auf ihn ein, aber er schüttelte mit einer gewissen Resignation den Kopf: ach was, Romane, schriftstellern überhaupt! Und er dachte: da sagt man immer, ein Werk ist wie ein Kind – aber, wohlverstanden, nur ein echtes, großes Werk –, das, was er und seine Frau schufen, waren das Werke in diesem Sinne, Werke, die Ewigkeitsbestand in sich trugen?! Er fand plötzlich an ihrem Bild, das er gestern noch galant bewundert hatte, heute streng zu tadeln.

Sie war ganz erschrocken darüber: warum war er nur heute so gereizt? Wurde er am Ende gar nervös? Ja, [S. 7] es war augenscheinlich, die laue Luft des Südens taugte ihm nicht, er sah abgespannt aus, so müde in den Mienen. Da half nichts, ihr Mann war ihr denn doch lieber als ihr Bild, sofort würde sie abbrechen!

Und so geschah es denn auch, sie reisten ab, reisten von einem Ort zum andern, von einem Hotel zum andern, an den Seen entlang, über die Grenze, bis sie auf einer Schweizer Alpenhöhe längere Rast machten.

Statt unter einer Palme lag er hier nun wieder im Schatten einer Tanne – seine Frau malte – und er folgte über das aufgeschlagene Buch weg mit den Blicken den Bewegungen ihres Pinsels.

Sie malte emsig, hatte sie doch ein reizendes Motiv entdeckt: diese grüne Alpenmatte mit einem Blumenflor, bunter denn bunt, mit den sonnbeglänzten Rücken der braunen Kühe, war anmutvoll wie der Paradiesesgarten am ersten Schöpfungstag! Im Eifer des Sehens hatte sie den breitrandigen Schutzhut nach hinten geschoben, die warme Sommersonne sengte ungehindert goldne Tüpfchen auf ihre zarten Wangen und den schmalen Sattel der feinen Nase. Den Pinsel, den sie ins Grün ihrer Palette getaucht hatte, hielt sie prüfend gegen das Grün der Matte und blinzelte mit halb geschlossenen Augen, ob die Farbe auch stimmte.

Da schreckte ein Laut sie auf – halb war’s ein Murren des Unwillens über die Störung, halb ein Brummen des Beifalls – ihr Mann hatte sich aufgerichtet und blickte auf ein paar Kinder, die sich ihnen lautlos genähert hatten. Sie boten Alpenrosen zum Kauf an, das Mädchen hatte ein Körbchen davon voll, der Junge trug seinen Strauß in der Hand.

Waren das wunderhübsche Geschöpfe, das Mädchen so blauäugig sanft, der Junge ein Erzschelm! Der Frau schwoll [S. 8] das Herz; sie kaufte den Kindern all ihre Alpenrosen ab, gab ihnen sogar mehr dafür, als sie forderten.

Das war den kleinen Schweizern so recht ein Glück – noch mehr bekommen, als man fordert?! Vor Freude erröteten sie, und als die fremde Dame sie liebreich ausfragte, fingen sie freimütig an zu plaudern.

Die Kinder mußte sie malen, die waren zu entzückend, die waren ja tausendmal schöner als die schönste Landschaft!

Schlieben sah es mit einer seltsamen Unruhe, daß seine Frau die Kinder malte; erst das größere Mädchen, dann den kleinen Buben. Mit welcher Hartnäckigkeit hing ihr Blick an dem runden Knabengesicht! In ihren Augen war Glanz, sie schien nie müde zu werden, machte nur Pause, wenn die Kinder nicht mehr Geduld hatten. All ihr Denken drehte sich um diese Malerei: würden die Kinder heute auch kommen? War die Beleuchtung gut? Um Gottes willen, es würde doch kein Unwetter werden, das die Kinder abhielt?! Nichts andres hatte Interesse für sie. Das war eine große Hingabe. Und doch wurden es schlechte Bilder; die Züge ähnlich, aber keine Spur der Kindesseele darin. Er sah es klar: die Kinderlose kann nicht Kinder malen!

Arme Frau! Mit einem Gefühl tiefen Mitleids sah er ihren Bemühungen zu. Wurde ihr Gesicht nicht mütterlich weich, lieblich rund, wenn sie sich zu den Kindern neigte? Der Typus der Madonna – und doch waren dieser Frau Kinder versagt – – –!

Nein, er konnte dies nicht länger mehr mit ansehen, es machte ihn krank! Unwirsch hieß Schlieben die Kinder nach Hause gehen. Die Bilder waren fertig, wozu noch länger daran herumpinseln, das machte sie nicht besser, im Gegenteil! –

An diesem Abend weinte Käte so, wie sie zu Hause [S. 9] geweint hatte. Und sie zürnte ihrem Manne: warum ließ er ihr nicht diese Freude?! Warum hieß es so plötzlich: abreisen?! Sie kannte ihn gar nicht wieder – waren die Kinder nicht lieb, entzückend, störten sie ihn denn?!

»Ja,« sagte er nur. Es war ein harter, trockener Klang in seiner Stimme – ein so mühsames ›Ja‹ –, sie hob das Gesicht aus dem Taschentuch, in das sie hineingeweint hatte, und sah zu ihm hin. Er stand am Fenster des teppichbelegten Hotelzimmers, die Hände auf die Fensterbrüstung gestützt und die Stirn gegen die Scheibe gepreßt. So sah er stumm hinaus in die große Landschaft, in der Berggipfel voll abendsonnenfrohen Firns von ewiger Unvergänglichkeit redeten. Wie kniff er die Lippen, wie nervös zuckte sein Schnurrbart!

Sie schlich zu ihm hin und legte ihren Kopf an seine Schulter. »Was fehlt dir?« fragte sie leise. »Entbehrst du die Arbeit – ja, die Arbeit, nicht wahr? Ich fürchtete es schon. Es wird dir langweilig, du mußt wieder in Tätigkeit. Ich versprech dir’s, ich will verständig sein – nie mehr klagen – nur bleibe jetzt noch ein bißchen hier, nur noch drei Wochen – zwei Wochen!«

Er blieb stumm.

»Nur noch zehn – acht – sechs Tage! Auch das nicht mal?!« Sie sagte es schmerzlich enttäuscht, er hatte verneinend den Kopf geschüttelt. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals: »Ich bitte dich, nur noch fünf – vier – drei Tage! Warum denn nicht? Ich bitte dich, die paar Tage – nur drei Tage noch!« Sie feilschte förmlich um jeden Tag. »Ach, dann wenigstens zwei Tage noch!«

Sie schluchzte auf, ihre Arme lösten sich von seinem Halse – zwei Tage mußte er doch zugeben!

Ihre Stimme schnitt ihm durchs Herz; so hatte er [S. 10] sie noch nie bitten hören, aber er stemmte sich gegen die Nachgiebigkeit, die ihn beschleichen wollte: nur keine Sentimentalität! Es war besser, hier rasch aufzubrechen, viel besser für sie!

»Wir reisen morgen!«

Und als sie ihn ansah mit weitgeöffneten, schreckensstarren Augen, tief erbleicht, da entfuhr es ihm, ohne daß er es sagen wollte, herausgelockt von einer Bitterkeit, deren er nicht mehr Meister wurde: »Sie sind ja doch nicht dein!«


2

Und sie reisten ab. Aber es war, als sei mit der smaragdgrünen Alpenmatte, auf der sie die lieblichen Kinder gemalt hatte, der Frau auch jede Freudigkeit entschwunden. Da war wieder ganz der alte nervöse Zug in ihrem Gesicht, die Mundwinkel senkten sich ein wenig abwärts, und sie war leicht geneigt, zu weinen. Mit einer förmlichen Angst beobachtete Schlieben seine Frau: ach, war denn nun wirklich alles umsonst gewesen, das Aufgeben seiner Tätigkeit, dieses ganze lange, abspannende, planlose Herumreisen?! Hatte die alte, trübe Stimmung sie wieder gepackt?!

Wenn er sie so lässig dasitzen sah, die Hände unbeschäftigt im Schoß, überkam es ihn wie Wut: warum tat sie nichts, warum malte sie denn nicht? Es brauchte doch nicht gerade auf jener verwünschten Alpenwiese zu sein! War es denn nicht auch hier schön?!

Sie hatten sich im Schwarzwald niedergelassen; aber von Tag zu Tag hoffte er vergebens, daß eines der grünen stillen Waldtäler sie reizen würde, ihre Malsachen hervorzusuchen, oder eins der bräunlichen Schwarzwaldmädchen mit [S. 11] dem Kirschenhut und dem riesigen, roten Regenschirm, wie Vautier sie gemalt hat. Sie hatte keine Lust, ordentlich eine Art Scheu, den Pinsel wieder anzufassen.

Er machte sich im geheimen bittere Vorwürfe: wäre es nicht besser gewesen, ihr die Freude zu lassen, nicht dazwischen zu fahren?! Und doch – einmal hätte die Sache doch ein Ende nehmen müssen, und je länger sie angedauert hätte, desto schwerer wäre die Trennung gewesen! Das stand nun fest, mit dem Spätherbst wollten sie wieder nach Berlin heimkehren. Er hielt es beim besten Willen nicht länger so mehr aus; des Umherziehens von Hotel zu Hotel, des Bummelns durch die Welt, das keine andre Frucht zeitigte, als ab und zu mal ein kleines Feuilleton, eine Reiseplauderei über ein noch weniger bekanntes Stückchen Erde, war er herzlich müde. Er sehnte sich wieder nach einer eignen Häuslichkeit, verlangte brennend nach der geschäftlichen Tätigkeit, die, solange er darinnen war, ihm oft als eine Fessel und so nüchtern gedeucht hatte. Aber Käte – – – –! Wenn er daran dachte, daß sie nun wieder viele Stunden einsam zu Hause verbringen würde, sich ganz auf sich und Lektüre beschränkend, denn, übersensitiv wie sie war, fand sie wenig Gefallen am Umgang mit anderen Frauen, dann überkam ihn Hoffnungslosigkeit. Da würden wieder dieselben trüben Augen sein, dieses gleiche, melancholische Lächeln, die alten gereizten Stimmungen, unter denen das ganze Haus litt, sie selber am meisten.

Und er betrachtete sich selber wie anklagend; er ging sein ganzes Leben zurück: hatte er etwas verbrochen, daß ihm kein Sohn beschieden war, keine Tochter?! Ja, wenn Käte ein Kind hätte, dann wäre alles gut, sie wäre vollauf beschäftigt, ausgefüllt durch dieses Wesen, um das sich Elternliebe, hoffnungsvoll und hoffnungsberechtigt, in ewig erneutem Kreise dreht! [S. 12]

Beide Eheleute quälten sich, denn der Frau Gedankenwanderungen endeten erst recht immer an diesem einen Punkte. Jetzt, nachdem sie von jenen lieben Kindern geschieden worden war, von diesem, ach, viel zu kurzen Sommerglück, schien es ihr erst ganz klar geworden zu sein, was sie entbehrte – hatte es nicht vorher nur wie eine schmerzliche Ahnung auf ihr gelastet?! Aber jetzt, jetzt war die grausam deutliche Gewißheit da: alles, was man sonst in der Welt ›Glück‹ nennt, ist nichts gegen den Kuß eines Kindes, gegen sein Lächeln, sein Schmiegen in der Mutter Schoß!

Sie hatte die Kinder auf der Matte beim Kommen und Gehen immer zärtlich geküßt, nun sehnte sie sich nach diesen Küssen. Ihres Mannes Kuß ersetzte ihr diese nicht; sie war nun bald fünfzehn Jahre verheiratet, der Kuß war keine Sensation mehr, er war zu einer Gewohnheit geworden. Aber der Kuß von Kinderlippen, die so frisch, so unberührt, so scheu und doch so zutraulich sind, der war ihr etwas ganz Neues gewesen, etwas unendlich Süßes. Ein Glücksgefühl hatte ihre Seele dabei durchrieselt, zugleich mit dem ganz physischen Behagen, ihren Mund in diese duftig-weichen und doch so prallen Wangen versenken zu können, die von Gesundheit und Jugend flaumig behaucht waren wie die Bäckchen eines Pfirsichs. Immer wieder irrte ihre Sehnsucht zu der Alpenmatte zurück; und diese ihre ungestillte Sehnsucht vergrößerte das Erlebnis, umgab die Gestalten, die so flüchtig in ihrem Leben aufgetaucht waren, mit dem ganzen Glorienschein zärtlicher Erinnerung. Ihre unbeschäftigten Gedanken spannen lange Fäden. Wie sie sich nach den Kleinen sehnte, so würden die sich auch nach ihr sehnen, weinend würden sie über die Matte irren, und das reiche Geldgeschenk, das sie für jedes von ihnen beim Wirt des Hotels hinterlassen – hatte sie doch fortgemußt, ohne ihnen Adieu zu sagen –, würde sie [S. 13] nicht trösten; vor der Tür würden sie stehen und nach den Fenstern hinaufäugen, aus denen ihre Freundin ihnen so oft gewinkt hatte. Nein, das konnte sie Paul nicht verzeihen, daß er so wenig Verständnis gezeigt hatte für ihr Empfinden!

Der Aufenthalt im Schwarzwald, dessen sammetige Wiesenhänge zu sehr an die Matten der Schweiz erinnerten, von dessen Aussichtspunkten man an hellen Tagen zur Alpenkette hinüberblicken konnte, wurde beiden Schliebens zur Qual. Es trieb sie fort; die dunklen Tannen, dieser grüne, tiefe Wald wurde ihnen zu eintönig. Sollten sie es nicht einmal mit einem Seebad versuchen? Das Meer ist alle Tage neu. Und die Saison für die See war auch da; schon wehte der Wind über Stoppelfelder, als sie in die Ebene hinabfuhren.

Sie wählten ein belgisches Seebad, eines, in dem man Toilette macht und ein ganz internationales Publikum täglich etwas Neues zu sehen bietet. Sie empfanden es beide: viel zu lange waren sie in stillen Gebirgseinsamkeiten gewesen!

An den ersten Tagen machte ihnen das bunte Treiben Spaß, aber dann waren sie, zwischen die sich in letzter Zeit etwas wie eine trennende Wand hatte schieben wollen, beide plötzlich ganz einig: hier dieses Auf und Ab von Männern, die Gecken glichen, von Frauen, die, wenn sie der Demimonde nicht angehörten, diese doch mit Erfolg kopierten, war nichts für sie! Nur fort!

Schlieben machte den Vorschlag, jetzt endgültig die Reise aufzugeben und schon etwas früher nach Berlin zurückzukehren, aber davon wollte Käte doch nichts wissen. In ihr war eine geheime Angst vor Berlin – ach, wieder in die alten Verhältnisse zurückkehren?! Sie hatte sich bis jetzt gar nicht gefragt, was sie eigentlich von dieser langen Reisezeit erhofft hatte; aber sie hatte etwas erhofft – ja! Was –?! [S. 14]

Ach, nun würde sie wieder so viel allein sein und nichts, nichts war da, was sie ganz erfüllte!

Nein, sie war noch nicht imstande, nach Berlin zurückzukehren! Sie sagte ihrem Manne, daß sie sich noch erholungsbedürftig fühle – gewiß war sie bleichsüchtig, blutarm! Längst hätte sie Schwalbach, Franzensbad, irgendein Stahlbad besuchen sollen – wer weiß, vielleicht wäre dann manches anders!

Er war nicht ungeduldig – wenigstens zeigte er es ihr nicht – denn ein tiefes Mitleid mit ihr begann in ihm zu wachsen. Natürlich sollte sie in ein Stahlbad; man hätte das längst versuchen sollen, versuchen müssen!

Der belgische Arzt schickte sie nach dem berühmten Spaa.

Hoffnungsvoll kamen sie dort an. Bei ihr war die Hoffnung ganz echt. »Du sollst sehen,« sagte sie heiterer zu ihrem Manne, »hier wird’s mir gut tun. Ich habe so ein unbestimmtes Gefühl – nein, eigentlich das ganz bestimmte Gefühl, daß uns hier etwas Gutes widerfährt!«

Auch er hoffte; er zwang sich dazu, zu hoffen, ihr zuliebe. O, und es wäre ja schon genug, der Erfüllung genug, wenn die Eigenart der Landschaft ihr so viel Interesse abgewänne, daß sie die gänzlich vernachlässigte Malerei wieder aufnähme! Wie froh würde er schon darüber sein! Wenn sich der frühere Eifer zur Kunst wieder einstellte, so war das tausendmal heilbringender, als die stärkste Eisenquelle Spaas.

Die Heide blühte, all die weiten Flächen des Hochlands waren rot, in Purpur versank die purpurne Sonne.

Es kam, wie er gehofft hatte; das heißt, zu malen fing sie nicht an, aber sie unternahm mit ihm Touren in die Ardennen und die Eifel, zu Fuß und zu Wagen, und hatte Freude daran. Das Venn hatte es ihr angetan. Sie stand in ihrem lichten Kleid wie ein kleiner heller Punkt in dem ungeheuern [S. 15] Ernst der Landschaft, schirmte die Augen mit der Hand gegen die hier so unbehinderte, durch keinen Baum, keinen Berg gehemmte Sonnenaussicht und sog in tiefen Atemzügen die herbe, gläserne, noch von keinem Rauch menschlicher Wohnungen, kaum von Menschenodem versehrte Luft ein. Um sie blühte das Venn wie ein gleichfarbener Teppich, tief, ruhig, dem Auge ein wohltuendes Labsal; nur selten reckte sich dazwischen blauer Enzian und die leicht schaukelnde weiße Flocke des Wollgrases.

»O, wie schön!« Das sagte sie mit tiefster Empfindung. Die Melancholie der Landschaft schmeichelte ihrer Stimmung. Da war kein bunter Ton, der sie störte, kein Durcheinander von Farben. Selbst die Sonne, die hier schöner untergeht als anderswo – so tief errötend, daß der ganze Himmel mit errötet, daß der schlängelnde Vennbach, von Moospolstern eingesäumt, jede Lache, jede wassergefüllte Torfgrube rotgolden widerstrahlt und das traurige Venn einen Mantel trägt voll leuchtender Herrlichkeit – selbst diese Sonne brachte keinen grell-heiteren Schein. Groß, würdevoll, eine ernste Siegerin nach ernstem Kampfe, zeigte sie ihr gewaltiges Riesenrund.

Mit großen tränenden Augen sah Käte in diese wunderbare Sonne, bis das letzte Strählchen, das letzte rosige Äderchen im Wolkengrau versiegt war: so ging die sterben – der Himmel war tot –, aber am Morgen stand sie doch wieder da, eine ewig-unvergängliche, nie besiegte Hoffnung! Sollte, durfte da das Menschenherz nicht auch wieder schlagen, neu belebt, immer in Hoffnung?!

Nebel huschten übers Moor, verschleierte, unbeschreibbare, ungewisse Erscheinungen; ein Raunen ging vor dem Wind, ein Lispeln durch Kraut und Wollgras – es war Käte, als habe das Venn ihr etwas zu sagen. Was sagte es?! Ah, das war nicht umsonst, daß sie hier gehalten wurde, [S. 16] sich festgehalten fühlte wie mit starker und doch gütiger Hand!

Sie ging, gleichsam suchend, mit rascherem, elastischerem Schritt.

Schlieben war glücklich über das Gefallen, das seine Frau an der Gegend fand. Er konnte dieser Landschaft freilich keinen besonderen Geschmack abgewinnen – war es nicht reichlich öde, monoton und unfruchtbar hier? Aber gewiß, Stimmung, sehr viel Stimmung hatte die eigentümliche Szenerie – nun, und wenn sie sich darin behagte, war die ihm doch lieber als ein Paradies!

Sie fuhren oft hinauf bis zur Baraque Michel, jenem einsamen Wirtshaus auf der Grenze von Belgien und Preußen, in dem die Grenzjäger ihren Wacholderschnaps trinken, wenn sie auf etwaige Schmuggler fahnden, und wo die Torfarbeiter ihre nebelfeuchten Kittel und durchnäßten Stiefel am stets brennenden Herdfeuer trocknen.

So viele Kreuze im Venn, so viele Verunglückte. Mit heimlichem Grausen hörte Käte die Erzählungen der Leute – das Venn, konnte das so furchtbar sein?! – und sie fragte sie immer wieder von neuem aus. War’s möglich, jener Mann aus Xhoffraix, der nach Torfstreu gefahren, war hier versunken, mit Karren und Pferd, so dicht am Weg, und man hatte nie, nie wieder etwas von ihm zu Gesicht bekommen?! Und dort das Kreuz, so verwittert und schwarz, wie kam das mitten ins Moor?! Warum hatte sich nur der Handwerksbursche, der auf der Poststraße von Malmedy nach Eupen wandern wollte, so weit ab verlaufen? War es denn Nacht gewesen oder ein Schneetreiben, daß er nicht hatte sehen können, oder Kälte, grimmige Kälte, bei der ein Müder erfriert? Nichts von alledem; nur Nebel, plötzlicher Nebel, der so verwirrt, daß man nicht mehr geradeaus weiß, noch rückwärts, [S. 17] weder links noch rechts, jegliche Richtung verliert, von der Straße abkommt und im Kreise umherrennt wie ein sinnlos verängstigtes armes Tier. Und alle die Nebel, die im Venn steigen, wenn’s Tageslicht auslischt, sind das die Seelen der Unbestatteten, die, in zerfallnen Gewändern allnächtlich ruhelos ihren durch keinen Segensspruch, durch kein Weihwasser geweihten Grüften entsteigen?!

Das war ein Märchen. Aber war’s nicht überhaupt hier wie im Märchen? So ganz anders als irgendwo sonst in der Welt, eigentlich häßlich und doch nicht häßlich, eigentlich nicht schön und doch so über alle Maßen schön?! Und sie selbst, war sie hier nicht eine ganz andre, ging sie nicht erwartungsvoll, selig-verträumt, wie eine, die etwas Wunderbares erleben soll?! –

Es war in der sechsten Woche ihres Aufenthaltes in Spaa. Die Nächte waren schon winterkalt, die Tage aber noch sonnig. Es war immerhin eine weite Fahrt hinauf zur Baraque, auch für die kräftigen Ardennengäule, aber Mann und Frau waren heute doch wieder oben. Hieß es nun bald scheiden?! Ach ja – mit Wehmut mußte sich’s Käte eingestehen – es war sehr herbstlich, das Heidekraut verblüht, die Lüfte rauh; das in der Nacht schon gefroren gewesene Gras raschelte unter ihren Füßen. Man konnte winterliche Kleidung gebrauchen.

»Hu, wie kalt,« sagte fröstelnd Schlieben und schlug sich den Kragen des Überziehers in die Höhe. Er wollte seiner Frau ein Tuch um den Hals schlingen, aber sie wehrte sich dagegen: »Nein, nein!« Eiligen Schrittes lief sie vor ihm her durchs raschelnde Kraut. »Sieh nur!«

Es war ein weiter Ausblick, der sich ihnen bot, hier auf der höchsten Erhebung des Venns, die ein wackeliges Holztürmchen ziert. Die ganze große heidebewachsene Hochfläche lag vor ihnen, darauf ab und zu ein dunkelragendes [S. 18] Tannentrüppchen, das nur auf der dem Sturm abgekehrten Seite breitende Äste zeigte. Ängstlich geduckte Schonungen, kaum höher als das Kraut und nur durch die andre Farbe erkenntlich. Und hier und hier, und da und dort ein grauer Findlingsblock und ein zur Seite gewehtes Kreuz. Und eine Stille darüber im herbstlich bleichen Mittagslicht, als sei hier Gottesacker.

Als sie auf das Türmchen geklettert waren, sahen sie noch mehr. Sie sahen von der Hochfläche zu Tal: rundum eine blaue Weite, blau vom Dunkel der Wälder und vom Duft des Herbstes, und im schönen Blau langgestreckte Dörfer, die weißen Häuser halb verborgen hinter hohen Schutzhecken. Und hier, nach Belgien hinab, mit seinem grauen Dunst wie eine Wolke in der klaren, kristallhellen Herbstluft lagernd, das große Verviers, überragt von Kirchtürmen und Fabrikschornsteinen.

Käte seufzte auf und schauderte unwillkürlich zusammen: ach, so nahe schon die Alltäglichkeit? Rückte ihrer wunderbaren Märchenwelt das graue Leben schon näher und näher?!

Schlieben hüstelte; er fand es reichlich kühl hier oben. Sie stiegen vom Türmchen herunter, aber als er sie zur Baraque zurückführen wollte, widerstrebte sie: »Nein, noch nicht, noch nicht! Es läutet ja erst Mittag!«

Von der Kapelle Fischbach her, jenem schieferbekleideten, uralten Kirchlein, in dessen Turm man früher die große rote Laterne hißte, um dem im wilden Meer der Nebel schwimmenden Wanderer den rettenden Port zu weisen, und unablässig die Glocke rührte, um – versagte das Auge – durchs Ohr den Irrenden zu retten, läutete es. Hell und durchdringend rief das Glöckchen in die Einsamkeit – der einzige Laut der großen Stille.

»Wie rührend ist dieser Klang!« Käte stand mit gefalteten [S. 19] Händen und sah schwimmenden Auges in die große Weite hinaus. Welch ein Zauber wohnte in diesem Venn?! Er umspann die Seele, wie das zähe Gestrüpp der Heide und die kriechenden Ranken des Schlangenmooses den Fuß umstrickten. Wenn sie daran dachte, daß sie nun bald von hier scheiden mußte, fortgehen aus dieser ungeheuern Stille, die ein Geheimnis zu bergen schien, ein Wunderbares hegte im tiefen Schoß, krampfte ihr Herz sich zusammen in plötzlicher Angst: wie würde es nun mit ihr werden, was mit ihr geschehen?! Ihre suchende Seele stand wie ein Kind verlangend auf der Schwelle des Märchenlandes – sollte ihr denn keine Gabe werden?!

»Was war das?!« Mit einem halblauten Ruf des Erschreckens griff sie plötzlich nach dem Arm ihres Mannes: »Hast du’s nicht auch gehört?«

Sie war ganz blaß geworden; mit groß aufgerissenen Augen stand sie da, sich unwillkürlich auf den Zehen hebend und den Hals reckend.

»Nun wieder! Hörst du’s?« Etwas wie das leise Wimmern eines Kindes war an ihr Ohr gedrungen.

Nein, er hatte nichts gehört: »Es werden wohl Menschen in der Nähe sein. Käte, wie du einen aber erschrecken kannst!« Ein wenig ärgerlich schüttelte er den Kopf. »Du weißt doch, jetzt sind alle Weiber und Kinder aus den Venndörfern draußen, um Preißelbeeren zu sammeln. Sonst haben sie ja nichts zu ernten. Sieh mal, jetzt sind die Beeren hochreif!« Er bückte sich und pflückte ein Stäudchen.

Wunderschön stand das Träubchen der tief korallenfarbenen Beeren gegen das glänzende Dunkelgrün der ovalen Blättchen. Aber auch Blüten waren noch am Ständchen, kleine weiße, reine Blüten.

»Wie Myrte, genau wie Myrtenblüte,« sagte sie und [S. 20] nahm ihm das Ständchen aus der Hand. »Und die Blättchen sind auch gerade wie Myrtengrün!« Den Stengel zwischen den Fingern drehend, sah sie sinnend darauf nieder: »Die Myrte des Venns!« Und die kleine Blume entzückt an ihren Mund hebend, küßte sie sie.

»Weißt du noch – damals – an unserm Hochzeitsabend, weißt du noch? Du hast die Myrte aus meinem Kranz geküßt, und ich habe sie auch geküßt, und dann küßten wir uns. Damals – damals – o, wie glücklich waren wir damals!« Sie sagte es sehr weich, wie verloren in einer süßen Erinnerung.

Er lächelte, und wie sie sich näher zu ihm neigte, unverwandt den verträumten Blick auf das grüne Ständchen geheftet, zog er sie an sich und legte den Arm um sie. »Und sind wir heute nicht – nicht« – er wollte sagen ›nicht ebenso glücklich‹, aber er sagte nur: »nicht auch glücklich?«

Sie antwortete nicht, sie verharrte stumm. Aber dann, mit einer jähen Bewegung das glänzende Grün von sich schleudernd, wendete sie sich ab und lief fort von ihm, blindlings, weglos ins Venn hinein.

»Käte, was ist dir denn?!« Erschrocken hastete er hinter ihr her; sie lief so rasch, daß er sie nicht gleich einholen konnte. »Käte, du wirst noch hinstürzen! Aber so warte doch! Käte, was hast du?!«

Keine Antwort. Aber an den zuckenden Bewegungen ihrer Schultern sah er, daß sie heftig weinte. Ach, was war das nun wieder?! Bekümmert war sein Gesicht, als er hinter ihr drein rannte übers öde Venn. Sollte es denn nie besser mit ihr werden? Da sank einem ja wahrhaftig jeglicher Lebensmut! Es war auch eine Torheit gewesen, sie hierher zu bringen – geradezu eine Verrücktheit! Hier war ja keine Heiterkeit zu finden. Eine Trostlosigkeit lauerte [S. 21] in dieser unbegrenzten Weite, eine schreckhafte Härte in dieser herb duftenden Luft, eine unerträgliche Schwermut in dieser großen Stille!

Schlieben hörte nur das eigne erregte Atmen. Immer rascher lief er, eine heftige Angst um seine Frau erfaßte ihn plötzlich. Jetzt hatte er sie beinahe erreicht – schon streckte er die Hand aus, sie am flatternden Kleid zu haschen – da drehte sie sich um, warf sich ihm an die Brust und schluchzte: »Ach, hier ist beides: Blüte und Frucht! Aber unsre Myrte ist abgeblüht und hat nicht Frucht getragen – nicht Frucht – wir armen Leute!«

Also das – das war’s wieder?! Verwünscht! Er, der sonst so Gemäßigte, stampfte heftig mit dem Fuß auf; Zorn, Scham und ein gewisses Schmerzgefühl jagten ihm das Blut zu Kopfe. Da stand er nun in einer Ödenei, hielt seine zum Erbarmen weinende Frau in den Armen und kam sich selber höchst kläglich vor.

»Sei nicht böse, sei nicht böse,« bat sie und drückte sich fester an ihn. »Siehst du, hier hatte ich gehofft – ach, so bestimmt gehofft – gewartet – ich weiß selbst nicht recht auf was, aber immer gewartet – und heute – eben ist mir’s klar geworden: es war doch alles, alles umsonst! Laß mich weinen!«

Und sie weinte wie jemand, dem alle Hoffnung gestorben ist.

Was sollte er ihr sagen? Wie sie trösten? Er wagte kein Wort, strich ihr nur sacht übers heiße Gesicht und fühlte, wie auch ihn ein Gefühl beschlich, das Gefühl, das er nicht immer die Kraft hatte, beiseite zu schieben.

So standen sie lange stumm, bis er, sich zusammennehmend, in einem Ton, der gleichgültig-ruhig zu klingen bemüht war, sagte: »Wir müssen zurückgehen, wir sind hier [S. 22] ganz in die Wildnis geraten. Komm, nimm meinen Arm! Du bist übermüdet, und wenn wir – – –«

»Still,« unterbrach sie ihn und ließ hastig seinen Arm fahren. »Wieder wie vorhin! Es klagt was!«

Nun hörte er’s auch. Sie horchten beide: war das ein Tier? Oder die Stimme eines Kindes, eines ganz kleinen Kindes?!

»O Gott!« Weiter sagte Käte nichts, aber sie machte, kurz entschlossen, eine Wendung nach rechts und lief eilig, ohne acht zu haben, daß sie mehrmals stolperte im schier undurchdringlichen Beerengestrüpp, zu einer kleinen Bodensenkung hinunter.

Ihr feines Ohr hatte sie recht geführt. Da lag das Kind auf der Erde. Es hatte kein Kissen, keine Decke, war recht erbärmlich eingebündelt in einen alten, zerschlissenen Frauenrock. Sein Köpfchen, das dunkel behaart war, lag im bereiften Kraut; mit den großen, klaren Augen guckte es starr in die Helle, die zwischen Himmel und Venn flimmerte.

Da war kein Schleier, keine schützende Hülle; auch keine Mutter – nur das Venn.

Sie hatten sich doch getäuscht: es weinte nicht, es grahlte nur so vor sich hin, wie stillzufriedene Kinder zu tun pflegen. Seine kleinen Händchen, die nicht mit eingebündelt waren, hatten um sich gefaßt, einige der roten Beeren gegriffen und zerquetscht. Dann waren die Fäustchen zum hungrigen Mündchen gewandert; die Säuglingslippen waren betropft mit Beerensaft.

»So allein?!« Käte war in die Kniee gesunken, ihre Hände umfaßten zitternd das Bündel. »Um Gottes willen, das arme Kind! O, wie reizend es ist! Sieh nur, Paul! Wie kommt es hierher? Es wird erfrieren! Verhungern! Ruf mal, Paul! Das arme Würmchen! Wenn jetzt die [S. 23] Mutter käme, der würde ich es aber gehörig sagen – es ist schändlich, das hilflose Wesen so liegen zu lassen! Rufe – laut – lauter!«

Er rief, er schrie: »He, holla! Ist niemand da?!«

Keine Stimme antwortete, kein Mensch kam. So still lag das Venn, als sei es eine ausgestorbene, längst vergessene Welt.

»Es kommt niemand,« flüsterte Käte ganz leise, und es war Angst und zugleich zitterndes Frohlocken in ihrer Stimme. »Die Mutter kümmert sich nicht – wer weiß, wo die hin ist?! Ob sie kommt?!« Spähend sah sie umher, reckte den Kopf nach allen Seiten, um ihn dann mit einem Seufzer der Befriedigung wieder auf das Kind herabzuneigen.

Was gehörte dazu für ein unverzeihlicher Leichtsinn – nein, was für eine unsagbare Roheit, solch ein Würmchen hier preiszugeben! Wenn sie nun ein paar Stunden, nur eine Stunde später gekommen wären?! Da konnte es bereits von einer Schlange gebissen, am Ende gar von einem Wolf zerrissen worden sein!

Nun mußte Schlieben doch lachen, obgleich ihn ein leises Mißvergnügen beschlichen hatte beim Anblick ihrer Exaltation. »Nein, mein Kind, Giftschlangen gibt es hier nicht, und Wölfe auch nicht mehr, da kannst du dich beruhigen. Aber wenn die Nebel erst steigen, so hätten die genügt!«

»O –!« Schaudernd preßte Käte den Findling an sich. Sie kauerte jetzt auf den Hacken und hielt das Kind im Schoß. Ihr Zeigefinger kitzelte schäkernd unter dem kleinen Kinn; sie streichelte die rosigen Bäckchen, das flaumige Köpfchen, erschöpfte sich in Liebkosungen und Schmeichelnamen, aber unverwandt sah das Kind mit den großen, dunklen und doch so hellen Augen in die flimmernde Helle. Es lächelte nicht, es [S. 24] weinte aber auch nicht; es schenkte den Fremden gar keine Beachtung.

»Glaubst du, daß man’s mit Absicht hier ausgesetzt hat?« fragte Käte plötzlich und machte die Augen weit auf. Eine heiße Blutwelle schoß ihr zu Kopf. »O, dann – dann« – sie tat einen zitternden Atemzug und preßte das Kind an sich, als möchte sie es nicht wieder lassen.

»Die Sache wird sich schon irgendwie aufklären,« sagte Schlieben ablenkend. »Die Mutter wird schon kommen!«

»Siehst du sie – siehst du sie?« forschte sie fast ängstlich.

»Nein!«

»Nein!« Sie wiederholte es erleichtert und lächelte dann. Ihr Auge und Ohr gehörte nun ganz dem hilflosen Wesen. »Wo ist das liebe Kindchen – ei, wo ist es denn?! Lach doch mal! Sieh mich doch mal an mit deinen großen Guckaugen! O, du liebes Geschöpf, o, du süßes Kind!« Sie tändelte mit ihm und preßte Küsse auf seine Händchen, ohne zu achten, daß diese schmutzig waren.

»Was machen wir nun?!« sagte der Mann betreten.

»Wir können es nicht hier liegen lassen. Selbstverständlich nehmen wir’s mit!« Die zarte Frau hatte plötzlich etwas sehr Energisches. »Glaubst du, ich werde das Kind im Stiche lassen?!« Ihre Wangen glühten, ihre Augen glänzten.

Mit einer gewissen Scheu sah Schlieben seine Frau an: wie war sie schön in diesem Augenblick! Schön, gesund, glücklich! So hatte er sie lange nicht gesehen. Nicht mehr, seit er sie als selige Braut in die Arme geschlossen hatte! Ihre Brust hob und senkte sich rasch unter bebenden Atemzügen, und an dieser Brust lag das Kind, und zu Füßen blühte die Myrte des Venns.

Eine seltsame Bewegung überkam ihn; aber er wendete sich ab: was ging sie das fremde Kind an?! Und doch gestand [S. 25] er zögernd zu: »Freilich, hierlassen können wir’s nicht! Weißt du was? Wir wollen es bis zur Baraque mitnehmen. Gib her, ich will es tragen!«

Aber sie wollte es selber tragen, sie ließ sich nur von ihm auf die Füße helfen. »So – so – komm, mein liebes Kindchen!« Behutsam hob sie den Fuß zum ersten Schritt – da bannte ein Ruf sie an die Stelle.

»Heela!«

Eine rauhe Stimme hatte das gerufen. Und nun kam ein Weib auf sie zu; die Gestalt im flatternden Rock hob sich groß und scharf ab von dem sie umflutenden lichten Äther.

Woher kam die so plötzlich? Dort, hinter dem Erdwall her, den man bei der Torfgrube ausgeworfen hatte! Sie war auf allen Vieren gekrochen und hatte Beeren gepflückt; ein fast gefüllter Eimer hing ihr am Arm, und in der Rechten trug sie das hölzerne Maß und den großen, knöchernen Pferdekamm, mit dem die Beeren abgestreift werden.

Das war die Mutter! Ein tiefer Schreck befiel Käte, sie wurde blaß.

Auch Schlieben war betroffen; aber dann atmete er erleichtert auf: so war’s entschieden die beste Lösung! Natürlich, man hätte es sich ja gleich denken können, wie sollte das Kind wohl ganz allein ins öde Venn kommen?! Die Mutter hatte Beeren gesucht und es derweilen hier niedergelegt!

Die Frau schien ihnen übrigens gar nicht Dank zu wissen, daß sie sich während ihrer Abwesenheit des Kindes so freundlich angenommen hatten. Mit einer ziemlich unsanften Bewegung nahmen die starkknochigen Arme das Kind der Dame ab. Mißtrauisch musterte der Blick des Weibes die Fremden.

»Ist es Ihr Kind?« fragte Schlieben. Es hätte der Frage nicht bedurft: das waren ganz dieselben dunklen Augen, [S. 26] nur daß sie bei dem Kinde glanzvoller waren, noch nicht vom Staube des Lebens getrübt, wie bei der Mutter.

Die Frau gab keine Antwort. Erst als Schlieben nochmals fragte: »Sind Sie die Mutter?« und zugleich in die Tasche griff, fand sie es der Mühe wert, kurz zu nicken:

» C’est l’ mi’n! « [1] Ihr Gesicht blieb finster, ganz ohne Regung von Stolz oder Freude.

Mit einem gewissen empörten Staunen sah es Käte. Wie gleichgültig das Weib war! Hielt sie nicht das Kind, als wäre es ihr eine überflüssige Last?! Ein Neid kam sie an, ein quälender Neid, und zugleich ein heftiger Unwille: die da verdiente wahrhaftig das Kind nicht! Aus dem Arm hätte sie ihr’s reißen mögen. Wie roh das Gesicht war, grob die Züge, hart der Ausdruck! Die konnte einem ja ordentlich Angst machen mit ihrem finsteren Blick. Nur jetzt – jetzt leuchtete etwas darin auf: aha, sie sah das Geldstück, das Paul aus seiner Börse genommen hatte!

Pfui, wie gierig jetzt der Blick wurde!

Die Beerensucherin streckte die Hand aus – da war ein großes, blankes Silberstück – und als es ihr nun gereicht war, als sie’s hielt, atmete sie tief; ihre braunen Finger schlossen sich fest darum.

» Merci! « Ein Lächeln huschte flüchtig über das unfreundliche Gesicht, dessen Mundwinkel verdrossen hingen; die Stumpfheit des Ausdrucks belebte sich für Augenblicke. Und dann – das unförmlich eingebündelte Kind auf einem Arm, am andern den schweren Eimer – schickte sie sich an, davonzutrotten.

Jetzt sah man erst, wie armselig ihr Rock war, er hatte Flicken in allen Farben und Größen. In den Zöpfen, die, [S. 27] verfilzt und unordentlich unter dem buntbetupften Kattuntuch vorhingen, hafteten dürre Heide und Tannennadeln; sie ging in alten schwergenagelten Männerschuhen. Man wußte nicht, war sie schon bejahrt oder noch jung; der starke Leib, die schlaffen Brüste entstellten sie, aber daß ihr Gesicht einmal nicht unschön gewesen sein mußte, das sah man noch. Das Kleine glich ihr.

»Ein hübsches Kind haben Sie,« sagte Schlieben. Seiner Frau zuliebe fing er noch einmal die Unterhaltung mit der Unzugänglichen an. »Wie alt ist der Knabe?«

Die Beerensucherin schüttelte den Kopf und sah teilnahmlos am Frager vorbei. Mit der war wirklich nichts anzufangen, die war ja entsetzlich stupide! Schon wollte Schlieben sie endgültig gehen lassen, aber Käte drängte sich an seinen Arm und raunte ihm zu: »Frage sie, wo sie wohnt! Wo sie wohnt – hörst du?!«

»He, wo wohnen Sie denn, gute Frau?«

Sie schüttelte wieder stumm den Kopf.

»Ich meine, wo sind Sie her? Aus welchem Dorf?«

» Je ne co’pré nay [2] sagte sie kurz. Aber dann, zugänglicher werdend – vielleicht daß sie noch ein zweites Almosen erhoffte – hub sie in weinerlich klagendem Ton an: » Ne n’ava nay de pan et tat d’s e’fa’ts! « [3]

»Sie sind wohl Wallonin?«

» Ay [4] – Longfaye! « Und sie hob den Arm und zeigte in eine Richtung, in der man nichts sah als Himmel und Venn.

Longfaye war ein sehr armes Venndorf; Schlieben wußte das und wollte noch einmal in die Tasche greifen, aber er fühlte sich von Käte zurückgehalten: »Nein, der da nicht [S. 28] – der Frau nicht – du mußt es dem Gemeindevorsteher übergeben, für das Kind, für das arme Kind!«

Sie tuschelte sehr leise und aufgeregt schnell.

Das Weib konnte unmöglich etwas verstanden haben, aber der Blick der schwarzen Augen flog blitzschnell von dem Herrn zu der Dame und blieb voll Mißtrauen auf der feinen Städterin haften: wenn die ihr doch nichts geben wollte, was sollte sie sich dann noch länger ausfragen lassen; was wollte die von ihr?! Mit einem kaum merklichen Kopfnicken und einem knapp herausgestoßenen »Adieu« wandte sich die Wallonin ab. Gelassenen aber weitausholenden Schritts entfernte sie sich übers Venn; rasch kam sie vorwärts, ihre Gestalt wurde kleiner und kleiner, die Mißfarbe ihres ärmlichen Rocks war bald nicht mehr kenntlich im farblosen Venn.

Die Sonne war verschwunden mit dem Kind; plötzlich war alles grau.

Regungslos stand Käte und sah in die Richtung von Longfaye. Sie stand, bis ein Frösteln sie zusammenschauern ließ, und hing sich dann schwer an den Arm ihres Mannes; als sei sie auf einmal müde geworden, so ging sie stumm mit schleppenden Füßen der Baraque zu. –

Nebel begann den hellen Mittag zu verschleiern. Feuchtkalte Luft, die empfindlicher näßt als Regen, machte die Kleider klamm. In dichten Schwärmen flogen die Stechfliegen der Sümpfe zu Tür und Fenstern der Baraque herein; drinnen brannte ein schwelendes Torffeuer, mit dürren Tannenreisern zu lodernderer Glut entfacht, und die Fliegen klebten sich an Herdwand und Decke – nein, sie wollten noch nicht sterben!

Der Herbst war da, Sonne und Wärme dem Venn entschwunden, jetzt tat man gut daran, zu fliehen.

Aber draußen, ganz in der Öde, überm höchsten Punkt [S. 29] des Venns, kreiste ein einsamer Bussard und stieß seinen durchdringenden, sieghaften Wildlingsschrei aus; dem war wohl hier, im Sommer wie im Winter, der wollte nicht fort von hier.

1 C’est le mien.

2 Je ne comprends pas.

3 Nous n’avons pas de pain et tant des enfants.

4 Ja.


3

Der Gemeindevorsteher des kleinen Venndorfs war einigermaßen verwundert und verlegen, als so feine Herrschaften bei ihm vorfuhren und ihn zu sprechen wünschten. Durch die Jauche seines Hofes, die ihm bis an die Kniee spritzte, ging er ihnen entgegen. Er wußte nicht, wo er sie hineinführen sollte, denn drinnen waren die Ferkel und das Kälbchen, und die alte Sau wälzte sich vor der Tür.

So gingen sie mit ihm auf der stillen Dorfstraße, von der die wenigen Gehöfte noch abseits liegen, auf und ab, während der Wagen langsam in tief ausgefahrenen Geleisen hinter ihnen dreinholperte.

Käte war blaß, ihren Augen sah man’s an, daß sie wenig Schlaf gefunden hatten. Jedoch sie lächelte, und eine erwartungsvoll-freudige Spannung war in ihren Zügen, sprach aus ihrem Schritt; immer war sie den andern ein wenig vorauf.

Schliebens Gesicht war sehr ernst. War es nicht eine große Unbedachtsamkeit, eine grenzenlose Übereilung, die er jetzt beging, seiner Frau zuliebe?! Wenn es nun nicht zum Guten ausschlug?!

Es war eine böse Nacht gewesen. Seltsam stumm und wie geistesabwesend hatte er gestern Käte von der Baraque nach Hause gebracht, sie hatte nichts gegessen, und, große Ermüdung vorgebend, sich früh zur Ruhe gelegt. Aber als er, [S. 30] ein paar Stunden später, sein Lager aufsuchte, fand er sie noch nicht eingeschlafen. Sie saß aufrecht im Bett, ihr schönes Haar, das sie zur Nacht in zwei Zöpfe flocht, hing ihr lang herunter und gab ihr so das Aussehen einer ganz jungen Frau. Aus verstörten Augen sah sie ihn seltsam verlangend an, und dann schlang sie beide Arme um seinen Hals und zog seinen Kopf zu sich herunter.

Sie war so eigentümlich gewesen, so weich und doch so heftig, er hatte sie besorgt gefragt, ob ihr etwas fehle, aber sie hatte nur den Kopf geschüttelt und ihn in stummer Liebkosung fest umfaßt.

Er glaubte sie endlich eingeschlafen – sie schlief auch, aber nur ganz kurze Zeit – da war sie mit lautem Schrei schon wieder erwacht: sie hatte geträumt, so lebhaft geträumt – o, wenn er wüßte, was sie geträumt hatte! Geträumt – geträumt –! Sie seufzte und warf sich und lachte dann leise in sich hinein.

Er merkte wohl, daß sie etwas auf dem Herzen hatte, was sie ihm gern sagen wollte, und was sie sich doch nichts recht zu sagen traute. So fragte er sie.

Da hatte sie es ihm denn gestanden, stockend, schüchtern und doch mit einer Leidenschaftlichkeit, die ihn erschreckte: es war das Kind, an das sie immerfort dachte, immerfort denken mußte – ach, wenn sie das hätte! Das wollte sie haben, mußte sie haben! Die Frau hatte ja noch so viele Kinder, und sie – sie hatte keins! Und sie würde doch so glücklich mit ihm sein, ja, unsäglich glücklich!

Im Dunkel der Nacht, durch kein Wort von ihm unterbrochen, durch keine Bewegung – er hatte ganz still gelegen, fast wie gelähmt von der Überraschung, die doch nicht ganz eine Überraschung mehr war – hatte sie sich immer mehr gesteigert: was war ihr ganzes Leben? Eine immerwährende [S. 31] Sehnsucht! Alles, was er ihr an Liebe tat, konnte ihr doch das eine nicht ersetzen: ein Kind, ein Kind!

»Lieber, guter Mann, schlag’s mir nicht ab! Mach mich glücklich! So froh wird keine andre Mutter auf Erden sein – geliebter Mann, gib mir das Kind!« Ihre Tränen flossen, ihre Arme umklammerten ihn, ihre Küsse überschauerten sein Gesicht.

»Aber warum gerade dieses Kind?! Und so schnell entschlossen – das ist doch keine Kleinigkeit – man muß sich das erst sehr reiflich überlegen!«

Er hatte Einwendungen gemacht, Ausflüchte, aber sie hatte für alles schlagfertige Antworten bereit: was noch lange überlegen? Man würde doch zu keinem andern Resultat kommen! Und wie er nur denken konnte, daß die Frau das Kind vielleicht nicht geben würde? Wenn sie’s nicht liebte, gab sie’s gern, und wenn sie es liebte, würde sie es erst recht gern geben und Gott danken, es so gut versorgt zu wissen.

»Aber der Vater, der Vater, wer weiß, ob der damit einverstanden ist?!«

»Ach, der Vater! Wenn die Mutter es gibt, der Vater sicherlich! Ein Brotesser weniger ist bei so armen Leuten immer ein Glück. Das arme Kind, es wird vielleicht sterben aus Mangel an Nahrung, während es bei uns so gut« – sie unterbrach sich – »ist es nicht wie eine Fügung, daß gerade wir ins Venn kommen, gerade wir es finden mußten?«

Er fühlte, daß sie ihn beredete, und er sträubte sich innerlich dagegen: nein, wenn sie sich denn schon von ihrem Gefühl so fortreißen ließ – sie war eben eine Frau –, so mußte er doch, als Mann, den Verstand über das Gefühl setzen!

Und er hatte ihr alle Bedenken aufgezählt, wieder und wieder, und als Letztes ihr gesagt: »Du ahnst gar nicht, in [S. 32] welchen Zwiespalt du dich selber bringst! Wenn nun die Neigung, die du für das Kind zu empfinden glaubst, nicht standhält?! Wenn es sich dir nicht sympathisch entwickelt?! Bedenke, es ist und bleibt immer das angenommene Kind!«

Aber da war sie fast zornig aufgefahren: »Wie kannst du so etwas sagen?! Glaubst du, ich bin engherzig?! Eigen geboren oder angenommen, das ist ganz gleich, denn es wird mir angeboren durch die Erziehung. Ich werde es mir erziehen . Das ›Ausdemselbenblutesein‹ macht’s doch nicht! Bloß weil ich’s geboren habe, darum soll ich ein Kind lieben?! O nein! Ich liebe das Kind, weil – weil – nun, weil es so ganz auf mich angewiesen ist, weil es so klein ist, so unschuldig, weil es unendlich süß sein muß, wenn so ein hilfloses Geschöpfchen die Armchen nach einem ausstreckt!« Und sie breitete die Arme aus und schloß sie dann an ihre Brust, als hielte sie so schon ein Kind am Herzen. »Du bist ein Mann, du verstehst das eben nicht. Aber du willst mich doch so gerne glücklich machen – mach mich jetzt glücklich! Lieber, geliebter Mann, du wirst ja so rasch vergessen, daß er nicht unser Eigengeborener ist, es bald gar nicht anders mehr wissen. ›Vater, Mutter‹ wird er zu uns sagen – und wir werden Vater und Mutter sein!«

Wenn sie recht hätte! Von einer seltsamen Empfindung durchrieselt, schwieg er. Und warum sollte sie nicht recht haben?! Ein Kind, daß man vom ersten Lebensjahre an ganz auf seine Weise erzieht, das man vollständig auslöst aus den Verhältnissen, in denen es geboren worden ist, das nicht anders weiß, als daß es seiner jetzigen Eltern Kind ist, das da denken lernt mit ihrem Denken und fühlen mit ihrem Fühlen, das kann nichts Fremdes mehr haben. Das wird ein Teil des ureigensten Ichs, wird einem so lieb, so teuer, als hätte man’s selber gezeugt! [S. 33]

Vor des Mannes Herzen stiegen Bilder auf, deren Anblick er nicht mehr erhofft, nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Er sah sein lächelndes Weib, auf dessen Schoß ein lächelndes Kind; er sah sich selber lächeln und fühlte einen nie gekannten Stolz bei dem kindlich-zärtlichen Lallen: ›Va–ter!‹ Ja, Käte hatte schon recht, alles, was man sonst Glück nennt, ist nichts gegen dieses Glück. Nur ein Vater, eine Mutter wissen, was Freude ist!

Er küßte seine Käte, und dieser Kuß war schon halbe Zustimmung, das hatte sie gefühlt.

»Laß uns morgen hinfahren, morgen, gleich früh!« bat sie, unterdrückten Jubel im Ton.

Er bemühte sich, gelassen zu bleiben: nein, erst mußte man die Sache, nach eigner, reiflicher Überlegung, in Berlin mit dem Anwalt und auch mit sonstigen Vertrauensleuten besprechen!

Darüber geriet sie außer sich; halb schmollte sie, halb lachte sie ihn aus: war denn dies hier eine Geschäftssache? Was ging den Anwalt und andere Leute ihre tiefste, persönlichste Herzenssache an?! Niemand war darum zu befragen, niemand sollte sich da hineinmischen! Kein Mensch durfte ahnen, woher das Kindchen kam, von wem es abstammte! Sie, sie beide waren seine Eltern, sie kamen für es auf, sie waren sein Anfang und die Bürgen für seine Zukunft – ihr Werk, ganz ihr Werk war dieses Kind!

»Morgen holen wir es gleich! Je eher es aus dem Schmutz und der Verkommenheit herauskommt, desto besser – nicht wahr, Paul?« Sie ließ ihn gar nicht mehr zu Worte kommen, sie überschüttete ihn in sprudelnder Lebendigkeit mit Plänen und Vorschlägen; und ihr Überschwang schwemmte seine Bedenken mit fort.

Man kann auch zu bedenklich sein, zu übertrieben vorsichtig [S. 34] und sich so jede Lebensfreude verbittern, das sagte er sich. Was taten sie denn Außergewöhnliches? Sie hoben nur etwas auf, was ihnen vor die Füße gelegt worden war; sie gehorchten so einem Wink des Schicksals. Und da waren wirklich auch gar keine Schwierigkeiten. Wenn sie’s selber nicht verrieten, würde niemand die Herkunft des Kindes erfahren, und hier wiederum würde nicht groß Nachfrage nach dessen Verbleib sein. Es war ein namen-, ein heimatloses Etwas, das sie an sich nahmen und aus dem sie machten, was sie daraus machen wollten. Später, wenn man das Alter dazu hatte, adoptierte man dann den Kleinen in aller Form und legte so auch in Akten fest, was man im Herzen längst getan hatte. Jetzt galt es nur noch, den Gemeindevorsteher von Longfaye aufzusuchen und mit seiner Unterstützung die Abtretung seitens der Eltern zu erlangen!

Als Schlieben zu einem Entschluß gekommen war, plagte ihn gleiche Unruhe wie seine Frau. Diese stöhnte: wenn es doch erst morgen wäre! Wenn ihr nun jemand zuvorkäme, wenn das Kind nicht mehr da wäre morgen?! Sie warf sich rastlos hin und her in Ungeduld und Bangigkeit. Aber auch Schlieben wälzte sich schlaflos von einer Seite zur andern. Ob das Kind auch gesund war?! Einen Augenblick überlegte er besorgt, ob es nicht geraten sei, den Badearzt von Spaa ins Vertrauen zu ziehen – der könnte mitfahren und den Kleinen vorerst untersuchen – aber dann verwarf er diesen Gedanken wieder: das Kind sah ja so kräftig aus! Er rief sich die derben Fäustchen zurück, den klaren Blick der blanken Augen – auf nacktem Boden, bei Kälte und Wind, ohne Schutz hatte es gelegen – es mußte eine Kernnatur haben. Darüber konnte man ruhig sein. –

Es war noch sehr früh am Morgen gewesen, als das Ehepaar sich aufgerafft hatte – müde, wie zerschlagen an [S. 35] allen Gliedern – aber von einer Art fröhlicher Entschlossenheit getrieben.

Käte lief im Hotelzimmer hin und her, so geschäftig, so freudig erregt wie jemand, der einen lieben Gast erwartet. Sie war so sicher, daß sie das Kind gleich mit herbringen würden. Jedenfalls wollte sie anfangen, die Koffer zu packen, denn wenn man das Kind hatte, dann nur nach Hause, so schnell als möglich nach Hause! »Das Hotel ist nichts für solch einen kleinen Liebling. Der mußte sein Kinderzimmer haben, einen freundlichen Raum mit geblümten Gardinen – nur dunkle nebenbei zum Vorziehen, um das Licht beim Schlafen zu dämpfen – sonst alles hell, leicht, luftig. Und eine Babykommode muß darin stehen mit den vielen Fläschchen und Näpfchen, und sein Badewännchen, sein Bettchen mit den weißen Mullvorhängen, hinter denen man ihn liegen sehen kann mit roten Bäckchen, die Fäustchen am Kopf, und fest schlummern!«

Sie war so jugendlich, so liebenswürdig in ihrer erwartungsvollen Freude, daß sie ihren Mann entzückte. Schien nicht der Sonnenschein, auf den er so lange vergeblich geharrt hatte, jetzt kommen zu wollen?! Er ging schon dem Kinde vorher, fiel heiter verklärend auf dessen Weg. –

Die Eheleute waren beide bewegt, als sie gen Longfaye fuhren. Einen bequemen Landauer mit schließbarem Verdeck hatten sie heute genommen statt des leichten Zweisitzers, in dem sie sonst ihre Touren zu machen pflegten. Es könnte auf dem Rückweg zu kalt für den Kleinen werden! Decken und Mäntel und Tücher waren eingepackt, eine ganze Auswahl.

Schlieben hatte sich mit seinen Papieren versehen; man würde wohl kaum einen Ausweis von ihm verlangen, aber der Sicherheit halber, um einer etwa dadurch entstehenden Verzögerung [S. 36] vorzubeugen, steckte er sie ein. Man hatte ihm den Gemeindevorsteher von Longfaye als einen ganz verständigen Mann genannt, so würde sich denn alles glatt abwickeln.

Wie die Ebereschen zu seiten der Straße unter der herbstlichen Last roter Beeren ihre Kronen senkten, so senkten sich auch die Häupter der beiden Menschen unter einer Flut von hoffnungsvollen Gedanken. Rasch flogen die Bäumchen am rollenden Wagen vorbei, rasch alle Etappen des Lebens am bewegten Gemüt. Fünfzehn Ehejahre – lange Jahre, wenn man wartet – erst mit Zuversicht, dann mit Geduld, dann mit Zaghaftigkeit, dann mit Sehnsucht – mit Sehnsucht, die von Jahr zu Jahr heimlicher wird, und in der Heimlichkeit immer brennender! Nun war die Erfüllung nah, freilich anders, als liebende Gatten sie sich ausmalen; aber doch eine Erfüllung.

Unabweislich kam der Frau das alte Bibelwort in den Sinn: ›Und als die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn‹ – o, dieses Kind aus der Fremde, aus dem Unbekannten, aus dem Lande, das nicht Acker noch Früchte hat und nicht gesegnet ist mit reichen Ernten, dieses Kind war eine Gabe des Himmels, ein Geschenk seiner Güte! Sie beugte ihr Haupt wie gesegnet, des Dankes voll.

Und der Mann drückte leise die Hand seiner Frau, und sie erwiderte den Druck. Hand in Hand blieben sie sitzen. Sein Blick suchte den ihren, und sie errötete. Jetzt liebte sie ihn wieder wie im ersten Jahr ihrer jungen Ehe – nein, jetzt liebte sie ihn noch um vieles mehr, denn jetzt, jetzt schenkte er ihr das Glück ihres Lebens: das Kind!

Selig schweifte ihr Blick übers arme Vennland, das braun und öde schien und doch ein Märchenland war voll der herrlichsten Wunder.

»Hab ich’s nicht gewußt?!« murmelte sie triumphierend [S. 37] und doch zusammenschauernd in einer fast abergläubischen Regung. »Ich hab’s gefühlt – hier – hier!«

Sie konnte es kaum erwarten, bis sie das Venndorf erreichten. Ach, wie lag das abseits aller Welt, so ganz vergessen! Und so arm! Aber die Armut schreckte sie nicht und die aus der Armut entspringende Unsauberkeit auch nicht; sie nahm ihn ja jetzt mit fort von hier, brachte ihn in Kultur und Wohlleben, und daß er einmal auf nacktem Boden gelegen hatte statt in weichem Bettchen, das würde er nun und nimmer ahnen. Sie dachte an Moses: wie der gefunden worden war im Schilf des Nils, so hatte sie ihn gefunden im Gras des Venns – ob er ein großer Mann würde wie jener?! Wünsche, Gebete, Hoffnungen und hundert Gefühle, die sie früher nicht gekannt hatte, bewegten ihr Herz. –

Schlieben hatte Mühe, sich dem Gemeindevorsteher verständlich zu machen. Nicht daß der Mann ein Wallone gewesen wäre, der schlecht Deutsch verstand – Niklas Rocherath aus dem Haus ›Zur guten Hoffnung‹, so genannt, weil man’s, als das ansehnlichste des Dorfes, weit vom Venn her erblicken konnte, war gut deutsch – aber er begriff den Herrn nicht.

Was wollte der mit dem Jean-Pierre von der Lisa Solheid? Annehmen an Kindes Statt?! Ganz verdutzt sah er drein, und dann war er beleidigt: nein, wenn er auch ein simpler Bauer war, zum Narren halten ließ er sich von dem Herrn drum doch nicht!

Erst allmählich gelang es Schlieben, ihn von der Ernsthaftigkeit seiner Absicht zu überzeugen. Aber immer noch rieb der Alte bedenklich das stopplige Kinn und sah mißtrauisch auf die, die so hergeschneit kamen in seine Einsamkeit. Erst als Käte, von der langen Auseinandersetzung ermüdet und gequält, ihn ungeduldig beim Arm ergriff und ihm, fast gereizt und mit Heftigkeit, ins Gesicht schrie: »So begreifen [S. 38] Sie doch! Wir haben kein Kind, wir wollen aber ein Kind – begreifen Sie’s nun?!« – da begriff er.

Kein Kind – o weh! Kein Kind – da weiß man ja gar nicht, für was man lebt! Nun nickte er verständnisvoll; und mitleidig auf die Frau blickend, die so reich war, so fein angetan und doch keine Kinder hatte, zeigte er sich viel zugänglicher. Also der Jean-Pierre von der Lisa Solheid hatte ihnen so gut gefallen, daß sie sich den mitnehmen wollten bis nach Berlin? Was der Jung für ein Glück hatte! Die Lisa würde es gar nicht glauben wollen. Zu gönnen war der’s freilich, so arm wie die war keiner hier, die wußte manchen Tag nicht, wie sie sich und ihre fünf satt machen sollte. Früher, als ihr Mann noch lebte –

Was, der Mann lebte nicht mehr?! Sie war Witwe?! Wie befreit aufatmend unterbrach Schlieben den Gemeindevorsteher. Er hatte, wenn er auch nicht darüber gesprochen hatte, vor dem Vater beständig eine geheime Furcht gehabt: wenn der nun ein Schnapstrinker wäre oder sonst ein Tunichtgut?! Nun fiel ihm eine Last von der Seele – der war tot, der konnte nicht mehr schaden! Oder war er am Ende an einer Krankheit gestorben, an einem zehrenden Leiden, das sich auf Kinder und Kindeskinder vererbt?! Schlieben hatte sagen hören, daß die Nebel des Venns und seine plötzlichen Temperaturwechsel leicht der Lunge und dem Hals verderblich werden – dazu schwere Arbeit und schlechte Ernährung – der junge Mann war doch nicht etwa gar an der Schwindsucht gestorben?! Ängstlich forschte er.

Aber Niklas Rocherath lachte: nein, von einer Krankheit hatte der Michel Solheid zeitlebens nichts gewußt und war auch an keiner gestorben. Zu Verviers hatte er gearbeitet, in der Maschinenfabrik, schwarz berußt und nackt bis zum Gürtel; dem waren Kälte und Hitze ganz einerlei [S. 39] gewesen. Und alle Samstag war er herübergekommen von Verviers und war den Sonntag bei seiner Familie geblieben. Und es war Samstag vor Peter und Paul gewesen, jetzt etwas über ein Jahr her, da hatte der Michel von dem, was er in Überstunden verdient hatte, seiner Frau eine Speckseite gekauft und ein oder zwei Pfund Kaffee, denn –

»Ihr müßt wissen, Hähr, dat is hier viel zu teuer für uns un über der Jrenz viel billiger,« sagte der alte Mann bekümmert, hob dann langsam die Faust und drohte hinüber zum Venn, das ruhig und weltfern dalag. »Da waren se ihm aber bald auf den Fersen. Von der Baraque an waren sie als hinter ihm drein – die verdammte Cammise! [5] Ihrer drei, vier. Nu müßt Ihr wissen, dat de Michel laufen konnt wie nur einer. Wenn de seinen Pack hinter den Busch geschmissen hätt und hätt sich am laufen gehalten, den hätten se mein Lebtag nich jekriegt. Aber ne, dat wollt he nich, da hätt he sich doch für sich selber jeschämt. Um sich nu nich zu verraten, wohin he eijentlich jing, rannt he statt nach rechts nach links ab durch ’t Wallonische Venn, der Hill nach. Durch Elefay un Neckel, [6] so immer die Kreuz un die Quer, un kam nu so janz aus der Jejend heraus, wo he Bescheid wußt wie in seiner Tasch. Ober dem Pannensterz waren se ihm dicht auf den Hacken. Un se waren hinter ihm am Schreien: ›Steh!‹

»Seht Ihr, Hähr, wär he nu in die Jroße Haard jelaufen un hätt sich da im Dickicht verborjen, so hätten se ihn ohne Hund nie jefunden. Aber nu war he verwirrt un rannt aus dem Busch eraus, blank über et Venn.

»›Halt!‹ – ›Steh!‹ – un zum dritten Mal: ›Halt!‹ Aber er sprung wie ’ne Hirsch. Da drückt einer los un

[S. 40] – Jesus Christus erbarme dich, jetzt und in der Stunde unsers Todes!« – der Gemeindevorsteher schlug andächtig ein Kreuz und wischte sich dann mit dem Handrücken unter der schnüffelnden Nase her – »de Schuß fuhr durch die Speckseit in den Buckel, hinten erein, vorn eraus. Da schlug de Solheid den Kuckeleboom. [7] En Schand war et: um en Speckseit, so ’ne staatse Kerl!

»He hat noch en starke Stund jelebt. He sagt noch, dat he de Solheid aus Longfaye wär und dat se sein Frau holen sollten.

»Ich war den Tag jrad am Heckenscheren, da kam einer jerannt. Un ich macht mich auf mit der Lisa, die war damals im sechsten Monat met ’m Jean-Pierre. Aber als mir hinkamen, war et schon zu spät.

»Se hatten ihn liejen, nich weit vom jroßen Kreuz. Se hatten ihn tragen wollen bis Ruitzhof in en Haus, aber he saat: ›Laßt mich – hier will ich himmelen!‹ [8] Un hatt in de Sonn jekuckt.

»Hähr, die stand am Himmel so jroß un rot de Tag – so jroß – wie se einst wird stehen am Tage des Jerichts! Hähr, he war janz in Schweiß un Blut – Stunden waren se mit ihm jejagt – aber an der Sonn hatt he noch sein Freud!

»Hähr, de Kerl, de ihn jeschossen hatt, de war janz drauß, de hielt ihn im Schoß un war am weinen. Hähr, ne,« – der Gemeindevorsteher schüttelte sich, und man merkte seiner Gebärde den Abscheu an – »ich möcht kein Cammis sein!«

Die Stimme des alten Mannes war tiefer und rauher geworden – es war das Zeichen seiner Anteilnahme – [S. 41] nun bekam sie wieder ihren früheren gleichmäßigen Klang: »Wenn et Euch paßt, Madame, wollen mir jetzt jehen!«

»O, das Kind, das arme Kind,« flüsterte Käte erschüttert.

»Glauben Sie denn, daß die Witwe sich von diesem Jüngsten trennen wird?« fragte Schlieben, von einer plötzlichen Befürchtung erfaßt. Dieses nach dem Tode des Vaters geborene Kind – war es möglich?!

»O –!« Der Alte wiegte den Kopf und schmunzelte. »Wenn Ihr wat Ordentliches dafür jebt! Sie hat ’er ja noch jenug!«

Jetzt war Nikolas Rocherath wieder ganz Bauer; das war nicht derselbe Mann mehr, der von der Sonne des Venns und dem Tode des Solheid gesprochen hatte. Nun galt es, so viel als möglich herauszuschlagen, einen Fremden, der noch dazu ein Städter war, ordentlich übers Ohr zu hauen!

»Hundert Taler wären nich übertrieben jefordert,« sagte er und blinzelte dabei von der Seite nach dem ernsten Gesicht des Herrn – mußte der ein Geld haben, der verzog ja nicht eine Miene!

Vom Viehhandel her war der alte Bauer seit Lebzeiten das Feilschen gewöhnt, nun blickte er, von scheuer Bewunderung für solch einen Reichtum erfüllt, auf den Fremden. Bereitwillig führte er nach der Hütte der Solheid. –

5 Grenzjäger.

6 Walddistrikte im hohen Venn.

7 Purzelbaum.

8 sterben.


4

Die Hütte der Solheid lag, wie alle Häuser des Dorfes, ganz für sich allein hinter einer giebelhohen Hecke. Aber die Hecke, die da schützen sollte gegen die Stürme des Venns und das wilde Schneetreiben, war nicht mehr dicht; man sah’s, hier fehlte die sorgende Männerhand. Die Hainbuchen waren [S. 42] regellos in die Höhe geschossen; abgestorbene Zweige, die der Vennwind peitschte, reckten sich wie klagende Finger in die Luft.

Hu, hier mußte es eisig kalt sein im Winter! Unwillkürlich zog Käte den weichen, seidengefütterten Tuchmantel fester um sich. Und doppelt dunkel mußte es hier sein in dunklen Tagen! Die winzigen Fensterchen waren durch die Schutzhecke lichtlos gemacht, und tief hing das Dach über den Eingang. Ohne Stufen, gleich von der ebenen Erde ging’s hinein.

Der Gemeindevorsteher rappelte am ›Jadder‹, der einstmals grün gestrichenen, jetzt farblos gewordenen Haustür mit dem eisernen Klopfer. Der Klopfer dröhnte durchs Haus, aber die Tür gab dem Druck nicht nach. Ei, die Solheid war wohl in den Beeren und die Kinder mit ihr! Man hörte drinnen im verschlossenen Hüttenraum nur das hungrige Schreien des Jüngsten.

Das arme Kind – o, sie hatte es wieder allein gelassen! Käte zitterte vor Erregung, wie Hilferuf erklang ihr das Geschrei.

Gelassen setzte sich der Gemeindevorsteher auf den Hauklotz vor der Tür und zog seine Pfeife aus der Tasche des faltigen blauen Leinenkittels, den er, der Herrschaft zu Ehren, rasch über das Arbeitswams gezogen hatte. Jetzt hieß es warten.

Enttäuscht sah sich das Ehepaar an – warten?! Käte hatte den Sitz ausgeschlagen, den ihr der Alte mit einer gerissen Galanterie auf dem Hauklotz angeboten; sie hatte keine Ruhe, rastlos schritt sie vor dem Fensterchen auf und ab und mühte sich vergebens, durch die blinde Scheibe hineinzuspähen.

Immer ungebärdiger schrie drinnen das Kind. Der alte [S. 43] Rocherath lachte: das war mal ein Brüllen, der Jean-Pierre hatte ’n kräftige Lung!

Käte konnte das Schreien nicht mehr mit anhören, es machte ihr körperliche und seelische Qual. Ach, wie es ihr in den Ohren gellte! Sie preßte die Hände dagegen. Und ihr Herz zitterte vor Mitleid und Empörung: wie konnte die Mutter so lange ausbleiben?!

Der Angstschweiß trat ihr auf die Stirn; mit brennenden, ungeduldigen Augen starrte sie hinaus aufs Venn, auf den nackten, baumlosen, sich endlos hinschlängelnden Pfad. Da sah sie endlich Gestalten – endlich! – und doch blieb ihr auf einmal der Atem stehen, ihr Herz setzte den Schlag aus, um dann plötzlich, wie toll, ungestüm drauf loszuhämmern: da kam die Mutter!

Lisa Solheid trug eine Reisigwelle auf dem Rücken, um die Schultern mit einem Strick festgeschnürt. Die Last war so schwer, daß sie das Weib ganz vornüber drückte und ihm den Kopf tief duckte. Drei Kinder – die kleinen Füße in plumpen Nagelschuhen – trappten vor der Mutter her, während ein viertes an ihrem Rock hing. Das hatte auch schon Preißelbeeren gesucht, seine Händchen waren rot gefärbt wie die Hände der größeren Geschwister, die Eimer, Maß und Kamm schleppten.

Hübsche Kinder, alle vier! Sie hatten dieselben dunklen Augen wie der kleine Jean-Pierre, mit denen starrten sie halb dreist, halb scheu die fremde Dame an, die ihnen zulächelte.

Die Solheid erkannte die Herrschaften nicht, die ihr gestern auf dem Venn eine Gabe gereicht hatten – oder tat sie nur so?

Der Strick, der die Welle zusammenhielt, hatte ihr tief in Schultern und Brust eingeschnitten, jetzt löste sie ihn und schleuderte mit kraftvollem Ruck die Bürde ab; und jetzt griff [S. 44] sie nach der Axt, die neben dem Hauklotz lag, und begann, als sei niemand zugegen, mit mächtigen Hieben ein paar starke Äste zu zerkleinern.

»Heela, Lisa,« sagte der Gemeindevorsteher, »wenn du jenug Holz jehauen hast, für die Jrumbieren zu kochen, paß ens op!«

Sie sah flüchtig von ihrer Arbeit zu ihm auf. Die Fremden waren beide – ohne Verabredung – ein wenig auf die Seite gegangen: mochte es der Gemeindevorsteher ihr erst einmal sagen! Es war doch nicht so einfach, wie sie sich’s gedacht hatten. Die war nicht leicht zugänglich!

Der Solheid verschlossenes Gesicht veränderte keinen Zug; stumm, mit zusammengepreßten Lippen verrichtete sie ihre Arbeit weiter. Das Holz barst unter ihren kraftvollen Hieben, die Stücke flogen um sie herum. Ob sie überhaupt auf das hörte, was der Mann zu ihr sprach?!

Ja – die Beobachtenden wechselten einen raschen Blick – und jetzt antwortete sie auch! Lebhafter, als man es bei ihrer verdrossenen Art vermutet hätte.

Lisa Solheid hob den Arm und wies nach ihrer Hütte, darinnen der Kleine noch immer unerhört schrie. Rauh klang ihre Rede, in einem schier barbarischen Dialekt, man verstand nichts davon, nur ab und zu ein französisches Wort. Auch der Gemeindevorsteher sprach wallonisch. Sie wurden beide lebhaft, erhoben ihre Stimmen und redeten laut gegeneinander an; fast klang es wie Zank.

Sie schienen nicht einig zu werden! Käte lauschte in verhaltner Angst. Würde sie es geben? Würde er’s von ihr losbekommen?!

Heimlich zupfte sie ihren Mann. »Biete mehr, gib ihr doch mehr, hundert Taler sind viel zu wenig!« Und dem Bauer da mußte er auch etwas versprechen für seine Bemühung. [S. 45] Hundert, zweihundert, dreihundert, hundert mal hundert waren nicht zu viel! Ach, wie das arme Kindchen schrie! Es litt sie fast nicht mehr so tatenlos vor der Schwelle.

Die Geschwister des kleinen Jean-Pierre – ein schönes Mädchen mit wirren Haaren und drei jüngere Knaben – standen, den Finger im Mund, die schmutzigen Näschen ungewischt, und rührten sich nicht vom Fleck.

Da fuhr die Mutter sie an: »Heela,« und sie stoben davon, eines fast über das andre purzelnd. Aus der kleinen Höhlung unter der Schwelle scharrten sie den Schlüssel vor, und die Größte stieß ihn ins rostige Schloß und drehte ihn, auf den Zehen stehend, mit aller Kraft ihrer beiden Händchen um.

Die Solheid wandte sich nun gegen die Fremden; ihre hagere braune Rechte machte eine einladende Bewegung: » Entrez! «

Sie traten ein. Innen war’s so niedrig, daß Schlieben den Kopf bücken mußte, um ihn nicht wider die Balkendecke zu stoßen, und so dunkel, daß sie geraume Zeit brauchten, bis sie nur irgend etwas unterscheiden konnten. Ärmlicher konnte es nirgendwo sein – alles in allem ein einziger Raum. Der Herd war von rohen Steinen kunstlos gemauert, darüber hing vom geschwärzten Balken an eiserner Kette der Kessel herab; offen stieg der Qualm der langsam schwelenden Torfglut hinauf in den rußigen Rauchfang. Ein paar irdene Teller im Schlüsselbrett – buntblumig aber rissig – ein paar verbeulte Zinngefäße, ein Melkeimer, ein hölzerner Bottich, eine lange Bank hinterm Tisch, auf dem Tisch ein halber Laib Brot und ein Messer, wenige Kleider an Nägeln, in die Wand halb hineingebaut das Ehebett, darin jetzt wohl die Witwe mit den Kindern schlief, und davor die plumpe Holzwiege des kleinen Jean-Pierre – das war alles. [S. 46]

Wirklich alles? Von einem Frösteln im dämmerkalten, kellerdumpfen Raum geschüttelt, sah sich Käte um. O, wie trostlos arm! Da war kein Schmuck, keine Zier! Doch, dort ein schreiend buntes Marienbildchen – ein roher Farbendruck auf dünnem Papier – ein Weihwasserkesselchen aus weißem Porzellan darunter – und dort, auf der andern Seite der Wand, dicht beim Fenster, so daß das wenige Licht darauf fiel, ein Soldatenbild. Unter Glas und Rahmen, in drei Abteilungen, dreimal derselbe Infanterist. Links: das Gewehr geschultert, auf Posten vorm schwarz-weißen Schilderhaus – rechts: marschbereit, Tornister und Kochgeschirr aufgeschnallt, Brotbeutel und Feldflasche an der Seite, Gewehr bei Fuß – in der Mitte: in Parademontur ein Gefreiter, die Hand grüßend an den Helm gelegt.

Ah, das sollte wohl der Mann sein, Michel Solheid als Soldat?! Einen scheuen Blick warf Käte auf das Bild – der da, der war ja erschossen worden beim Schmuggeln auf dem Venn! Wie schrecklich! Sie hörte wieder den Alten erzählen, sah den blutenden Mann im Heidekraut liegen, und das Grausen des Abenteuerlichen rüttelte sie. Ihr Blick glitt wieder und wieder hin zu dem Bilde, dem üblichen Soldatenbild, das in seiner stereotypen Nichtigkeit so gar nichts sagte, und von da zu der Wiege des kleinen Jean-Pierre: ob der viel vom Vater hatte?!

Schlieben hatte gewartet, daß seine Frau das Wort nehmen sollte – sie würde ja am besten wissen, wie mit der andern zu reden sei – aber sie schwieg. Und der Gemeindevorsteher sagte auch nichts; nun er die Verhandlungen eingeleitet hatte, hielt er es für höflich, dem Herrn das Wort zu lassen. Und die Solheid sprach auch nicht. Sie scheuchte nur mit einer stummen Gebärde die Kinder, die sich mit Gier über das harte Brot auf dem Tisch hermachen wollten. Dann [S. 47] stand sie still bei der Wiege; ihre Rechte, die noch das Beil vom Holzspalten hielt, hing schlaff herunter am armseligen Rock. Finster war ihr Gesicht, unnahbar, und doch spiegelte sich ein Kampf darin.

Schlieben räusperte sich. Er hätte es lieber gehabt, wenn ein andrer für ihn die Sache erledigt hätte, aber da dieser andre nicht da war, der Gemeindevorsteher ihn nur erwartungsvoll anblickte, so sah er sich gezwungen, zu sprechen. Mit einer Freundlichkeit, die wie Herablassung erscheinen mochte und doch nur Verlegenheit war, sagte er: »Frau Solheid, der Gemeindevorsteher wird Ihnen gesagt haben, was uns zu Ihnen führt – verstehen Sie mich, gute Frau?«

Sie nickte.

»Wir haben die Absicht, Ihr jüngstes Kind an« – er stockte, sie hatte eine Bewegung gemacht, als wolle sie verneinen – »an Kindes Statt anzunehmen, adopter ! Sie verstehen!«

Sie antwortete nicht; aber er fuhr fort, so rasch, als habe sie ›ja‹ gesagt: »Wir werden es halten, als wenn es unser eigenes wäre, es wird es so gut haben, wie Sie es ihm natürlich nicht geben können, und wir –«

»O, und wir werden es so lieb haben!« fiel Käte ihm ins Wort.

Das schwarze Weib drehte langsam den Kopf nach der Seite, wo die blonde Frau stand. Es war ein seltsamer Blick, der die Fremde maß, die jetzt näher zur Wiege herangekommen war. War’s ein prüfender Blick, ein abwehrender, ein freundlicher oder unfreundlicher?!

Käte sah mit verlangenden Augen nach dem Kinde. Das weinte jetzt nicht mehr, es lächelte jetzt sogar, und jetzt – jetzt reckte es die Ärmchen! O, es war schon so klug, es sah sie [S. 48] an, merkte bereits, daß sie ihm gut war! Es versuchte sich aufzurichten – ah, es wollte zu ihr, zu ihr!

Das Rot der Freude schoß ihr zu Kopf, schon streckte sie die Hände aus, das Kleine aufzunehmen, da schob sich wie eine Wand die Mutter vor die Wiege.

» Neni [9] sagte die Wallonin hart. Abwehrend hob sie die freie Linke. Und dann machte sie das Zeichen des Kreuzes auf die Stirn des Kindes, und dann auch auf seine Brust.

Aber warum denn nicht, warum wollte sie es denn nun auf einmal nicht geben?! Käte zitterte vor Schreck. Flehend suchte ihr Blick den ihres Mannes: hilf du mir! Ich muß, ich muß das Kind haben!

Und Schlieben sagte jetzt, was er schon vorhin hatte sagen wollen, als seine Frau ihm ins Wort gefallen war: »Wir stellen die Zukunft Ihres Kindes sicher. Wissen Sie, was das heißt, gute Frau? Es wird nie Sorge ums tägliche Brot haben – nie hungern müssen! Nie arbeiten müssen, um sein Leben zu fristen – nur arbeiten aus Freude an der Arbeit! Verstehen Sie?!«

Arbeiten – aus Freude an Arbeit?! Verständnislos schüttelte das Weib den Kopf. Aber dann fiel ihm ein: nie hungern! – und ein Licht glomm in seinem stumpfen Blick auf. Nie hungern – ei, das verstand die Witwe wohl, und doch schüttelte sie wieder verneinend den Kopf: » Neni! «

Sie zeigte auf sich und die andern Kinder und dann mit einer umfassenden Bewegung hinaus aufs große Venn: » Nos avans tortos faim! « [10] Sie zuckte die Achseln mit dem Gleichmut der Gewöhnung, und es schien sogar, als ob sie lächeln wollte; die Mundwinkel ihres verdrossenen [S. 49] Mundes hoben sich ein wenig, ihre sonst herbgeschlossenen Lippen ließen die kräftigen, gesunden Zähne sehen.

Der Gemeindevorsteher mischte sich jetzt ein: »Lisa, wahrhaftiges Jotts, dat is doch kein Pläsier, zu hungere! Sackerment, dat du so jeckelig bis! De Jung, de kömmt ja aus der Höll in der Himmel. Wat ich dir schon jesagt hab: die Herrschafte sin reich, sehr reich, un se sin jeck op dat Kind, – rasch, jib et ihnen, du has ’r ja noch vier!«

Noch vier! Sie nickte nachdenklich, aber dann warf sie den Kopf in den Nacken, und ein Blick – jetzt war er deutlich, es flackerte darin etwas wie Haß – schoß zu der andern hinüber, die da stand so reich, so fein, mit Ringen an den Fingern, und nach der ihr Jean-Pierre guckte. » Neni! « Sie sagte es noch einmal und noch abweisender und noch hartnäckiger denn zuvor.

Aber der Gemeindevorsteher war zäh, er kannte hier die Art. »Du wirs es dir überlejen,« sprach er überredend. »Un wenn ich dir sage, daß se dir reichlich jeben werden – nich wahr?« wandte er sich fragend an Schlieben. »Habt Ihr nich jesagt, da es Euch nich ankömmt op ’n Stück Jeld bei so ’ner armen Frau?!«

»Nein, gewiß nicht,« versicherte Schlieben. Und Käte war wieder voreilig: »Es kommt uns gar nicht darauf an – von Herzen gern, was sie verlangt – ach, das liebe Kind!«

» Dju n’ vous nin [11] murrte die Solheid.

»Du wills nich?! Ä wat!« Der alte Bauer lachte sie fast aus. »Du bis ja wie mein Maiblum, wenn die nich stehn will un mit dem Hinterbein jegen der Melkeimer haut! Stoß die Leut doch nit vor der Kopp! Wat haste dann, wenn se nu fortjehn un sin des satt?! Jar nix! Dann haste ’r [S. 50] fünf, die ›Brot‹ schreien, un der Winter is für der Tür? Willste wieder so ’ne Winter zubringen wie der vorige? Is dir der Jean-Pierre da nich bald befrore? Die vier andern sin schon jrößer, die bringste besser durch. Un du könnts dir en Kuh anschaffen – denk ens, en Kuh! Un du könnts dir en besser Dach op et Haus setzen lassen, wat der Regen un der Schnee nich durchläßt, un könnts auch Jrumbieren jenug han. Sicher en jut Jeschäft, Lisa!«

Käte wollte noch etwas hinzufügen – ah, was wollte sie der Frau nicht alles Gutes tun, wenn die ihr nur das Kind überließ! – aber ein Räuspern des Alten und ein heimliches Zublinzeln seiner Augen mahnten sie, stille zu sein.

» Kubin m’è dinroz – ve? « [12] fragte jetzt plötzlich die Solheid.

Sie hatte lange unschlüssig gestanden, den Kopf gesenkt, und es war ganz still um sie gewesen. Die Fremden hatten sich nicht gerührt, der Gemeindevorsteher nicht; kein Wind pfiff im Rauchfang, kein Feuer knisterte. Auf allem lastete stumme Erwartung. Nun hob sie den Kopf, und ihr düsterer Blick glitt wie musternd durch die armselige Stube, hin zu dem kargen Brot auf dem Tisch und dann zu den hungrigen Vier. Das fünfte sah sie nicht mehr an. Sie war erblaßt, das tiefe Sonnenbraun ihres Gesichtes war ganz fahlgrau geworden.

»Wat er dir jeben will?! – Nu, wat wollt Ihr jeben?!« ermunterte der Bauer. »Ich rechne, Ihr werd’t einsehen, dat zweihundert noch zu wenig sin! Die Solheid hängt sehr an dem Kind, et is nich leicht, wenn se ’t herjeben tut!« Er blinzelte von der Seite beobachtend nach Schlieben und rief, wie man auf einer Auktion zu rufen pflegt: »Zweihundert, zweihundertfünfzig, dreihundert! Wahrhaftije’s Jott’s, nich [S. 51] zu viel! De Jean-Pierre is ene staatse Jung – seht ens, die Fäust! Un die Braden! [13] Ene höllische Jung! Nich wahr, Madame« – er sah das Verlangen in Kätes Augen – »dreihundert Taler sin e so viel wie nichts für den?«

Käte hatte Tränen in den Augen und war sehr blaß. Die Luft in der Hütte beengte sie, sie fühlte einen unendlichen Widerwillen – nur fort, rasch fort von hier! Aber nicht ohne das Kind! »Vierhundert – fünfhundert« stieß sie hervor, und ihr Blick suchte flehend ihren Mann, wie: mach ein Ende, rasch!

»Fünfhundert, gern!« Schlieben zog seine Brieftasche hervor.

Der Bauer reckte den Hals, um besser sehen zu können, seine Blicke wurden ganz starr: das hatte er noch nicht erlebt, daß einer so bereitwillig zahlte! Auch die Kinder starrten mit großen Augen.

Die Solheid hatte einen flüchtigen Blick auf die Scheine geworfen, die der Herr neben das Brot auf den Tisch breitete; aber das begehrliche Licht, das in ihren Augen aufgeblitzt war, erlosch jäh wieder. » Neni ,« sagte sie mürrisch.

»Biet ihr noch wat mehr – mehr!« raunte der Alte.

Und Schlieben legte noch ein paar Scheine zu den übrigen auf den Tisch; seine Finger bebten leicht dabei, die ganze Sache war ihm so unsäglich widerlich. Er dachte ja gar nicht daran, zu feilschen; was sie haben wollte, sollte sie haben, nur ein Ende gemacht!

Bei so viel Gleichmütigkeit hielt sich Nikolaus Rocherath nicht mehr – so viel bar Geld auf dem Tisch, und das Weibsbild konnte sich noch bedenken?! Er sprang auf sie zu und rüttelte sie an den Schultern: »Biste stabeljeck? Sechshundert [S. 52] Taler bar op den Tisch, un du nimms se nich?! Wer hierzuland kann sagen, dat he sechshundert Taler bar hat?! Dat is e Stück Jeld, dat is en Stück Jeld!« Sein abgemergeltes Gesicht, das von Jahren der Arbeit und von einem Leben in Wind und Wetter unendlich hager geworden war, so scharf umrissen, wie aus hartem Holz geschnitten, vibrierte in jeder Faser. Es zuckte ihm in den Fingern: wie konnte sich da nur ein Mensch noch bedenken?!

Polternd entfiel das Holzbeil, das sie bis dahin noch immer festgehalten hatte, der Hand der Solheid. Ohne den Kopf zu heben, ohne nach dem Tisch hinzusehen und ohne nach der Wiege, sagte sie laut – aber es war kein Klang in der Stimme –: » Allons bon! Djhan-Pire est dà vosse! « [14]

Und sie wendete sich ab, ging schweren Trittes zum Herd und störte den schwelenden Torf auf.

Welch eine Gleichgültigkeit! Wahrhaftig, dieses Weib war nicht wert, eine Mutter zu sein! In Frau Kätes sanften Augen begann es zu funkeln. Auch Schlieben war empört: nein, hier brauchte man sich kein Gewissen daraus zu machen, das Kind fortzunehmen! Ein Ekel stieg ihm in die Kehle.

Die Solheid tat, als ginge sie nun alles nichts mehr an. Sie hantierte am Herd, während der Gemeindevorsteher, wiederholt die Daumen beleckend, die Scheine zählte – jeden derselben von beiden Seiten besehend – und sie dann sorgfältig in das Kuvert steckte, das ihm der Herr überließ.

»Da, Lisa, haste se, leg se in de Handpostill!«

Mit einer heftigen Bewegung riß sie sie ihm aus der Hand, und ihren Oberrock hochhebend, versenkte sie sie in die Tasche eines armseligen zerlumpten Unterrocks. –

Nun war noch das Letzte zu erledigen. Wenn auch [S. 53] Schlieben sicher war, daß niemand hier mehr nach dem Kinde fragen würde, die Formalitäten mußten doch erledigt werden. Seinen Bleistift von der Uhrkette losnestelnd – denn wo sollte hier Tinte herkommen? – setzte er auf einem Blatt des Notizbuchs den Abtretungsschein der Mutter auf. Der Gemeindevorsteher als Zeuge unterschrieb. Nun setzte die Solheid noch ihre drei Kreuze darunter; sie hatte einmal schreiben gelernt, es aber wieder verlernt.

»So!« Mit einem Seufzer der Erleichterung erhob sich Schlieben von der harten Bank, auf die er sich während des Schreibens gesetzt hatte. Gott sei Dank, nun war alles erledigt, nun brauchte ihm der Gemeindevorsteher nur noch Geburtsattest und Taufschein zu besorgen und zuzustellen! »Hier – dies ist meine Adresse! Und hier – dies für etwaige Auslagen!« Er drückte dem Alten verstohlen ein paar Goldstücke in die Hand, und dieser schmunzelte, als er sie in seiner Hand fühlte.

Wie war’s, nun würden sie ja wohl gleich den Knaben mitnehmen?

In Käte, die bis dahin regungslos dagestanden hatte, mit weitgeöffneten Augen die Mutter anstarrend, als könne sie nicht begreifen, was sie sah, kam jetzt Leben. Natürlich würden sie das Kind gleich mitnehmen, nicht eine Stunde länger ließ sie’s mehr hier! Und sie nahm es hastig aus der Wiege, preßte es kosend in ihre Arme und hüllte es in ihren warmen, weiten Mantel mit ein – es war ja nun ihr Kind, ihr so schwer erkämpftes, tausend Gefahren entrissenes, innig geliebtes, süßes kleines Kind!

Die Geschwister des kleinen Jean-Pierre standen stumm dabei mit großen Augen. Hatten sie’s verstanden, daß ihr Bruder nun ging, auf immer ging? Nein, sie hatten es wohl nicht verstanden, sonst würden sie doch zeigen, wie leid es [S. 54] ihnen tat. Ihre großen Blicke galten nur dem Brot dort auf dem Tisch.

Schlieben fühlte lebhaftes Mitleid mit den Kleinen – die blieben nun hier in ihrem Elend, ihrem Hunger, ihrer Verkommenheit! Er steckte jedem der vier eine Gabe ins Händchen; keins der vier dankte, aber die kleinen Finger schlossen sich fest um das Geldgeschenk.

Auch die Solheid dankte nicht. Als die fremde Frau ihren Jean-Pierre aus der Wiege genommen – sie hatte das gesehen, ohne hinzublicken –, war sie zusammengezuckt. Jetzt aber stand sie regungslos bei der leeren Wiege, auf der Stelle, wo vorhin das Beil polternd ihrer Rechten entfallen war, und sah stumm zu, wie Jean-Pierre in den weichen Mantel gehüllt ward. Sie hatte ihm nichts mitzugeben.

Schlieben hatte, trotz aller Gleichgültigkeit der Mutter, zu guter Letzt doch noch eine Szene befürchtet – es konnte ja nicht sein, daß sie so fühllos blieb, wenn man ihr Jüngstes davontrug! – aber die Solheid blieb ruhig. Unbeweglich stand sie, die Linke auf die Stelle ihres Rockes gedrückt, wo sie die Tasche fühlte. Dieses Geld in der Tasche da – Schlieben fühlte sich heftig erregt –, strafte das nicht alle Tradition von Mutterliebe Lügen?! Und doch – diese war ja so verkommen in der großen Armut, halb vertiert im harten Kampf ums tägliche Brot, daß ihr selbst die Empfindung für das Eigengeborene darin untergegangen war! O, welch andre Mutter würde Käte nun dem Kinde sein! Und zärtlich besorgt schob er seine Frau, die den Kleinen auf dem Arme trug, dem Ausgang zu.

Nur fort, hier war nicht gut sein!

Sie eilten. Aber auf der Schwelle wendete Käte noch einmal den Kopf. Einen Blick mußte sie der doch noch schenken, der, die da hinten blieb, so starr und stumm. Wenn [S. 55] die ihr auch unbegreiflich war, ein Blick des Mitgefühls gehörte der doch noch!

Da – – – ein kurzer Schrei, aber laut, durchdringend, furchtbar in seiner erschütternden Knappheit. Ein einziger, aus Qual und Haß herausgepreßter unartikulierter Schrei.

Die Solheid hatte sich gebückt. Ihre Hand hatte das Holzbeil aufgerafft. Sie holte aus wie zum Wurf – blitzend flog die scharfe Schneide am Kopf der enteilenden Frau vorüber und blieb krachend im Türpfosten haften.

9 Nein.

10 Nous avons faim tous.

11 Je ne veux pas.

12 Combien me donnerez-vous donc?

13 Lenden.

14 Eh bien! Jean-Pierre est à vous!


5

Wie auf der Flucht, so waren sie mit dem Kinde enteilt. Sie hatten es in den Wagen gepackt – schnell, schnell! –, der Kutscher hatte auf die Pferde gepeitscht, die Räder hatten sich knirschend gedreht. Wie ein böser Traum, den man gern vergißt, so blieb das Venndorf, versunken, in ihrem Rücken. Sie sahen nicht mehr nach ihm zurück.

Ein ödes Grau lag überm Venn. Die Sonne, die noch am Morgen geschienen hatte, war so ganz verschwunden, als hätte sich hier nie ein Strählchen von ihr gezeigt. Der plötzliche Vennebel war da und bezog alles. Wo vordem noch eine Aussicht gewesen war, ein Auslug ins Weite, war jetzt eine versperrende Mauer. Eine Mauer, nicht von Stein und nicht von Lehm, und doch um vieles fester. Sie riß nicht, sie barst nicht, sie wankte nicht, sie wich nicht dem Hammerschlag der kraftvollsten Faust. Mächtig und undurchdringlich baute sie sich aus den Sümpfen und ragte vom Moorland bis hinauf zu den Wolken – oder hatten sich die Wolken hinab zur Erde gesenkt?

Himmel und Venn, beides eins. Nichts als Grau, ein [S. 56] zähes, feuchtes, kaltes, fließendes und doch festes, unergründbares, geheimnisvolles, schauriges Grau. Ein Grau, aus dem der, der sich im Moor verirrt, nimmermehr herausfindet. Der Nebel ist zu zähe; er hat Arme, die packen, die so dicht umfangen, daß man nicht mehr vorwärts sehen kann, nicht rückwärts, nicht nach links, nicht nach rechts, daß der Ruf erstickt, der sich aus angstgepreßter Kehle entringen will, und das Auge blind wird für jeden Weg, jede Fußspur.

Der Kutscher fluchte und hieb auf die Pferde ein. Von der Straße war nichts mehr zu sehen, aber auch gar nichts mehr, kein Graben zur Seite, keine Telegraphenstange, kein Ebereschenbäumchen. Wie zerflossen war die breite, mühselig angelegte Chaussee im Venngrau. Ein Glück, daß die Gäule noch nicht verwirrt waren. Die folgten ihrer Nase, warfen ihre langen Schweife, wieherten hell und trabten mutig drauflos ins Nebelmeer.

Schaudernd hüllte Käte sich und das Kindchen fester ein; nun brauchten sie alle vorsorglich mitgenommenen wärmenden Hüllen. Ihr Mann packte sie noch fester ein, und dann legte er, wie schützend, den Arm um sie. Eine böse Fahrt!

Sie hatten den Wagen schließen lassen, aber das kalte Grau drang doch zu ihnen herein; es zwängte sich durch alle Ritzen, durchs Glas der Fenster, füllte den Innenraum, daß ihre Gesichter wie bleiche Flecke schwammen im dunstigen Dämmer, und legte sich schwer, hemmend auf ihren Atem.

Käte hüstelte und dann zitterte sie. In ihrer Seele war jetzt nichts von Freude, sie fühlte nur Angst, Angst um den errungenen Besitz. Wenn die Mutter jetzt hinter ihnen drein käme – o, dieses schreckliche Weib mit der blitzenden Axt! In einem Grauen sondergleichen preßte sie die Augen zu – nur das nicht mehr sehen! Und doch riß sie die Augen wieder auf, fühlte Angstschweiß auf ihrer Stirn und das [S. 57] Beben ihres Herzens – weh, bis in ihre Träume würde sie dieses verfolgen! Bis zu ihrer letzten Stunde würde sie das nicht mehr loswerden – nie, nimmermehr – das Weib mit der blitzenden Axt!

Dicht an ihrem Kopf war das Beil vorübergesaust – der Luftzug des Schwunges hatte ihr Schläfenhaar wehen gemacht –, es hatte ihr nichts getan, in den Pfosten der Tür nur war es gefahren und hatte den krachend gespalten. Und doch war ihr Leides geschehen. Wie in Entsetzen faßte sich Käte mit beiden Händen an die Schläfen: nie, nie wurde sie diese Angst wieder los!

In ihrer Seele war eine fast abergläubische Furcht, eine Furcht wie vor einem Gespenst, das da umgeht. Nur fort von hier! Nur nie mehr wieder hierher zurück! Nur jede Spur hinter sich verlöscht! Nie durfte jene erfahren, wohin sie sich gewendet hatten! Berlin – leider! – die Adresse hatten sie dem Gemeindevorsteher gegeben, aber Berlin war ja so weit, dorthin würde das Vennweib niemals kommen!

Und das Venn selber –?! Huh! Sich schüttelnd vor Grausen sah Käte hinaus ins graue Nebelgewoge. Gott sei Dank, das blieb ja hier, das würde bald ganz vergessen sein! Wie hatte sie nur dieses öde Venn einmal schön finden können?! Sie begriff sich nicht. Was war denn Reizvolles an diesen unwirtlichen Flächen, auf denen nichts gedieh als hartes Gras und zähes Heidekraut? Auf denen kein Korn seine Ähren wiegte, kein Singvogel sein kleines Lied pfiff, keine fröhlichen Menschen gesellig lebten, überhaupt keine Heiterkeit war, kein lauter Ton; nur Todesschweigen und Kreuze am Weg. Hier war’s schrecklich!

Angstvoll, während ihr Auge vergebens nach einem Lichtblick suchte, stieß sie hervor: »Paul, laß uns heute noch abreisen! So schnell als möglich abreisen!« [S. 58]

Ihm war’s recht. Auch ihm war nicht wohl zumute. Wenn dieses Weib, diese Bestie, in ihrem plötzlichen Wutausbruch seine Frau getroffen hätte?! Aber er konnte sich selber einen Vorwurf nicht ersparen: wer hatte es ihn geheißen, sich mit solchem Volke einzulassen? Solcher Unkultur ist man nicht gewachsen!

Und ein Unwille gegen das Kind ergriff ihn, das da so friedlich im Arm seiner Frau schlummerte. Finster sah er in das kleine Gesicht: würde er das je, je lieben können? Würde nicht die Erinnerung an des Kindes Herkunft seiner Neigung stets hindernd sein? Ja, er hatte sich übereilt. Wieviel besser hätte er daran getan, seiner Frau vernünftig ihren Wunsch auszureden, ihrer romantischen Idee, dieses Kind, gerade dieses Kind anzunehmen, energisch entgegen zu treten!

Die Brauen zusammengezogen, die Stirn in Falten, schaute er auch hinaus zum Fenster, an dessen Glas sich das Grau klebte und in großen Tropfen niederrann.

Draußen heulte jetzt der Wind; er hatte sich plötzlich aufgemacht. Und er heulte stärker, je mehr sie sich dem Scheitel des hohen Venn näherten, fauchte um den Wagen wie ein böser Hund und sprang den Pferden gegen die Brust. Die Gäule mußten sich wehren, ihren Trab verlangsamen; nur mühsam schwankte der Wagen voran.

Nie, niemals durfte dieses Kind erfahren, woher es stammte, denn sonst – in tiefen Gedanken starrte der neue Vater ins Venn, dessen Nebelwand jetzt für Augenblicke durch einen wütenden Windstoß auseinandergerissen ward – denn sonst – – – was ›denn sonst‹?! Er fuhr sich über die Stirn und atmete beklommen. Es beschlich ihn etwas wie eine Furcht, aber er machte sich selber nicht klar: wovor.

Den Blick zu seiner Frau wendend, sah er, daß sie ganz in Betrachtung des schlafenden Kindes versunken war, [S. 59] und seine Mißstimmung wurde dadurch nicht kleiner. Er zog ihre Rechte, die sie stützend unter des Kindes schwer hingesunkenen Kopf hielt, fort: »Laß doch, ermüde dich doch nicht so! Es wird auch schon so weiterschlafen!« Und als sie besorgt »St« machte, erschrocken, ob der kleine Schläfer auch nicht gestört sei, sagte er nachdrücklich: »Eins muß ich dir sagen, mein Kind, und dich dabei auch warnen: gib nicht gleich dein ganzes Herz – warte erst ab!«

»Wieso?« Verwundert sah sie ihn an, sie hörte einen Unterton aus seiner Stimme heraus. »Warum sagst du das so – so – nun so ärgerlich?!« Leise lachte sie auf in einem glücklichen Vergessen. »Weißt du – ja, es war abscheulich, unendlich peinlich in dieser Umgebung – aber, Gott sei Dank, jetzt ist’s ja überstanden! Eine Mutter vergißt ja so schnell all die Schmerzen, die sie bei der Geburt ihres Kindes gelitten hat – wie sollte ich das Widrige heut nicht auch vergessen?! Sieh nur,« – und sie streichelte, vorsichtig liebkosend, mit der Spitze ihres Fingers die warmrot geschlafene Wange des kleinen Jean-Pierre – »wie unschuldig, wie lieblich! Ich freue mich so! Freu dich doch auch, Paul, du bist ja sonst so herzensgut! Komm, nun laß uns mal überlegen, wie wir den Jungen eigentlich nennen wollen!« Es war eine große Weichheit in ihrem Ton: »Unsern Jungen!«

Sie hörten nicht mehr den Wind, der zum Sturm geworden war. Sie hatten jetzt so vieles zu überlegen. ›Jean-Pierre,‹ nein, das blieb auf keinen Fall! Und heute abend noch würde man von Spaa bis Köln fahren, denn dort erst konnte man es wagen, eine Wärterin zu engagieren; dort hatte ja kein Mensch mehr eine Ahnung vom Venn. Und in Köln würde man auch schleunigst die so notwendigen Kindersachen kaufen.

Wie sollte man sich nur behelfen bis dahin?! Ganz [S. 60] besorgt sah Schlieben auf seine Frau: die hatte ja so gar keine Ahnung von kleinen Kindern! Aber sie lachte ihn aus und tat wichtig: wem der Himmel ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand. Und hier der kleine Liebling war ja so brav, noch nicht gemuckt hatte er, seit sie fortgefahren waren, hatte immerfort geschlafen, als gäbe es keinen Hunger und keinen Durst, als gäbe es nur ihr Herz, an dem er sich wohlig fühlte.

Allmählich wurde es behaglicher im Wagen. Es war, als ströme der sanft ruhende Kinderkörper eine wohltuende Wärme aus. Hauch des Lebens stieg auf aus der sich kräftig hebenden, gleichmäßig atmenden kleinen Brust; Freude des Lebens glühte aus den rosiger und rosiger werdenden Wangen; Segen des Lebens tropfte von diesen winzigen, im Schlaf zu Fäustchen geballten Händen. Still vor sich hinsinnend, mit verhaltenem Atem, schaute die Frau in ihren Schoß, und der Mann, gerührt und seltsam bewegt, nahm des Kindes winzige Faust in seine große Hand und besah sie lächelnd: ja, nun waren sie Eltern! – – – – –

Draußen aber war das Grauen. So kann der Herbst nur stürmen im wilden Venn. Hier gibt es kein sanft-wehmütiges Scheiden des Sommers, kein leises Sichheranstehlen des Winters, keinen mild vorbereitenden Übergang, hier setzt das Unwetter ein mit Macht, aus Sonnenwärme schlägt’s um in Eiseskälte. Der Sturm saust übers braune Hochland, daß sich das niedrige Kraut noch niedriger duckt und die kleinen Wacholderstöcke sich noch kleiner machen. Mit Pfiff und Geschrill, mit Gebell und Geheul jagt der Vennwind, stöbert in Sumpfloch und Torfgrube, peitscht die trüben Lachen, wirft sich ins angeschonte Tannendickicht mit Gewalt, daß das stöhnt und ächzt und knackend zusammenschauert, und rast dann weiter um verwitterte Kreuze.

Wie Orgelton braust es übers Moor – oder ist es das [S. 61] Rauschen schäumender Brandung? Nein, hier ist kein Wasser, das Ebbe und Flut hat und in weißen Wogen gegen den Strand wäscht, hier ist nur das Venn; aber es gleicht dem Meer in seiner ewigen Weite. Und seine Lüfte sind stark wie Meereslüfte, und seiner Vögel schriller Schrei ist wie Möwenschrei, und Natur spielt – hier wie dort – mit gewaltigem Griff auf der Orgel des Sturms das Lied von ihrer Allmacht.

Über den Scheitel des großen Venns kroch der kleine Wagen. Die Winde wollten ihn hinunterblasen wie ein winziges Käferchen. Immer wütender stießen sie gegen das Gefährt, kläfften und heulten wie mit Wolfsgeheul, winselten um seine Räder, schnauften um seine Wände; stemmten sich vorn ihm entgegen und zerrten von hinten wie mit gierigen Zähnen daran: weg mit dem hier. Und weg auch mit denen, die darinnen saßen! Diese Eindringlinge, diese Diebe, die führten etwas mit sich fort, das dem Venn gehörte, einzig und allein dem großen Venn!

Es war ein Kampf. Ob der Kutscher auch auf die Pferde hieb, die mutigen Gäule stutzten doch, blieben stehen und schnauften ängstlich. Der Mann mußte abspringen, sie eine Strecke führen, und noch immer zitterten sie.

Aus den Gruben stieg’s auf und winkte mit wehenden Schleiergewändern und wollte halten mit feuchten Armen. Ein Greifen war’s, ein Haschen, ein Langen; ein Reißen von Nebeln und ein sich tückisch wieder Zusammenballen, ein Chaos von wirbelnden, quirlenden, brauenden, grauenden Dünsten. Und klägliche Töne von Wesen, die man nicht sah.

Waren alle Grüfte lebendig geworden? Stiegen die herauf, die hier geschlafen hatten, von Pferdeschnaufen und Peitschenknall geweckt, unwillig ob ihrer verletzten Ruh? Was waren das für Laute?!

Das stille Venn war lebendig geworden. In des Sturmes [S. 62] dumpfen Orgelbraus mischte sich Schrillen und Pfeifen, Gellen und Krächzen und Flügelschlagen und empörtes Schreien.

Durchs Nebelmeer schwamm eine Schar von Vögeln. Sie ruderten rechts, ruderten links, äugten unruhig nieder zum fremden Gefährt, standen Minuten bewegungslos über ihm, mit gespreizten Flügeln, zum Niederstoßen bereit, und stießen dann ihr Geschrei aus, ihr aufgeschrecktes, scharfdurchdringendes Wildlingsgeschrei. Heute hatte das nichts Sieghaftes an sich – es klang wie Klage.

Und das Venn weinte. Große Tropfen entsanken den Nebeln; die Nebel selbst wurden zu Tränen, zu langsam fallenden und dann zu stürzenden, unaufhaltsamen, strömenden Tränen.


6

Schliebens hatten glücklich Berlin erreicht. Frau Käte war angegriffen, als sie aus dem Coupé stiegen; ihr Haar war verwirrt, ihre Eleganz ein wenig mitgenommen. Es war doch keine Kleinigkeit gewesen, mit dem Kinde die weite Reise zu machen. Ein Glück nur, daß sie in Köln so rasch eine gute Wärterin gefunden hatten – eine Witwe, kinderlieb und wohlerfahren, eine echte rundlich-behäbige Kinderfrau – aber es hatte für die Mutter doch noch genug zu sorgen gegeben. Ob das Kind sich erkältet hatte oder ob ihm die Flasche nicht schmeckte? Es hatte geschrieen, mit der ganzen Kraft seiner Lungen – kein Umhertragen half, kein Schaukeln, kein Wiegen, kein Singen – es hatte geschrieen aus vollem Halse während der ganzen Fahrt nach Berlin.

Aber, Gott sei Dank, nun war man ja zu Hause! [S. 63] Und wie mit Zauberschnelle ordnete sich alles. Die behagliche Wohnung von früher war freilich vermietet; aber im Grunewald entstand Villa neben Villa, und da man jetzt ja so viel mehr Platz brauchte, bezog man eine dieser Villen. Erst zur Miete; dann würde man sie wohl kaufen, denn es war wirklich nicht möglich, ein Kind wie dieses in eine Stadtwohnung zu bringen. Einen Garten mußte es doch haben.

Sie nannten ihn Wolfgang. ›Wolf‹ hatte etwas so Kurzes, Kraftvolles, Energisches, und mit einem leisen wohligen Schauer dachte es Käte – es war wie eine geheime Erinnerung an das Venn, jene Wildnis, über die sie triumphiert hatten, und der sie nur dies eine kleine Zugeständnis machten. Und ›Wölfchen‹ – wenn man so das ›Wolf‹ verkleinerte – klang es nicht unendlich liebevoll?!

›Wölfchen‹ – das sagte die junge Mutter wohl hundertmal am Tag.

Die junge Mutter! Frau Käte fühlte es: ach ja, sie war wieder jung geworden in ihrem Kinde, ganz jung. Ihre fünfunddreißig Jahre hätte ihr niemand geglaubt, und sie selber am wenigsten. Wie konnte sie laufen, wie die Treppe hinaufhuschen, wenn es hieß: »Das Kind ist aufgewacht! Es schreit nach der Flasche!«

Sie, die früher so viele Stunden auf der Chaiselongue zugebracht hatte, kam jetzt keine Minute im Tag zum Hinlegen; dafür schlief sie des Nachts um so fester. Es war doch so, wie sie andre Frauen hatte sagen hören: ein Kleines nimmt die Mutter ganz und gar in Anspruch. O, was waren es für inhaltleere, farblose Tage gewesen, die sie früher so hingelebt hatte! Jetzt erst hatte ihr Leben Inhalt, Wärme, Glanz.

Jeden Tag ging sie neben dem Kinderwagen her, den die Wärterin schob, und es machte ihr ein besonderes Vergnügen, [S. 64] selber einmal den leichten kleinen Wagen mit seinem weißen Lack, den vergoldeten Knöpfen und den blauen Seidengardinen zu fahren. Wie die Leute nach dem eleganten Wagen sahen – nein, nach dem schönen Kinde drehten sie sich um! Ihr Herz klopfte vor Freude, ihr geschmeicheltes Ohr fing die Rufe der Bewunderung auf – ›Das reizende Kind!‹ – ›Wie elegant!‹ –›Die prachtvollen Augen!‹ – und dann schlug ihr Herz noch geschwinder, ein Gefühl seligen Stolzes erfüllte sie, so daß sie einher ging, den Kopf frei gehoben, die Augen voll Glück. Alle hielten sie ja für die Mutter, für des jungen Kindes junge Mutter, für des schönen Kindes schöne Mutter! Wie oft hatten Fremde ihr schon von der Ähnlichkeit gesprochen: ›Ihnen wie aus den Augen geschnitten, gnädige Frau, nur das Haar ist dunkler als das Ihre!‹ Dann hatte sie jedesmal gelächelt mit einem tiefen Erröten. Sie konnte den Leuten doch nicht sagen, daß er ihr eigentlich gar nicht ähnlich sehen konnte! Wußte sie es jetzt doch selber kaum mehr, daß kein Tropfen ihres Blutes in Wölfchens Adern floß.

Nach ihr schaute er zuerst, wenn er erwachte. Zwar stand sein mullverhangenes Bettchen neben dem Bett der Wärterin, aber der Mutter galt doch sein erster Blick, und auch sein letzter, denn niemand verstand es so gut wie sie, ihn in Schlaf zu singen.

»Schlaf, mein süßes Kind,
Draußen geht der Wind.
Höre, wie der Regen fällt
Und wie Nachbars Hündchen bellt!
Hündchen hat den Mann gebissen,
Hat des Bettlers Kleid zerrissen –«

das tönte Abend für Abend leise und schmeichelnd aus der Kinderstube, und der kleine Wolf schlief sanft dabei ein, beim Lied vom Wind und Regen ob schutzlosen Häuptern und von Bettlern, deren Kleider der Hund zerreißt. – [S. 65]

Schlieben hatte jetzt keine Veranlassung mehr, sich über die Stimmungen seiner Frau zu beklagen. Alles war anders geworden – auch ihre Gesundheit – gleichsam neu, als sei noch einmal ein Leben begonnen. Und er selber? Er selber hatte jetzt viel mehr Lust zur Tätigkeit. Nun er wieder ins Geschäft eingetreten war, fühlte er ein sonst nicht gekanntes Behagen, wenn er sah, daß neue Unternehmungen glückten. Unternehmungsgeist hatte er früher nie gehabt – wozu auch? Was er und seine Frau brauchten, hatten sie reichlich. Natürlich war es ihm angenehm gewesen, gut abzuschließen, aber daß es ihm Freude gemacht hätte, Geld zu verdienen, hätte er nicht sagen können. Er hatte immer mehr Vergnügen daran gefunden, es auszugeben.

Der alte Schlieben war darin ganz anders gewesen, von einer viel weniger großen Leichtigkeit, und er hatte sich, solange er lebte, stets darüber Vorwürfe gemacht, daß er den einzigen Sohn bei einem Kavallerieregiment hatte dienen lassen; da war dem von der kavalleristischen Flottheit etwas kleben geblieben, was mit den Ansichten des ursoliden, behäbig-bürgerlichen Kaufmanns nicht recht stimmen wollte. Und die Schwiegertochter? Nun, die war auch nicht so ganz nach dem innersten Herzen des alten Herrn gewesen, die hatte zu viel modernes Zeug im Kopf, und der Paul wurde ganz davon angesteckt. Man konnte ja ein gebildeter Mensch sein – warum nicht? und sich auch für die Kunst interessieren, ohne darum so wenig realen Sinn zu besitzen!

Der biedere Mann, der Kaufmann von echtem Schrot und Korn und Urberliner, hatte nicht mehr die Freude gehabt, an seinem Sohn zu erleben, was jetzt dessen Sozien mit Verwunderung und ungemessenem Erstaunen wahrnahmen. Sie brauchten jetzt nicht mehr über Schliebens mangelndes Geschäftsinteresse die Achseln zu zucken und eine gewisse Spitze [S. 66] auf die Frau zu haben, die ihn so ganz in Beschlag nahm; jetzt hatte er das Interesse, das sie wünschten. Jetzt machte es ihm Freude, auf ihre Projekte einzugehen; es erschien ihm selber Bedürfnis, ja geradezu geboten, neue Verbindungen anzuknüpfen, den ruhigen, von lange her eingeschlagenen Geschäftsgang nach rechts und links, nach allen Seiten zu erweitern. Er zeigte Geschäftsgeist und wurde auf einmal praktisch. Und mitten in seinen Berechnungen, vertieft am Pult sitzend, konnte Schlieben sich dabei ertappen, daß er dachte: ›das wird dem Jungen einmal von Nutzen sein!‹ Dann aber konnte ihn dieser Gedanke doch wieder so irritieren, daß er die Feder hinwarf und unwirsch vom Pulte aufsprang: nein, nur seiner Frau zu Gefallen hatte er den Jungen angenommen, lieben wollte er ihn nicht!

Und doch, wenn er zu Tisch nach Hause kam, an jenen köstlichen Nachmittagen, in denen die Kiefern um sein Haus dufteten und die reine Luft den nach angespannter Arbeit erwachten Appetit noch verstärkte, wenn ihm dann der Junge mit Geschrei entgegenzappelte, seinen kleinen Bauch klopfend: »Papa – essen – gut mecken,« und Käte sich lachend am Fenster zeigte, dann konnte er sich nicht enthalten, den hungrigen Schreier hoch in die Luft zu schwingen und ihn erst nach einem freundlichen Klaps wieder auf die Füße zu stellen. Er war doch ein famoser Kerl! Und immer bei Appetit. Nun, Gott sei Dank, satt zu essen würde er ja auch immer haben!

Eine gewisse Behäbigkeit kam dabei über den Mann. Was er früher nie so gefühlt hatte: daß ein eignes Heim ein Glück bedeutet – das fühlte er jetzt. Und er empfand die Wohltat des gesicherten Besitzes, der es gestattet, sich das Leben mit allen möglichen Annehmlichkeiten auszugestalten. Hübsch war das Haus! Aber wenn er es demnächst kaufte, baute er doch noch an, und das Grundstück daneben kaufte [S. 67] er auch noch zu. Es wäre doch höchst fatal, wenn sich da etwa einer einem dicht auf die Nase setzte!

Es war Schlieben seinerzeit schwer geworden, hier draußen Wohnung zu nehmen, nachdem er, solange er denken konnte, in einer Berliner Stadtwohnung gelebt hatte. Nun aber pries er den Gedanken seiner Frau, hier herauszuziehen, als sehr glücklich. Nicht nur des Kindes wegen! Man hatte selber hier draußen ja einen ganz andern Genuß seines Heims; man kam viel mehr zum Bewußtsein eines solchen. Und wie viel gesünder war’s – wahrhaftig, der Appetit war kolossal! Man wurde noch der reine Materialist! Und von seinem knurrenden Magen getrieben, folgte Schlieben dem eßlustigen Jungen ins Haus. – – –

Wolfgang Solheid, genannt Schlieben, bekam die ersten Hosen. Es war ein Fest fürs ganze Haus. Käte ließ ihn heimlich photographieren, denn hübscher hatte nie ein Junge in ersten Hosen ausgesehen. Und sie stellte ihrem Mann das Bild des noch nicht Dreijährigen – weiße Hosen, weißer Faltenkittel, Pferdchen im Arm, Peitsche in der Hand – von einem Rosenkranz umgeben, in die Mitte seines Geburtstagstisches. Das war ja unter all den vielen Geschenken das Beste, was sie ihm geben konnte. Wie kräftig Wölfchen war! Hier auf dem Bilde sah man’s erst: so groß wie ein Vierjähriger! Und trotzig sah er aus, unternehmend wie ein Fünfjähriger, der schon an Streit mit andern Buben denkt.

Glückselig wies die Frau dem Manne das Bild, und ein solches Leuchten war dabei in ihren Augen, daß er sich innig freute. Er dankte ihr, sie küssend, viele Male für diese Überraschung: ja, dieses Bild sollte neben dem ihren auf seinem Schreibtisch stehen! Und dann schäkerten sie beide mit dem Knaben, der sich in seinen ersten Hosen, die ihm noch unbequem waren, ungebärdig über den Teppich wälzte. [S. 68]

Schlieben konnte sich nicht entsinnen, je seinen Geburtstag so angenehm verlebt zu haben wie dieses Mal. Es war so viel Heiterkeit um ihn, so viel Freude. Und wenn auch Wolf schon am Mittag die ersten Hosen zerrissen hatte – wie und wo war der bestürzten Wärterin ganz unbegreiflich –, so störte das den Festtag nicht, im Gegenteil, das Lachen wurde noch heller. »Zerreiße Hosen, mein Junge, zerreiße,« flüsterte die Mutter lächelnd in sich hinein, als ihr der Schaden gezeigt wurde, »sei du nur froh und stark!«

Am Abend war Gesellschaft. Die Fenster der hübschen Villa waren hell erleuchtet, und im Garten war italienische Nacht. Lau war die Luft; unbeweglich breiteten die Kiefern ihre Äste unterm Sternenhimmel, und großen Glühwürmern gleich schimmerten bunte Lampions in Büschen und Laubgängen.

Im Oberstock der Villa, im einzigen nicht hell beleuchteten, nur von einer Milchglasampel matt beschienenen, durch dichte Vorhänge und Jalousien still gehaltenen Gemach, lag Wölfchen und schlief. Aber unten ließ man ihn leben.

An der Festtafel war der Hausherr schon betoastet worden und dann seine liebenswürdige Gattin – mit was konnte man den Gefeierten nun noch mehr feiern, als daß man den Jungen leben ließ, seinen Jungen?!

Der Geheime Sanitätsrat Hofmann, der erprobte Arzt und langjährige Freund des Hauses, bat sich das Vorrecht aus, diese paar Worte sprechen zu dürfen. Er als Arzt, als Berater in mancher Stunde, er wußte ja am besten zu sagen, woran es hier noch gemangelt hatte. Alles war dagewesen: Liebe und innigstes Verstehen und auch das äußere Glück, aber – hier machte er eine kleine Pause und nickte der ihm gegenübersitzenden Frau des Hauses freundlich-verständnisinnig zu – das Kinderlachen hatte gefehlt! Und nun war auch das da! [S. 69]

»Kinderlachen – o, du Erlösung!« rief er und zwinkerte, und eine Rührung kam dabei in seine Stimme, denn er gedachte auch seiner eignen drei, die freilich jetzt schon selbständig draußen im Leben ihren Weg gingen; aber ihr Lachen, das klang ihm noch in Herz und Ohr.

»Kein Kind – kein Glück! Aber ein Kind – ein Glück, ein großes Glück! Und hier zumal! Denn meine Doktoraugen haben sich noch kaum je an einem prächtigeren Brustkasten, an einem famoser entwickelten Schädel, an strammeren Beinen und blankeren Augen geweidet. Alle Sinne sind scharf; der Junge hört wie ein Luchs, sieht wie ein Falke, wittert wie ein Hirsch, fühlt – nun, ich habe mir sagen lassen, daß er schon auf die leiseste Berührung seiner Kehrseite lebhaft reagiert. Nur der Geschmack ist bis jetzt nicht in gleichem Grade fein entwickelt – der Junge ißt alles! Aber dies wiederum ist mir ein neuer Beweis seiner besonderen körperlichen Bevorzugung, denn verehrte Anwesende –« hier kniff der Doktor scherzhaft blinzelnd das eine Auge zu – »wer von Ihnen spräche nicht mit mir: ein guter Magen, der alles verträgt, ist die größte Lebensmitgabe einer gütigen Vorsehung! Der Junge ist ein Glückskind. Ein Glückskind im doppelten Sinn des Wortes, denn nicht nur ist er selber alles Glückes voll, nein, das Glück ist auch bei denen, die um ihn sind, durch ihn eingekehrt. Hier, unsere liebe Frau, haben wir sie je früher so gesehen? So jung mit den Jungen, so froh mit den Frohen! Und hier, unser verehrter Freund – ’s ist wahrhaftig nicht, als hätte der heute die Mitte der Vierzig erklommen – der steckt ja voll von Tatkraft, von Plänen und Unternehmungen wie einer mit zwanzig! Und hat dabei die schöne Ruhe, die behagliche Gesättigtkeit des glücklichen Hausvaters. Und das macht alles, alles der Glücksjunge! Darum, [S. 70] Dank sei der Stunde, die ihn bescherte, dem Winde, der ihn hergetragen hat! Woher –?!«

Der Doktor, der eine kleine, boshafte Ader hatte, machte jetzt geflissentlich eine Pause, räusperte sich und zupfte an seiner Weste, sah er doch so manches neugierige Auge erwartungsvoll auf sich gerichtet. Aber er sah auch den raschen, betroffenen Blick, den das Ehepaar miteinander tauschte, sah, daß Frau Käte erblaßt war und ängstlich, fast flehend an seinen Lippen hing, und so fuhr er geschwind mit einem gutmütig-einlenkenden Lachen fort: »Woher, meine Damen – nur Geduld! Das will ich Ihnen jetzt sagen: vom Himmel ist er gefallen! Wie die Sternschnuppe fällt in der Sommernacht. Und unsre liebe Frau, die just spazieren ging, hat ihre Schürze aufgehalten und hat ihn sich heimgetragen in ihr Haus. So ist er denn der Stern dieses Hauses geworden, und wir alle und ich ganz besonders – wenn ich nun auch als Arzt hier überflüssig geworden bin – freuen uns seiner, ohne zu fragen, woher er uns ward. Alle gute Gabe kommt von oben, das haben wir schon in der Jugend gelernt – darum: auf das Wohl dessen, der unsern Freunden vom Himmel gefallen ist!«

Der Doktor war ernst geworden, es war eine gewisse Feierlichkeit darin, wie er jetzt seinen Champagnerkelch hob und ihn austrank bis zur Neige: »Prosit Rest! Auf das Wohl des Kindes, des Sohnes dieses Hauses! Der Glücksjunge, er wachse, blühe und gedeihe!«

Die schön geschliffenen Gläser klangen melodisch-hell aneinander. Es war ein Schwirren, ein Lachen, ein Hochrufen an der Festtafel, daß der kleine Junge oben in seinem Bettchen sich unruhig hin und her zu wälzen begann. Er murrte unzufrieden im Schlaf, warf die Lippen auf und zog die Stirn kraus zwischen den kleinen Brauen. [S. 71]

Unten rückten die Stühle. Man war aufgestanden, ging zu den Eltern hin und drückte ihnen, gleichsam gratulierend, die Hand. Das hatte Hofmann wirklich hübsch gemacht, wirklich riesig nett! Der kleine Kerl war aber auch allerliebst! Alle anwesenden Frauen waren sich darin einig, selten ein so hübsches Kind gesehen zu haben.

Kätes Herz, das bei dem Toast anfänglich ein wenig bang geklopft hatte – der gute Doktor würde doch, angeregt durch ein gutes Glas Wein und ein gutes Diner, nichts ausplaudern von dem, was man nur ihm und dem Anwalt anvertraut hatte?! – klopfte jetzt in einer lebhaften Empfindung von Glück. Ihre Augen suchten ihren Mann und sandten ihm heimlich-zärtliche, dankerfüllte Blicke. Und dann ging sie zu dem alten Freund hin und dankte ihm ›für all die guten, lieben Worte‹. »Auch in Wölfchens Namen,« sagte sie herzlich weich.

»Also hab ich’s doch recht gemacht? Na, das freut mich!« Der Freund zog ihren Arm in den seinen und ging ein wenig abseits von den übrigen mit ihr auf und ab. »Ich sah es, liebe Frau, Sie waren ängstlich, als ich von des Jungen Herkunft anfing. Was denken Sie denn von mir?! Aber es geschah mit Absicht, längst habe ich auf die Gelegenheit gebrannt. Glauben Sie mir, wenn ich jedesmal einen Taler kriegte, so oft ich nach des Jungen Herkunft – sei’s offen oder hintenherum – ausgefragt werden soll, ich wäre jetzt schon ein vermögender Mann. Über manche Frage habe ich mich geärgert; das heut war die Antwort darauf. Hoffentlich haben sie sie verstanden! Sie sollen künftig ihre Vermutungen für sich behalten!«

»Vermutungen –?!« Käte zog die Augenbrauen zusammen und drückte des Arztes Arm. Was vermuteten die Leute – wußten sie schon etwas, ahnten sie das Venn?! Eine plötzliche Angst fiel sie an. Mit Blitzesschnelle tauchten [S. 72] Bilder vor ihr auf – hier mitten im festlich hellen Raum – dunkle Bilder, von denen sie nichts mehr wissen wollte.

»Um Gottes willen,« sagte sie leise, und ein Zittern war in ihrer Stimme. Wenn die Leute erst etwas wußten, o, dann – sie sprach es nicht aus, die plötzliche Angst schnürte ihr die Kehle zusammen –, dann wurde man die Vergangenheit nicht los! Dann kam die und verlangte ihr Recht und war nicht mehr abzuschütteln! »Glauben Sie,« flüsterte sie stockend, »glauben Sie – daß man – das Richtige – vermutet?«

»I wo, keine Spur!« Hofmann lachte, wurde aber dann gleich ernsthaft. »Lassen wir doch die Leute und ihre Vermutungen, liebe Frau!« O weh, da hatte er sich auf ein heikles Thema eingelassen – ihm wurde ganz heiß – wenn sie wüßte, daß man ihrem Paul, dem treuesten aller Ehemänner, eine ganz besondere Verpflichtung gegen das Kind zuschrieb?!

»Vermutungen – ach, was vermutete man denn?« Sie drängte ihn, ihre Augen forschten angstvoll.

»Unsinn,« sagte er kurz. »Was wollen Sie sich darum kümmern?! Aber das habe ich Ihnen und Ihrem Gatten ja gleich gesagt: wenn Sie ein solches Geheimnis aus des Knaben Herkunft machen, wird viel daran herumgedeutelt werden. Nun, Sie haben es ja nicht anders gewollt!«

»Nein!« Und die Augen schließend, schauerte Käte leicht zusammen. »Er ist unser Kind – nur unser Kind –« sagte sie mit einer seltenen Härte im Ton. »Und etwas andres existiert nicht!«

Kopfschüttelnd und fragend sah er sie an, betroffen über ihren Ton.

Da stieß sie hervor: »Ich habe Angst!« [S. 73]

Er fühlte, wie die Hand, die auf seinem Arm lag, leise bebte. –

Mitten in der Heiterkeit des Abends war es auf Kätes Freude wie eine Lähmung gefallen. Sie wurde viel nach dem kleinen Wolf gefragt – das war so natürlich, man zeigte ihr durch diese Fragen freundschaftliches Interesse – und man beobachtete sie dabei im stillen: ganz großartig, wie sie sich benahm! Man hätte der zarten Frau kaum solchen Heroismus zugetraut. Wie sehr mußte sie ihren Mann lieben, daß sie sein Kind – denn der Knabe mußte ja sein Kind sein, die Ähnlichkeit war zu augenfällig, ganz genau derselbe Gesichtsschnitt, das gleiche dunkle Haar – dieses Kind seiner schwachen Stunde an ihr Herz nahm, ohne Groll, ohne Eifersucht. Sie, die Kinderlose, das Kind einer andern! Das war großartig, fast zu großartig! Das begriff man denn doch nicht ganz.

Und Käte empfand instinktiv, daß in den Fragen, die man an sie richtete, etwas versteckt lag – war es Bewunderung oder Mitleid, Zustimmung oder Mißbilligung? – etwas, das man nicht fassen, nicht einmal nennen konnte, nur argwöhnen. Und das machte sie befangen. So gab sie auf freundliche Fragen nach Wölfchen nur zurückhaltende Antworten, war knapp in der Erzählung, kühl im Ton und konnte doch ein heimliches Vibrieren ihrer Stimme nicht hindern. Das waren die zärtliche Freude, der Mutterstolz, die sich nicht unterdrücken ließen, die Wärme ihres Gefühls, die ihrer Stimme den verborgenen Unterton der Erregung liehen. Andre nahmen’s für eine ganz andre Erregung.

Die Damen, die nach aufgehobener Tafel sich noch im Garten ergingen, plauderten vertraulich. Die kieferduftenden Gartengänge, in denen die Lampions nur bunt glühten, aber nicht erhellten, waren recht dazu geeignet. Man wandelte zu zweien und dreien, Arm in Arm, und sah sich vorsichtig erst [S. 74] nach Lauschern um: daß nur die gute Frau nichts hörte! Da war kaum eine unter den Frauen, die nicht ihre Beobachtungen gemacht hatte. Wie tapfer sie sich hielt, es war eigentlich ergreifend anzusehen, wie Empfindlichkeit und Neigung, Abneigung und Wärme in ihr rangen, sowie die Rede auf das Kind kam! Und wie sich dann in ihren heiteren Blick eine Unruhe stahl – ach ja, sie mochte viel durchgekämpft haben und noch immer durchkämpfen, die Arme!

Eine einzige meinte zwar, Schlieben viel zu lange und viel zu genau zu kennen, um nicht zu wissen, daß es zum Lachen – nein, daß es geradezu ungeheuerlich sei – von ihm so etwas anzunehmen. Von ihm, dem Korrekten, der nicht nur in der äußeren Haltung und Erscheinung, nein, ebenso innerlich allezeit der untadlige Kavalier war. Von ihm, dem treuesten Gatten, der heute noch, nach langer Ehe, so verliebt in seine Käte war, als hätten sie eben geheiratet. Die Sache lag ganz anders: sie hatten sich immer Kinder gewünscht, was war natürlicher, als daß sie sich, nun sie die Hoffnung endgültig aufgegeben hatten, eins angenommen hatten?! Taten denn andre Leute das etwa nicht auch?!

Freilich, das kam schon vor, gewiß! Aber dann erfuhr man doch Näheres: ob es ein Waisenkind war oder der illegitime Abkömmling aus hohen Kreisen, ob es in der Zeitung aufgeboten war – ›an edeldenkende Menschen zu vergeben‹ – ob es das Kind eines verlassenen Mädchens oder der unerwünschte Spätling einer schon überreich mit Kindern gesegneten Proletarierfamilie war und so weiter, immer wußte man doch wenigstens einiges. Aber hier – warum denn hier ein solches Geheimnis?! Warum nicht offen erzählt: daher haben wir’s, so und so trug’s sich zu?!

Frau Käte ganz offen nach der Herkunft des Kleinen zu fragen, war schwer; man hatte sich schon früher einmal [S. 75] in dieser bestimmten Absicht zu ihr begeben, aber gleich nach den ersten einleitenden Sätzen war in die Augen der Frau etwas so Angstvolles gekommen, in ihr Wesen etwas so scheu Ablehnendes, daß es mehr als taktlos gewesen wäre, das Gespräch weiter zu verfolgen. Man sah sich gezwungen, das Fragen zu lassen – aber merkwürdig, merkwürdig!

Auch die Herren im Rauchzimmer, die der Wirt einen Augenblick allein gelassen hatte, behandelten das gleiche Thema. Der Doktor wurde ins Gebet genommen.

»Hören Sie, verehrter Geheimrat, Ihr Toast war ja sehr famos, eines Diplomaten würdig, aber uns machen Sie nichts vor! Sie sollten auch nicht wissen, woher der Kleine stammt?! Na!« Besonders die beiden Sozien intrigierte es, daß Schlieben sie so wenig eingeweiht hatte. Wenn man allen Kix und Kax im Geschäftlichen besprach, hatte man doch auch ein gewisses Anrecht auf die Privatverhältnisse, zumal man schon mit dem alten Herrn zusammen gearbeitet hatte. Wo wäre der Paul heute, wenn sie beide nicht für ihn eingetreten wären mit ihrer ganzen Arbeitskraft, zur Zeit, als er noch an allem andern mehr Interesse fand und mehr Geschmack als am Geschäft?! Der schon ältliche Meier, der sein gutmütig-intelligentes, weinfrohes Gesicht über einem beträchtlichen Embonpoint trug, konnte sich ordentlich über einen solchen Mangel an Vertrauen kränken: »Als ob wir ihm was in den Weg gelegt hätten – lachbar! Doktor, sagen Sie mal wenigstens eins: hat er den Jungen von hier?!«

Aber der andre Kompagnon, der etwas gallige Bormann, der alle Jahre nach Karlsbad mußte, unterbrach schroff: »Ich bitte Sie, Meier – Sie sehn doch! Was geht’s uns auch an?! Von der letzten großen Reise wollen sie sich ihn mitgebracht haben – na, schön! Wo waren sie denn eigentlich zuletzt? Nach der Schweiz doch im Schwarzwald und dann in Spaa?!« [S. 76]

»Nein, an der Nordsee,« sagte Hofmann ruhig. »Sie sehen’s ja auch, der Junge hat ganz friesischen Typus!«

»Der –? Mit seinen schwarzen Augen?!« Nein, aus Hofmann war wirklich nichts herauszubekommen! Er machte ein so harmloses Gesicht, daß man hätte meinen können, es sei ihm Ernst anstatt Scherz. Aha, dahinter verschanzte er sich; er wollte eben nichts sagen! Man mußte das Thema fallen lassen.

Der Doktor, der sich im stillen schon der Ungeschicklichkeit geziehen – o weh, da hatte er, statt den guten Schliebens zu helfen, ihnen erst recht die Neugier auf den Hals gehetzt! – hörte voller Befriedigung, wie die Herren zur Politik übergingen. –

Es wurde Mitternacht, bis die letzten Gäste die Villa verließen; ihre heitere Unterhaltung und ihr Lachen war noch laut in der nächtlichen Stille und noch vom Ende der Straße her deutlich vernehmbar, als sich Mann und Frau am Fuß der Treppe, die zum Oberstock führte, trafen.

Noch standen alle Fenster der unteren Räume offen, das Silber lag noch auf dem Eßtisch, das kostbare Porzellan stand umher – mochte die Dienerschaft es vorläufig wegräumen! Käte fühlte eine große Sehnsucht, das Kind zu sehen. Sie hatte heute so wenig von ihm gehabt – den ganzen Tag Gäste! Und dann all die Fragen, die sie hatte hören, all die Antworten, die sie hatte geben müssen! Ihr Kopf brannte.

Als sie mit ihrem Mann zusammenstieß – Schlieben kam eilig aus seinem Zimmer, er hatte sich nicht einmal Zeit genommen, die Zigarren wegzuschließen –, mußte sie lachen: aha, er wollte auch hinauf! Sie hing sich an seinen Arm, und so stiegen sie Stufe um Stufe im gleichen Tritt.

»Zu Wölfchen,« sagte sie leise und drückte seinen Arm. [S. 77] Und er sagte, wie sich entschuldigend: »Ich muß doch mal sehen, ob der Junge von dem Lärm nicht wach geworden ist!«

Sie sprachen mit gedämpfter Stimme und traten vorsichtig auf wie Diebe. Sie stahlen sich ins Kinderzimmer – da lag er so ruhig! Im Schlaf hatte er sich aufgedeckt, die Beinchen zeigten ihr nacktes rosiges Fleisch, und ein warmer, lebensvoller, unendlich frischer Duft stieg auf von dem reinen, gesunden Kinderkörper und mengte sich mit dem Kraftgeruch der Kiefern, den die Nacht durch die geöffnete Fensterspalte hereinsandte.

Käte konnte nicht an sich halten, sie bückte sich und küßte das kleine Knie, das Grübchen in seiner festen Rundung zeigte. Als sie wieder aufblickte, sah sie das Auge ihres Mannes mit nachdenklichem Ausdruck auf das schlafende Kind geheftet.

Sie war so gewohnt, alles zu wissen, was ihn bewegte, daß sie fragte: »Was denkst du, Paul? Bist du verstimmt?«

Er sah sie ein paar Augenblicke mit einer gewissen Zerstreutheit an und dann an ihr vorbei; er war so in Gedanken, daß er ihre Frage gar nicht gehört hatte. Nun murmelte er: »Ob es doch nicht besser wäre, offen zu sein?! Hm!« Er schüttelte den Kopf und strich sich nachdenklich den Bart am Kinn spitz zu.

»Was sagst du, was meinst du? – Paul!« Sie legte ihre Hand auf die seine.

Das weckte ihn aus seinen Gedanken. Er lächelte ihr zu und sagte dann: »Käte, wir müssen den Leuten reinen Wein einschenken! Warum denn auch nicht sagen, woher er stammt? Ja, ja, es ist viel besser, ich fürchte, wir werden sonst noch rechte Unannehmlichkeiten haben! Und wenn’s der Junge nun beizeiten erfährt, daß er eigentlich nicht unser Kind ist – ich meine, unser rechtmäßiges –, was schadet das denn?« [S. 78]

»Um Gottes willen!« Sie erhob die Hände wie in Entsetzen. »Nein – um keinen Preis – nein! Nie, nie!« Sie sank am Bettchen nieder, breitete beide Arme wie schützend über den Kinderkörper und schmiegte ihren Kopf an die kleine warme Brust. »Paul, dann ist er uns verloren!«

Zitternd holte sie schwer Atem. Es lag ein solches Grauen in ihrem Ton, eine so große Angst, ein wahrhaft prophetischer Ernst, daß es den Mann stutzig machte.

»Ich dachte nur – ich meine – ich fühle eigentlich längst die Verpflichtung,« sagte er stockend, wie sich wehrend gegen ihre Angst. »Es ist mir unangenehm, daß die – daß die Leute – nun, daß sie reden! Käte, sei nicht so merkwürdig, warum sollen wir’s denn nicht sagen?«

»Nicht sagen – warum nicht?! Paul, das weißt du doch selbst! Erfährt er’s – o, diese Mutter – o, dieses Venn!«

Sie hielt den Knaben nur noch fester umschlungen; aber den Kopf hatte sie von seiner Brust gehoben. Aus dem blassen Gesicht sahen ihre Augen ganz verstört ihren Mann an: »Hast du die denn vergessen?!«

Ihr zitternder Ton wurde hart: »Nein, nie darf er’s wissen! Und ich schwöre es, und du mußt es mir auch versprechen, heilig versprechen, heut an diesem Tage, hier an seinem Bettchen, bei seinem friedlichen Schlaf – Paul, und wenn ich sterben sollte, auch dann nicht –« sie steigerte sich immer mehr in ihrer Erregung, ihr harter Ton wurde fast schreiend – »nie werden wir’s ihm sagen! Und ich gebe ihn nicht her! Er ist nur mein Kind, nur unser Kind allein!«

Ihr Ton schlug um: »Wölfchen, mein Wölfchen, du wirst doch nie von Mutterchen gehn?!«

Jetzt strömten ihre Tränen, und unter diesen Tränen küßte sie das Kind so heftig, so inbrünstig, daß es erwachte. [S. 79] Aber es weinte nicht, wie sonst wohl, wenn es im Schlaf gestört ward.

Es lächelte, und beide Ärmchen um den Hals der sich zu ihm Niederbeugenden schlingend, sagte es, schlaftrunken noch, aber doch deutlich-klar: »Mutti!«

Sie stieß einen Laut des Entzückens aus, einen Ruf triumphierender Freude: »Hörst du’s? Er sagt: ›Mutti!‹«

Sie lachte und weinte durcheinander wie in einem Übermaß von Glück und haschte nach der Hand ihres Mannes und hielt ihn fest: »Paul – Väterchen! – komm, gib du unserm Kinde jetzt auch einen Kuß!«

Und Schlieben bückte sich auch nieder. Seine Frau schlang den Arm um seinen Hals und zog seinen Kopf noch tiefer herab, dicht neben den ihren. Da legte das Kind den einen Arm um seinen Nacken, den andern um den ihren.

Sie waren sich alle drei so nah in dieser stillen Sommernacht, in der alle Sterne glänzten und Mondstrahlen silberne Brücken schlugen vom friedvollen Himmel hinab zur friedvollen Erde.


7

Das waren Tage reinsten Glücks in der Villa Schlieben. Man hatte sie nun gekauft, noch ausbauen lassen und auch zum Garten noch ein Stück Land als Spielplatz dazu erworben. Es war nicht zu denken, daß der Junge nicht Platz genug haben sollte, sich auszutummeln. Sand wurde gefahren, ein Berg, so hoch wie eine Düne, darin er buddeln konnte. Und als er anfing, zum Turnen groß genug zu sein, wurden eine Schaukel angeschafft, ein Reck und ein Barren.

Aber dies alles war doch noch nicht ausreichend. Er [S. 80] stieg über sämtliche Zäune der Nachbarvillen, über alle die mit Stacheldraht und Glasscherben bewehrten Mauern.

»Herrlicher Junge,« sagte Geheimrat Hofmann, wenn er von Wolfgang sprach. Sprach er mit ihm, so sagte er freilich: »Du bist ein ganzes Rauhbein! Warte nur, wenn du in die Schule kommst, da werden sie dich das Stillesitzen lehren!«

Wolf war wild – ›etwas zu wild‹ fand die Mutter. Schlieben machte der Übermut des Jungen Spaß, es steckte eben so viel überschüssige Kraft in ihm. Aber Käte fühlte sich ein wenig befremdet durch so viel Wildheit. Nein, befremdet war sie eigentlich nicht, wußte sie doch nur zu gut, woher diese Wildheit stammte; bange machte ihr die.

Sie schalt nicht über zerrissene Hosen – o, die konnten ja wieder ersetzt werden! – aber als er heimkam mit dem ersten Loch im Kopf, da wurde sie ganz unglaublich erregt. Sie schalt heftig, sie wurde ungerecht. Es war ihr nicht möglich, ihm das Blut zu stillen – huh, wie es rann! – wie einen Krampf begann sie’s am Herzen zu fühlen, mühselig schleppte sie sich in ihr Zimmer und blieb da stumm in einem Winkel sitzen, die Blicke starr ins Leere gerichtet.

Als ihr Mann ihr, solcher Übertreibung wegen, einige Vorwürfe machte, sagte sie kein Wort dawider. Er tröstete sie dann: sie konnte ja nun ganz ruhig sein, die Sache war weiter nicht von Belang, das Loch genäht und der Junge seelenvergnügt, als sei nie etwas gewesen!

Aber sie fröstelte in einem nervösen Schauer und blieb blaß. Ach, wenn Paul wüßte, an was sie dachte, immerfort denken mußte! Daß sich ihm nicht die gleiche Erinnerung aufdrängte?! – – – O, Michel Solheid hatte blutend auf dem Venn gelegen – Blut war zur Erde getropft heute wie damals! Der kleine Knabe hatte sich nicht beklagt, ebensowenig, [S. 81] wie sein – sie sträubte sich selbst in Gedanken gegen dieses Wort – wie sein Vater, wie Michel Solheid geklagt hatte! Und doch war das rote Blut hervorgespritzt wie ein Springquell; wieviel natürlicher wäre dabei ein Weinen gewesen! Empfand Wolf denn anders, als andre Kinder empfanden?!

Käte ging die Reihe ihrer Bekannten durch: da war kein einziges Kind, das bei solcher Verwundung nicht geweint hätte, und es brauchte deshalb noch lange kein Feigling zu sein. Es war gewiß, Wölfchen war weniger feinfühlig. Nicht nur stumpfer gegen körperlichen Schmerz, nein – und das hatte sie schon mehrmals zu bemerken geglaubt –, auch stumpfer in den Regungen der Seele. Selbst bei Freuden. Zeigten nicht andere Kinder ihr Beglücktsein, indem sie jubelnd in die Hände klatschten? Den begehrten Gegenstand: das Spielzeug, die Puppe, den Kuchen mit Rufen des Entzückens umhüpften? Er hatte nur ein stummes Danachgreifen; nahm’s an sich, eben weil es ihm geboten ward, ohne all die kindliche Geschwätzigkeit, ohne dies anmutig-jauchzende Erfreutsein, das es so unendlich dankbar macht, Kinder zu beschenken.

›Wie ein Bauer,‹ pflegte Schlieben zu sagen. Das gab ihr jedesmal einen Stich durchs Herz. War Wölfchen wirklich aus so anderm Holz?! Nein, ›Bauer‹ durfte Paul nicht sagen! Wölfchen war doch nicht stupide, nur vielleicht ein wenig langsam im Denken, aber doch schlau genug! Und er war eben kein Großstadtkind; man lebte ja hier ganz wie auf dem Lande.

»Du Bauer!« Bei der nächsten Gelegenheit, als der Vater es wieder sagte – es war diesmal zum Lobe gesagt und nicht zum Tadel, aus Freude darüber, daß der Knabe sein Gärtchen so gut im Stande hielt –, brauste die Mutter auf. Warum?! Schlieben begriff den Grund nicht. Warum sollte er sich nicht freuen? Hatte der Junge seinen kleinen [S. 82] Garten denn nicht allerliebst eingefriedigt? Aus Haselstöcken hatte er sich ein Staket errichtet, das zur Verdichtung mit biegsamen Weidenruten durchflochten und mit Kiefernzweigen belegt war. Und Bohnen und Erbsen hatte er gesteckt, die er sich von der Köchin erbettelt hatte; und nun würde er auch noch Kartoffeln legen. Hatte ihn’s jemand so tun geheißen? Nein, niemand! Die perfekte Köchin und das Hausmädchen waren Großstadtkinder, was wußten die von Erbsenstecken und Kartoffellegen?!

»Der geborene Landwirt,« sagte lachend der Vater.

Wie im Schmerz aber wandte sich die Mutter ab; viel, viel lieber hätte sie gesehen, ihres Sohnes Garten wäre ein Unkrautfeld gewesen, als daß er so emsig pflanzte, jätete und begoß.

Sie hatte ihm Blumen geschenkt; aber für die hatte er weniger Interesse, sie gediehen ihm auch nicht so. Nur eine große Sonnenblume wuchs und wuchs; sie war bald so hoch wie der Knabe, bald noch höher, und er stand oft davor, das kindliche Gesicht ernst erhoben, und sah lange in ihr goldenes Rund.

Als der Sonnenblume goldene Blätter verschrumpften, dafür aber ihr Same reif ward – jeden Tag wurde der prüfend betrachtet und dann endlich eingeerntet –, kam Wolfgang zur Schule. Er ging schon ins siebente Jahr und war groß und stark; warum sollte er jetzt nicht mit andern Kindern lernen?

Die Mutter hatte es sich zwar wundervoll gedacht, ihm selber die Anfangsgründe beizubringen, hatte sie doch als junges Mädchen, das zu Hause nichts zu tun fand und sich gern weiterbilden wollte, das Seminar besucht und das Lehrerinnenexamen sogar mit Auszeichnung bestanden; aber – es war schon zu lange her – hier versagte ihre Kraft. Besonders [S. 83] die Geduld. Das ging so langsam voran, so unsäglich langsam! War der Junge unbegabt? Nein, aber schwerfällig, von einer zu großen Schwerfälligkeit. Und ihr war oft, als redete sie an wie gegen eine Mauer.

»Du bist viel zu lebhaft,« sagte ihr Mann. Aber Gott im Himmel, wie sollte sie’s ihm denn klarmachen, daß das ein ›A‹ war und das ein ›O‹, und wie sollte sie’s ihm erklären, daß, legt man zu eins noch eins, es zwei sind, wenn sie nicht lebhaft dabei wurde?! Sie ereiferte sich, sie nahm die Rechenmaschine und zählte dem Knaben die blauen und roten Kugeln vor, die wie runde Perlen an einer Schnur saßen; sie wurde heiß und rot dabei, fast heiser, und hätte zuletzt vor Ungeduld und Verzagtheit weinen mögen, wenn Wölfchen dasaß und sie mit seinen großen dunklen Augen so interesselos ansah und nach Stunden der Arbeit doch noch nicht wußte, daß eine Perle und noch eine Perle zwei Perlen sind.

Mit Schmerz sah sie’s ein, sie mußte den Unterricht aufgeben. »Beim Lehrer wird es schon besser gehen,« tröstete Schlieben. Und es ging besser, wenn man auch nicht gerade ›gut‹ sagen konnte.

Wolfgang war nicht faul. Aber seine Gedanken wanderten. Das Lernen interessierte ihn nicht. Er hatte andres zu denken: ob die letzten Blätter im Garten wohl gefallen sein würden, wenn er am Mittag aus der Schule nach Hause kam?! Und ob im nächsten Frühjahr der Star, dem er das Kästchen hoch oben in die Kiefer genagelt hatte, sich wohl wieder einfinden würde? Alle schwarzen Beeren hatte der abgepickt vom Holunderbaum und war dann fortgezogen mit Geschrei; wenn der nun keine Holunderbeeren mehr fand, was fraß er dann?! Und bange Sorge rüttelte des Knaben Herz – hätte er ihm doch noch ein Säckchen voll Beeren mitgegeben! –

Jetzt lag der Schnee auf den Kiefern des Grunewalds. [S. 84] Als Wolfgang heute morgen zur Schule gegangen war, das Ränzel auf dem Rücken, das Hausmädchen als Begleitung neben sich, hatte die weiße Decke unter seinen Stiefelchen geknirscht und geknackt. Es war sehr kalt. Und da hatte er einen Schrei gehört, einen hungrigen krächzenden Schrei. Das Hausmädchen meinte, es sei eine Eule gewesen – pah, was die wußte! Ein Rabe war’s, der hungrige Bettelmann im kohlschwarzen Röcklein, wie in der Fibel stand!

Und an den dachte jetzt der Knabe, als er in der Schulbank saß und mit großen Augen auf die Wandtafel starrte, an die der Lehrer Wörter schrieb, die man ergründen sollte. Wie angenehm mußte es jetzt unter den Kiefern sein! Da flog der Rabe und streifte mit seinen schwarzen Flügeln den Schnee von den Ästen, daß der stäubte. Wohin er dann fliegen mochte?! Wie dem Star, so eilten dem Raben die Gedanken nach, weit, weit fort! Des Knaben Blick erglänzte, seine Brust hob sich unter einem tiefen Atemzug – da rief ihn der Lehrer an.

»Wolfgang, schläfst du mit offenen Augen? Wie heißt das hier?!« Der Knabe fuhr zusammen, wurde rot, dann blaß und wußte nichts.

Die andern Jungen wollten sich totlachen – ›schläfst du mit offenen Augen?‹ – das war zu drollig gewesen!

Der Lehrer strafte nicht, aber Wolfgang schlich doch nach Hause, als hätte er Strafe bekommen. Vor dem Hausmädchen, das ihn immer abholen kam, hatte er sich versteckt – nein, mit der ging er heute nicht! Auch den Kameraden war er davongelaufen – mochten sie sich heute mal ohne ihn balgen, morgen würde er ihnen desto mehr Schneeballen aufbrummen!

Er ging ganz allein, bog von der Straße ab und wanderte planlos zwischen die Kiefern hinein. Er suchte den Raben, [S. 85] aber der war weit fort, und so begann auch er zu rennen, zu rennen, so rasch er nur konnte, riß den Tornister vom Rücken und schleuderte ihn mit einem lauten Schrei weit von sich in die breiten Äste der Kiefer hinein, daß er da hängen blieb, und nur Schnee in ganzen Stücken lautlos herunterklexte. Das machte ihm Spaß. Er raffte beide Hände voll Schnee, drehte feste Bälle und begann nun die Kiefer, die seinen Tornister gefangen hielt, regelrecht zu bombardieren. Aber sie gab den Tornister nicht her, und als er heiß und rot und müde war, aber sehr erheitert, mußte er ohne Ränzel nach Hause gehen.

Das Hausmädchen war längst da, als er ankam; mit rotem Kopf – so war sie nach ihm umhergerannt – und mit bösem Blick öffnete sie ihm die Tür. »Na,« sagte sie ärgerlich, »wohl nachsitzen müssen?«

Er stieß sie zur Seite: »Halt deinen Mund!« Sie war ihm unleidlich in diesem Augenblick, da er von draußen hereinkam, wo es so still, so frei gewesen war.

Die Eltern saßen schon bei Tisch. Der Vater betrachtete ihn mit Stirnrunzeln, die Mutter fragte mit sanftem Vorwurf, der nicht frei von Besorgnis war: »Wo bist du so lange gewesen? Lisbeth hat dich überall gesucht!«

»Nun?« Schliebens Stimme klang streng.

Der Knabe hatte keine Antwort gegeben, es war ihm auf einmal, als sei ihm die Zunge gelähmt. Was sollte er denen hier drinnen denn von draußen erzählen?!

»Er hat sicher in der Schule nachsitzen müssen, gnäd’ge Frau,« flüsterte das Hausmädchen beim Präsentieren der Bratenschüssel. »Ich werde es morgen schon von den andern Jungens ’rauskriegen und gnäd’ge Frau dann Bescheid sagen!«

»O du!« Der Knabe war aufgefahren; so leise sie das gelispelt hatte, er hatte es doch gehört. Der Stuhl polterte [S. 86] hinter ihm zu Boden, mit geballter Faust stürzte er auf das Mädchen los, packte es so gewaltig an, daß es gellend aufschrie und die Schüssel aus der Hand fallen ließ.

»Du Gans, du Gans!« Er heulte es laut heraus und wollte sie schlagen; nur mit Mühe zerrte ihn der Vater zurück.

»Wölfchen!« Käte war die Gabel klirrend aus der Hand gefallen, mit weiten Augen, ganz starr, sah sie auf ihren Jungen.

Das Mädchen beklagte sich bitter: so war er immer, es war nicht auszuhalten, vorhin hatte er erst gesagt: ›Halt dein Maul!‹ Nein, das konnte sie sich nicht gefallen lassen, lieber zog sie! Und weinend lief sie aus dem Zimmer.

Schlieben war empört. »Du sollst gegen Untergebene manierlich sein! Gerade weil sie dienen müssen, sollst du höflich sein! Hörst du?« Und er faßte den Jungen mit kräftiger Hand, zog ihn übers Knie und gab ihm die wohlverdienten Schläge.

Die Zähne zusammenbeißend, ohne Laut, ohne Träne, ließ Wolfgang die Strafe über sich ergehen.

Aber der Mutter fiel jeder Schlag aufs Herz. Sie war selber wie geschlagen, ganz wie zerschlagen. Als ihr Mann nach dem stürmischen Mittagessen seine Siesta hielt, rauchte, die Zeitung las und ein wenig dabei einnickte, schlich sie hinauf zur Kinderstube, in die der Junge eingeschlossen worden war. Ob er weinte?

Sachte drehte sie den Schlüssel – er kniete auf dem Stuhl am Fenster, die Nase platt an die Scheibe gedrückt, und sah aufmerksam hinaus in den Schnee. Er bemerkte sie gar nicht; da zog sie sich vorsichtig wieder zurück. Sie ging wieder hinunter, aber sie fand nicht die innere Ruhe, um in ihrem Zimmer zu lesen; auf leisen Sohlen, wie rastlos, glitt sie durchs Haus. Da hörte sie, mitten zwischen Tellergeklapper, [S. 87] in der Küche Lisbeth zur Köchin sagen: »Das lasse ich mir denn doch nicht gefallen! Von so ’nem Bengel nicht! Was hat denn der hier zu suchen?!«

Von einem lähmenden Schrecken befallen, stand Käte starr: was – was wußte die?! Es wurde ihr glühend heiß und dann eisig kalt. ›Von so einem Bengel nicht – was hat der hier zu suchen?‹ – o, um Gottes willen, so sprach die?!

Sie lief wieder hinauf zur Kinderstube; dort kniete Wölfchen noch immer am Fenster.

Hier hemmte noch keine Nachbarvilla die Aussicht: man sah von diesem Fenster aus ein großes Stück unbebautes Feld, auf dem sommers Löwenzahn und Brennessel zwischen wildem Hederich im Sande vegetierten, jetzt aber Schnee lag, hoch und rein, von keinem Fußtritt berührt. Es dunkelte schon der frühe Winterabend, nur dies weiße Feld schimmerte noch, und im bleichen Schein der Schneehelle dünkte der Mutter des Kindes Gesicht sehr blaß.

»Wölfchen!« rief sie sanft. Und dann: »Wölfchen, wie konntest du zu Lisbeth sagen: ›Gans‹ und ›Halte dein Maul?!‹ O pfui! Woher hast du das?!« Sie fragte es leise-traurig.

Da drehte er sich nach ihr herum, und sie sah, wie seine Augen brannten. Es flackerte darin wie eine geängstete, unruhige Sehnsucht.

Sie sah auch das, und ganz gegen alle Regeln der Pädagogik öffnete sie die Arme und flüsterte – als es ihr entflohen war, war ihr’s selbst nicht klar, warum sie es gesagt hatte, hatte er doch alles, alles, was sein Herz begehrte – flüsterte: »Du armes Kind!«

Und er lief in ihre Arme.

Sie hielten sich umfangen, Herz klopfte an Herz; sie waren beide traurig, aber keiner von ihnen wußte, warum [S. 88] er selber so traurig, und auch nicht, warum der andere so traurig war.

»Es sind nicht die Schläge,« murmelte er.

Sie strich ihm mit glättender Hand das straffe Haar aus der Stirn; sie fragte ihn jetzt nicht mehr. Denn – stieg dort aus dem Schneefeld nicht etwas auf, schwebte am Fenster empor und legte den Finger auf die Lippen: ›Still, nicht fragen, nicht daran rühren?!‹

Aber sie blieb bei ihm und spielte mit ihm, ihr war, als dürfe sie ihn heute nicht allein lassen. Ja, sie mußte sich von jetzt ab überhaupt noch mehr um ihn kümmern! Wie eine Last fiel es ihr plötzlich auf die Seele: sie hatte ihn schon viel zu viel sich selber überlassen! Aber dann tröstete sie sich wieder: er war ja noch so jung, er war ja noch ganz weiches Wachs, das sie formen konnte, wie sie wollte! So am Fenster stehen und mit so brennenden Augen hinaus ins öde Feld starren, durfte er nie mehr! Nach was sehnte er sich? Hatte er denn nicht Liebe die Fülle? Und alles andre, was ein Kinderherz erfreut?!

Sie sah sich um in seinem hübschen Zimmer; da waren so viele Spielsachen aufgestapelt: Eisenbahnen und Dampfschiffe, Bleisoldaten und Bilderbücher und die allerneuesten Spiele.

»Komm, wir wollen spielen,« sagte sie.

Da war er gleich dabei; sie erstaunte, wie rasch er seinen Kummer vergessen hatte. Gott sei Dank, er war doch noch ein ganz ahnungsloses, harmloses Kind! Aber mit welcher Unrast er die Spielsachen durcheinander warf! ›Das ist dumm‹ und ›das ist langweilig‹ – nichts fesselte ihn recht. Sie war bald ganz erschöpft von allem Vorschlagen und Anregen zu dem und jenem Spiel; sie glaubte nicht, daß sie je selber als Kind so schwer zu befriedigen gewesen war. Zehnmal schon [S. 89] hatte sie aufstehen wollen und fortgehen – nein, jetzt hielt sie’s wirklich nicht mehr aus, der Kopf war ihr ganz toll, ihre Nerven sträubten sich, es war wahrhaftig leichter, am Kochherd zu stehen oder Hausarbeit zu verrichten, als mit einem Kind zu spielen! – aber zehnmal hielt ihr Pflichtgefühl sie wieder fest und ihre Liebe.

Sie durfte ihn nicht allein lassen, denn – mit dumpfer Angst fühlte sie’s – denn dann kam jemand anders und nahm ihn ihr fort!

Blaß und abgemattet blieb sie bei ihm sitzen; er hatte sie sehr gequält. Zuletzt fand er, ganz vergessen im Winkel des Spielschranks, ein wolliges Schäfchen, ein nur mehr dreibeiniges, zerzaustes, altes Spielding aus seiner ersten Kinderzeit. Damit vergnügte er sich; das machte ihm mehr Spaß als die andern kostbaren Sachen. Wie ein ganz kleines Kind saß er auf dem Teppich, hielt das Schaf zwischen den Knieen und streichelte es.

Als er endlich im Bette lag, saß sie noch bei ihm und hielt ihm die Hand. Sie sang, wie sie ihn so oft eingesungen hatte:

»Schlaf, mein süßes Kind,
Draußen geht der Wind,
Höre, wie der Regen fällt
Und wie Nachbars Hündchen bellt!
Hündchen hat den Mann gebissen,
Hat des Bettlers Kleid zerrissen –«

Immer leiser hatte sie gesungen; jetzt glaubte sie ihn eingeschlafen, da riß er ungestüm seine Hand aus der ihrigen: »Hör auf mit dem Lied! Ich bin kein kleines Kind mehr!«


Es war ein Glück, daß es in der Grunewaldkolonie keine Straßenjungen gab, sonst hätte Wölfchen sicherlich mit [S. 90] denen gespielt; so waren es doch nur Portierkinder. An besserem Verkehr fehlte es ihm freilich nicht; von Schulkameraden, deren Eltern gleich den seinen in Villen wohnten, wurde er eingeladen, und auch die Berliner befreundeten Familien, die es gerne sahen, wenn ihre Kinder an Ferientagen hinaus konnten in den Grunewald, forderten ihn zu fleißigem Besuche auf.

Alle Kinder kamen gern in den schattigen Garten, wo Tante Schlieben immer so freundlich war. Kuchen und Obst gab’s da genug und Reifen und Bälle und Krocket und Tennis, Kegel und Turngeräte. An sonnigen Nachmittagen stieg helles Gelächter und Gekreisch bis hoch hinauf in die grünen Wipfel der Kiefern, aber – Frau Käte sah’s mit Befremden – ihr Junge, der sonst doch immer so wilde, war dann der stillste. Er machte sich nichts aus dem Besuch. Die Knaben in weißen und blauen Matrosenanzügen, deren frische Gesichter sich so wohlgesittet über blendenden Kragen erhoben, waren ihm nicht lieb; er gewann keine rechte Fühlung mit ihnen. Am liebsten wäre er davongelaufen, da weit draußen hin, wo niemand anders ging, als ab und zu mit einem großen Sack ein Strolch, der mit seinem Drahthaken jedes Stullenpapier wendete, um zu sehen, ob vom Sonntag nicht vielleicht doch etwas Kostbares übrig geblieben sei. Dem hätte er gern geholfen. Oder Kienäpfel in den großen Sack gesammelt.

Aber Freunde hatte Wolfgang doch auch. Da war Hans Flebbe – sein Vater war Kutscher bei dem Bankier, der schrägüber die prachtvolle Villa hatte und im Winter in der Bellevuestraße in Berlin wohnte –, da waren auch noch Artur und Frida; aber deren Eltern waren nur Portierleute in einer Mietvilla, die von verschiedenen Parteien bewohnt wurde.

Sobald diese drei aus der Schule nach Hause gekommen waren, fanden sie sich vor der Schliebenschen Villa ein; sie [S. 91] waren nicht wegzutreiben, geduldig warteten sie, bis Wolfgang sich zu ihnen gesellte.

»Mit meinem Hans ist er wie ’n Bruder,« pflegte der Kutscher zu sagen und Wolfgang immer mit einem ganz besonders herablassenden Peitschenschwippen hoch vom Bock zu begrüßen. Und die Portierleute stellten befriedigend fest: »Was er, der olle Schlieben is, der faßt immer an ’n Hut, und sie, die Jnädige, jrüßt auch immer sehr freundlich, aber was der Kleene is, der is doch noch janz anders!«

Es waren wilde Spiele, bei denen Frida ganz als Junge gerechnet wurde, die die vier Kameraden spielten: Nachlaufen, Versteck, am liebsten Räuber und Gendarm. Ha, wie Wolfs, des Räuberhauptmanns, Augen funkelten, wenn er dem Gendarmen, Hans Flebbe, einen Tritt gegen den Bauch gab, daß er hintenüber zu Boden fiel und vor Schmerz eine Weile starr liegen blieb.

»Ich habe ihn erschossen,« sagte er stolz zu seiner Mutter.

Käte, durch das wilde Schreien der Kinder, die auf dem unbebauten Feld der Villa rasten, ans Fenster gerufen, hatte ihren Knaben hereingewinkt. Widerwillig war er gekommen; aber er war doch gekommen. Jetzt stand er atemlos vor ihr, und sie strich ihm das feuchte Haar aus dem schweißüberströmten Gesicht: »Wie siehst du aus?! Und hier – sieh mal!«

Vorwurfsvoll wies sie auf seine weiße Bluse, die war von oben bis unten beschmutzt. Wo um alles in der Welt nur hatte er sich gesielt, es gab ja hier gar nicht solche Pfützen?! Und die Hose! Das rechte Bein war der Länge nach aufgeschlitzt, das linke zeigte am Knie ein dreieckiges Loch.

Pah, das machte nichts! Schon wollte er wieder fortstürmen, er zitterte vor Ungeduld: die Kameraden hockten ja hinterm Busch, die trauten sich nicht eher heraus, als bis er, [S. 92] ihr Hauptmann, wieder bei ihnen war! Er wehrte sich gegen die haltende Hand; aber sein Sträuben half diesmal nichts, der Vater kam aus dem Nebenzimmer.

»Du bleibst hier! Pfui, schäme dich, dich der Mutter zu widersetzen! Marsch, auf dein Zimmer, mach deine Schularbeiten für morgen!«

Schlieben sagte es barsch. Es hatte ihn empört, zu sehen, wie der Junge sich mit Händen und Füßen der zarten Frau widersetzte.

»Du Rüpel, ich will dich lehren, wie man mit seiner Mutter umgeht! Hier« – er packte ihn ins Genick und schleifte ihn wieder näher heran – »hier, bitt ab, küsse der guten Mutter die Hand! Und versprich, daß du nicht mehr so wildern wirst, wie ein Straßenjunge! Voran – nun, wird’s bald?!«

Die Zornesader auf des Mannes Stirn fing an zu schwellen. War das ein bockiger Bengel! Da stand er, die Bluse vorn auseinander gerissen, daß man das Fliegen der verschwitzten Brust sah – noch hatte er nicht ruhigen Atem gefunden, er keuchte noch vom wilden Lauf – und sah so verwildert aus, so verwüstet, so gar nicht wie guter Leute Kind! Das ging nicht länger so!

»Du wirst nicht mehr so toben – nie mehr – hörst du?« sprach der Vater streng. »Ich verbiete es; spiele andre Spiele! Du hast einen Garten, Turngeräte, hundert Sachen, um die dich andere beneiden würden. Und jetzt voran, bitte ab!«

Der Knabe ging zur Mutter. Sie kam ihm auf halbem Wege entgegen, sie hielt ihm schon die Hand hin. Er küßte diese, er murmelte auch: »Ich will es nicht wieder tun,« aber Schlieben hörte keine Reue heraus. Es war etwas in dieser verdrossenen Art, das ihn reizte. Und er ließ sich hinreißen. [S. 93]

»Das war keine Abbitte! Wiederhole die Bitte um Verzeihung – und deutlich!«

Der Knabe wiederholte sie.

»Und nun versprich, daß du nicht mehr so toben wirst! ›Liebe Mutter, ich verspreche‹ – nun?!«

Kein Wort, kein Versprechen.

»Was soll das heißen?« Außer sich schüttelte Schlieben den Jungen. Der aber preßte die Lippen aufeinander. Von unten herauf traf ein Blick seiner dunklen Augen den Vater.

Frau Käte fing den Blick auf – o Gott, das war der Blick – jener Blick – der Blick des Weibes!

Schützend hielt sie beide Arme über den Knaben: nicht, nicht, o, nicht ihn reizen! Sie zog ihn näher zu sich und legte ihre Hände über seine Augen, daß er sie schließen mußte, und flehte dabei mit den Blicken ihren Mann an: Geh, geh du!

Schlieben ging, aber er schüttelte unwillig den Kopf. »Du wirst sehen, was du aus dem Jungen erziehst!« Drohend hob er noch einmal die Hand: »Junge, ich sage dir, du wirst parieren!« Und dann machte er die Tür hinter sich zu – nicht einmal seine Mittagsruhe konnte man mehr ungestört halten!

Vom Nebenzimmer aus hörte er die Stimme seines Weibes. Die klang so weich und dabei zitternd, wie in geheimer Angst: »Wölfchen, Wölfchen, bist du nicht mein gutes Kind?«

Keine Antwort. Herr des Himmels, dieser fühllose Rüpel, hatte er auf diese Frage, in diesem Ton, keine Antwort?!

Nun wieder die weiche, zitternde Stimme: »Willst du denn nicht mein gutes Kind sein?«

Wenn der Bengel jetzt nicht antwortete, dann –! Dem wider Willen Zuhörenden stieg das Blut zu Kopf, es zuckte [S. 94] in seinen Fingern, er wollte aufspringen, wieder hineineilen und – aha, jetzt mußte er geantwortet haben! Freilich wohl nur durch ein stummes Nicken, aber Kätes Stimme klang innig erfreut: »Siehst du, ich wußte es ja, du bist mein gutes Kind, mein geliebtes Kind, mein – mein –!«

Nun, das war wahrhaftig auch nicht vonnöten, daß, nachdem der Junge eben noch so ungezogen gewesen war, Käte jetzt solche Liebestöne an ihn verschwendete! Und geküßt mußte sie ihn haben, umarmt! Ihre Stimme war erstorben wie in einem zärtlichen Hauch.

Nun hörte Schlieben gar nichts mehr; kein Rauschen ihres Kleides, keinen Laut – aha, jetzt flüsterte sie wohl in ihn hinein?! Wie sie den Bengel verwöhnte!

Doch jetzt – ein leises Weinen! War das noch Wolfs etwas harte, trotzige Knabenstimme? Wirklich, er weinte jetzt laut, und unterm Schluchzen stieß er kläglich hervor, kaum, daß man’s verstehen konnte: »Ich mußte ihn – aber doch erschießen – er ist doch der Gendarm!«

Und nun war alles wieder still. Schlieben nahm die Zeitung auf, die er vorhin weggeworfen hatte, und begann zu lesen. Aber er war nicht recht bei der Sache, hartnäckig wanderten seine Gedanken immer wieder ins Nebenzimmer. War der Bengel nun vernünftig, sah er seine Ungezogenheit ein? Und war Käte nicht gar zu schwach?! Es war nichts, gar nichts mehr zu hören. Oder doch – knarrte jetzt drinnen nicht die Tür? Nein, Täuschung, alles still!

Nachdem Schlieben noch eine Weile gewartet hatte, ging er hinüber. Da war es in der Tat sehr still, denn Käte war ganz allein. Sie saß am Fenster auf dem erhöhten Tritt, hatte die Hände in den Schoß gelegt und sann vor sich hin. Sie schien ganz abwesend.

»Wo ist der Junge?« [S. 95]

Erschrocken fuhr sie zusammen und hob wie abwehrend beide Hände.

Nun sah er, daß sie blaß war. Der Ärger mit dem Jungen hatte sie doch wohl sehr angegriffen – wart, das sollte er büßen, doppelt so viel Exempel rechnete er heute zur Strafe!

»Ist der Junge bei der Arbeit?«

Sie schüttelte den Kopf und errötete. »Nein!«

»Nein –?! Warum denn nicht?« Er sah sie sehr erstaunt an. »Habe ich ihm denn nicht gesagt: sofort an die Arbeit?!«

»Das hast du gesagt. Aber ich habe ihm gesagt: lauf! – Paul, sei nicht böse!« Sie sah, daß er auffahren wollte und legte beschwichtigend die Hand auf seinen Arm. »Wenn du mich lieb hast, laß ihn! Ach, Paul, glaube mir, glaube mir doch: er kann ja nicht dafür, er muß sich ausrennen, austoben, draußen sein – er muß!«

»Du hast immer Entschuldigungen! Denke doch nur an die Geschichte mit dem Tornister, aus seiner ersten Schulzeit – oben in die Kiefer hatte der Bengel den geworfen. Hätte nicht zufällig ein Arbeiter den Ranzen entdeckt und zu uns gebracht, weil er den Namen auf der Fibel las, hätten wir lange suchen können. Du hast es entschuldigt – nun, das war auch weiter nichts Schlimmes – ein Übermut – jetzt entschuldigst du aber ganz anderes! Und alles!« Der seiner Frau sonst so nachgiebige Mann erzürnte sich in seiner ernstlichen Besorgnis. »Ich bitte dich, Käte, sei nicht so unglaublich schwach mit dem Jungen! Wo soll das hin mit ihm?«

»Dahin!« Ernst zeigte sie auf ihn und sich. Und dann, mit einem Ausdruck tief-innerster Empfindung legte sie die Hand auf ihr Herz.

»Wieso? Ich verstehe dich nicht! Bitte, habe die Güte, [S. 96] dich etwas deutlicher auszudrücken, zum Rätselraten bin ich nicht gelaunt!«

»Wenn du’s nicht errätst, wirst du’s auch nicht verstehen, wenn ich es deutlicher sage!« Sie senkte den Kopf, und dann nahm sie wieder ihren früheren Platz ein; aber sie sann nicht mehr vor sich hin, sondern es schien ihm, als lausche sie mit geneigtem Ohr dem gellenden Triumphgeschrei, das hinterm Haus von dem wüsten Feld her bis übers Dach stieg.

»Du wirst nie mit dem Jungen fertig werden!«

»O, ich werde schon!«

»Natürlich, wenn du ihm allen Willen läßt!« Mit eiligem Schritt ging Schlieben aus dem Zimmer; der Unwille wollte ihn übermannen.

Vielleicht zum ersten Mal in seiner Ehe war Schlieben ernstlich böse auf seine Frau. Wie konnte Käte so unvernünftig sein?! Seinen Befehl so wenig beachten, als wäre der gar nicht gegeben – ja, sich in direkten Gegensatz zu ihm stellen?! O, der Bengel war schlau genug, der zog schon seine Schlüsse daraus! Und tat er’s noch nicht, so fühlte er doch instinktiv, welchen Rückhalt er an der Mutter hatte. Es war geradezu unglaublich, wie schwach Käte war!

Die weiche, sensitive Art, die den Mann zuerst an seiner Frau entzückt hatte, die den gleichen Zauber für ihn behalten hatte alle die Jahre hindurch, dünkte ihn jetzt auf einmal übertrieben – kindisch. Ja, kindisch war diese Ängstlichtuerei, diese ewige Angst vor dem, was vorbei und vergessen war! Von der Mutter hatten sie doch nie mehr etwas gehört, warum deren Schatten denn bei jeder Gelegenheit wieder heraufbeschwören? Geburtsschein und Taufattest des Jungen hatte man doch sicher in Händen, und das Venn war weit – er würde es nie sehen – warum denn nur immer das zitternde Bangen? Es lag gar kein Grund dazu vor. Sie lebten in [S. 97] so angenehmer Umgebung, Wolf wuchs in so geordneten Verhältnissen auf, besaß alles, was ein Kindergemüt ausfüllt und beglückt, daß es eine wahr Manie von Käte war, bei ihm eine Art von Heimatsehnsucht vorauszusetzen. Wie sollte er überhaupt dazu kommen? Er hatte ja gar keine Ahnung, daß hier eigentlich nicht seine Heimat war. Es war traurig mit Kätes Überempfindlichkeit – wahrhaftig, die Frau konnte einen mit nervös machen!

Und Schlieben fuhr sich über die Stirn, wie um unliebsame Gedanken mit einer Handbewegung fortzuscheuchen. Er zündete sich eine Zigarre an; heute eine extra feine, die er sonst seinen Gästen überließ, er hatte das Gefühl, sich über eine unangenehme Stunde forthelfen zu sollen. Denn unangenehm, wirklich unangenehm und schwierig blieb die Sache doch, wenn er auch hoffte, schon auf die richtige Lösung der Frage zu kommen: wie erzieht man solch ein Kind? Jedenfalls nicht so, wie Käte es tat! Das war ihm schon jetzt klar.

Blaue Rauchkringel in die Luft blasend, saß Schlieben in der Sofaecke seines Arbeitszimmers. Seine Stirn blieb gerunzelt. Da war er heute recht abgespannt aus dem Kontor gekommen, hatte allerlei Verwicklungen gehabt – Ärger genug – hatte eilige Briefe diktieren müssen, sich keine Pause gegönnt, und hatte nun zu Hause ein angenehmes Ausruhen erhofft – vergebens! Merkwürdig, wie ein einziges Kind den ganzen Haushalt, das ganze Leben verändert! Wenn der Junge nun nicht da wäre – – –?! Ja, dann hätte er jetzt eine friedliche kleine Mittagsruhe – ausgestreckt auf dem Diwan, die Zeitung vorm Gesicht – hinter sich und ginge nun zu Käte hinüber, um bei ihr in höchst gemütlichem Tête-à-tête den Kaffee zu trinken, den sie mit so viel Anmut in der summenden Wiener Maschine selber bereitete. Er hatte immer [S. 98] so gern still zugesehen, wie ihre schlanken, gepflegten Hände sich geräuschlos dabei bewegten. Schade!

Er seufzte. Aber dann bezwang er sich: nein, einer augenblicklichen Verdrießlichkeit wegen durfte man ihn nicht wegwünschen! Wie viel frohe Stunden hatte ihnen das kleine Wölfchen doch bereitet! Es war reizend gewesen, seine ersten Schritte zu beobachten, seine ersten zusammenhängenden Worte zu belauschen. Und war nicht Käte in seinem Besitz so glücklich – oho, wer sagte da: glücklich gewesen ?! – sie war es ja noch! Es ging ihr nichts über den Jungen. Und daß der Stunden des ungetrübten Beglücktseins durch ihn jetzt nicht mehr ganz so viele waren als vormals, das war ja nur natürlich. Er war eben nicht mehr das Bübchen, das dort, dort drüben aus jener Ecke bis hierher zum Sofa den ersten kühnen Lauf gewagt und, jauchzend über den eignen Wagemut, des Vaters Bein umklammert hatte. Er fing jetzt an, ein selbständiger Mensch zu werden, einer mit eignen Wünschen, nicht mehr mit solchen, die in ihn hineingetragen worden waren; ureigne Willensäußerungen gaben sich kund. Jetzt wollte er dies und wollte jenes und nicht nur mehr das, was die Erzieher wollten. War das aber nicht natürlich? Überhaupt, wenn ein Kind erst in die Schule geht, was stellt sich da nicht alles ein?! Man mußte Nachsicht haben, wenn man sich nicht auch gleich die ganze Lebensführung beeinflussen lassen wollte – erst die Eltern, dann das Kind!

Schlieben fühlte, wie er sich nach und nach beruhigte. Ein Junge – welche Unsumme von Wildheit, Rüpligkeit, Ungebundenheit, ja Ungebärdigkeit ist nicht in dem Wort mit einbegriffen! Und alle, alle, die jetzt Männer waren, waren einst doch auch Jungen!

Die Zigarre ging ihm aus; er hatte vergessen, daran zu ziehen. Mit einem eigentümlich milden Gefühl, das nicht [S. 99] frei von einer leisen Sehnsucht war, gedachte Schlieben der eignen Knabenzeit. Nur ehrlich: hatte er nicht auch getobt und gelärmt, sich beschmutzt, erhitzt und Hosen zerrissen und dumme Streiche gemacht, mehr als genug?!

Wunderbar, wie genau er sich jetzt auf einmal einzelner Strafpredigten erinnerte und der Tränen, die er der Mutter ausgepreßt hatte; auch noch sehr deutlich der Tracht Prügel, die er einmal für eine Lüge erhalten hatte. Sein Vater hatte dazumal gesagt – plötzlich war’s ihm, als hörte er die Stimme, die sonst gar nicht sonderlich feierlich, sondern recht alltäglich geklungen hatte, jetzt aber durch den Ernst geadelt wurde, hier in der Stube widerhallen –: ›Junge, alles kann ich dir verzeihen, nur das Lügen nicht!‹ Ah, es war damals recht unerquicklich gewesen in dem engen Kontor, wo der Vater am hölzernen Stehpult lehnte und den Stock auf dem Rücken hielt. Das Käppchen, das er seiner Glatze wegen trug, hatte er in der Erregung schief geschoben, seine blauen freundlichen Augen blickten scharfspähend und zugleich betrübt.

›Alles kann man verzeihen, nur das Lügen nicht‹ – ei, hatte der Junge, der Wolfgang, denn gelogen?! Bewahre! Einfach ungezogen war er gewesen, wie es auch die besten Kinder einmal sind!

Schlieben fühlte eine Beschämung: und er, er wollte dem Jungen diese einfache Ungezogenheit so übel nehmen?!

Er stand vom Sofa auf, stieß den Rest seiner Zigarre in den Aschenbecher und ging hinaus, um sich nach Wolfgang umzusehen.

Er traf die vier im vollen Glück des Spiels. Sie hatten sich ein Feuerchen angezündet auf dem unbebauten Land dicht hinterm Gartengitter, so daß die überhängenden Büsche des Gartens sie wie ein Dach beschützten.

Eng hockten sie zusammen; sie waren jetzt im Lager. [S. 100] Frida hielt Kartoffeln in der Schürze, die in der Asche gebraten werden sollten; aber das Feuerchen wollte nicht brennen, das Reisig schwelte nur. Wolfgang lag bäuchlings auf der Erde und blies, auf die Ellenbogen gestützt, mit aller Kraft seiner Lungen. Aber die reichte doch nicht aus, das Feuer wollte und wollte nicht brennen.

Leise war Schlieben herangekommen, in ihrem Eifer hatten die Kinder ihn gar nicht bemerkt. »Will’s nicht brennen?« fragte er.

In einem heftigen Emporschnellen war Wolfgang sofort auf den Füßen. Er war rot und frisch gewesen, nun wurde er blaß, sein offener Blick senkte sich scheu, ein trübseliger Ausdruck verlängerte sein rundes Kindergesicht und ließ ihn älter erscheinen.

»Muß ich ’reinkommen?« Es klang kläglich.

Schlieben überhörte die Frage mit Absicht; er hatte ihn eigentlich hereinholen wollen, aber nun zögerte er plötzlich zu sagen: ja. Es war doch hart für den Jungen, nun fortzumüssen, ehe das Feuerchen brannte, ehe die Kartoffeln gebraten waren! So sagte er nichts, sondern bückte sich, und als er doch noch nicht tief genug herabkam, kniete er nieder und blies mit dem vollen Odem seiner breiten Brust in das schwach-knisternde Gezweig. Sofort sprühten Funken, und ein aufzüngelndes Flämmchen wurde rasch zur Flamme.

Ein Jauchzen stieg auf. Frida hüpfte im Kreis, ihre Zöpfe flogen: »Et brennt, et brennt!« In ihren Jubel stimmten Artur und Hans mit ein; auch sie hüpften von einem Fuß auf den andern, klatschten in die beschmutzten Hände und schrieen gellend: »Et brennt, et brennt!«

»Kinder, Ruhe!« Schlieben war amüsiert durch diese Seligkeit. Er kommandierte: »Reisig her, aber recht trockenes,« selber von einem Eifer erfaßt, diese noch unsichere, bald [S. 101] sich duckende, bald hoch aufflackernde Flamme zu erhalten. Er blies und stocherte und feuerte nach; der Wind trieb ihm den Rauch ins Gesicht, daß er husten mußte, aber er wischte sich die tränenden Augen und hatte auch nicht acht, daß sein Beinkleid vom Knieen auf dem Grund grünlich-nasse Flecke bekam und etwaige Vorübergehende sich sehr wundern würden, Herrn Paul Schlieben bei solcher Beschäftigung zu sehen. Es machte ihm jetzt selber Spaß, unterm blaßblauen Herbsthimmel, an dem die weißen Wolken flogen und die Schwalben zwitschernd dahinschossen, ein Kartoffelfeuerchen zu unterhalten. Er hatte so etwas nie gekannt – war er doch ein Stadtkind – aber es war schön, wirklich schön!

Die Kinder trugen Reisig zu, Wolfgang nahm’s und brach es überm Knie – knack – die Stecken sprangen wie Glas. Wie der Junge das im Griff hatte!

Hoch loderte die Flamme, eine behagliche Wärme strömte vom Feuerchen aus: da mußte man sich die Hände dran wärmen können – wahrhaftig, es tat gut!

Und dann folgte des Mannes Auge dem Rauch, den der Wind vom Acker aufhob, einem leichten Wölkchen gleich. Grau erschien erst das Wölkchen, doch je höher es flog, desto lichter wurde es, freundlicher Sonnenschein durchschimmerte es verklärend. Es schwebte hinauf, immer hinauf, immer körperloser, ungreifbarer, bis es ganz verflog – ein Ahnen, ein Hauch.

Es war nun an der Zeit, die Kartoffeln einzubuddeln; Wolfgang war geschäftig dabei. Man hatte nicht mehr geschürt, die Flamme war zusammengesunken, aber die Asche barg die ganze Glut. Mit großen Augen standen die Kinder herum, ganz still, fast den Atem anhaltend, und doch zitternd vor Erwartung: wann würde die erste Kartoffel gar sein?! Ah, roch es nicht schon so gut?! Witternd blähten sie die [S. 102] Näschen. Aber Schlieben klopfte jetzt seine Beinkleider ab und schickte sich zum Gehen an – es würde doch zu lange dauern, bis die Kartoffeln fertig waren! Fast empfand er etwas wie Bedauern. Aber es ging wirklich nicht, daß er noch länger hier umherstand, was sollten die Leute eigentlich von ihm denken?!

Schlieben hatte sich jetzt selber wiedergefunden. »Genug jetzt,« sagte er, und dann ging er, sorgsam die aufgebuddelten, unwegsamen Stellen des Feldes vermeidend. Da hörte er Tritte dicht hinter sich. Er drehte sich um: »Wolf?! Nun, was willst du?«

Die dunklen Augen des Knaben sahen ihn traurig an.

»Gehst du auch nach Hause?« Ein Erstaunen lag in Schliebens Frage – er hatte doch gar nicht gesagt, daß der Junge mitkommen sollte?!

Ein herrlicher Duft kam von den Kiefern her, die Luft atmete sich so frei, so leicht, und dieser blaßblaue Himmel mit den gewischten weißen Wolken, hatte etwas so ungemein Klares, den Blick Erhellendes. Weiße Fäden flogen über Land, vom reinen Ost getrieben, hingen sich an grünbenadelte Äste und schimmerten da wie Elfengespinst. Und die Sonne war noch angenehm warm, ohne zu brennen, und ein kräftigender, bitterlich-herber Geruch strömte von den goldfarbenen Blättern der Büsche, die die Rückseiten der Gärten abschlossen.

Der Mann holte tief Atem; ihm war, als sei er plötzlich um zehn, um zwanzig – nein, um dreißig Jahre jünger. Um mehr noch!

»Na, lauf nur,« sagte er.

Der Knabe sah ihn an, als habe er ihn nicht recht verstanden.

»Lauf,« sagte er noch einmal kurz und bündig und lächelte dabei. [S. 103]

Da stieß der Junge einen Schrei aus, einen so gellend-jauchzenden Schrei, daß die Kameraden, die auf den Hacken ums Kartoffelfeuerchen kauerten, sofort mit einstimmten, ohne zu wissen warum.

Im dunklen Auge des Knaben, der die Freiheit liebte, die freie Luft, den freien Lauf, flammte es auf. Er sagte es nicht, daß er beglückt war, aber er schöpfte so tief Atem, als fiele ihm eine Last von der Brust. Und Schlieben sah auf dem Gesicht, das jetzt anfing sich zu vergröbern, die weiche Rundung der Kindlichkeit im Mager-Jungenhaften zu verlieren, einen Zug, der es fein und schön machte.

Blitzschnell, wie aus straffem Bogen geschnellt, flog Wolfgang zurück übers Feld.

Schlieben ging in seinen Garten zurück; vorsichtig, damit sie nicht knarrte, öffnete er die Gittertür und schloß sie ebenso leise wieder – Käte brauchte es nicht zu wissen, wo er gewesen war! Aber da stand sie schon am Fenster.

Es war etwas rührend Ratloses in ihrer Haltung, ein bängliches Forschen in ihrem Blick – nein, sie brauchte ihn so nicht anzusehen, er war ihr nicht böse!

Und er nickte ihr zu.

Als das Hausmädchen fragte, ob der Herr nicht wisse, wo der Junge sei, schon dreimal habe sie nun die Milch warm machen lassen und auf- und abgetragen, sagte er fast kleinlaut, mit einer Entschuldigung im Ton: »Na, das ist ja nicht so schlimm, Lisbeth! Wärmen Sie sie nachher zum vierten Mal – es ist ihm so gesund draußen!«


[S. 104]

Zweites Buch


1

Frida Lämke feierte ihren zehnten Geburtstag. »Därfst du kommen, kriegen wer Kuchenschnecken mit Rosinen, aber därfst du nich kommen, jibt’s nur Schrippen wie alle Tage,« sagte sie zu ihrem Freund Wolfgang. »Sieh man zu, det se dir lassen!« Es lag ihr am meisten daran, daß Wolfgang kam; wegen Flebbe wurden keine Unterschiede gemacht, obgleich der immer sagte, sie wäre seine Braut.

Und Wolfgang quälte seine Mutter. »Laß mich doch hingehen – warum denn nicht? Ich möchte doch so gern – warum denn nicht?!«

Ja, warum denn nicht?! Mit diesem Warum lag er ihr seit vierundzwanzig Stunden in den Ohren; es zermürbte sie ganz. Was sollte sie ihm sagen – daß ihr Frida mißfiel? Aber was hatte das Mädchen denn eigentlich getan, daß es ihr mißfiel? Nichts! Es knickste immer höflich, war stets ordentlich gekleidet, hatte sogar das blaue Band mit einer gewissen Anmut in den blonden Zopf geflochten. Die Eltern waren auch ganz respektable Leute, und doch – immer trieben sich diese Kinder auf der Straße herum, jederzeit, sommers und winters! Man mochte vorbeikommen, wann man wollte, immer waren die Lämkes vor der Tür! War es die Straße selber, die sie aus diesem stupsnasigen, für sein Alter sehr entwickelten Mädchen ansah? Nein, zu diesen Leuten hingehen, [S. 105] ins Haus, hinuntersteigen in diese Atmosphäre der Portierstube, nein, das durfte er nicht!

»Ich möchte nicht, daß du hingehst,« sagte sie. Sie hatte doch nicht das Herz, diesen bittenden Augen gegenüber zu sagen: ›Ich will es nicht!‹

Und das Kind ersah seinen Vorteil. Es fühlte deutlich: ›sie kämpft mit sich‹, und mit einer grausamen Hartnäckigkeit verfolgte es seinen Wunsch.

»Laß mich doch – ach, laß mich doch! Ich bin aber sehr traurig, wenn ich nicht darf. Dann hab ich zu nichts mehr Lust. Warum soll ich denn nicht? Mutti, ich will dich auch so liebhaben, wenn du mich gehen läßt – laß mich – ja? Ich will aber doch!«

Sie konnte sich nicht mehr retten vor ihm, er ging ihr nach auf Schritt und Tritt, er faßte ihr Kleid, und – wenn sie’s ihm auch verwies, die Bitte noch öfter zu wiederholen –, sie fühlte es, er dachte doch unablässig das eine. So zwang er sie.

Schlieben verhielt sich weit weniger ablehnend gegen diese Einladung von Lämkes. »Warum nicht? Es sind ja ganz anständige Leute. Das schadet dem Jungen nichts, wenn er auch mal in die Kreise hineinguckt. Ich bin auch als Junge zu unsern Leuten in die Wohnung gekommen. Und warum denn nicht?!«

Sie wollte sagen, ›Das war auch etwas ganz andres, bei dir hatte es keine Gefahr‹ – aber dann besann sie sich und sagte es nicht. Sie wollte ihm nicht schon wieder mit ihren Befürchtungen, ihren Zweifeln, ihrer geheimen nagenden Angst kommen, die keinen greifbaren Grund hatte, sich nicht deutlich machen ließ, wie man am Ende jede andre Empfindung erklären kann. Wie ein sinkender Nebel schwebte stets etwas über ihr. Aber warum es ihm sagen?! Sie wollte sich weder [S. 106] darüber schelten noch darüber auslachen lassen; beides würde ihr gleich empfindlich sein. Er war ja nicht mehr so wie früher! O – sie empfand es mit einer leisen Bitterkeit – hatte er sie doch vormals verstanden! Jede Regung, jede Schwingung ihrer Seele hatte er mitgefühlt. Dieses ahnende Verstehen war ihm abhanden gekommen – oder verstand sie ihn vielleicht nicht mehr?!

Aber er war doch noch ihr lieber Mann, ihr guter, getreuer, den sie liebte wie sonst auf der Welt nichts mehr – nein, den sie so liebte, wie sie Wölfchen liebte! Das Kind, ach, das Kind, das war die Sonne, um die sich ihr Leben drehte!

Wenn Paul doch noch so wäre, wie er früher gewesen war! Sie mußte ihn jetzt so oft heimlich ansehen und sich mit einer gewissen Verwunderung auch in seine äußere Persönlichkeit hineinfinden. Nicht daß ihm das Breiterwerden schlecht stand; die Fülle, die seine schlanke Gestalt mit der einst etwas steifen, immer korrekten Haltung angenommen hatte, paßte zu seinen Jahren, zu den silbrigen Fäden, die im Bart und an den Schläfen zu schimmern begannen. Paßte zu der bequemen Samtjoppe, die er jetzt immer anzog, sowie er nach Hause kam, paßte zu seinem ganzen Wesen. Merkwürdig, daß jemand ein so praktischer Mensch werden konnte, dem früher alles Geschäftliche lästig, ja, höchst zuwider war! Jetzt würde er nicht mehr das fremde Kind aus dem Venn auflesen, und – einen langen Blick heftete Käte auf den Gatten –, jetzt würde er’s nicht mehr bei sich aufnehmen wie eine Gabe aus Märchenland!

Ob die Jahre auch sie so verändert hatten?! Ihr Spiegel zeigte ihr keine zu große Veränderung. Da war noch ganz dieselbe mädchenhafte Figur, die doppelt zart erschien neben der Behäbigkeit des Gatten. Noch war ihr Haar blond, und sie errötete noch wie ein junges Mädchen, dem schon ein streifender [S. 107] Blick das leicht bewegliche Blut unter die zarte Haut treibt. Ja, äußerlich war sie noch jung geblieben! Aber innerlich überkam sie doch oft eine Müdigkeit. Wolf machte ihr den Kopf gar so warm. Eine Mutter, die zehn, fünfzehn Jahre jünger war als sie, die würde es vielleicht nicht gleich ihr empfinden, wieviel Kräfte solch ein Kind kostet! Würde die nicht noch lachen, wenn es ihr schon zum Weinen war?

O Gott, welch ungestüme, unerschöpfliche Lebenskraft war in diesem Jungen! Sie war erstaunt, verwirrt, erschöpft davon. Wurde er denn nicht müde? Immer auf den Beinen, um sechs schon auf, immer heraus, heraus! Schon um Tagesgrauen hörte sie ihn sich rastlos werfen. Er schlief neben ihnen, die Verbindungstür nach seinem Zimmer blieb immer auf, obgleich ihr Mann darüber schalt: der Junge wäre groß genug, brauchte die Aufsicht nicht. Nachts wenigstens könnte man sich die Störung ersparen!

Aber sie wollte, sie mußte auch seinen Schlaf bewachen. Oft hörte sie ihn sprechen im Traum, so tief Atem holen, als beenge ihn etwas. Dann schlüpfte sie aus dem Bett, leise, leise, damit ihr Mann sie nicht hörte, zündete kein Licht an, suchte sich tastend, auf bloßen Füßen, den Weg ins Nebenzimmer. Und dann stand sie an seinem Bett. Noch hatte er das hübsche Gitterbett seiner ersten Knabenjahre – aber wie lange noch, und dies Bett war zu klein?! Wie er wuchs, so unheimlich schnell! Vorsichtig, mit leichter Hand, fuhr sie über seine Decke und fühlte darunter den langgestreckten Knabenleib. Jetzt warf er sich, stöhnte, bäumte sich auf wie einer, der gegen etwas anringt. Was hatte er nur? Jetzt sprach er undeutlich. Von was träumte er denn so lebendig? Er schwitzte über und über.

Wenn sie ihn nur sehen könnte! Aber sie traute sich nicht, Licht zu machen. Was sollte sie ihrem Mann sagen, [S. 108] wenn er, vom Lichtschein geweckt, sie fragen würde: ›Was machst du denn da –?‹ Und Wölfchen würde auch aufwachen und fragen: ›Was willst du denn?‹

Ja, was wollte sie denn eigentlich?! Darauf wußte sie sich keine bestimmte Antwort. Wissen hätte sie nur mögen, was seine Seele im Traum so beschäftigte, daß er seufzte und rang. Von was träumte er? Von wem?! Wo war er im Traum?!

Zitternd stand sie auf ihren bloßen Füßen an seinem Bett und lauschte. Und dann beugte sie sich über ihn, so dicht, daß sein Atem, unruhig und heiß, ihr Gesicht anwehte, und hauchte wiederum ihn an – mengten sie nicht so ihre Atemzüge, gab sie ihm nicht so Odem von ihrem Odem? – und flüsterte leise und doch so eindringlich, bittend und beschwörend zugleich: »Die Mutter ist hier, die Mutter ist bei dir!«

Aber mit einem Ruck warf er sich auf die andre Seite, drehte ihr den Rücken zu und murmelte. Lauter Unverständliches, selten ward ein Wort deutlich, aber es war genug auch so; sie fühlte: er war nicht hier, nicht bei ihr – weit fort! Suchte seine Seele im Traum die Heimat, die er nicht kannte, die er nicht einmal ahnen konnte und die doch so mächtig war, daß sie ihn, auch unbewußt, an sich zog?!

Von einer Unruhe ohnegleichen gepeinigt, stand Käte an Wolfgangs Bett: eine Mutter und doch keine Mutter! Ach, sie war ja nur eine fremde Frau am Bett eines fremden Kindes!

Und sie schlich sich zurück auf ihr Lager und vergrub ihre hämmernde Stirn tief in die Kissen. Heftig fühlte sie ihr Herz pochen, und sie schalt sich selber darüber, daß sie sich so unnütze Gedanken machte. Sie änderte ja nichts dadurch, ward nur müde und traurig. [S. 109]

Wenn Käte nach solchen Nächten aufstand, fühlte sie den besorgten Blick ihres Mannes, und ihre Hände, die das reiche Haar aufsteckten, zitterten. Gut, daß ihr eine Nadel entfiel, da konnte sie sich doch rasch bücken und ihr überwachtes Gesicht mit den umschatteten Augen seinen forschenden Augen entziehen. –

»Ich bin wieder gar nicht mit dem Befinden meiner Frau zufrieden,« klagte Schlieben dem Arzt. »Sie ist wieder schrecklich nervös!«

»So?!« Geheimrat Hofmanns freundliches Gesicht wurde energisch. »Ich will Ihnen was sagen, lieber Freund, da gehn Sie nur gleich dagegen an!«

»Das nützt nichts!« Schlieben schüttelte den Kopf. »Ich kenne doch meine Frau. Der Junge macht’s, der verdammte Junge!«

Und er nahm sich Wolfgang vor. »Hör mal, du mußt die Mutter nicht immer so quälen! Merke ich noch einmal, daß sie sich über dich kränkt, weil du ungezogen bist, so sollst du mich kennen lernen!«

Quälte er denn die Mutter?! Wolfgang machte ein verdutztes Gesicht. Und ungezogen war’s doch auch nicht, wenn er gern zu Lämkes wollte! Das quält, wenn man innen sitzen muß, während draußen der Wind pfeift und einem so lustig das Haar zerwühlt! Und das quälte ihn auch, daß er heute nicht zu Lämkes sollte.

»So geh nur hin,« sagte Käte. Sie fuhr sogar noch vor Tisch nach Berlin hinein und kaufte eine Puppe, eine hübsche Puppe mit blonden Locken, mit Augen, die sich schlossen und öffneten, und mit einem rosa Kleid. »Die bringe Frida zum Geburtstag mit,« sagte sie am Nachmittag und händigte sie dem Knaben ein. »Halt! Vorsicht!«

Er hatte ungestüm zugepackt, es freute ihn doch zu sehr, [S. 110] daß er der Frida was bringen konnte. Und in einer seltenen Regung – er war kein Freund von Zärtlichkeiten – reckte er der Mutter das Gesicht hin und empfing, in einer Aufwallung von Dankbarkeit, ihren Kuß. Er ließ ihn sich mehr gefallen, als daß er nach ihm verlangte, sie fühlte das wohl, aber sie war doch froh darüber, und mit einem Lächeln, das ihr ganzes Gesicht erhellte, sah sie ihm dann nach.

»Aber vor Dunkelwerden bist du wieder zu Hause,« hatte sie ihm noch zugerufen. Ob er sie gehört hatte?

Wie er lief, davonjagte, leichtfüßig wie ein Hirsch! Noch nie hatte sie ein Kind so rasch laufen sehen. Er warf die strammen Beine, daß die Hacken hinten gegen die Schenkel schlugen; der Wind blies ihm den breitkrempigen Matrosenhut in den Nacken, da riß er ihn ganz ab und rannte barhäuptig weiter, so eilig hatte er’s.

Was zog ihn nur so mächtig zu diesen Leuten?!

Von Kätes Gesicht verschwand das Lächeln, sie trat vom Fenster zurück. –

Wolfgang war glücklich. Er saß bei Lämkes in der Stube, in der zur kälteren Jahreszeit auch gekocht wurde. Die Schlafstätte der Eltern war durch einen Vorhang abgegrenzt; Frida schlief auf dem Sofa und Artur nebenan in dem Kämmerchen, das auch die Schippen und Besen, die Vater Lämke zur Haus- und Straßenreinigung brauchte, beherbergte.

Noch war es nicht Winter, noch freundlicher Herbst, aber doch roch es schon in der Stube hübsch warm und mollig. Mit dem zarten Duft der blassen Monatsrose und des Nelkenstocks, der Myrte und des Geraniums, die, dicht an das fast ebenerdige Fenster gerückt, alle blühten, mischte sich der strengere Geruch des Kaffees, den Frau Lämke in der großen Emaillekanne brühte. Zu Hause bekam Wolfgang nie Kaffee, hier bekam er welchen; und er schlürfte ihn, wie er die andern [S. 111] ihn schlürfen sah, nur empfand er ein noch größeres Behagen dabei. Und nie hatte ihm ein Stück Torte so gut geschmeckt wie diese einfache Schnecke, die eher Semmel als Kuchen war; er kaute mit offenem Mund, und als Frau Lämke ihm, dem geehrtesten Gast, noch eine zweite Schnecke zuschob, nahm er sie mit strahlendem Gesicht.

Frau Lämke fühlte sich sehr geschmeichelt durch seinen Besuch. Aus der Puppe aber hatte sie sich nicht viel gemacht; die hatte sie Frida gleich weggenommen und in den Schrank geschlossen: »Det de ihr nich jleich verknutschst! Un iebrigens biste doch keen Herrschaftskind, det uff alle Dage mit Puppens spielt. Schade um det Jeld!« Aber nachher, als Vater Lämke aus der Portierloge, wo er in seinen Mußestunden saß und Stiefel flickte, herunterkam, um auch eine Tasse Geburtstagskaffee zu trinken und eine Schnecke zu essen, wurde die Puppe doch wieder vorgeholt und ihm gezeigt.

»Fein, was? Hat sie von Wolfjangen seine Mama. Sieh mal, Lämke« – die Frau hob der Puppe das rosa Kleidchen auf und zeigte darunter das weiße, mit einer kleinen Spitze besetzte Volantröckchen – »so ’ne Frisur, janz jenau so ’ne hatte ik Frida’n um ’t Taufkleidchen jenäht. Jotte doch, sie war doch det erste, da denkt man, et is noch wat Besondret! Ach ja,« – sie seufzte und legte die Puppe wieder in den Schrank zurück, in dem allerlei Krimskram, die reinen Bettbezüge und ihr und Fridas Sonntagshut lagen – »wie de Zeit verjeht! Nu is se schonst neune!«

»Zehne,« verbesserte Frida. »Ich bin doch heute zehne jeworden, Mutter!«

»Richtig – nee, schonst zehne!« Die Frau lachte und schüttelte den Kopf, über diese Vergeßlichkeit verwundert. Und dann nickte sie ihrem Manne zu: »Weeßte noch, Lämke, wie se jeboren wurde?« [S. 112]

»Un ob,« sagte er und schenkte sich nochmals aus der unerschöpflichen Kanne ein. »Det war ’ne schöne Tur, wie se jeboren wurde – na, ich danke! Die Jöhre hat dir scheene zujesetzt! Un mir mit, ich kriegte ordentlich Manschetten. Aber nu, Alte – ä, zehn Jahre her, nu is et ja bald nich mehr wahr!«

»Un wenn et hundert her wäre, det verjäße ik nich, o nee!« Die Frau hob abwehrend die Hand. »Ik wollte mir jrade wie heute, so um viere ’rum, Kaffee kochen, ik hatte so ’n Jieper drauf, da jing ’t los. Jrade noch, daß ik bis iebern Flur kam – weeßte, du warst damals noch in de Werkstelle bei Stiller, un wir wohnten in de Alte-Jakob, fünf Treppen links – un ik kloppte bei den Krawattenfritze drieben an un sagte: ›Ach, sein Se doch so jut,‹ sagte ik, ›schicken Se man fix Ihre Kleene bei die Wadlern, Spittelmarcht zehne, die weeß schon‹ – au weih, war mich schlecht! Un ik fiel uf’n nächsten Stuhl; se hatten alle Mühe, det se mir noch ’rieber kriegten. Un nu jing det los, ik konnte nich an mir halten, bei’n besten Willen nich; ik jloobe, se haben mir drei Häuser weit schreien jehört. Un det dauerte, det dauerte – et wurde Abend – du kamst zu Hause – et wurde Mitternacht – morjens fünfe, sechse, sieben – da endlich um neune sagte de Wadlern: ›det Kind, det is an’n Ende –‹«

»Mutter,« unterbrach sie der Mann und zwinkerte nach den Kindern hin, die ganz still am Tisch saßen und mit weitgeöffneten, neugierigen Augen lauschten, »nu laß’t man jut sind! Det is ja nu allens lange vorbei, de Jöhre is da, un is dich ja soweit janz jut jeraten!«

»Punkt elfe wurde se jeboren,« sagte Frau Lämke träumerisch und nickte ernsthaft dabei und atmete dann so tief auf, als hätte sie einen hohen Berg überklettert. Und dann rief sie ihre Tochter zu sich heran, heute, am zehnten Geburtstag [S. 113] ihrer Erstgeborenen, von Leid und Freude einer nach zehn Jahren noch so unendlich lebendigen Erinnerung überflutet.

»Komm man, Frida!« Und sie gab ihr einen Kuß.

Frida, ganz verdutzt durch diese unvermittelte Zärtlichkeit, lachte ihren Bruder Artur und die beiden andern Knaben dumm an, und dann entschlüpfte sie zur Türe: »Können wer jetzt spielen jehn?«

»Macht, det ihr ’rauskommt!«

Da stürzten sie voller Fröhlichkeit aus der dunklen Portierwohnung, die unten im Souterrain lag, hinauf.

So hell war’s auf der Straße, so heiter schien die Sonne, Wind wehte frisch, fern flog ein Drache übers Feld. Wenige Fußgänger, keine Wagen. Die Straße gehörte ihnen, und mit Hallo stürmten sie dahin: wer zuerst am Laternenpfahl an der Ecke war, der war Hauptmann!

Wolfgang hätte sich diese Ehre sonst nie nehmen lassen, aber heute mußte er Gendarm sein, er war der letzte gewesen. Langsam und stumm war er den andern gefolgt. Etwas saß ihm im Kopfe fest, das machte ihn schwerfällig und hemmte seinen Lauf; er mußte darüber denken, denken. Das wurde er nicht los, selbst als er mitten drin war im Lieblingsspiel; erst dann vergaß er’s, als er mit Hans Flebbe eine große Balgerei hatte. Dieser hatte ihn ins Gesicht gekratzt, darum riß er ihm jetzt ein Büschel Haare aus. Am nächsten Gartengitter hielten sie sich gepackt.

Artur, ein kleiner Schwächling, hatte sich nicht am Streite beteiligt, aber er schrie, die Hände in den Hosentaschen, mit kreischender Stimme hinein in den Kampf, den die beiden wortlos miteinander ausfochten.

»Flebbe, hau ihm! Mit de Faust unter de Neese – tüchtig!« [S. 114]

»Wolfjang, man zu! Zeig ihm, was ’ne Harke is, immer ruff uf ihn!«

Frida hüpfte lachend von einem Bein aufs andere, der blonde Zopf tanzte auf ihrem Rücken. Aber dann wurde ihr Lachen auf einmal ein wenig verlegen-bang: der mehrere Jahre ältere Hans hatte Wolfgang untergekriegt und hämmerte ihm nun mit der Faust ins Gesicht.

»Flebbe, du!« Sie zerrte ihn an der Bluse, und als das nichts half, stellte sie ihm flink ein Bein. Da stolperte er darüber, und Wolfgang, gewandt den Augenblick nutzend, schwang sich nach oben und besorgte es nun dem Feind grimmig.

Das war kein Spiel mehr, keine gewöhnliche Jungensbalgerei. Wolfgang fühlte sein Gesicht wie Feuer brennen, ein Kratz lief ihm die Wange herab bis zum Kinn, vor seinen Augen tanzten Funken. Jetzt hatte er alles vergessen, was ihn vorher so stumm gemacht, er fühlte eine wilde Lust, laut brüllte er auf.

»Du, Wolfjang! Wolfjang, nee, det jilt nich,« schrie der Unparteiische. »Det is doch keen Spaß nich mehr!« Artur schickte sich an, Wolf, der auf des Gegners Brust kniete, die Beine festzuhalten.

Ein Ruck, und er flog zur Seite. Zitternd vor Wut kehrte sich Wolf nun auch gegen ihn; seine schwarzen Augen funkelten. Das war kein wohlgezogenes, wohlgekleidetes, herrschaftliches Kind mehr, das war eine ganz elementare, ungezügelte, unbezwungene Kraft. Er schnaufte, er keuchte – da, ein Ruf!

»Wolfjang, Wolfjang!«

»Du,« mahnte Frida, »Mutter ruft! Un euer Mädchen steht bei un winkt!«

Von der Haustür her tönte wiederum Frau Lämkes [S. 115] Stimme: »Wolfjang, Wolfjang!« Und nun ließ sich auch Lisbeth spitzen Tones vernehmen: »Na, wird’s bald? Sollst zu Hause kommen!«

Frau Lämke lachte. »Na, lassen Se man, se waren so verjniegt!« Aber dann bekam sie doch einen Schreck, als sie des Knaben beschmutzten Anzug sah, und fing an, daran herumzuwischen. »Jotte, wie sieht de scheene Bluse aus – un de Hosen!« Sie bekam einen roten Kopf und wurde noch röter, als sie den feurigen Kratz bemerkte, der über des jungen Herrn Backe lief. »Dir haben se ja scheene zujericht – Jöhren, verdammte! Na, wartet ihr man!« Sie drohte Hans Flebbe und den eigenen Kindern, aber es war doch kein wirklicher Ernst in ihrer Drohung. Halblaut, mit einem schmunzelnden Zucken um die Mundwinkel, sagte sie zu Lisbeth, die in starrer Entrüstung dastand: »Dolle Jöhren, was? Na, det is nu ebent nich anders, so waren wer alle auch, als wer noch jung waren!« Und sich wieder zu Wolfgang wendend, fuhr sie ihm gutmütig mit der arbeitsrauhen Hand über den feurigen Kratz: »Det war doch ’n Hauptspaß, was, Wolfjang?«

»Ja,« sagte er aus tiefster Seele. Und dann, als er ihr Auge so freundlich-verständnisvoll auf sich gerichtet sah, war es ihm, als wäre er dieser Frau sehr gut. –

Es war ein herrlicher Nachmittag gewesen. Aber als er nun neben Lisbeth nach Hause ging, sprach er nicht davon; sie hätte ja doch die Nase gerümpft.

»Na, gnäd’ge Frau is schön böse,« sagte Lisbeth – sie sprach mit dem Knaben nie anders als von der ›gnädigen Frau‹ – »was bleibste denn auch so ewig lange?! Hast du nicht gehört, daß gnäd’ge Frau gesagt hat, du sollst vor Dunkelwerden zu Hause kommen?«

Er blieb stumm. Mochte die nur schwatzen, das war ja [S. 116] gar nicht wahr! An ihr vorbeisehend, starrte er in die Dämmerung. Aber als er zu Hause ins Zimmer trat, merkte er doch, daß die Mutter auf ihn gewartet hatte. Böse war sie freilich nicht, aber sein Abendbrot: ein Ei, ein Schinkenbrötchen, die Milch im silbernen Becher, alles zierlich zurechtgemacht, stand schon da, und sie saß gegenüber seinem Platz, hatte die gefalteten Hände auf das weiße Tischtuch gelegt und die Brauen ungeduldig-finster zusammengezogen.

Die große Hängelampe, deren Gaslicht hell über den Tisch leuchtete und den gesenkten Frauenscheitel goldig flimmern ließ, machte das Gesicht nicht heller.

Die Mutter war in Seide, in heller Seide, in einem Kleid mit Spitzen, das über Hals und Arme nur etwas wie einen ganz dünnen Schleier hatte. Aha – nun fiel’s ihm ein – sie sollte ja um acht Uhr den Vater, der heute zu Mittag gar nicht nach Hause gekommen war, in der Stadt treffen und mit ihm in eine Gesellschaft gehen! Aha, darum hatte er so früh nach Hause kommen müssen?! Als ob er nicht allein ins Bett finden könnte!

»Du kommst ja so spät,« sagte sie.

»Du hättst ja schon gehen können,« sagte er.

»Du weißt, mein Kind, daß ich nicht ruhig bin, wenn ich dich nicht hier zu Hause weiß!« Sie seufzte: »Wie könnte ich das auch!«

Erstaunt sah er sie an: warum sagte sie das? Hatte ihn etwa wieder jemand verpetzt? Warum war sie so komisch?!

Mit großen Blicken, als sei sie ihm ganz fremd in diesem Kleide, das so nackt an Hals und Armen ließ, betrachtete er sie. Nachdenklich schob er die Bissen seines Abendbrotes in den Mund und kaute langsam. Er mußte auf einmal wieder so sehr an das denken, was er Frau Lämke hatte erzählen [S. 117] hören. Wie er geboren wurde, davon hatten sich Vater und Mutter nie etwas erzählt!

Und er hielt plötzlich inne mit Kauen und fragte in die Stille des Zimmers, in die Stille, die zwischen ihm und ihr war, ganz unvermittelt hinein: »Wie ich geboren wurde, hat’s da auch so sehr lange gedauert?«

»Wie – was – wer – du?!« Sie sah ihn starr an.

Sie schien ihn nicht verstanden zu haben! Darum schluckte er rasch den Bissen, den er noch im Munde hatte, herunter und sagte recht laut und deutlich: »Ob’s auch so lange gedauert hat, wie ich geboren wurde? Bei Frida hat’s sehr lange gedauert. Hast du auch so geschrieen wie Frau Lämke?«

»Ich–?! Wer –ich?!« Sie wurde glühend rot und dann sehr blaß. Für einen Moment schloß sie die Augen, ihr schwindelte; es sauste ihr vor den Ohren, sie sprang vom Stuhl auf, hatte das Gefühl, fortlaufen zu müssen und konnte doch nicht. Mit bebenden Händen hielt sie sich am Tisch, aber die feste Eichenplatte war etwas Unsicher-wackelndes, Wogendes, Gleitendes geworden. Was – was sprach der Junge da? O Gott!

Sie biß sich auf die Lippen, holte tief Atem, wollte sagen: ›Laß doch solch dumme Fragen,‹ und konnte das doch nicht. Sie rang mit sich. Endlich stieß sie heraus: »Unsinn! Mach rasch, iß auf! Dann gleich zu Bett!« Ihre Stimme klang ganz rauh.

Wieder traf sie des Knaben verwunderter Blick. »Warum bist du auf einmal so – so – so eklig? Wenn man nicht mal was fragen darf!« Und verdrossen schob er den Teller zurück und hörte auf zu essen.

Warum antwortete sie ihm nicht? Warum erzählte sie ihm nicht so etwas, wie Frau Lämke ihrer Frida erzählt [S. 118] hatte? War er denn nicht auch geboren? Und hatte sich denn die Mutter nicht auch gefreut, wie er dann geboren war? Es war recht häßlich von ihr, daß sie ihm nichts davon sagte! Merkte sie denn nicht, wie gern, wie schrecklich gern er etwas davon wissen wollte?!

Eine brennende Neugier war auf einmal in dem Kinde erwacht. Die quälte ihn, fraß förmlich an ihm. Die ganze Nacht würde er nicht schlafen können, immer, immerfort darüber denken müssen! Und er wollte doch gern schlafen, es war langweilig, wach zu liegen – er wollte, er mußte es wissen!

Käte sah, wie sich des Knaben Antlitz verfinsterte. Ach, der arme, arme Junge! Hätte sie ihn doch nur nicht zu jenen Leuten gehen lassen! Was hatte er dort erfahren, was wußte er? Hatten sie ihn mißtrauisch gemacht? Was wußten diese Leute? O, die hatten ihm Mißtrauen eingeflößt, wie würde er sie denn sonst mit solchen Fragen quälen?!

Heiße Angst schoß in ihr auf, und doch fühlte sie ihre Hände und Füße kalt werden wie Eis. Aber stärker noch als ihre Angst war ihr Mitleid – da saß er, ach, so traurig, und hatte Tränen in den Augen! Das arme Kind, das von seiner Geburt zu wissen verlangte und dem sie nichts sagen konnte, sagen wollte, sagen durfte! O, jetzt nur einen guten Gedanken, das richtige Wort!

»Wölfchen,« sagte sie sanft, »du bist noch zu jung dazu – jetzt noch nicht! Ein andermal! Du verstehst das ja noch gar nicht! Wenn du erst älter bist – ein andermal erzähle ich dir!«

»Nein, jetzt!« Sie hatte sich ihm genähert, er faßte sie am Kleid, hielt sie fest; mit der ihm eigenen, etwas schwerfälligen Hartnäckigkeit beharrte er: »Jetzt! Ich will es wissen – ich muß es wissen!«

»Aber, Wölfchen, ich – ich habe jetzt keine Zeit! Ich [S. 119] muß fort – ja, ich muß wirklich fort, es ist höchste Zeit!« Sie blickte im Zimmer herum und war ganz verwirrt: »Ich – nein, ich kann dir nichts erzählen!«

»Du willst nicht,« sagte er. »Und Frau Lämke hat es doch ihrer Frida erzählt!« Der Ausdruck mauliger Verdrossenheit schwand aus dem dunklen Knabengesicht und machte dem einer wirklichen Betrübnis Platz: »Du hast mich lange nicht so lieb, gar nicht so richtig lieb, wie Frau Lämke ihre Frida hat!«

Sie ihn nicht lieb haben –?! Sie ihn nicht lieb haben –?! Und das glaubte er?! Käte hätte aufschreien mögen. Wenn eine ihr Kind lieb hatte, so war sie’s gewiß, und doch fühlte dieses Kind instinktiv: hier fehlt etwas! Fehlte dann nicht jenes rätselhafte Band, das eine wirkliche Mutter und ihr wirkliches Kind so unlösbar-geheimnisvoll, so tief innen verbindet?

»Wölfchen,« sagte sie zitternd-weich, »mein liebes Wölfchen,« und strich ihm mit der eiskalten Hand über die heiße Stirn. »Das glaubst du doch selber nicht, was du da sagst! Wir haben uns doch so lieb, nicht wahr?! Mein Kind – mein geliebtes Kind, sag?!«

Sie suchte seinen Blick, sie klammerte sich an seine Antwort.

Aber die Antwort, die sie ersehnte, kam nicht. Er sah an ihr vorbei. »Du erzählst mir ja doch nichts!«

Das kam nicht aus ihm! Jetzt auf einmal dies brennende Verlangen! Das hatte ihm jemand eingeflößt, es konnte nicht anders sein! »Wer –« fragte sie stockend – »wer hat dir gesagt – du sollst mich so fragen? Wer?!«

Sie hatte ihn bei den Schultern gefaßt, er machte sich frei. »Och, was bist du so komisch! Nee – niemand! Aber ich möcht’s doch wissen. Ich sag dir doch, ich möcht’s wissen! [S. 120] Es quält mich so – ich weiß nicht warum – es quält mich eben!«

Es quälte ihn – jetzt schon, so früh?! O, dann war’s eine Ahnung, eine Ahnung – wer wußte woher? – eine unbewußte Ahnung aus allerersten Kindheitstagen! – Wie sollte das werden?! ›Gott, Gott, hilf mir!‹ schrieen ihre Gedanken. Jetzt galt es zu erfinden, zu erdichten, auszudenken! Diese quälenden Fragen durften niemals, nie mehr wiederkommen!

Und sie zwang sich, zu lächeln, und als sie fühlte, daß dies Lächeln kein Lächeln war, legte sie, hinter seinen Stuhl tretend, ihre Wange auf seinen Scheitel und ihre beiden Hände um seinen Hals. So konnte er nicht nach ihr umblicken. Und mit gedämpfter Stimme, wie man Kindern ein Märchen erzählt, sprach sie:

»Väterchen und ich waren schon lange verheiratet – denk mal an, fast fünfzehn Jahre schon! – und Väterchen und ich wünschten uns so sehr einen lieben Jungen oder ein liebes Mädchen, damit wir nicht so allein wären. Mal war ich eines Tages sehr traurig, denn alle andern Frauen hatten schon ein liebes Kind, nur ich nicht, und ich ging draußen umher und weinte, da hörte ich auf einmal eine Stimme – vom Himmel kam die – nein, ein Stimmchen – ein Stimmchen, das – und – und –« Sie verwirrte sich, stotterte und stockte: was sollte sie jetzt weiter sagen?!

»Hm,« machte er ungeduldig. »Und –?! Erzähl doch weiter! Und –?!«

»Und am andern Tag lagst du in unsrer Wiege,« schloß sie, ungeschickt-hastig, mit fast ersticktem Ton.

»Und –« er hatte sich von ihren Händen befreit, sich umgedreht und sah ihr nun ins Gesicht – »das ist alles?!«

»Nun – und wir – wir freuten uns sehr!«

»Wie dumm!« sagte er gekränkt. »So ist doch nicht ›Geboren-werden‹?! [S. 121] Frau Lämke erzählt es ganz anders. Du weißt es ja gar nicht!« Zweifelnd sah er sie an.

Sie wich seinem Blick aus, aber der seine ließ sie nicht los. Ihr war, als blickten diese forschenden Augen ihr bis auf den Grund der Seele. Da stand sie wie eine Lügnerin und wußte nichts mehr zu sagen.

»Du weißt es ja gar nicht,« wiederholte er noch einmal bitter enttäuscht. »Gute Nacht!« Und schlorrte zur Tür.

Sie ließ ihn gehen, rief ihn nicht zurück zum Gutenachtkuß. Starr blieb sie sitzen.

Oben, im Zimmer über sich, hörte sie seine Tritte. Jetzt schleuderte er seine Stiefelchen aus, jetzt polterten sie in die Ecke – jetzt ward es still.

O, was sollte sie ihm dereinst sagen, wenn er mit vollem Bewußtsein Fragen an sie richtete, ein zu Fragen berechtigter, Antwort heischender Mensch?! Sie ließ sich auf den Stuhl fallen, auf dem er gesessen hatte, und stützte den Kopf in beide Hände.


2

Die Freundschaft mit Lämkes wurde eingeschränkt. Nie mehr sollte ihr Kind dorthin gehen! Eine Art von Eifersucht war in Käte aufgequollen gegen diese gewöhnliche Frau, die so unpassende Sachen sprach, die vor Kinderohren sich so gar keinen Zwang antat.

Frau Lämke konnte sich jetzt nicht mehr des freundlichen Grußes der feinen Dame rühmen; diese ging jetzt am Hause vorüber und sah sie nicht mehr an, schien es nicht zu hören, daß sie respektvoll grüßte: ›juden Tag, jnäd’ge Frau!‹

»Du, wat habe ick denn eijentlich deine Mama jetan?« [S. 122] fragte sie eines Tages Wolfgang, als sie, vom Einholen zurückkehrend, ihn nach langer Zeit einmal wieder sah. Er lehnte am Gitter des schrägüberliegenden Grundstücks und starrte sehnsüchtigen Blickes nach ihrer Haustür.

Er fuhr zusammen; er hatte sie gar nicht kommen hören. Und dann tat er, als bemerke er sie nicht und schnippte mit der Gerte, die seine Hand hielt, in die Luft.

»Kommste denn jar nich mehr bei uns?« fragte sie weiter. »Haste dir mit Artur’n jehauen oder mit Frida’n jezankt? Nee, wat denn, det kann ja nich sind, die hat ja schonst so sehr uf dir jelauert! Die Jnädige läßt dir woll nich, was?! Nanu, wir sind woll nich mehr jut jenug? Nee freilich, wir sind nur Portjehs und unsre Kinder Portjehskinder!«

In ihrem gutmütigen Ton mischte sich die Gereiztheit der Kränkung, und der Knabe horchte auf. Er wurde glühend rot.

»Na ja, ick sehe schon, du därfst nich! Na meintwejen, denn nich!« Erbittert wendete sie sich zum Gehen.

»Na, was ’s denn noch?!« Er hatte sie durch einen Laut zurückgehalten; sie blieb stehen – wider Willen. Es war etwas in dem Blick der Knabenaugen, die sie jetzt voll ansahen, das sie festhielt. »Nee, nee, mein Sohn,« sagte sie gutmütig, »du kannst ja nich dafor, ick weeß ja!«

»Sie läßt mich nicht,« murrte er zwischen den Zähnen und hieb mit der Gerte durch die Luft, daß es sauste.

»Warum denn nich?« forschte die Frau. »Hat se nich jesagt, warum de nich mit Artur’n und Frida’n mehr spielen sollst? Artur hat jetzt ’nen neuen Triesel – ei weih, der tanzt! Un Frida von die Dame oben bei uns ’nen wunderscheenen Ball!«

Des Knaben Augen flammten. Er holte mit dem Fuß aus und stieß ein Steinchen, das vor ihm lag, so heftig von [S. 123] sich, daß es im Schwung hinüberflog bis zur andern Seite der Straße. »Und ich spiele doch mit ihnen!«

»Na, na, man nich so trotzig,« ermahnte jetzt die Frau. »Et kann ja sind, vielleicht waren die Jöhren unjezogen – lieber Jott, man kann doch nich for allens ufkommen, wat se treiben – weeßte, Wolfjangchen, Mama’n mußte doch jehorchen, wenn se ’t nu mal durchaus nich will!« Sie seufzte. »Wir haben dir sehr lieb jehabt, mein Sohn! Aber det is immer so: erst is de Freundschaft jroß, aber denn besinnen sich die Reichen uf eenmal? Du bist ja ooch jetzt eijentlich schonst zu jroß, um in’n Keller bei uns zu sitzen –«

Sie wollte noch weiter schwatzen, da fühlte sie sich an der Hand gefaßt. Es war ein sehr fester Griff, mit dem die Knabenhand die ihre hielt. Sich zu ihm herunterneigend, denn sie war groß und hager und ihr Auge vom ewigen Halbdunkel der Portierwohnung nicht mehr scharf, sah sie, daß er Tränen in den Augen hatte. Sie hatte ihn noch nie weinen sehen und bekam förmlich einen Schrecken.

»Laß man jut sind, laß man, Wölfchen! Nee aber, so weene doch nich, um Jottes willen nich, det wär’t noch jrade wert!« Den Zipfel ihrer groben blauen Arbeitsschürze nehmend – sie war nur eben mal vom Waschfaß fortgelaufen –, wischte sie ihm die Augen, und dann die Backen herunter, und dann strich sie ihm übers Haar, das so straff und dicht auf dem runden Kopfe lag.

Er stand still, wie angewurzelt, auf der schon frühlingslichten, sonnenhellen Straße; er, der so scheu vor Zärtlichkeiten war, ließ sich also streicheln und scheute es auf einmal nicht, wenn dies auch andre Leute sahen.

»Ich komme doch wieder in den Keller, Frau Lämke! Da kann sie sagen, was sie will. Ich komme doch zu Ihnen!«

Als er nun davonging, nicht trabend, wie es sonst seine [S. 124] Art war, sondern langsam, mit einem bedächtigen Tritt, wunderte sich die Frau, die ihm nachsah, wie groß er schon war. –

Frau Käte hatte einen schweren Stand. Wie sie sich auch wehrte, förmlich dagegen stemmte, daß der Verkehr mit Lämkes wieder aufgenommen wurde, der Knabe war stärker als sie. Er setzte es durch, daß die Kinder, wenn er denn nicht zu ihnen hin sollte, wenigstens zu ihm kommen durften. In den Garten wenigstens – das hatte er der Mutter abgerungen.

Es war wie ein Kampf gewesen zwischen ihm und ihr, zwar ohne laute Worte und heftige Szenen, ohne direkte Verbote von ihrer Seite, ohne Bitten von der seinen; es war ein weit ernsteres, stummes Ringen. Sie hatte den Trotz in ihm gefühlt, der sich gegen sie bäumte, den Widerstand in ihm, der immer weiter und weiter sich erhob bis zur Abneigung – ja, Abneigung gegen sie! Oder bildete sie sich das etwa nur ein?!

Gern hätte sie sich mit ihrem Manne darüber ausgesprochen – ach, es war ihr ein solches Bedürfnis! – aber sie fürchtete dessen Lächeln. Oder dessen indirekten Vorwurf. Er hatte erst neulich einmal gesagt: ›Es ist keine Kleinigkeit, ein Kind zu erziehen. Schon ein eignes ist schwer, wie viel schwerer noch ein‹ – nein, ein ›fremdes‹ sollte er nicht wieder sagen, nein, dies nicht noch einmal! Dieses Kind war ihr kein fremdes, es war ihr eignes! Ihr geliebtes Kind!

Sie gab Wolfgang nach. Es war ja auch nicht gefährlich, wenn die Kinder hierher zu ihm kamen in den Garten, da hatte sie sie ja immer unter den Augen und Ohren. Und gut wollte sie zu ihnen sein, das nahm sie sich vor, es die Kinder nicht entgelten lassen, daß sie ihrer Freundschaft wegen schon manch heimliche Träne hatte am Abend in ihr Kissen weinen müssen. Lieb wollte sie ihrem Knaben den Garten machen, so lieb, daß er nie mehr hinaus verlangte auf die Straße! [S. 125]

Aber als sie am Ostertag, an dem sie Wolfgang erlaubt hatte, seine Freunde, die Lämkes und auch den Kutschersohn, in den Garten zu laden, die bunten Eier versteckte, die Nestchen und Häschen und Küken in den treibenden Buchsbaum bettete und zwischen die ersten blühenden Büschelchen der blauen Scylla, erhob sich in ihrem Herzen etwas wie Zorn. Nun würden diese Kinder mit ihren schlechten Manieren und ihren trappsigen Schuhen kommen und ihr die Beete vertreten, diese sorgsam gepflegten Rabatten, auf denen unter deckendem Reisig schon die Hyazinthen Knospen trieben und die Tulpen sich reckten. Schade darum! Und daß man diesen ersten wirklichen Frühlingstag nicht still genießen konnte, ungestört dem flötenden Amsellied lauschen! Und gesperrt hatten sie sich noch! Hans Flebbe freilich hatte ohne Empfindlichkeit zugesagt – der Kutscher wenigstens wußte, was sich schickte –, aber die Lämkes hatten durchaus nicht kommen wollen; das heißt, ihre Mutter hatte es nicht gewollt. Zweimal hatte man Lisbeth hinschicken müssen; das zweite Mal war die ganz empört zurückgekommen: ›ne, was solch ein Volk sich einbildet!‹ »Lieber Junge, ich kann dir nicht helfen, sie wollen doch nicht,« hatte Käte sagen müssen, aber da hatte sie’s ihm angemerkt, wie niedergeschlagen er war, und in der Nacht hörte sie ihn seufzen und sich rastlos werfen. Nein, das durfte nicht sein! Seinen Arm, der sich so stürmisch um ihre Taille geschlungen hatte, als sie ihm die Erlaubnis gegeben hatte, die Kinder zu laden, wollte sie auch um ihren Nacken fühlen. Und so hatte sie sich denn hingesetzt und geschrieben – an diese ungebildete Frau geschrieben: ›Geehrte Frau Lämke,‹ und sie gebeten, den Kindern doch das Eiersuchen zu erlauben, Wolfgang zur Freude.

Nun waren sie da. Angetan mit ihren besten Sachen, standen sie steif und still auf dem Gartenweg und sahen nicht einmal nach den Rabatten hin. Käte hatte sich immer eingebildet, [S. 126] es besonders gut zu verstehen, Kinder aus sich herauszulocken. Hier verstand sie es nicht. Sie hatte Fridas ganz neues, buntkariertes Kleid gelobt und ihr den blonden Zopf, an dem die blaue Schleife baumelte, in die Höhe gehoben: »Ei, wie dick!« – auch Arturs blanke Stiefel hatte sie beachtet und Flebbes pomadisiertes Haar, das er, mit einem Scheitel in der Mitte, wie angeklebt über seinem blühenden Lakaiengesicht trug. Auch nach den Osterzensuren hatte sie gefragt, ohne doch längere Antworten herauszubekommen, als ›ja‹ und ›nein‹.

Die Kinder waren befangen. Besonders Frida; sie war die Älteste, und sie fühlte heraus, was da Gezwungenes in den freundlichen Fragen war. Sie machte ihren Knicks wie immer, schnell und schnippisch wie eine Bachstelze, die eilig auf und nieder wippt, aber ihre hohe Mädchenstimme klang heute nicht so hell; sie sprach gedämpfter, fast bedrückt. Und sie lachte nicht. Artur richtete sich nach der Schwester, und auch Hans Flebbe nach dem Mädchen, an dem er ohnehin alles nachahmenswert fand. Wie die armen Schlucker standen die beiden Jungen da, guckten unverwandt auf ihre Stiefelspitzen und schnüffelten, da sie es nicht wagten, ihre Taschentücher herauszuziehen und zu benutzen.

Käte verzweifelte. Sie konnte es nicht begreifen, daß ihr Wolfgang an solchen Gespielen ein Gefallen fand; heute war er übrigens genau so wie die andern, wortkarg und ungeschickt. Selbst als das Eiersuchen anhub, stellten sich die Kinder dumm an; man mußte sie förmlich auf den Versteck stoßen.

Müde, fast gereizt wandte sich Käte endlich dem Hause zu; nur ein Weilchen wollte sie drinnen bleiben. Nein, das hier war auf die Dauer nicht auszuhalten, immer in die Kinder hineinzureden und ihnen doch keine Gegenäußerung zu entlocken!

Aber sie hatte kaum ihr Zimmer betreten, so horchte sie [S. 127] auf: von außen drang ein Schrei zu ihr, so hell, so jauchzend-schrill, wie segelnder Schwalben Schrei. So schrieen Kinder in höchster Lust – o, sie kannte das von früher her, von ganz früher, ehe noch Wölfchen gekommen war! Da hatte sie solchen Schreien oft sehnsüchtig gelauscht. Aha – ein bitteres Gefühl regte sich in ihr –, nur sie mußte gehen, dann waren die Kinder lustig, dann war Wolfgang lustig!

Sie trat ans Fenster und sah, die Stirn an die Scheibe gelehnt, hinaus in den Garten. Wie sie rannten, sprangen, hüpften, lachten! Wie losgelassen! Sie spielten Nachlaufen. Gleich einem Wiesel schoß Frida hinter die Büsche, um dann mit spitzem, durchdringendem Gelächter wieder aufzutauchen und, kreischend, aufs neue zu verschwinden. Wild setzte Wolfgang hinter ihr drein. Er achtete nicht auf die Rabatten mit den treibenden Blumen, der Mutter Freude; mitten hinein tappte er, unbekümmert, ob er die Hyazinthen knickte oder die Tulpen, einzig nur bedacht, der flinken Frida den Weg abzuschneiden.

Und die beiden andern machten es ihm nach. O, wie wurden jetzt die Beete zertrampelt! Alle drei Jungen waren hinter dem Mädchen her. Der blonde Zopf flog wie eine goldene Schnur im Sonnenschein – jetzt flog er hier, jetzt flog er da – nun hatte Wolfgang ihn erhascht und stieß ein Triumphgeschrei aus. Frida versuchte ihn loszureißen, der Knabe hielt fest. Da drehte sie sich blitzgeschwind um, und, übers ganze Gesicht lachend, faßte sie ihn mit beiden Armen um den Leib.

Es war eine harmlos lustige Umschlingung, ein Trick des Spiels – nicht zur Gefangenen wollte das Mädchen gemacht sein, es wollte so tun, als sei es selber die Fangende –, es war eine ganz kindlich-unbefangene Berührung, aber Käte wurde rot. Ihre Stirn zog sich in Falten: aha, das Mädchen [S. 128] von der Straße zeigte sich! Kaum daß man den Rücken gewendet hatte!

Und mit einem Gefühl des Hasses gegen dieses Mädchen, das, so jung es auch noch war, doch schon versuchte, ihren Knaben an sich zu locken, ging die Mutter wieder in den Garten. –

Wenn Käte gedacht hatte, heute abend, nachdem die Kinder, beladen mit Ostereiern und vollgesättigt, nach Hause gegangen waren, einen stürmischen Dank von ihrem Jungen zu ernten, so hatte sie sich getäuscht. Wolfgang sagte kein Wort.

Sie mußte ihn fragen: »Nun, war’s denn schön?«

»Hm!«

Das konnte ebensogut ›ja‹ als ›nein‹ bedeuten. Aber daß es ›nein‹ bedeutet hatte, erfuhr sie, als er ihr gute Nacht sagte. Auf Wunsch des Vaters mußte er ihr immer die Hand küssen; er tat das auch heute mit der unfreien, schon so echt jungenhaften, etwas täppischen Bewegung. Sein dunkler glatter Kopf bückte sich einen Augenblick vor ihr – nur einen kurzen Augenblick – seine Lippen streiften flüchtig ihre Hand. Es war kein Druck in diesem Kuß, keine Wärme.

»Hast du dich denn gar nicht amüsiert?« Sie konnte es nicht unterlassen, sie mußte doch noch einmal fragen. Und er, der aufrichtig war, sagte geradezu:

»Immer, wenn’s gerade hübsch wurde, kamst du!«

»Nun, dann werde ich euch künftig nicht mehr stören!« Sie versuchte zu lächeln. »Schlaf wohl, mein Sohn!« Sie küßte ihn, aber als er gegangen, war neben dem Gefühl einer gewissen Eifersucht, überflüssig zu sein, von andern völlig ersetzt zu werden, eine große Angst in ihr: wenn er jetzt schon so war, o, wie würde er erst später sein?! –

Wolfgang konnte sich nicht beklagen, die Mutter ließ die Kinder so oft zu ihm in den Garten kommen, wie er sie [S. 129] haben wollte – und er wollte sie fast alle Tage. Die Freundschaft, die im Winter brach gelegen hatte, blühte im Sommer doppelt auf.

»Laß sie doch nur,« hatte Paul zu seiner Frau gesagt, als sie ihn mit gespannt gehobenen Augenbrauen ansah: was würde er sagen, würde er’s wirklich gern sehen, daß Wolfgang mit diesen Kindern in seinem Garten tobte?! »Ich finde es nett, wie der Junge mit den Kindern ist,« sagte er. »Ich hätte nie gedacht, daß er sich so anschließen könnte!«

»Du findest es nicht nachteilig, daß er immer nur mit diesen – diesen – nun, mit diesen Kindern umgeht, die doch einer ganz andern Sphäre angehören?«

»Ach was! Nachteilig?!« Er lachte. »Das hört später schon ganz von selber auf. Es ist mir bedeutend lieber, er hält sich an solcher Leute Kinder als an die von Protzen. Er bleibt so eben viel länger ein einfaches Kind!«

»Meinst du?!« Nun ja, in gewisser Beziehung mochte Paul recht haben! Wölfchen war anspruchslos, ein Apfel, eine einfache Brotschnitte waren ihm ebenso lieb wie Torte. Aber es wäre doch besser und ihr lieber gewesen, er hätte sich wählerischer gezeigt – hierin wie auch in anderm. Sie gab sich alle Mühe, ihm eine feinere Zunge anzuerziehen.

Als die Köchin eines Tages ganz empört kam: »Gnädige Frau, nu will der Wolfgang schon nich mehr von der guten Zervelatwurst, un Braten von Mittag will er auch nich mehr auf die Stulle – ›immer dasselbe‹, räsoniert er – was denn nu?« – da freute sie sich. Endlich war es ihr gelungen, ihm beizubringen, daß man nicht sinnlos in sich hinein ißt, ohne jede Wahl, nur um des Essens willen!

Hätte sie gesehen, wie er bei Frau Lämke Schmalzbrot mit Zwiebelleberwurst stopfte, oder Kartoffelkuchen in Öl gebacken heiß aus der Pfanne hinunterschlang, sie hätte sich nicht [S. 130] mehr gefreut. Aber so war sie dankbar für jede noch so kleine, feinere Regung, die sie an ihm zu beobachten glaubte. Sie merkte gar nicht, wie sehr sie sich selber quälte.

Ach, warum unterstützte sie ihr Mann nicht in der Erziehung?! Wenn er’s doch täte! Aber er verstand sie eben nicht mehr!

Schlieben hatte es aufgegeben, seiner Frau hineinzureden. Ein paar Mal hatte er’s versucht, aber seine Einwendungen waren gescheitert an der Hartnäckigkeit, mit der sie an ihren Prinzipien festhielt. Warum sollte er sich mit ihr entzweien?! So viele Jahre hatten sie glücklich miteinander gelebt – bald waren sie ein Silberpaar –, und nun sollte dieses Kind, dieses Bürschchen, das noch kaum orthographisch schreiben konnte, dem der Lehrer eben die ersten lateinischen Regeln eindrillte – dieses Kind, das im Grunde weder sie noch ihn etwas anging – dieses fremde Wesen sollte sie beiden alten Eheleute auseinander bringen?! Da ließ man eben viel lieber manches geschehen, was Käte vielleicht besser anders gemacht hätte. Mochte sie sehen, wie sie auf ihre Weise mit dem Jungen fertig wurde – sie hatte ihn ja so unendlich lieb! Und wenn er dann einst, nicht mehr das Spielzeug, ihren zarten Händen entwachsen war, dann war er, der Mann, ja noch immer da, um ihn die kräftigere Hand fühlen zu lassen. In dem Jungen war ja zum Glück kein Falsch!

Schlieben war nicht unzufrieden mit Wolfgang. Ein Überflieger war der freilich nicht in der Schule, gehörte durchaus nicht zu den ersten, hielt sich aber immerhin doch noch in einer anständigen Mitte. Nun, ein Gelehrter brauchte er ja auch nicht zu werden!

Von all dem, was Paul Schlieben einst in jüngeren Jahren nur einzig erwägenswert gefunden hatte – Wissenschaft, Kunst und deren Studium –, hielt er jetzt nicht mehr das [S. 131] gleiche wie früher. Jetzt war er zufrieden in seinem Kaufmannsberuf. Und da dieses Kind nun einmal in sein Leben hineingeraten war, ohne eignes Zutun in solche Verhältnisse gekommen war, war es auch die Pflicht dessen, der sich ›Vater‹ von ihm nennen ließ, ihm eine Zukunft zu gestalten. Und so machte sich Schlieben einen festen Plan. Wenn der Junge so weit war, daß er das Einjährigenzeugnis hatte, nahm er ihn aus der Schule, schickte ihn ein Jahr nach Frankreich, nach England, eventuell nach Amerika, immer in große Häuser, und wenn er dann vom untersten Lehrling angefangen und was gelernt hatte, dann nahm er ihn zu sich in die Firma. Er dachte es sich schön, manches dann auf jüngere Schultern wälzen zu können. Und verläßlich würde der Junge wohl sein, das merkte man ihm ja jetzt schon an!

Wenn Käte nur nicht so übertriebene Anforderungen stellen wollte! Immer war sie hinter dem Jungen her – wenn nicht in Person, so doch in ihren Gedanken. Sie quälte ihn – er war eben nun mal kein anschmiegendes Kind – und machte es sie denn selber glücklich?!

Manchmal, wenn des Knaben Blick, so über den Tisch weg, wie hilfesuchend zu dem Manne flog, nickte ihm dieser unmerklich, besänftigend zu. Ja, mit Käte war es wirklich je länger, desto weniger leicht auszukommen!


Schliebens verreisten. Der Gatte hatte seiner Frau wegen den Sanitätsrat konsultiert, und dieser hatte Franzensbad verordnet. Nun, dahin konnte er sie beim besten Willen nicht begleiten! Er würde die Zeit benutzen, und, da er auch lange nicht ausgespannt hatte, einige Fußwanderungen in Tirol unternehmen. Ein paar Pfund Gewichtsabnahme konnten nicht schaden. [S. 132]

Aber wo sollte währenddessen Wolfgang bleiben?!

»Nun, zu Hause,« sagte der Vater. »Er ist ja alt genug; elf Jahre. Die Vormittage ist er in der Schule, die Nachmittage im Garten, und alle paar Tage mag Hofmann nach ihm sehen – dir zur Beruhigung!«

Es war der Mutter ein unerträglicher Gedanke, das Kind allein zurückzulassen. Am liebsten hätte sie es mit sich genommen. Aber Paul war ärgerlich geworden: »Das fehlte noch!« Und der Arzt hatte gesagt: »Durchaus nicht!«

Käte hatte dann ihren Mann veranlassen wollen, den Knaben mitzunehmen: »Wie gesund würde es ihm sein, sich mal so recht auszulaufen!«

»Nun, ich denke, das besorgt er schon gründlich hier. Ich bitte dich, Käte, der Junge ist kerngesund, gib doch nicht immer so an mit ihm! Und ich werde ihn doch auch nicht ganz unnützerweise aus der Schule nehmen!«

Freilich, zurückkommen, womöglich zu den Letzten gehören, durfte er nicht! Käte war ja so ehrgeizig für ihren Sohn. So würde sie eben, da die Juliferien schon beinahe verstrichen waren und sie in dieser passenderen Zeit nicht mit ihm gereist waren, nun auch zu Hause bleiben! Sie erklärte, nicht fort zu können.

Aber Arzt und Mann bestimmten über sie weg; je nervös-ängstlicher sie sich weigerte, desto dringender erschien ihnen eine ernstliche Kur. Der Tag der Abreise wurde schon in Aussicht genommen.

Vorher kündigte aber noch Lisbeth: nein, wenn die gnädige Frau auf so lange fortging und der Herr auch, nein, dann ging sie auch! Mit Wolfgang, mit dem Jungen allein bleiben?! Nein, das tat sie nicht!

Sie mußte sich in den nahezu zehn Jahren, die sie im Hause gewesen war, ganz gut gespart haben, denn auch die [S. 133] Versicherung einer Lohnzulage konnte sie nicht halten. Sie beharrte bei ihrer Kündigung und warf einen bösen Blick nach dem Knaben, der eben von draußen übers Fensterbrett sein lachendes Gesicht hereinhob.

Käte war außer sich. Nicht nur, weil sie ungern die langbewährte Dienerin entbehrte, sie hatte auch so bestimmt darauf gerechnet, Lisbeth würde während ihrer Abwesenheit ein wachsames Auge auf den Knaben haben. Und es schmerzte sie, daß diese in einem so gehässigen Tone von Wolfgang sprach. Was hatte ihr das Kind denn getan?!

Aber Lisbeth zuckte nur wortlos die Achseln und setzte eine verdrossen-beleidigte Miene auf.

Der Hausherr nahm sich den Knaben vor: »Sage mal, Junge, was hast du eigentlich mit der Lisbeth gehabt? Sie hat gekündigt, und, wie mir scheint, geht sie deinetwegen. Hör mal« – er sah ihn scharf an – »du bist wohl frech gegen das Mädchen gewesen?«

Des Knaben Gesicht wurde ganz hell: »O, das ist gut, das ist gut, daß die geht!« Er beantwortete gar nicht die an ihn gestellte Frage.

Schlieben zog ihn am Ohrläppchen: »Antworte, bist du frech gegen sie gewesen?«

»Hm!« Wolfgang nickte und lachte den Vater an. Und dann sagte er, noch triumphierend in der Erinnerung: »Gestern erst! Da hab ich ihr eine ins Gesicht gegeben. Warum sagt sie denn immer, ich hätte hier nichts zu suchen?!«

Schlieben erzählte seiner Frau nichts hiervon; sie würde sich ja nur wieder neue grüblerische Gedanken machen. Dem Jungen hatte er auch keinen Klaps gegeben, ihm nur ein wenig mit dem Finger gedroht. –

Lisbeth zog ab. Wie eine beleidigte Königin verließ sie das Haus, dem sie so lange treu gedient hatte und in dem [S. 134] sie sich so viel hatte gefallen lassen müssen, wie sie beim Abschied weinend ihrer ebenfalls ergriffenen Herrin versicherte.

Ein andres Mädchen war gemietet worden, freilich eins, auf das Käte von vornherein keine besondere Zuversicht setzte – Lisbeth hatte gleich einen ganz anders intelligenten Eindruck gemacht –, aber es blieb keine Wahl, da keine Ziehzeit war; und sie sollte doch so rasch als möglich ins Bad.

So kam Cilla Pioschek aus der Warthegegend in die Villa Schlieben.

Sie war ein großes, starkes Mädchen mit einem Gesicht, rund und gesund, weiß und rot. Sie war erst achtzehn, aber sie hatte schon lange gedient, schon als sie noch in die Schule ging drei Jahre als Kindermädchen beim Gutsinspektor. Der Hausherr amüsierte sich über sie – sie verstand keinen Witz, nahm alles für wahr und sagte alles grade heraus, wie sie’s dachte –, aber die Hausfrau nannte das ›dummdreist‹. Mit der alten Köchin und dem Diener stand die Neue dagegen auf besserem Fuß als Lisbeth, denn sie ließ sich vieles gefallen.

»Du kannst ganz beruhigt abreisen,« sagte Paul. »Tu mir den Gefallen, Käte, sperre dich nicht länger. In sechs Wochen, so Gott will, bist du mir ganz gesund wieder da, und ich sehe hier« – leicht tupfte sein Finger – »hier nicht mehr die kleinen Fältchen an den Augenwinkeln!« Er küßte sie.

Und sie erwiderte seinen Kuß, nun, da sie sich von ihm trennen sollte, zum ersten Mal in ihrer Ehe auf so lange Zeit; denn früher waren sie immer, immer zusammengereist, und seit Wölfchen ins Haus gekommen war, hatte er auch nur auf höchstens vierzehn Tage einmal Urlaub von ihr erbeten. Sie hatte das Kind nie allein gelassen. Und nun sollte sie auf ganze sechs Wochen von den Ihren gehen?! Sie hing sich an ihn. Es drängte sich ihr förmlich auf die Lippen, zu fragen: ›Warum gehst du nicht mit mir wie früher? Franzensbad und [S. 135] Spaa – das ist ein so großer Unterschied nicht!‹ Aber wozu das sagen, wenn er nicht einmal mit dem leisesten Gedanken daran gedacht hatte?! Jahre waren hingegangen, von der Innigkeit, die sie einstmals so verbunden hatte, daß sie nur gemeinsam genießen konnten und sich nie getrennt hatten, war eben doch manches abgebröckelt unterm Flügelschlag der Zeit!

Sie seufzte und entzog sich sacht seinem Arm, der sie umschlang. »Wenn jemand hereinkommt, uns so miteinander sieht! So alte Eheleute!« sagte sie mit dem Versuch zu scherzen. Und er lachte, wie es sie dünkte, ein bißchen verlegen und machte nicht den Versuch, sie zu halten.

Aber als nun eines frühen Morgens der Wagen vor der Türe stand, der sie nach dem Berliner Abfahrtsbahnhof bringen sollte, als die zwei großen Koffer aufgeladen waren und das Handgepäck, als er ihr jetzt die Hand reichte zum Einsteigen und dann neben ihr Platz nahm, konnte sie doch nicht an sich halten: »Ach, wenn du doch mitführest! Ich mag nicht allein reisen!«

»Hättest du mir’s doch ein bißchen eher gesagt!« Er war ganz betroffen; es tat ihm aufrichtig leid. »Wie gut hätte ich dich den einen Tag hinbringen, dort installieren, und den andern Tag wieder zurück sein können!«

O, er verstand es eben nicht, dieses: ›wenn du doch mitführest‹! Mit ihr auch dableiben – das hatte sie gemeint.

Schmerzlich suchte ihr Blick das Fenster oben im Hause, hinter dem Wölfchen noch schlief. Schon gestern abend hatte sie ihm Adieu sagen müssen, da die Abreise so sehr früh war. Vorhin hatte sie nur noch einmal mit einem stummen Lebewohl an seinem Bett gestanden, und vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, war ihr Handschuh über seinen schwer auf dem Kissen ruhenden Kopf gefahren. Ach, wie gerne hätte sie jetzt noch ein liebes Wort mit ihm gesprochen! [S. 136]

»Grüßen Sie den Jungen, grüßen Sie den Jungen,« sagte sie ganz rasch, hastig mehrmals hintereinander zu der Köchin und zu Friedrich, die am Wagen standen. »Und sorgen Sie gut für ihn! Hören Sie?! Grüßen Sie den Jungen, grüßen Sie den Jungen!« Andres konnte sie nicht mehr sagen, auch nichts andres mehr denken. »Grüßen Sie den –«

Da klirrte oben das Fenster! Beide Arme ausstreckend hob sie sich halb vom Sitz.

Oben reckte der Junge den dunklen Kopf heraus. Seine Wangen blühten, heiß vom Schlaf, über dem weißen Nachthemd.

»Adieu! Adieu! Komm gesund wieder! Und schreib mir auch mal!«

Er rief es sehr vergnügt und nickte herunter; und hinter ihm hob sich, freundlich lachend, das runde, gesund-weiß und rote Gesicht der Cilla.


3

Käte wußte selber nicht, wie sie so über die Wochen der Trennung hinwegkommen konnte. So schlimm, wie sie sich’s vorgestellt hatte, war es nicht. Sie fühlte, daß eine größere Ruhe über sie kam, eine Ruhe, die sie zu Hause nie finden konnte; und diese Ruhe tat ihr wohl. Sie schrieb ganz zufriedene Briefe, und die heiteren Berichte ihres Mannes von ›herrlichen Bergen‹ und ›herrlichem Wetter‹ freuten sie. Auch von Hofmann, der ihr, wie er’s versprochen hatte, treulich Kunde gab, hörte sie Gutes.

›Der Junge ist prächtig auf dem Zeuge,‹ schrieb er, ›um den brauchen Sie sich keine Sorge zu machen, liebe Frau! Er muß jetzt freilich seine Gespielen entbehren – ein Junge [S. 137] und ein Mädel sind krank –, denn mit dem dicken Stöpsel, der noch übrig ist, langweilt er sich allein. Er ist meist für sich im Garten; Friedrich hat ihm Salatpflanzen gegeben, auch Radieschen hat er sich gesät. Bei der Schularbeit habe ich ihn übrigens auch schon getroffen.‹

Gott sei Dank! Es war der Frau, als könne sie nun, wie einer Last ledig, frei atmen. Den Brief des alten Freundes trug sie lange in der Tasche mit sich herum, las ihn beim Spazierengehen, im Sitzen auf einer Bank und abends, wenn sie im Bette lag. ›Ein Junge und ein Mädchen sind krank –‹ o, die armen Kinder! Was mochte ihnen fehlen? Aber, Gott sei Dank, er war nur meist für sich im Garten allein! Das war das Beste!

Sie schrieb an ihren Jungen einen Brief, so recht vergnügt, und er antwortete ihr, und auch vergnügt. Der Brief an sich war freilich ein wenig drollig. ›Teure Mutter –‹ wie komisch! Und der ganze Stil – wie aus einem Briefsteller abgeschrieben! Sie nahm sich vor, diesen Brief in ihren nächsten an Paul einzulegen – was der wohl dazu sagen würde?! ›Teure Mutter!‹ – aber das freute sie doch, und auch das ›Dein gehorsamer Sohn‹, das darunter stand. Sonst enthielt der Brief eigentlich nichts, nichts von dem, was er trieb, nicht einmal etwas von den Lämkes, auch kein sehnsüchtiges ›Komm bald wieder‹; aber er war doch mit Sorgfalt geschrieben, sauber und deutlich, nicht so hingekritzelt, wie er sonst zu kritzeln pflegte. Und daraus ersah sie seine Liebe.

Auch ein Bildchen hatte er ihr beigelegt: ein kleines Viereck mit Spitzenpapierrand, darauf ein schneeweißes Lämmchen ein rosenrotes Fähnchen hielt; darunter stand in goldiger Schrift: » Agnus Dei, miserere nobis. «

Wo hatte er nur das her?! Gleichviel woher, er hatte [S. 138] ihr etwas schenken wollen! Und das kleine geschmacklose Bildchen rührte sie tief. Der gute Junge!

Sie legte das Bildchen mit dem Gotteslamm sorgfältig zu ihren Wertsachen; da sollte es immer bleiben. Eine zärtliche Sehnsucht überkam sie nach dem Knaben, und sie begriff nicht, wie sie so lange schon hatte ohne ihn aushalten können.


Der August war vorüber, der September schon fast halb vergangen, als Käte nach Hause zurückkehrte. Ihr Mann, der vor ihr eingetroffen war, kam ihr entgegengereist; in Dresden trafen sie sich, und ihr Wiedersehen war ein sehr herzliches. Er konnte sich gar nicht genug freuen über ihre klaren Farben, ihren klaren Blick; und sie wiederum fand ihn prächtig gebräunt, jugendlicher, fast so schlank wie einst.

Hand in Hand saßen sie in dem Coupé, das er sich hatte reservieren lassen; ganz allein, wie junge Liebesleute. Sie hatten sich unendlich vieles zu sagen – da war nichts, gar nichts, was sie störte. Mit großer Innigkeit sahen sie sich in die Augen.

»Wie freu ich mich, dich wiederzuhaben,« sagte sie, als er lange und lebhaft von seiner Reise erzählt hatte.

»Und ich erst dich!« Er nickte ihr zu und drückte ihre Hand. Ja, es war ihnen wirklich beiden, als wären sie eine Ewigkeit getrennt gewesen! Er zog sie noch näher an sich, hielt sie so fest, als wäre sie ein ihm schon halb entrissen gewesenes, teures Gut, und sie schmiegte sich an ihn, lehnte den Kopf an seine Schulter und lächelte verträumt.

Vor ihren halb geschlossenen Augen tanzten auf einem schwertbreiten, schrägen Sonnenstrahl unzählige goldne Stäubchen; das gleichmäßige Rasseln der Fahrt und das stille Gefühl Deiner großen Freude im Herzen lullte sie ein.

Plötzlich fuhr sie auf – war’s ein Ruck, ein Stoß?! [S. 139] Wie ein Schreck hatte sie’s durchfahren: sie hatte ja noch gar nicht nach dem Kinde gefragt!

»Wölfchen – was macht Wölfchen?!«

»O, dem geht’s sehr gut! Aber nun erzähle du mal, mein Herz, wie hast du denn die langen Tage dort hingebracht? Wie war der Tag eingeteilt? Also morgens zum Brunnen – erst mal einen Becher, dann den zweiten – und dann? Nun?!«

Sie erzählte nicht. »Wölfchen ist doch gesund?« fragte sie hastig. »Es stimmt gewiß nicht ganz – du erzählst ja so wenig von ihm?! Ich habe immer schon solche Ahnung gehabt! Ach Gott, so sage doch!« Fast gereizt klang ihr Ton – wie konnte Paul nur so gleichgültig sein! »Was fehlt Wölfchen?«

»Fehlt?!« Er sah sie ganz verwundert an. »Aber ich bitte dich, Käte, warum soll ihm denn durchaus etwas fehlen?! Er ist kerngesund!«

»Wirklich –?! Aber so erzähle doch, erzähle!«

Er lachte über ihre Ungeduld. »Was läßt sich von so einem Jungen erzählen?! Er schläft, ißt, trinkt, geht in die Schule, kommt nach Hause, läuft in den Garten, schläft, ißt, trinkt wieder und so fort, vegetiert wie die Pflanze im Sonnenschein. Erzähle du lieber, wie’s dir geht!«

»O, mir – mir« – das kam ihr auf einmal so überflüssig vor – »mir, ganz gut, du siehst es ja!« Welch eine Gleichgültigkeit hatte er gegen das Kind! Und sie – die Mutter –, hatte es auch so lange vergessen können?! Eine solche Beschämung kam über sie, daß sie hastig den Kopf von ihres Mannes Schulter hob und sich gerade aufsetzte. Nun waren sie keine Liebesleute mehr, nur Eltern, die sich um ihr Kind zu kümmern hatten!

Und sie sprach nur von ihm. [S. 140]

Paul fühlte den plötzlichen Umschwung in der Stimmung seiner Frau. Eine Verstimmung beschlich ihn: waren sie doch wieder auf dem alten Fleck?! Hatte sie schon wieder für nichts andres Interesse mehr als für den Jungen?! Er empfand keine Neigung weiter, von seiner Reise zu erzählen.

Immer einsilbiger wurde die Unterhaltung; an der nächsten Station kaufte er sich eine Zeitung, und sie lehnte sich in die Ecke und versuchte zu schlafen. Aber so abgespannt sie auch war, es gelang ihr nicht; ihre Gedanken streiften unruhig in allen möglichen Wendungen immer um den einen Punkt: also ihm fehlte nichts! Gott sei Dank! – Wie gleichgültig Paul doch war –, aber ob Wölfchen sich sehr freuen würde, daß sie wieder kam? Der liebe Junge – der geliebte Junge!

Zuletzt mußte sie doch ein wenig geschlummert haben, denn auf einmal hörte sie, wie von ganz weit her, die Stimme ihres Mannes: »Mach dich fertig, mein Herz! Berlin!« – und fuhr auf.

Schon waren sie im Gewirr zahllos sich kreuzender Gleise. Jetzt rauschte der Zug unter die Glashalle.

»So weit wären wir!« Er half ihr hinaus, und sie fing an vor Ungeduld zu zittern. Das war ja endlos, dieses Treppab- und Treppauflaufen, dieses Hinübergehen auf den andern Bahnsteig und dann das Warten und Lauern auf den Vorortzug! Ob Wölfchen auch noch nicht schlief? Es würde dunkel sein, bis sie draußen waren!

»Kommt der Zug bald? Wieviel Uhr ist es? Mein Gott, wie lange das dauert!«

»Beruhige dich, der Junge wartet auf dich! Was denkst du wohl, der sitzt jetzt abends noch immer lange bei der Cilla; am Tage hat sie nicht so viel Zeit für ihn. Ein nettes Mädchen! Du hast einen guten Griff getan!«

Sie überhörte das ganz, dachte sie doch immerwährend [S. 141] daran, wie sie ihn finden würde. Ob er sehr gewachsen war?! Sich verändert hatte?! Kinder in seinem Alter sollen sich ja immerfort ändern – ob er sich verhäßlicht hatte oder ob er noch so hübsch war? Gleichviel – früher hatte sie mehr auf das Äußere gegeben – wenn er jetzt nur lieb, recht lieb war! Schon hörte sie seinen Jubelschrei, schon fühlte sie seine Arme um ihren Nacken, seinen Kuß auf ihrem Mund.

Der Wind, der angenehm abendlich geworden war, nach dem immerhin noch heißen Herbsttag, fächelte ihr Gesicht, ohne die von innen heraus glühenden Wangen kühler machen zu können. Als sie vorm Hause anhielten, das, anmutig versteckt, mit seinen Balkonen voll leuchtend roter Geranien hinter den immergrünen Kiefern unterm reichgestirnten Septemberhimmel lag, klopfte ihr das Herz, als wäre sie viel zu weit und zu rasch gelaufen. Endlich! Sie atmete tief auf: nun war sie wieder bei ihm!

Aber er kam ihr nicht entgegengelaufen. Daß er auch gar nicht aufgepaßt hatte!

»Sie werden auf der Veranda, hinten heraus, sitzen,« sagte Schlieben. »Da sitzen sie immer des Abends!« Er blieb ein wenig zurück. Mochte Käte den Jungen nur erst mal für sich allein begrüßen!

Und sie eilte durch die Halle, an dem freundlich strahlenden Gesicht der Köchin vorüber, sah nicht den Friedrich, der jetzt die Dienerlivree angelegt hatte, nachdem er vorher noch alles mit seinen selbstgezogenen Blumen dekoriert hatte; sie bewunderte weder seine gärtnerischen Erfolge, noch die selbstgebackene Torte, die die Köchin auf den festlichen Tisch gestellt hatte. Aus der Halle war sie in ihren kleinen Salon und von da durchs Eßzimmer gelaufen, dessen Tür auf die Veranda führte. Die Tür war geöffnet – nun stand sie auf der Schwelle – die draußen gewahrten sie nicht. [S. 142]

Von den Windlichtern auf dem Verandatisch brannte nur eins, leidlich hell, um nahebei zu leuchten. Aber Cilla tat nichts. Den Strumpf, den sie stopfen sollte, hatte sie im Schoß; ihre rechte Hand, in der sie die lange Stopfnadel hielt, ruhte lässig auf dem Tischrand. Sie hatte sich ein wenig hintenüber gelehnt; ihr Gesicht, in diesem Zwielicht feiner und schöner, war emporgehoben; sie schien nachzudenken, den Mund halbgeöffnet.

Von Wolfgang sah man nichts. Aber jetzt hörte die Mutter ihn sprechen im Ton des Bedauerns: »Weißt du nicht weiter?! O!« Und dann drängend: »Weiter, Cilla, weiter, es war ja so schön!«

Aha, nun sah sie auch ihn! Er saß dem Mädchen zu Füßen, auf einem ganz niedrigen Schemel, dicht an dessen Knie gedrückt. Und er wendete das Gesicht jetzt zu dem Mädchen auf – bittend, begehrend – sah es an mit Augen, die wie polierter dunkler Achat glänzten, und sprach in einem Tone, wie die Mutter noch nie von ihm gehört zu haben glaubte: »Singe, Cillchen! Liebes Cillchen singe!«

Die Magd stimmte an:

»›Bebe nicht, sprach sie mit leiser Stimme‹ –

Ach nee!

›Ich erscheine nicht vor dir im Grimme‹ –

Nee, auch nich!

›Warum glaubt’ ich Schwache deinen Schwüren,‹ –

Nee, ich weiß nich weiter. Nu sag einer! Un ich hab’s bei mir zu Hause doch so ofte gesungen. Bei uns im Dorfe, wenn wer abends gingen, mein Schatz un ich. I,« – sie stampfte ärgerlich auf – »daß mer so was auch vergessen tut!«

»Ärger dich nicht, Cillchen! Du mußt dich nicht ärgern. Fang doch noch mal von vorne an, das macht ja nichts. Ich, hör’s gern noch mal, immer noch mal! Fein ist das!« [S. 143]

›Cillchen – Cillchen‹ – wie spielerig das klang, ordentlich zärtlich! Und wie er an ihren Lippen hing!

Käte streckte den Kopf weit vor; sie stand schon auf der Veranda, und die beiden bemerkten sie noch immer nicht.

Die Magd sang, leierig und zeternd, wie sie daheim auf der Dorfstraße gesungen hatte, aber des Knaben Augen glitzerten und wurden groß dabei. Seine Lippen bewegten sich, als ob er’s mitsänge:

»Heinrich lag bei seiner Neuvermählten,
Einer reichen Erbin von dem Rhein,
Schlangenbisse, die den Falschen quälten,
Ließen ihn nicht süßen Schlafs sich freun.
Zwölfe schlug’s, es drang durch die Gardine
Plötzlich eine kleine weiße Hand,
Was erblickt er? Seine –«

Die Sängerin stockte – ein tiefer Atemzug zitterte plötzlich über die Veranda. Der Knabe schrie erschrocken laut auf – da stand sie, da stand sie!

»Aber Wolfgang – Wölfchen!« Die Mutter streckte ihm die Arme entgegen, doch er verbarg den Kopf in dem Schoße der Magd.

Kätes finsterer Blick streifte das Mädchen: was war das für ein Unsinn, ihm solche Lieder vorzusingen!

»Och, die Frau – die gnädige Frau!« Rot werdend schnellte Cilla auf und ließ alles, was sie auf dem Schoß hatte – Strumpf, Stopfei, Wollknäuel und Schere – zu Boden gleiten; auch den Jungen.

Warum waren die beiden so erschrocken?! Als sei sie ein Gespenst, so starrte Wolfgang sie ja an!

Er war jetzt aufgestanden, hatte die Mutter begrüßt, mechanisch das Gesicht zu ihr aufgehoben, um ihren Kuß zu empfangen; aber sie merkte ihm keine Freude an. Oder [S. 144] war es Befangenheit, eine knabenhafte Scham, weil sie ihn belauscht hatte? Seine Augen sahen sie gar nicht voll an, streiften sie aber immerfort von der Seite. War sie ihm denn fremd geworden – so fremd?!

Eine unsägliche Enttäuschung durchzog der Heimkehrenden Herz, und ohne daß sie es beabsichtigte, klang der Ton schroff, in dem sie das Mädchen jetzt hinausgehen hieß. Sie setzte sich auf den eben verlassenen Platz am Tisch und zog ihren Knaben an sich.

»Wie ist dir’s denn gegangen, Wölfchen? Nun sage doch – gut?!«

Er nickte.

»Hast du denn auch Mutterchen ein bißchen vermißt?!«

Er nickte wieder.

»Ich habe dir auch so viele schöne Sachen mitgebracht!«

Da wurde er lebhaft. »Hast du auch für Cilla was mitgebracht? Einen Nähkasten mit allerlei drin könnte die gut gebrauchen; weißt du, sie hat nur so ’nen alten von der Schule her. Och, die kann mal fein erzählen – so gruselig! Und singen! Laß dir das mal vorsingen:

›Ein niedliches Mädchen, ein junges Blut,
Erkor sich ein Landmann zur Frau,
Doch sie war einem Soldaten so gut
Und bat ihren Alten ganz schlau –‹

Ich sag dir, zum Schießen ist das!«

Und lachend begann er weiterzuträllern:

»Er möchte doch fahren ins Heu, juchhei,
Ins Heu, juchhei –«

»St – – –!« Sie legte ihm die Hand auf den Mund.

»Das ist gar kein schönes Lied – ein garstiges Lied! Das wirst du nie mehr singen!«

»Aber warum denn nicht?« Er sah sie mit runden Augen erstaunt an. [S. 145]

»Weil ich es nicht wünsche,« sagte sie kurz. Sie war empört: morgen, ja morgen, da würde sie dem Mädchen aber ihre Meinung nicht vorenthalten!

Jetzt waren ihre Wangen nicht mehr heiß; eine empfindliche Kühle schauerte über die Veranda, die ihr eisig bis ans Herz griff. Als Paul rief: »Aber, Käte, wo steckst du denn? Lege doch erst ab!« folgte sie rasch seinem Ruf.

Der Knabe blieb allein stehen und sah mit blinzelnden, träumerischen Augen in die milde, jetzt ganz dunkle Nacht. Ha, das war doch so schön, wie die Cilla gesungen hatte! Morgen mußte Cilla wieder singen und erzählen! Wenn sie nun auch wieder da war! Ein ungestörtes Plätzchen würde doch noch zu finden sein! –

Käte schlief gar nicht in dieser ersten Nacht, obgleich sie todmüde war. Vielleicht zu müde. Sie hatte noch eine lange Auseinandersetzung mit Paul gehabt, als sie schon zu Bette lagen. Er hatte ihr recht gegeben, daß weder das eine noch das andre Lied sehr passend war, aber – »Du lieber Gott,« hatte er gesagt, »was hört man als Kind nicht alles, und es geht spurlos an einem vorbei!«

»An dem nicht!« Und dann klagte sie: »Ich habe so oft versucht, ihm wirklich Schönes vorzulesen, das Beste unserer Dichter – aber gar kein Interesse, noch gar kein Verständnis! Und für solche – solche« – sie suchte einen Ausdruck und fand ihn nicht – »für so etwas begeistert er sich! Aber ich leide es nicht, ich dulde es nicht! Dergleichen darf nicht in seine Nähe!«

»Dann entlasse die Dienstboten,« hatte er ärgerlich gesagt. Er war eben im Einschlafen und wollte nicht mehr gestört sein. »Gute Nacht, mein Herz, schlaf dich aus! Übrigens bist du ja nun wieder da und wirst schon das Deine tun!« [S. 146]

Ja, das würde sie auch! –

Sie ließ den Knaben von nun ab nicht mehr aus den Augen. Und ihre Ohren waren überall. Es lag kein Grund vor, das Mädchen zu entlassen – es war ehrlich und sauber, tat seine Schuldigkeit – nur mit Wölfchen durfte es nicht mehr allein sein. Wolfgang ging ins zwölfte Jahr, eine Überwachung durch eine Dienerin war überhaupt nicht mehr möglich.

Aber es war schwer für Käte, ihren Vorsätzen treu zu bleiben. Ihr Mann machte doch auch seine Ansprüche, und ihr Haus, ihre Geselligkeit; es war nicht möglich, alles andre abzuschütteln, aufzugeben, zu verabsäumen, nur um des einen: um des Kindes willen. Und sie durfte Paul doch auch nicht anhaltend verstimmen, ihn womöglich ernstlich gegen das Kind erzürnen; davor zitterte sie. Sie mußte zuweilen mit ihrem Mann in Gesellschaft gehen, er freute sich, wenn sie – gut angezogen – als liebenswürdige Frau gesucht ward. Er ging gerne – ach, und viel, viel zu oft! Gerade diesen Winter hatte sie geglaubt, doppelt auf der Hut sein zu müssen. Und sie instruierte die Köchin und den Diener, ersuchte beide dringend, aufzupassen. Die waren ganz verwundert: wenn die gnädige Frau so wenig zufrieden war, sollte die gnädige Frau doch der Cilla kündigen, zum ersten Januar gab’s ja Mädchen genug!

Unwillig wendete sich Käte ab: wie häßlich von den Dienstboten, die andre herausbeißen zu wollen! Ungerecht durfte sie gegen das Mädchen denn doch nicht handeln. Und wenn ein andres ins Haus kam, konnte es da nicht ebenso sein?! Dienstboten sind immer eine Gefahr für Kinder. –

Wolfgang entwickelte sich sonst sehr gut, besonders körperlich. Nicht, daß er gerade so sehr in die Höhe schoß; er ging mehr in die Breite, wurde stämmig, mit einem festen [S. 147] Nacken. Wenn er mit den Lämkes vor der Tür Schneeballen warf, sah er älter aus als der gleichaltrige Artur, sogar älter als Frida. Er wurde eben anders genährt als diese Kinder. Mit Wohlgefallen sah die Mutter seine reine, frische Haut, die gepflegt war durch warme Bäder und die tägliche kalte Abreibung am Morgen. Und zum Friseur mußte er alle vierzehn Tage, da wurde der dichte, glatte, dunkle Haarschopf, der aber trotz aller Sorgfalt etwas Grobfädiges behielt, verschnitten, gewaschen und mit stärkender Essenz eingerieben. Beinahe verkümmert sahen die Lämkes aus gegen ihn; sie hatten ja auch vor nicht zu langer Zeit erst die Nachwehen des Scharlach überstanden. Wenn nur Wölfchen das nicht auch bekam. Käte hatte große Angst davor. Bis vor kurzem hatte sie ihn von den Lämkes ferngehalten; aber freilich in der Schule war stete Ansteckungsgefahr. Ach Gott, man kam wegen des Kindes eben nie zur Ruhe! –

*     *

*

Sie hatten sich recht munter draußen getummelt. Der See, der unterhalb der Villen, wie ein stilles Auge zwischen den dunklen Waldrändern liegt, war zugefroren; Wolfgang und die halbe Klasse liefen dort Schlittschuh. Käte war nach Tisch auch eine Weile am Ufer auf und ab gewandert und hatte ihren Jungen beobachtet. Wie nett er schon lief! Sicherer und besser als mancher der Jünglinge, die da Achter zogen und Kreise beschrieben, holländerten und mit ihren Damen tanzten. Er versuchte auch schon allerlei Kunststücke, er hatte wirklich Courage. Daß er nur nicht hinfiel oder einbrach! Und immer lief er der tiefen Mitte des Sees zu, wo noch Strohwische steckten! Der Mutter war, als könnte ihm nichts geschehen, wenn sie hier am Ufer stand und ihn unablässig mit [S. 148] den Augen verfolgte. Endlich aber erstarrten ihre Füße gänzlich, und sie mußte heimgehen.

Als er gegen Dunkelwerden nach Hause kam, war er unendlich frisch. Mit Freudigkeit sprach er vom Eislauf. »Ha, das war mal fein! Ich möchte immer so laufen – morgen, übermorgen – alle Tage – und immer weiter, weiter! Der See ist viel zu klein!«

»Bist du denn gar nicht müde?« fragte die Mutter und lächelte ihn an; sie konnte sich nicht satt an ihm sehen, er sah so strahlend aus.

»Müde?« Ein fast geringschätziges Lächeln zog seine Mundwinkel herab. »Ich werde nie müde. Von so was nicht! Die Cilla hat gesagt, sie möchte auch gern mal mit mir laufen!«

»Ach, warum nicht gar?!« Schlieben, der mit beim Kaffeetisch saß, lächelte gutgelaunt; es machte ihm Spaß, den frischen Jungen ein wenig zu necken. »Dann wird sich die Mutter eben während der Eiszeit ein zweites Hausmädchen engagieren müssen!«

Wolfgang verstand den leisen Spott nicht. Ganz glücklich rief er: »Ja, das soll sie tun!« Aber dann wurde sein Gesicht lang: »Aber sie hätte keine Schlittschuhe, sagt sie. Vater, du mußt ihr welche kaufen!«

»Den Kuckuck werd ich – na, das fehlte noch!« Der Hausherr lachte laut auf. »Nein, mein Junge, die Cilla in Ehren, aber sie Schlittschuh laufen zu lassen, das wäre denn doch ein bißchen übertrieben! Nicht wahr?«

Er sah zu seiner Frau hin, die ganz gegen ihre Gewohnheit laut mit den Tassen klapperte. Sie sagte nichts, sie nickte nur stumm mit gänzlich veränderter, kühler Miene.

Der Knabe begriff das nicht: warum sollte die Cilla nicht Schlittschuh laufen?! Hatte die Mutter was gegen sie? [S. 149] Komisch! Immer, wenn ihm was so recht, recht gefiel, gefiel’s ihr nicht!

Er stützte, an seinem Arbeitspult sitzend, den Kopf in beide Hände; der war ihm schwer. Die Augen brannten ihm und tränten, wenn er sie fest aufs Heft richtete – er mußte doch wohl müde geworden sein. Das wurde keine gute lateinische Arbeit! Im Geist sah er schon, wie der Lehrer die Achseln zuckte und ihm, über so und so viel Köpfe weg, das Heft auf die Bank feuerte: ›Schlieben, zehn Fehler! Junge, Mensch, zehn Fehler! Wenn du dich nicht zusammennimmst, kommst du Ostern nicht mit nach Quarta herüber?!‹

Pah, das war ihm ja ziemlich egal – nein, eigentlich ganz egal. Es war ihm überhaupt jetzt alles egal, schrecklich egal. Er fühlte sich auf einmal todmüde. Warum sie nur der Cilla nichts gönnen wollte? Die erzählte doch so fein! Was hatte die doch gestern abend, als die Eltern aus waren und sie sich an sein Bett geschlichen hatte, erzählt? Von – von –?! Er konnte nichts mehr zusammenbringen, seine Gedanken verwirrten sich.

Der Kopf sank vornüber aufs Pult; die Arme lang vor sich über seine Bücher gestreckt, schlief er ein.

Als er erwachte, mochte wohl eine Stunde vergangen sein, aber er fühlte sich doch nicht ausgeruht. Fröstelnd, mit starren Augen sah er sich im Zimmer um. Alle Glieder taten ihm weh.

Und sie taten ihm auch die Nacht durch noch weh, er konnte nicht schlafen; mit schweren Füßen schleppte er sich am anderen Nachmittag auf die Eisbahn.

Viel früher als sonst kam er vom Schlittschuhlaufen wieder nach Hause. Er mochte nichts essen und nichts trinken, immer kam ihn eine Übelkeit an. »Sieht der Junge heute grün aus,« sagte der Vater. Die Mutter strich ihm besorgt [S. 150] die Haare aus der Stirn: »Fehlt dir was, Wölfchen?« Er verneinte.

Aber als wieder der Abend gekommen war und der Wind draußen in den Kiefern flüsterte und eine gespenstische Hand an die Fenster rührte – huh, eine kleine weiße Hand wie in Cillas Lied –, lag er im Bett, schüttelte sich vor Frost, trotz der weichen warmen Decke, fühlte, daß ihm der Hals weh tat und daß es in seinen Ohren stach und brannte.

»Er ist krank,« sagte Käte sehr besorgt am Morgen. »Wir wollen doch gleich Hofmann kommen lassen!«

»Ach, es wird schon nicht so schlimm sein,« beruhigte der Mann. »Laß ihn im Bette, gib ihm Zitronenlimonade zum Schwitzen und auch was zum Abführen. Er hat sich den Magen verdorben oder ist erkältet!«

Aber schon am Mittag mußte der Arzt herbeitelephoniert werden. Der Knabe lag, nicht mehr klar, in hohem Fieber.

»Scharlach!« Prüfend besah der Sanitätsrat die entblößte Brust und zog dann sorgfältig die Decke wieder höher. »Aber der Ausschlag ist noch nicht recht heraus!«

»Scharlach –?!« Käte glaubte in die Knie sinken zu müssen – o, davor hatte sie sich immer so sehr gefürchtet!

*     *

*

Das frische Frostwetter mit dem blanken Sonnenschein und dem fast sommerblauen Himmel hatte aufgehört. Graue Tage mit schwerer Luft hingen über dem Villendach; Käte, die am Fenster des Krankenzimmers stand und mit überwachten Augen hinausstarrte in die schwarzen Kiefernwipfel, die da trauerten in der Nebeltrübe, glaubte nie grauere gesehen zu haben.

Die Krankheit hatte den Knaben mit Macht gepackt; als sei sein vollsaftiger, wohlgenährter Körper so recht ein Herd, [S. 151] in dem die Flammen des Fiebers wüteten. Hofmann schüttelte den Kopf: überall war der Scharlach so gutartig aufgetreten, nur hier nicht! Und er warnte vor Erkältung, verordnete dies und das, tat sein Bestes – nicht bloß aus Pflicht, nein, aus tiefstem, herzlichstem Anteilgefühl heraus – er war dem strammen Jungen immer so gut gewesen. Sie taten alle ihr Bestes. Jede Vorsicht wurde angewendet, jede Rücksicht – es sollte ja alles, alles für ihn geschehen!

Käte war unermüdlich. Die Hilfe einer Krankenschwester hatte sie abgelehnt; mit Heftigkeit wehrte sie sich gegen ihren Mann, gegen den alten Freund: nein, sie wollte ihr Kind allein pflegen! Eine Mutter wird nicht müde, o nein!

Paul hatte nie geglaubt, daß seine Frau so viel leisten und dabei so geduldig sein könnte – sie, die Nervöse, so unermüdlich, so unverzagt! Wohl hatte sie immer einen leisen Tritt gehabt, nun hörte man ihn gar nicht mehr, wenn sie durch die Krankenstube glitt; bald war sie an der linken Seite des Bettes, bald an der rechten. Sie, deren Kräfte so leicht versagten, wenn auch der Wille gut war, war immer, immer auf dem Platz. Es gab viele Nächte, in denen sie keine Stunde Schlaf fand; wie ein Schatten saß sie dann am Morgen in dem großen Lehnstuhl am Bett, aber sie war doch voller Freudigkeit: Wölfchen hatte ja fast zwei Stunden geschlafen!

»Tu dir nicht zu viel, tu dir nicht zu viel,« bat der Mann.

Sie wies ihn ab: »Ich fühl’s nicht! Ich tu es ja so gerne!«

Wie lange sollte das so gehen? Würden, konnten diese Kräfte anhalten?! »Laß doch wenigstens das Mädchen eine Nacht bei dem Jungen wachen! Sie will dich ja so gerne ablösen!«

»Die Cilla–?! Nein!«

Cilla hatte sich immer und immer wieder angeboten: o, [S. 152] sie wollte wohl gut aufpassen, sie verstand’s, war doch auch ein kleiner Bruder von ihr am Scharlach gestorben! »Lassen Sie mir,« bat sie, »ich schlafe nich, ich passe so gut auf!«

Aber Käte wies sie zurück. Es war ihr jedesmal wie ein Stich, wenn sie in den Nächten, die so schwarz und lang waren, ihren Knaben im Fiebertraum sprechen hörte: »Cillchen – wir wollen doch fahren ins Heu – juchhei – Cillchen!«

O, wie sie dieses rundwangige Mädchen mit den hellen Augen haßte! Aber mehr als sie es haßte, fürchtete sie es. In den Stunden der Finsternis, in jenen Stunden, in denen sie nichts hörte als das Stöhnen des Kranken und das rastlose Pochen des eignen Herzens, wandelte sich ihr das Mädchen in eine andre Gewalt. Groß und breit tauchte die auf aus der Nacht, stellte sich dreist ans Bett des Kindes, und in ihrem Blick, der stumpf war und ohne Intelligenz, flammte doch etwas auf vom Triumph der Macht.

Dann faßte die überwachte Frau sich wohl an die Schläfen, in denen es hämmerte, und streckte die Arme aus, wie abwehrend: nein, nein, du da, geh fort! Aber das Phantom blieb stehen am Bett des Kindes. Wer war es: die Mutter – das Venn – die Dienstmagd – Frau Lämke?! Ach, alle waren eins!

Über Kätes Gesicht liefen qualvolle Tränen. Wie der Junge jetzt lachte! Sie beugte sich über ihn, so dicht, daß ihrer beider Atemzüge sich mengten und, wie sie es früher schon getan hatte, flüsterte sie ihm auch jetzt zu: »Mutterchen ist hier, Mutterchen ist bei dir!«

Aber er gab kein Zeichen des Erkennens. – – – – –

Cilla hatte ein dick verweintes Gesicht, als sie die Küchentür im Souterrain, an der leise geklopft wurde, öffnete. Flüsternd sagte Frau Lämke guten Tag; sie hatte bis jetzt immer die Kinder herangeschickt, aber gestern waren die mit einem [S. 153] so verwirrenden Bericht nach Hause gekommen, daß die Unruhe sie nun selber hertrieb. Sie wollte sich erkundigen. Draußen vor dem Gitter hielten zwei Doktorwagen, das hatte sie aufs neue erschreckt.

»Wie jeht’s denn, wie jeht’s denn heute?«

Das Mädchen brach in Tränen aus. Es zog stumm die Frau in die Küche, wo die Köchin, ohne in irgend einer Kasserolle zu rühren, am Herd lehnte, während Friedrich eben, auf einen Druck der elektrischen Klingel von oben, wie ein Gehetzter hinausschoß.

»Nee, ich sage schon!« Die Lämke schlug die Hände zusammen. »Is ’s denn schlimm, wirklich so schlimm mit den Jungen?«

Cilla nickte nur, ihre überströmenden Augen in der Schürze verbergend, aber die Köchin sagte dumpf: »Es jeht zu Ende!«

»Zu Ende – stirbt er wirklich – der Wolfjang, der Junge?!« Die Frau starrte ungläubig: das konnte ja nicht sein! Aber sie war schreckensbleich geworden.

Die Köchin lenkte ein: »Nu, schlimm jenug is ’s! Unser Doktor hat noch ’nen andern Professor zugezogen, ’nen janz berühmten – jestern war der schonst hier – aber sie jlauben nich, daß se noch was machen können. Die Krankheit is auf die Nieren jeschlagen und aufs Herz. Er kennt einen ja jar nich mehr! Heut morgen war ich drinne, ich wollt ihn doch jerne noch mal sehn – da lag er janz steif und still, wie aus Wachs. Ich jlaube, das wird nischt mehr!« Die gutmütige Person weinte.

Sie weinten alle drei, um den Küchentisch sitzend. Frau Lämke vergaß ganz, daß sie diese Küche nie mehr hatte betreten wollen, und daß ihr Kohl, den sie daheim zum Mittagessen aufgesetzt hatte, nun wohl verbrannte. »Jotte doch, Jotte doch,« sagte sie ein über das andre Mal, »wie wird sie da über wegkommen, so ’n Kind – so ’n einzig liebet Kind!« [S. 154]

Oben standen die Ärzte am Krankenbett, der alte Hausarzt und die noch junge Autorität. Sie standen zur Rechten und zur Linken.

Der Ausschlag war ganz zurückgetreten; keine Spur von Röte war mehr auf dem Gesicht des Knaben, der die Augen mit den erschreckend dunklen Wimpern beharrlich geschlossen hielt. Die Lippen waren blau. Die breite, aber jetzt förmlich eingesunkene Brust zitterte und arbeitete.

Bei jedem mühsamen Atemzug atmete Käte mühsam mit. Sie saß im Sessel zu Füßen des Bettes, steil aufrecht; so hatte sie die ganze Nacht gesessen. Ihr angstvoll-bohrender Blick flog über die bedenklichen Gesichter der Ärzte und stierte dann an ihnen vorbei ins Leere. Da standen sie, zur Rechten und zur Linken – aber da, da – sahen sie’s denn nicht?! – da zu Häupten stand der Tod!

Mit einem unartikulierten Laut bäumte sie sich auf, dann sank sie, wie geknickt, in sich zusammen.

Die Ärzte hatten dem todkranken Kinde eine Injektion gemacht; die Herzschwäche war sehr groß und ließ das Schlimmste befürchten. Dann empfahl sich die Autorität: »Auf morgen!« – aber es lag ein Achselzucken und ein ›Wer weiß?!‹ in diesem ›Auf morgen‹.

Der Hausarzt war noch geblieben; er konnte als Freund nicht gehen. Käte hatte sich an ihn geklammert: »Helfen Sie! Helfen Sie doch meinem Kinde!« Nun saß er mit Schlieben unten in dessen Arbeitszimmer; Käte hatte allein bei dem Kranken bleiben wollen, nur in der Nähe wissen wollte sie ihn.

Stumm saßen die beiden Männer bei einem starken Wein. »Trinken Sie, trinken Sie doch, lieber Freund,« sagte wohl der Hausherr; aber er selber trank auch nicht. Wie wird sie’s ertragen, wie wird sie’s ertragen?! Das surrte beständig durch seinen Kopf. Die Stirn in tiefe Falten gezogen, [S. 155] versank er in ein Brüten. Und der Arzt störte ihn nicht.

Droben lag Käte auf den Knieen. Vor dem Sessel, im dem sie all die bangen Nächte durchwacht hatte, war sie niedergesunken und hielt die Hände gegen ihre emporgehobene Stirn gedrückt. Jetzt suchte sie da oben, jetzt suchte sie den Gott, der ihr das Kind, das er ihr einst gütig in den Weg gelegt hatte, nun wieder grausam entreißen wollte. Sie schrie zu Gott in ihrem Herzen:

›Gott, Gott! Nimm ihn mir nicht! Du darfst ihn mir nicht nehmen! Ich habe sonst nichts mehr auf der Welt! Gott, Gott!‹

Alles, was sie um sich hatte, was sie sonst noch besaß, – auch ihr Mann – war vergessen. Sie hatte jetzt nur dieses Kind. Dieses einzige Kind, das so lieb, so gut, so klug, so brav, so folgsam, so schön, so reizvoll, so über alle Maßen liebenswert war, das ihr Leben so hoch beglückt, so reich gemacht hatte, daß sie arm, bettelarm wurde, wenn es von ihr ging.

»Wölfchen, mein Wölfchen!«

Wie war er immer, immer lieb gewesen, so ganz ihr Kind. Jetzt wußte sie nichts mehr von Tränen, die sie seinetwegen vergossen hatte; hatte sie je welche geweint, so waren es Freudentränen, ja, nur Freudentränen gewesen. Nein, sie konnte ihn nicht missen!

Aus ihrer betenden Stellung auffahrend, rutschte sie näher an sein Bett. Seinen erkaltenden Körper nahm sie in ihre Arme, bettete ihn in Verzweiflung an ihre Brust und hauchte ihren glühenden Atem über ihn hin. All ihre Wärme wollte sie ausströmen lassen in ihn, mit der Kraft ihres Wollens ihn festhalten auf dieser Erde. Wenn seine Brust nach Luft rang, so rang auch ihre Brust, wenn sein Herzschlag stockte, [S. 156] stockte auch der ihre. Sie fühlte sich kalt werden durch seine Kälte, ihre Arme erlahmen. Aber sie ließ ihn nicht. Sie rang mit dem Tode, der zu Häupten stand – wer war stärker, der Tod oder ihre, der Mutter, Liebe?!

Niemand konnte sie von des Knaben Bette verdrängen, auch nicht die Krankenschwester, die Hofmann, als er endlich am Nachmittag in die Stadt zurück mußte, herausgesandt hatte. Mit sanfter Gewalt versuchten die Pflegerin und Schlieben sie emporzuziehen: »Nur eine Stunde Ruhe, nur eine halbe! Nebenan oder auch hier auf dem Sofa!«

Aber sie schüttelte den Kopf und blieb auf den Knieen: »Ich halte ihn, ich halte ihn!« –

Es wurde Abend. Es wurde Mitternacht. Es hatte vordem stark geweht draußen, nun war es sehr still geworden. Totenstill. Kein Wind rüttelte mehr an den Kiefern, die ums Haus standen; kerzengerade gereckt standen sie gegen den hellen Frosthimmel, ihre Kronen waren steif wie aus unbiegsamer Pappe geschnitten. Unbarmherzig flinzelten die Sterne; in der schimmernden Silberplatte des gefrorenen Sees, den das starke Wehen reingefegt hatte vom feuchten Schnee der vorhergehenden Tage, spiegelte sich der Vollmond. Eine grimmige Kälte war urplötzlich gekommen, die alles einzufangen schien mit ihrem Todeshauch.

Fröstelnd schauerten die Wachenden zusammen. Als Schlieben auf den Thermometer sah, war er erschrocken, wie wenig der selbst hier im Zimmer zeigte. Versagte die Heizung? Man sah ja den eignen Atem. Hatten die Leute nicht neue Kohlen aufgeschippt?

Er ging selber hinab ins Souterrain, er hätte klingeln können, aber es war ihm ein Bedürfnis, etwas zu tun. O, wie war man doch so schrecklich tatenlos! Stumm kauerte seine Frau jetzt im Lehnstuhl, mit großen starren Augen; die [S. 157] Pflegerin schlief halb, nichts regte sich im Zimmer. Auch das Kind lag so still, als wäre es schon tot.

Eine große Bangigkeit befiel den Mann, der jetzt durch das nächtliche Haus tappte. Es war etwas so Lähmendes in dieser Stille; alles – die Zimmer, die Treppe, die Halle – alles kam ihm auf einmal so fremd vor. Fremd und leer. Wie waren sie doch vordem belebt gewesen vom Hauch der Jugend, erfüllt von der ganzen unbändigen Unbekümmertheit eines wilden Knaben!

Schwer stützte er sich aufs Treppengeländer, unsicher tastete er sich hinab. Ob die Leute unten noch auf waren?!

Er fand sie noch alle. Um den Tisch in der Küche, die jetzt so kalt war, als hätte nicht den ganzen Tag ein hellloderndes Feuer im Herd gebrannt, saßen sie frierend beisammen. Die Köchin hatte einen starken Kaffee gekocht, aber auch der hatte ihnen nicht wärmer gemacht. Durchs ganze Haus schlich eine Todeskälte; es war, als seien Eis und Schnee von draußen hereingekommen, als fege der Todeshauch der erstarrten Natur auch hierinnen vom Giebel bis zum Keller.

Es nützte nichts, daß noch mehr Kohlen dem großen Ofen in den Rachen geschüttet wurden, nichts, daß das Wasser heißer durch alle Röhren strömte. Kein Mensch bekam wärmere Füße, wärmere Hände.

»Wir wollen es bei dem Patienten mit einem sehr heißen Bad versuchen,« sagte die Pflegerin. Sie hatte schon oft in ähnlichen Fällen dieses letzte Mittel von Erfolg gekrönt gesehen.

Alle Hände rührten sich. Die Köchin feuerte, die beiden andern schleppten das kochende Wasser hinauf; aber Cilla trug mehr und rascher als der Friedrich. Sie fühlte ihre ganze unerschöpfliche, schaffensfreudige Jugendkraft. Wie gern tat sie das für den guten Jungen! Und bei jedem Eimer, den sie in die vors Bett gestellte Wanne schüttete, murmelte sie leise [S. 158] ein Stoßgebet; sie konnte sich nicht bekreuzen, sie hatte keine Hand frei, konnte auch nicht niederknieen, aber sie war gewiß, die Heiligen würden sie doch erhören.

»Heilige Maria! Heiliger Joseph! Heilige Barbara! Heiliger Schutzengel! Heiliger Michael, streite für ihn!«

Unten hatte sich die Köchin ihr Gesangbuch vorgesucht; sie war eine Protestantin und brauchte es nicht alle Tage. Nun schlug sie es auf, aufs Geratewohl: wie es traf, so traf’s! O weh! Zitternd zeigte sie es dem Friedrich. Da stand:

›Wenn ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir –‹

O weh, der Junge muß sterben! Sie waren beide wie gelähmt vor Schreck.

Derweilen flog die flinke Cilla treppauf, treppab. Ihr war nicht mehr so bange. Er würde nicht sterben, des war sie jetzt sicher.

Als sie ihn drinnen in die Wanne hoben, Schlieben und die Pflegerin, und die Mutter die schwachen Hände unterhielt wie zur Unterstützung, stand Cilla draußen vor der Tür und rief wieder ihre Heiligen an. Gern hätte sie ihr Andachtsbüchlein, ihr ›Brot der Engel‹, zur Hand gehabt, aber es fehlte an Zeit, es zu holen. So sammelte sie nur ihr ›Hilf‹ und ›Erbarme dich‹, ihr ›Gegrüßet‹ und ›Streite für ihn‹ mit der ganzen Hingabe ihrer Gläubigkeit.

Und drinnen begannen sich die Wangen des todbleichen Knaben zu röten. Die Lippen, die sich so lange zu keinem Laut geöffnet hatten, stießen jetzt einen Seufzer aus. Er war warm, als sie ihn ins Bett zurücklegten. Bald war er heiß;, das Fieber setzte wieder ein.

Die Schwester blickte besorgt: »Jetzt Eis! Wir müßten es mit Eisblasen versuchen!«

Eis! Eis! [S. 159]

»Ist Eis im Hause?« Hastig kam Schlieben aus der Krankenstube heraus, er stieß fast die Tür gegen die Stirn des betenden Mädchens.

Eis! Eis! Sie waren beide miteinander hinuntergelaufen. Aber auch die Köchin wußte keinen Rat: nein, Eis war nicht da, man hatte nicht geglaubt, welches nötig zu haben.

»Schnell, zur Apotheke!«

Der Diener stob davon, aber – großer Gott – ehe der zur Apotheke gelangte, jemanden weckte und wieder zurück war, konnte die Flamme da oben so hoch aufgeflammt sein, daß die arme kleine Kerze schon aufgezehrt war! Ganz wirr vor Angst blickte der Mann umher, da sah er, wie Cilla mit Fleischbeil und Wassereimer zur Hintertür lief.

»Ich hole Eis!«

»Wo denn?!«

»Da!« Sie lachte und hob den bewehrten Arm, daß das Beil blitzte. »Unten im See ist ja Eis genug. Ich geh, welches hacken!«

Schon war sie hinaus; er lief hinter ihr drein, ohne Hut, ohne Mütze, nur mit dem leichten Hausrock bekleidet, den er im Zimmer trug.

Vor der aufglimmenden Hoffnung wichen die Schrecken der Nacht, er fühlte augenblicklich die Kälte nicht. Aber als nun die Villen so ganz verschwunden waren hinter den Kiefern, als er nun so einsam am Rande der eisigen Seefläche stand, die wie ein hartes Metallschild glänzte, von schwarzen, schweigsamen Riesen drohend umgeben, da fror ihn doch, daß er glaubte, erfrieren zu müssen. Und er fühlte eine Bangigkeit, wie er sie noch nie gefühlt hatte. Eine tödliche Angst.

Kam nicht eine Stimme zu ihm? He! Dort aus dem Walde, der wie ein Dickicht erschien im blauen, verwirrenden [S. 160] Schimmer des Mondlichts?! Und höhnte und foppte, lachte halb, klagte halb! Schrecklich – wer schrie so?!

»Der Kauz schreit,« sagte Cilla jetzt, hob mit beiden Händen das Beil rücklings über die Schulter und ließ es niedersausen mit Kraft. Das Eis am Rande splitterte. Es knackte und krachte; bis weit in den See hinaus ging der Ton: ein Murren, ein Grollen, eine Stimme aus der Tiefe.

Würde der Knabe sterben – würde er leben?!

Verstört sah Schlieben sich um. O Gott ja, auch das war umsonst! Würde umsonst sein! Trotz all seiner Mannhaftigkeit empfand er eine Schwäche – heute, hier war er schwach. Hier war die Nacht und die Einsamkeit und der Wald und das Wasser – all das hatte er schon oft gesehen, es war ihm vertraut gewesen –, aber so war es noch nie gewesen, so still und doch so schreckhaft belebt. So hoch waren die Bäume noch nie gewesen, so groß noch nie der See, so fern noch nie die bewohnte Welt!

Es schien ihm etwas zu lauern hinter jener dicken Kiefer – stand da nicht ein Jäger und legte an, bereit, ihm einen Pfeil durchs Herz zu schießen?! Das Schweigen beängstigte ihn. Dieses große Schweigen war furchtbar. Dröhnend zwar hallten die Hiebe der Axt und lockten drüben über dem See ein Echo, unbeirrt zwar tat Cilla ihr Werk – er bewunderte die Kaltblütigkeit des Mädchens –, aber die Drohung, die in diesem Schweigen lag, minderte sich nicht.

Schauer auf Schauer durchrann den verstörten Mann: nein, jetzt wußte er’s, – ach, wie fühlte er’s deutlich – gegen diese unsichtbare Gewalt kam niemand an. Hier war alles vergebens!

Ein großer Schmerz überkam ihn. Mit beiden Händen packte er in die eiskalten Schollen, die das Mädchen losgehackt hatte, und sammelte sie in den Eimer; er riß sich, er schnitt [S. 161] sich an den zackigen Rändern, die scharf waren wie Glas, aber er fühlte den körperlichen Schmerz nicht. Das Blut rann ihm in Tropfen über die Finger.

Und aus seinen Augen begann jetzt auch etwas zu rinnen, schwer und zäh tropfte es über seine Wangen – langsame, fast widerwillige Tränen. Aber doch heiße Tränen eines Vaters, der um sein Kind weint.


4

»Jotte, nee, was biste jroß jeworden,« sagte Frau Lämke, »nu wird man woll bald ›Sie‹ zu dich sagen müssen und ›junger Herr‹?!«

»Nie!« Wolfgang fiel ihr um den Hals.

Die Frau war ganz verdutzt: war das denn noch der Wolfgang? Der war ja kaum wiederzuerkennen seit der Krankheit – so umgänglich! Und war er auch immer ein guter Junge gewesen, so zärtlich war er früher doch nie gewesen?! Und wie lustig er war, er lachte, seine Augen blinkerten ordentlich wie geputzt!

Wolfgang war voll Lebenslust und einer immerwährenden unbändigen Freude. Er wußte gar nicht wohin damit. Keinen Augenblick konnte er stille sitzen, in seinen Armen zuckte es, seine Füße scharrten den Boden.

Er war der Schrecken des Lehrers. Die ganze, sonst immer so musterhafte Quarta brachte der Junge aus Rand und Band, der eine Junge! Und dabei konnte man ihm eigentlich nicht einmal so recht von Herzen böse sein. In die Rügen des müden Mannes, der alle Tage dieselben Stunden, jahraus jahrein, auf demselben Katheder sitzen, dieselben Diktate diktieren, dieselben Aufgaben aufgeben, dieselben Lesestücke [S. 162] lesen lassen, dieselben Wiederholungen wiederholen mußte, mischte sich etwas wie eine leise Wehmut, die den Tadel milderte: ja, das war Daseinsfreudigkeit, Gesundheit, Frische, unverbrauchte Kraft – das war Jugend!

Wolfgang kehrte sich nicht an die Vorwürfe, die man ihm machte, er hatte nicht den Ehrgeiz, unter den Ersten der Klasse zu sein. Er lachte den Lehrer aus und konnte sich nicht einmal zwingen, betrübt den Kopf zu senken, als ihm die Mutter, in nervöser Erregtheit, eine schlechte Zensur vorm Gesicht hin und her schwenkte: »Also dafür quält man sich so mit dir?!«

Wie ehrgeizig die Frauen sind! Schlieben lächelte; er nahm’s ruhiger. Nun, er hatte ja auch nicht die Plage davon gehabt wie Käte. Sie hatte sich, seitdem der Junge so viel durch seine Krankheit versäumt hatte, jeden Tag mit ihm hingesetzt und geschrieben und gelesen und gerechnet und Vokabeln gelernt und Regeln und unermüdlich wiederholt und, neben den Schulaufgaben, selber noch Übungsaufgaben gestellt, und es so fertig gebracht, daß Wolfgang, trotz der wochen- und wochenlangen Schulversäumnis, doch Ostern mit nach Quarta versetzt wurde. Erleichtert hatte sie aufgeatmet: ah, ein Berg war erklommen! Aber der Weg ging trotzdem jetzt nicht eben fort. Als die ersten Amseln im Garten sangen, war er als fünfzehnter versetzt worden – also ein Durchschnittsschüler –, als die erste Nachtigall schlug, war er nicht mehr in diesem Durchschnitt, und als der Sommer kam, gehörte er zu den Letzten der Klasse.

Es war zu verlockend, im Garten zu säen, zu pflanzen, zu gießen, auf dem Rasen zu liegen und sich den warmen Sonnenflimmer über den Leib rinnen zu lassen; besser noch, draußen umherzuschwärmen an den Waldrändern, oder im See zu baden, weit hinauszuschwimmen, so weit, daß ihm die andern [S. 163] Jungen zuschrieen: ›Komm zurück, Schlieben, du versäufst!‹

»Freu dich doch, daß er so munter ist,« sagte Paul zu Käte. »Denke doch dran, wer hätte, vor einem halben Jahr noch, gedacht, daß er sich so erholen würde?! Es ist ein Glück, daß er kein Stubenhocker ist. ›Viel frische Luft‹ hat Hofmann gesagt, ›viel freie Bewegung. Ohne Schädigungen der Konstitution geht eine so schwere Krankheit nicht ab!‹ Also wählen wir von zwei Übeln doch das kleinere – freilich, der Bengel muß wissen, daß er nebenbei doch seine Schuldigkeit zu tun hat!«

Das ließ sich schwer vereinen. Käte fühlte sich machtlos werden. Wenn des Knaben Augen, blank wie dunkle Beeren, begehrten: ›laß mich hinaus‹, wagte sie ihn nicht zurückzuhalten. Sie wußte, er hatte seine Arbeiten noch nicht fertig, vielleicht noch nicht einmal begonnen; aber hatte Paul nicht gesagt: ›man muß von zwei Übeln das kleinere wählen‹, und der Sanitätsrat: ›ohne Schädigungen geht eine so schwere Krankheit nicht ab; viel Freiheit‹ –?!

Eine jähe Angst erfaßte sie um sein Leben; noch waren die Schrecken der Krankheit nicht verwunden. Ach, diese Nächte! Diese letzten furchtbaren Stunden, in denen nach dem heißen Bad das Fieber höher und höher gestiegen war, der Puls gerast und das arme Herz gejagt hatte, bis endlich, endlich das Eis aus dem See Kühlung gebracht und ein Schlaf sich gesenkt hatte, der, als im Osten der Himmel rot zu werden begann und ein neuer Tag durchs Fenster hereinschaute, sich in einen wohltätigen, wunderwirkenden Schweiß löste.

Sie mußte den eben Genesenen laufen lassen.

Aber daß er sich Cilla an den Arm hing, wenn die abends noch einen Gang zu machen hatte, daß er ihr schleunigst nachlief, wenn sie nur einen Brief zum Kasten trug, oder daß er [S. 164] ihr einen Stuhl heranschleppte, wenn sie sich mit ihrem Flickkorb unter den Fliederbusch an der Küchentür setzen wollte, das war nicht zu dulden. Als Käte erfuhr, daß Cilla an ihrem Ausgangssonntag nicht weiter gegangen war als bis zu den nächsten Kiefern am Waldrand und dort mit dem Knaben stundenlang im Grase gesessen hatte, gab es eine Szene.

Cilla weinte bittere Tränen. Was hatte sie denn getan?! Sie hatte Wölfchen doch nur von ›zu Hause‹ erzählt!

»Was geht ihn Ihr ›zu Hause‹ an?! Er soll sich um seine Sachen kümmern, und Sie kümmern sich um die Ihren!« Käte war im Zuge, noch mehr herauszusprudeln, zu schreien: ›Lassen Sie solche Vertraulichkeiten, ich dulde sie nicht‹, aber sie bezwang sich, wenn auch nur mit Mühe. Sie hätte dieses rundwangige, helläugige Mädchen, das so dreist blickte, ins Gesicht schlagen mögen. Da war selbst Frida Lämke noch vorzuziehen!

Aber Frida ließ sich jetzt nicht mehr so oft sehen. Sie trug schon den Rock lang bis zum Knöchel und ging in den Freistunden, die ihr die Schule ließ, zum Nähkursus, und wenn sie eingesegnet war, Ostern übers Jahr, dann sollte sie, wie sie mit großer Wichtigkeit sagte, ›nach’s Jeschäft‹.

»Ich kündige ihr,« sagte Käte eines Abends, als Cilla eben den Tisch abgedeckt hatte und sie ganz allein mit ihrem Mann saß.

»So?« Er hatte gar nicht recht hingehört. »Warum denn?«

»Darum!« Ein unterdrückter Ärger vibrierte im Ton der Frau – mehr als das, eine leidenschaftliche Erregung. Ihre sonst goldbraunen, milden Augen wurden dunkel und blickten finster in sich hinein.

»Du zitterst ja förmlich! Was ist denn nun schon wieder?!« Verstimmt legte er die Zeitung hin, die er eben [S. 165] hatte lesen wollen. Da war wieder etwas mit dem Jungen los; nur dann erregte sie sich so!

»Es geht nicht länger!« Ihre Stimme war hart, hatte jeden Schmelz verloren. »Und ich dulde es nicht! Denke dir, als ich heute nach Hause komme – ich war gegen Abend eine Stunde fort, kaum eine Stunde –, Gott, Gott, man kann sich doch nicht immer zur Aufpasserin machen, man erniedrigt sich ja vor sich selber!« Leidenschaftlich verschlang sie die Hände, preßte sie so heftig ineinander, daß die Knöchel ganz weiß wurden. »Ich hatte ihn an seinem Pult gelassen, er hatte so viel auf, und als ich wiederkomme, war kein Strich gemacht! Aber unten, hinten vor der Küchentür, da – da höre ich sie!«

»Wen denn?«

»Nun, Wolfgang und die – die Cilla! Kaum bin ich fort!«

»Nun und?!«

Sie hatte geschwiegen, seufzend, in einem tiefen Kummergefühl, das den Zorn aus ihren Augen verjagte.

»Er legte ihr von hinten den Arm um den Hals! Und hat sie geküßt! ›Liebes Cillchen!‹ Und sie zog ihn an sich, nahm ihn fast auf den Schoß – dazu ist er viel, viel zu groß – – und redete immer in ihn hinein!«

»Hast du verstanden, was sie sagte?«

»Nein. Aber sie lachten. Und dann gab sie ihm einen Klaps gegen die Kehrseite – du hättest es nur sehen sollen! – und dann er ihr. Hin und her ging das. Ist das passend?!«

»Das geht zu weit, da hast du recht! Aber schlimm ist es nicht. Sie ist eine gute, noch ganz unverdorbene Person, er ein dummer Junge. Darum wirst du das Mädchen doch nicht entlassen? Ich bitte dich, Käte! Haben sie dich bemerkt?« [S. 166]

»Nein!«

»Nun, dann tu auch nicht desgleichen. Das ist viel klüger. Ich werde mir den Jungen schon mal bei Gelegenheit vornehmen!«

»Und du meinst, ich könnte – ich kann – ich muß sie nicht entlassen?« Käte war ganz kleinlaut geworden gegenüber seiner Ruhe.

»Dazu liegt gar kein Grund vor!« Er war völlig überzeugt von dem, was er sagte, und wollte wieder zu seiner Zeitung greifen. Da fing er ihren Blick auf und streckte ihr die Hand über den Tisch hin: »Liebes Herz, nimm nicht alles so schwer! Du verkümmerst dir ja das Dasein – dir – dem Jungen – und – ja, auch mir! Nimm’s leichter! – So, und nun will ich endlich mal zu meiner Zeitung kommen!«

Käte stand leise auf – er las ja! Sie hatte ihm ihre Hand nicht gelassen. Seine Ruhe verletzte sie. Das war schon mehr als Ruhe, das war Gleichgültigkeit, Lässigkeit! Aber sie wollte nicht lässig sein, nein, sie wollte nicht müde werden!

Und sie ging ihrem Knaben nach.

Wolfgang war schon oben in seinem Zimmer. Er war zwar noch an Cilla, die unten in der Küche das Geschirr abtrocknete, leise von hinten herangeschlichen, hatte sie gezwickt, sie dann mit beiden Armen umfangen und um eine Geschichte gebettelt: »Erzähl mir was!« – aber sie hatte nicht gewollt.

»Ich weiß nichts!«

»Och, erzähl mir doch! Von der Prozession! Oder wenn’s nur von eurer Sau ist! Wieviel hatte die doch ’s letzte Mal geworfen?«

»Dreizehn!« Der Frage war zwar nicht zu widerstehen, aber doch blieb Cilla wortkarg.

»Kalbt eure Kuh auch dieses Jahr? Wieviel Kühe hat denn der größte Bauer bei euch? Weißt du, der unten an der [S. 167] Warthe, der Hauländer! Sag doch?!« Er wußte ganz genau Bescheid, kannte alle Leute bei ihr zu Hause und alles Vieh. Er konnte nie genug davon erzählen hören und von dem Land, über das die Glöckchen bimmeln zur Frühmesse und zur Vesper oder tief und feierlich rufen am Sonntage um die Hochamtszeit. Vom Lande hörte er zu gern erzählen, von Ackerbreiten, auf denen blauer Flachs und goldner Roggen steht, von blauenden Waldstrichen am Horizont, von weiten, weiten Heidestrecken, auf denen die Bienen emsig über blühendem Kraut summen und abends an stillen Wassern, wenn Himmel und Sonne sich rot darin spiegeln, der Sumpfvogel schreit.

»Erzähl davon!« Er bettelte und drängte.

Aber sie blieb unlustig und schüttelte den Kopf: »Nee, geh schon, nee, ich will nich! Die Frau hat mer heute abend wieder so angesehn – ach, so – nee! Ich glaube, sie will mer wohl kündigen!«

Verdrießlich war er in sein Zimmer hinaufgeschlichen und hatte sich ausgekleidet. Er war so daran gewöhnt, er konnte gar nicht gut schlafen, wenn Cilla ihm nicht vorher etwas erzählt hatte. Dann schlief er so sanft ein und träumte so wunderschön von weiten Heidestrecken, die rot blühten, von stillen Wassern, an denen der Sumpfvogel schrie, den er jagen ging.

Ach, die Cilla, was die nur heut hatte! Wie dumm! ›Die Frau wird mer kündigen‹ – Unsinn, als ob er das litte! Und er ballte die Faust.

Da knarrte die Tür.

Er reckte den Hals: war sie’s, kam sie doch noch?! Die Mutter war’s. Geschwind schlüpfte er ins Bett und zog die Decke bis an die Stirn. Mochte sie denken, er schliefe schon!

Aber sie dachte das nicht, sondern sie sagte: »So, bist du noch wach?« und setzte sich auf den Stuhl beim Bett, auf dem [S. 168] seine Sachen lagen. Da saß auch sonst immer die Cilla. Er verglich im stillen die beiden Gesichter. Ah, die Cilla war doch viel hübscher, so weiß und rot, und hatte Grübchen in ihren dicken Backen, wenn sie lachte, und war so vergnügt! Häßlich war die Mutter zwar auch nicht!

Er hatte sie aufmerksam betrachtet; und da überkam es ihn plötzlich mit einem ihm sonst gänzlich unbekannten Gefühl: ach, sie hatte ja so schmale Bäckchen! Und an den Schläfen herunter das weiche Haar – das war ja – das –

»Du wirst ja grau,« sagte er auf einmal, förmlich erschrocken, und streckte den Finger aus: »Da, ganz grau!«

Sie nickte. Ein Zug des Unbehagens verlängerte ihr Gesicht und ließ es noch schmäler erscheinen.

»Du müßtest mehr lachen,« riet er. »Dann sähe man gar nicht, daß du Falten hast!«

Falten – ach ja, Falten! Mit einer nervösen Bewegung fuhr sie über die Stirn. Was Kinder für unbarmherzige Augen haben! Mit Jugend und Schönheit war’s wohl endgültig vorbei – den letzten Rest aber, den hatte der Knabe hier genommen! Und wie ein Vorwurf klang’s: »Das machen die Sorgen. Deine schwere Krankheit und – und –« sie stockte, sollte sie jetzt von dem anfangen, was sie so beunruhigte? »Und da ist noch manches andre,« schloß sie mit einem Seufzer.

»Das glaub ich wohl,« sagte er unbefangen. »Du bist ja auch schon alt!«

Nun, ehrlich war er, das mußte man gestehen; aber ohne eine Spur von Zartgefühl! Sie konnte eine leise Gereiztheit nicht unterdrücken; es war nicht angenehm, sich von seinem Kinde an sein Alter erinnern zu lassen. »So alt bin ich denn doch noch nicht,« sagte sie. [S. 169]

»Na, so alt meine ich ja auch gar nicht. Aber doch viel älter als ich oder die Cilla zum Beispiel!«

Sie zuckte zusammen – immer kam er mit dieser Person!

»Die Cilla ist ein hübsches Mädchen, findest du nicht, Mutter?«

Der Ärger überkam sie so heftig, daß sie sich nicht mehr in der Gewalt hatte. »So?« sagte sie kurz und stand auf. »Sie zieht zum ersten Oktober!«

»Sie zieht?! Och nee!« Er starrte sie ungläubig an.

»Doch, doch!« Sie kam sich grausam vor, aber konnte sie denn anders sein? Es lag ein so großes Erschrecken in seiner Ungläubigkeit. »Sie zieht; ich kündige ihr!«

»Och nee, das tust du ja nicht!« Er lachte. »Das tust du ja doch nicht!«

»Ja, das tue ich!« Auf jedes Wort legte sie einen besonderen Nachdruck; es klang unumstößlich.

Er schüttelte noch immer ungläubig den Kopf: das konnte ja gar nicht sein! Aber dann fiel ihm auf einmal Cillas gedrücktes Wesen wieder ein und ihre Worte am heutigen Abend – ›Sie will mer wohl kündigen!‹ »Nein, das tust du nicht!« Mit einem Ruck setzte er sich im Bette auf.

»Ich werde dich nicht fragen!«

»Nein, du tust es nicht, du tust es nicht,« schrie er. Cillas Gestalt stand auf einmal vor ihm, ihre treuherzigen Augen sahen ihn traurig an – sie gefiel ihm so wohl – und die sollte gehen?! Eine Wut kam über ihn.

»Sie soll nicht gehen, sie soll nicht gehen,« heulte er auf und schrie es laut und lauter: »Sie soll nicht gehen!« Er warf sich hintenüber, reckte sich lang, stieß in einem sinnlosen, nicht zu bezeichnenden Empfinden mit den Füßen gegen die Bettstatt, daß die in allen Fugen krachte.

Käte war erschrocken; so heftig hatte sie ihn nie gesehen. [S. 170] Aber wie recht hatte sie! Sein Benehmen zeigte ihr’s deutlich. Nein, sie durfte sich nicht grausam schelten, wenn auch seine Tränen flossen; es war notwendig, daß die Cilla ging! Aber er tat ihr leid.

»Wölfchen,« sagte sie überredend, »aber, Wölfchen!« Sie versuchte ihn zu besänftigen und zog ihm mit liebevoller Hand die heruntergefallene Decke wieder herauf. Aber sowie sie ihn berührte, stieß er sie von sich.

»Wölfchen – Wölfchen – du mit deinem Wölfchen! Als ob ich noch ein kleines Kind wäre! Ich heiße Wolfgang. Und du bist ungerecht! Neidisch! Du willst nur, daß sie geht, weil ich sie lieber habe, viel lieber als dich!«

Er schrie es ihr ins Gesicht, das tief erblaßte. Sie hatte das Gefühl, als müßte sie aufschreien vor Schmerz. Sie, die sie so viel um ihn gelitten hatte, setzte er hintenan?! Jetzt fielen ihr auf einmal, brennend und unaustilgbar, alle die Tränen ein, die sie schon um ihn vergossen hatte. Und von all den schweren Stunden der Krankheit war keine so schwer gewesen wie die jetzige.

Sie vergaß, daß er noch ein Kind war, ein ungezogener Junge. Hatte er es denn nicht selber gesagt: ›Ich bin kein Kind mehr –?!‹ Unverzeihlich erschien ihr sein Benehmen. Ohne Wort ging sie zur Tür hinaus.

Er sah ihr betroffen nach: hatte er sie gekränkt?! Plötzlich kam ihm das Bewußtsein davon – o nein, das wollte er nicht! Schon hob er die Füße aus dem Bett, um ihr auf sackten Sohlen nachzulaufen, sie am Kleide festzuhalten, zu sagen: ›Du, bist du böse?!‹ – da fiel ihm die Cilla wieder ein. Nein, das war doch zu schlecht von ihr, daß sie die gehen hieß!

Sich weinend unter die Decke verkriechend, faltete er die Hände. Cilla hatte ihm gesagt, daß man zur heiligen Jungfrau [S. 171] beten müsse, zu jener lächelnden Frau im blauen Sternenmantel, die, mit der Krone auf dem Haupt, über dem Altar thront. Die heilte alles. Und wenn die Gott im Himmel um etwas bat, so tat der’s. Zu ihr wollte er jetzt beten.

Cilla hatte ihn damals, als die Mutter im Bade und der Vater in Tirol war, einmal mitgenommen in ihre Kirche. Er hatte ihr versprechen müssen, niemandem etwas davon zu sagen, und der Reiz des Geheimnisvollen hatte den Reiz jener Kirche erhöht. Eine unbewußte Sehnsucht zog ihn nach jenen Altären, wo die Heiligen prangten und wo man Gott, den man doch bitten soll wie einen Vater, leibhaftig schauen konnte. In der Kirche, die die Mutter zuweilen besuchte und in der er auch schon gewesen war, hatte es ihm nie so gut gefallen.

Jene Sehnsucht, die ihm wie ein Märchen im Sinn schwebte, kam jetzt mit Gewalt und lebendig über ihn. Ja, so hinknieen können vor der lieben Frau, die reizender war als alle Frauen auf Erden sind, und kaum daß man seine Bitte vortrug, auch schon der Erfüllung gewiß sein, das war schön! Herrlich!

»Gegrüßet seist du, Maria!« So fing der Cilla Gebet an; weiter wußte er es nicht, aber er wiederholte das, viele Male. Und nun roch er wieder den Weihrauch, der die Kirche durchduftet hatte, hörte wieder das Schellchen der Wandlung, sah den Geweihten des Herrn, dem die prächtige Stola überm Meßgewand hing, sich verneigen, bald links am Altar, bald rechts. O, wie er es den Knaben in den weißen Chorhemden neidete, die neben ihm knieen durften! Seliger Wohlklang schwebte unterm hochgewölbten Kuppeldach:

Procedenti ab utroque
Compar sit laudatio –‹

so ähnlich hatten sie gesungen. Und dann hatte der Priester die strahlende Monstranz hoch erhoben, und alle Leute [S. 172] hatten sich tief gebeugt. › Qui vivis et regnas in saecula saeculorum! ‹ Ja, das Latein hatte er gut behalten! Das würde er auch sein Leben nicht vergessen!

Anstoßen hatte ihn die Cilla müssen und flüstern: ›Komm, wer gehn jetzt,‹ sonst wäre er damals noch lange knieen geblieben in der prächtigen und doch so heimeligen Kirche, in der nichts kalt war und fremd.

Wenn er doch wieder einmal hinkönnte! Cilla hatte es ihm freilich versprochen zu gelegener Zeit – aber sie sollte ja jetzt weg, und die gelegene Zeit würde nie kommen! Schade! Ein großes Bedauern erhob sich in ihm und zugleich ein Trotz: nein, in die Kirche, wohin die Mutter ging und wohin die aus seiner Schule gingen, dahin ging er nicht!

Und er flüsterte wieder: »Gegrüßet seist du, Maria,« und bei diesem Flüstern fingen die Tränen, die heiß und zornig über sein Gesicht gelaufen waren, an zu versiegen.

Er war aus dem Bett geklettert und hatte sich auf den Teppich davor niedergekniet, die zusammengelegten Hände in Anbetung erhoben, so wie er es bei den Engeln auf dem Altarbild gesehen hatte. Seine Augen waren glänzend und weit aufgeschlagen, sein Trotz zerfloß in Hingabe.

Als er endlich ins Bett zurückstieg und die übergroße Müdigkeit seine Aufregung niederschlug und er einschlief, träumte er von der reizenden Jungfrau Maria, die wohlbekannte Züge trug, und fühlte sein Herz zu ihr entbrennen.


Es war vierzehn Tage später, am 1. Oktober, daß Cilla den Dienst verließ. Frau Schlieben hatte ihr ein gutes Zeugnis geschrieben; warum sie eigentlich entlassen war, das war dem Mädchen noch nicht recht klar, selbst als es auf der Straße stand. Die Frau wollte ein älteres erfahrenes Mädchen haben – so hatte sie gesagt –, aber das glaubte Cilla doch nicht recht, [S. 173] sie fühlte unbestimmt einen andern Grund heraus: die mochte sie eben nicht leiden. Nun wollte sie erst einmal nach Hause fahren, ehe sie einen neuen Dienst annahm, sie fühlte Heimweh, und der Abschied hier aus der Stelle war ihr schwer geworden – des Jungen wegen. Wie hatte der geweint! Gestern abend noch. Er hatte sich an ihren Hals gehängt und sie vielmals geküßt, der große Junge, wie ein kleines Kind! Und so viel hatte er ihr noch sagen wollen. Oben auf dem dunklen Flur hatten sie gestanden miteinander gestern abend, da scheuchte sie der Tritt der Frau, die die Treppe heraufkam; gerade noch, daß er in seine Stube hatte entwischen können.

Und nicht einmal Adieu hatte sie ihm heute sagen können, dem guten Jungen! Denn als er kaum in der Schule war, hatte die Frau gesagt: »So, nun können Sie gehen!« Ganz verdutzt war sie gewesen, hatte sie doch darauf gerechnet, erst am Nachmittag fortzukommen. Aber nun war das neue Hausmädchen, eine Ältliche mit spitzem Gesicht, auch schon eher angezogen; was sollte sie da auch noch? So hatte sie nur noch rasch die Heiligenbildchen aus ihrem Gebetbuch alle in ein Papier gewickelt und in die Schublade von des Jungen Nachttisch gesteckt – da würde er sie gewiß finden – und ›Gruß von Cilla‹ darauf geschrieben. Dann war sie abgezogen.

Ihren Korb hatte Cilla als Frachtgut aufgegeben, nun hatte sie nichts zu tragen als ein kleines Ledertäschchen und einen Pappkarton mit Stricken verschnürt. So konnte sie rasch vorankommen. Aber als sie dem Stadtbahnhof zuging, blieb sie auf einmal stehen: um ein Uhr war die Schule aus, nun ging es gegen elf, es kam wirklich nicht darauf an, wenn sie etwas später abfuhr. Wie würde er sich freuen, wenn sie ihm noch Adieu sagte und: ›Vergiß mich auch nicht!‹

Sie drehte sich um. In der Nähe der Schule würde sich schon eine Bank finden, da wollte sie auf ihn warten. [S. 174]

Die Vorüberkommenden schauten neugierig nach der jungen Person, die wie ein Soldat, still und steif, in der Nähe des Gymnasiums auf Posten stand. Eine Bank hatte Cilla nicht gefunden; sie traute sich nicht weit vom Eingang fort, aus Angst, ihn zu verpassen. So stand sie denn, mit ihrem kleinen Täschchen am Arm, den Karton hatte sie zur Erde gesetzt. Ab und zu fragte sie jemanden, wieviel Uhr es sei. Die Zeit verging langsam; endlich war es bald eins. Da fühlte sie ihr Herz klopfen: der gute Junge! Schon sah sie seine dunklen Augen freundlich aufglänzen, hörte ein erstauntes: ›Cillchen, du?!‹

Ihren Hut zurechtrückend auf dem schönen blonden Haar, ein höheres Rot auf den roten Wangen, sah Cilla hin nach dem Schultor: gleich würde es klingeln – dann kam er angestürmt – da – auf einmal sah sie die Frau. Die –?! Mit schnellen Schritten kam Frau Schlieben aufs Schultor zu. O weh!

Mit ein paar raschen Sätzen sprang das Mädchen hinter ein Gebüsch: die holte heute selber ihren Wolfgang ab?! Ach, da mußte sie ja gehen! Und sehr betrübt schlich sie zum Bahnhof. All die Freude, in der ihr Herz geklopft hatte, war hin; aber einen Trost hatte sie doch: der Wolfgang würde sie nicht vergessen. Nein, nie! –

Wolfgang war sehr erstaunt, als er seine Mutter sah. Er brauchte doch nicht abgeholt zu werden?! Das hatte sie doch auch früher nicht selber getan?! Er war unangenehm berührt. War er denn ein kleines Kind? Die andern würden ihn auslachen! Ein Unmut brannte in ihm, aber der Mutter Güte entwaffnete ihn.

Sie war heute besonders weich und sehr gesprächig. Sie fragte ihn nach all dem, was sie heute in der Schule gehabt hatten, schalt auch nicht, als er gestand, er habe zehn Fehler im [S. 175] lateinischen Extemporale gemacht, im Gegenteil, sie verhieß ihm einen Ausflug nach Schildhorn am Nachmittag. Es war ja ein so schöner, sonnenheller, fast sommerlicher Herbsttag. Ganz vergnügt schlenderte der Knabe neben ihr her, seine Bücher am langen Riemen schlenkernd. Daß Cilla heute abgehen sollte, hatte er augenblicklich ganz vergessen.

Freilich, als sie nach Hause kamen und das fremde Mädchen ihnen öffnete, machte er große Augen, und als sie zu Tisch gingen und die neue mit dem spitzen Gesicht, die aussah wie ein Fräulein, die Speisen auftrug, hielt er sich nicht länger.

»Wo ist Cilla?« fragte er.

»Die ist fort – du weißt doch,« sagte die Mutter so nebenhin.

»Fort –?!« Er wurde blaß und dann glühend rot. Also gegangen, ohne ihm Adieu zu sagen?! Er hatte auf einmal keinen Appetit mehr, obgleich er vorher solchen Hunger gehabt hatte. Jeder Bissen würgte ihn; starr sah er auf seinen Teller, wagte nicht aufzublicken, denn er fürchtete, er könnte weinen.

Die Eltern sprachen über dieses und jenes – allerlei Gleichgültiges –, und in ihm schrie es: ›Warum ist sie gegangen, ohne mir Adieu zu sagen?!‹ Das kränkte ihn zu tief. Er konnte es gar nicht fassen – sie hatte ihn doch so lieb gehabt! Wie hatte sie’s nur übers Herz bringen können, fortzugehen, ohne ihn wissen zu lassen, wo er sie finden konnte?! Es konnte nicht sein, das hatte sie nicht aus freiem Willen getan – sein Cillchen so von ihm gehen?! O nein, nein! Und gerade während er in der Schule war?!

Ein plötzliches Mißtrauen befiel ihn: an so etwas hatte er bisher gar nicht gedacht, aber nun war’s ihm auf einmal klar – oho, dumm war er denn doch nicht! – eben weil er gerade [S. 176] in der Schule war, hatte sie fortgemußt! Die Mutter hatte die Cilla immer nicht leiden können, die hatte auch nicht gewollt, daß Cilla ihm Adieu sagte!

Unter gesenkten Wimpern hervor schoß der Knabe böse Blicke nach seiner Mutter: das war eine Schändlichkeit von ihr!

In verhaltenem Ingrimm murmelte er: »Gesegnete Mahlzeit« und schlorrte die Treppe hinauf in sein Zimmer. Im Schublädchen fand er sofort die versteckten Heiligenbildchen – ›Gruß von Cilla‹ – da brach seine Wut aus und sein Schmerz. Er stampfte mit den Füßen und küßte die bunten Bildchen, und seine Tränen gaben lauter dunkle Flecke darauf. Dann polterte er die Treppe hinab ins Eßzimmer, wo der Vater noch am Tische saß und die Mutter am Büfett Obst und Kuchen in ihren Pompadour packte. Aha, sie hatte ja mit ihm spazieren gehen wollen! Das sollte ihm gerade einfallen!

»Wo ist die Cilla hin? Warum hast du sie mir nicht Adieu sagen lassen?!«

Die Mutter sah ihn wie erstarrt an: woher erriet der Junge ihre allergeheimsten Gedanken? Sie brachte kein Wort heraus. Aber er ließ sie auch zu gar keiner Äußerung kommen, seine noch hohe Knabenstimme überschlug sich in der Erregung und wurde dann tief und rauh: »Ja, du – o, ich weiß es ganz genau – du wolltest es nicht haben, daß sie mir Adieu sagte! Du hast sie fortgeschickt, damit ich sie nicht mehr sehen sollte – du, du! Das ist schändlich von dir – das ist – das ist gemein!« Er ging gegen sie an.

Langsam wich sie zurück – seine Hände hoben sich, wollte er sie schlagen?!

»Bengel!« Des Vaters Faust packte ihn im Genick. »Was unterstehst du dich? Die Hand gegen deine Mutter [S. 177] zu heben?! Du – du!« Der empörte Mann rüttelte den Knaben, dem die Zähne zusammenschlugen, und schüttelte ihn wieder und wieder. »Du – du Rüpel, du Nichtsnutz!«

»Sie hat sie mir nicht Adieu sagen lassen,« schrie der Knabe dagegen, »sie hat sie weggeschickt, weil – weil –«

»Du willst dich noch erdreisten, ein Wort zu –«

»Doch! Warum hat sie die Cilla mir nicht Adieu sagen lassen, die hat ihr gar nichts getan, die hab ich lieb gehabt, aber darum, gerade darum –«

»Schweig!« Ein heftiger Schlag traf des Knaben Lippen. Schlieben kannte sich selber nicht mehr; seine Ruhe hatte ihn verlassen, des Knaben Widersetzlichkeit jagte ihn in die Hitze. Wie der sich gegen seine haltende Hand sträubte, ihm mit dreisten Augen ins Gesicht sah! Wie der es wagte, die Stimme gegen ihn zu erheben! »Du« – er schüttelte ihn – »also so frech?! So undankbar?! Was wäre aus dir geworden – im Elend wärst du verkommen – ja – sie hat dich erst zum Menschen gemacht – dich aufgelesen aus dem –«

»Paul!« Der Schrei seiner Frau unterbrach Schlieben. Wie eine Sinnlose fiel ihm Käte in den Arm: »Nein, nein, laß ihn! Du sollst nicht, – nein!« Sie hielt ihm den Mund zu. Und als er sie im Ärger von sich schob und den Knaben wieder fester packte, entriß sie diesen ihm und drückte wie schützend seinen Kopf in ihr Kleid. Sie hielt seine Ohren zu. Und angstvoll, die überweit geöffneten Augen im tief erbleichten Gesicht nach ihrem Manne kehrend, flehte sie: »Kein Wort! Ich bitte, ich bitte dich!«

Sein Zorn war noch nicht verraucht. Wahrhaftig, Käte mußte nicht ganz bei sich sein! Was entzog sie denn den Knaben der wohlverdienten Züchtigung?! Mit hartem: »Aber Käte – kein Pardon!« ging er von neuem auf den Knaben zu. [S. 178]

Da flüchtete sie diesen zur Tür hinaus, riegelte ab und stellte sich vor die Tür, wie um den Ausgang zu versperren.

Nun war Wolfgang fort. Nun waren sie beide allein, sie und ihr Mann, und mit dem vorwurfsvollen Ruf: »Du hättest es ihm beinah verraten,« wankte sie nach dem Sofa. Sie fiel mehr hin, als daß sie sich setzte, und brach in fassungsloses Weinen aus.

Mit großen Schritten ging Schlieben im Zimmer auf und ab. In der Tat, da hätte er sich von seiner Empörung beinahe hinreißen lassen! Aber wäre es denn ein Unglück gewesen, wenn er dem Jungen ein Licht aufgesteckt hätte?! Mochte der nur wissen, woher er stammte, und daß er nichts, eigentlich gar nichts hier zu suchen hatte! Daß er alles aus Gnade empfing! Es war durchaus nicht nötig, eher nachteilig als wünschenswert, ihm das zu verheimlichen. Aber wenn sie es denn durchaus nicht haben wollte!

Er unterbrach sein Hin- und Hergehen, blieb vor der in der Sofaecke Weinenden stehen und sah auf sie nieder. Sie tat ihm so unendlich leid. Das hatte sie nun für all ihre Güte, ihre Selbstlosigkeit, für all ihre Aufopferung! Sachte legte er ihr, ohne Wort, die Hand auf den tiefgesenkten Scheitel.

Da richtete sie sich jäh auf und haschte nach seiner Hand: »Und tu ihm nichts, ich bitte dich! Schlage ihn nicht! Ich bin schuld – er hat’s erraten. Ich konnte sie nicht leiden, ich habe ihr gekündigt, und dann habe ich sie heimlich fortgeschickt – nur, weil er sie lieb hatte, gerade darum! Ich fürchtete sie. Paul, Paul« – sie rang reuevoll die Hände – »o, Paul, ich schäme mich vor dem Kinde, ich schäme mich vor mir selber!« – –

Wolfgang hockte oben in seiner Stube und hielt die Heiligenbildchen in der Hand. Die waren nun sein köstlichster, [S. 179] sein einziger Besitz; ein teures Andenken. Wo sie jetzt wohl sein mochte? Noch hier im Grunewald? Schon in Berlin? Oder noch viel weiter? Ach, wie er sich nach ihr sehnte! Ihr freundliches, ihm heimlich-zulächelndes Gesicht fehlte ihm, und dies Vermissen steigerte sich bis zur Unerträglichkeit. Hier war ja keiner, der ihn so lieb hatte, wie sie ihn lieb gehabt – den er so lieb hatte, wie er sie lieb gehabt hatte!

Nun Cilla fort war, vergaß er, daß er sie doch auch oft ausgelacht und gehänselt, sich auch jungenhaft mit ihr gezankt hatte. Nun wuchs seine Sehnsucht ins Unbegrenzte, und ihre Gestalt wuchs mit. Wurde so groß und stark, so übermächtig, daß sie ihm den Blick benahm auf alles andre, was noch um ihn war. Er warf sich auf den Teppich und krallte die Hände hinein; so mußte er sich halten, sonst hätte er alles um sich zerschlagen, alles, kurz und klein.

Das war der Tritt des Vaters auf der Treppe! Es rüttelte an seiner Tür. Mochte er rütteln! Wolfgang hatte sich eingeschlossen.

»Mache sofort auf!«

Aha, nun gab’s Prügel! Hastig wischte sich Wolfgang die Tränen ab, biß die Zähne zusammen und kniff die Lippen aufeinander.

»Nun, wird’s bald?!« Immer stärker wurde das Rütteln.

Da ging er und schloß auf. Der Vater trat ein; nicht mit dem Stock, den der Knabe in seiner Hand vermutet hatte, aber mit Zorn und Kummer auf der Stirn.

»Komm sofort herunter! Du hast deine arme, gute – nur zu gute Mutter tief gekränkt. Komm jetzt zu ihr und bitte ab. Zeige ihr, daß dir’s leid tut – hörst du?! Komm!«

Der Knabe rührte sich nicht. Mit einem namenlos unglücklichen, zugleich aber auch verbissenen Ausdruck starrte er, am Vater vorbei, ins Leere. [S. 180]

»Du sollst kommen – hörst du nicht? Deine Mutter wartet!«

»Ich komm nicht!« Wolfgang murmelte es; kaum daß er die Zähne voneinander brachte.

»Was –?!« Sprachlos, ganz benommen von so viel Frechheit, starrte der Mann den Knaben an.

Dieser erwiderte seinen Blick, groß und starr. Das junge Gesicht war so blaß, daß die dunklen Augen noch dunkler erschienen; abgrundschwarz.

›Böse Augen,‹ sagte sich Schlieben. Und von einem alten, längst vergessenen, aber trotz allem und allem immer noch in der tiefsten Seele schlummernden, jetzt plötzlich lebendig gewordenen Argwohn jäh übermannt, faßte er den Knaben vorn bei der Brust und hielt ihn so mächtig, daß es keinen Widerstand mehr gab.

»Bengel! Bursche! Hast du denn gar kein Herz? Sie, die dir so viel Gutes getan hat, sie, sie wartet auf dich – und du, du willst nicht?! Auf die Kniee, sag ich! Voran – bitte ab! Sofort!« Und er faßte den keine Regung Zeigenden nun im Genick anstatt bei der Brust, und stieß ihn vor sich her, die Treppe hinunter, hinein ins Zimmer, wo Käte saß, versunken in ihren Kummer, die Augen rotgeweint.

»Hier kommt einer, der abbitten will,« sagte Schlieben und stieß ihr den Knaben vor die Füße.

Wolfgang hatte schreien wollen: ›nein, ich bitte nicht ab, nun erst recht nicht!‹ – da tat sie ihm auf einmal so leid. Ach, die war ja ebenso unglücklich wie er – sie paßten nun einmal nicht zueinander! Das war wie eine plötzliche Erkenntnis, die seinen Blick vertiefte, sein Kindergesicht so verschärfte in allen Linien, daß es alt wurde über seine Jahre.

Aufschluchzend stieß er heraus: »Verzeih!« Er hörte es selber nicht, wieviel Qual in seinem Ton lag, er fühlte [S. 181] auch kaum, daß ihre Arme ihn emporzogen, daß er für Augenblicke an ihrer Brust lag und sie ihm die Haare aus der glühenden Stirn strich. Er war wie halb bewußtlos; nur eine große Leere fühlte er und eine unklare Trostlosigkeit.

Wie im Traum hörte er den Vater sprechen: »So ist’s recht! So, nun geh und arbeite! Und bessere dich!« Und der Mutter sanfte Stimme: »Ja, er wird schon!« Wie ein Nachtwandelnder ging er die Treppe hinauf. Er sollte jetzt arbeiten – wozu, warum?! Es war ja alles so gleichgültig. Gleichgültig war es, ob die hier ihn lobten oder tadelten – was ging ihn alles hier an?! Er mochte hier überhaupt nicht mehr sein, nicht länger mehr bleiben – nein, nein! Wie im Abscheu schüttelte er sich.

Lange stand er dann auf einem Fleck, ins Leere stierend. Und vor seinen starrenden Blicken erstand allmählich eine große, eine unermeßliche Weite – Kornfelder und Heide, rote blühende Heide, in der die Sonne versinkt, stille Wasser, an denen ein einsamer Vogel lockt und über all dem feierlich-schönes Glockengeläut. Da mußte er hin! Verlangend streckte er die Arme aus, seine verweinten Augen glänzten auf.

Wenn sie ihn hier hielten, festhielten – nein, sie konnten ihn nicht halten! Dahin mußte er!

Wie gezogen näherte er sich dem Fenster. Tief war’s da hinunter, zu tief für einen Sprung, aber er würde doch hinabkommen. Über die Treppe ging es freilich nicht, da würden sie ihn hören, aber so – ja, so!

Sich auf das äußere Gesims des Fensters knieend, streckte er tastend die Füße nach der Wasserrinne aus, die, zur Seite des Fensters, die ganze Wand des Hauses hinablief. Ha, er fühlte sie! Da rutschte er vom Sims herab, hing nur noch mit den Fingerspitzen daran, baumelte für ein paar Momente in freier Luft, hatte dann die Wasserrinne zwischen den [S. 182] Knieen, ließ die Finger vollends vom Sims, umklammerte das Blechrohr und fuhr daran hinab, rasch und lautlos.

Scheu sah er sich um: es hatte ihn niemand gesehen! Niemand war auf der Straße, fern wanderten nur ein paar Spaziergänger. Geduckt schlich er unter den Parterrefenstern her – nun war er im Garten hinter den Bosketts – nun über den Zaun – seine Hose schlitzte, das machte nichts – nun sah er mit einem Gefühl wilden Triumphes nach dem Hause zurück. Er stand drüben auf dem öden Feld, das noch immer unbebaut lag; stand, gedeckt von einem wilden Holunderbusch, dessen ersten Sprößling er vor Jahren, als Kind, hier eingesenkt hatte. Keine Empfindung des Bedauerns regte sich in ihm. Flüchtig wie ein Wild, das Schüsse hört, jagte er davon, dem deckenden Walde zu.

Er rannte und rannte, lief noch, als längst kein Laufen mehr not tat. Erst eine völlige Erschöpfung zwang ihn, innezuhalten. Er war immer quer durchgelaufen, ohne jeglichen Weg; nun wußte er nicht mehr, wo er war. So viel war sicher, er war schon weit fort; so weit war er auf seinen Räuberzügen mit den Spielgefährten nicht gekommen, so tief in den Wald hinein nicht, auch nie auf Spaziergängen so gänzlich ins Pfadlose, ins ganz Einsame. Hier konnte er ruhig eine Weile rasten.

Er warf sich auf den Boden, dessen Sand nur feinfädiges Gras und in kleinen Senkungen einige Bestände von Adlerfarrn wies. Um ihn reckten sich stille Bäume wie schlanke Säulen, die den Himmel zu tragen schienen.

Hier lag er eine Weile auf dem Rücken und ließ das Blut ausrasen, das ihm wie toll durch die Adern schoß. Er glaubte das unerklärlich heftige Pochen seines Herzens laut zu hören – o, wie unangenehm es ihm da in der Brust hämmerte und stach, so hatte er noch nie sein Herz gespürt! Freilich, [S. 183] so war er auch noch nie gelaufen, wenigstens seit der Krankheit nicht. Er mußte nach Luft ringen, er glaubte zu ersticken. Endlich konnte er wieder bequemer atmen; jetzt brauchte er nicht mehr die Nasenflügel zu blähen und mit offenem Munde zu schnappen. Jetzt genoß er ein Wohlbehagen, das allmählich über ihn kam.

Es war noch nicht dämmerig, als er wieder weiterging, aber doch schon begann der Spätnachmittag zu zeigen, daß es Oktober war. Der Sonnenschein, der durch die roten Kiefernäste fiel, hatte etwas unendlich Mildverklärtes, eine süße Sanftheit, die auch den wilden Durchgänger sänftigte. Er ging in einem Traum – wohin? Das wußte er nicht, daran dachte er auch nicht, er ging eben, ging. Ging einer Sehnsucht nach, die ihn unwiderstehlich zog, die wie eine ihr Nest suchende Taube vor ihm herflatterte, girrte und lockte. Und die Taubenschwingen waren stärker denn Adlerfittiche.

Wo die Sehnsucht flog, da waren keine Menschen. Da war es so friedlich-still. Nicht einmal der Fuß, der in Moos und kurzem Gras versank, machte ein Geräusch. Dünnen Kerzen gleich, die oben brannten, so standen die Kiefern in sonnigen Abendgluten. Kein herbstliches Blatt, in dem ein Wind hätte rascheln können, lag am Boden; über die glatten Nadeln und die farblosen Zäpfchen, die von den Kronen herabgesunken waren, strich die Luft hin ohne Laut.

Daß es so schön hier war! Mit einem staunenden Entzücken sah Wolfgang sich um. So schön hatte es ihn früher doch nie gedeucht! Freilich, da wo die Villen stehen und die Wege führen, da war’s auch nicht so wie hier! Sein Blick glitt bald nach rechts, bald nach links, und mit Neugier voraus in den Dämmer des Waldes. Da, wo das letzte Sonnengold nicht wie rotes Blut an den rissigen Borken klebte, da, wo das Licht nicht mehr hin traf, war ein weiches, geheimnisvolles [S. 184] Dunkeln, in dem die moosigen Stämme mit ihrem tiefen Grün trotzdem leuchteten. Und ein Duften war hier, so feucht-kühl, herb und frisch, daß die Brust wie befreit aufatmete und eine neue Kraft durch die Glieder rann.

Wolfgang begann jetzt, hier in der großen Ruhe die Aufregungen des Tages zu empfinden. Er faßte sich nach der heißen Stirn – ah, jetzt merkte er, daß er nicht einmal eine Mütze hatte! Aber was machte das? Er war frei, frei! Mit einem Jauchzen schoß er dahin, und dann erschrak er über die eigne laute Stimme: st, still! Nur nicht wieder eingesperrt werden, frei sein, frei!

Nun fühlte er keine Sehnsucht mehr. Eine große Wonne durchrann ihn, eine schrankenlose Seligkeit. Die Augen strahlten ihm – er riß sie weit auf – er konnte gar nicht genug die Welt bestaunen, als sehe er sie heut zum ersten Mal. Er rannte gegen die himmeltragenden Stämme und umfing sie mit beiden Armen; er drückte sein Gesicht an die harzige Rinde. War diese Rinde nicht weich, schmiegte sie sich nicht an seine glühende Wange wie eine schmeichelnde Hand?!

Er warf sich aufs Moos und reckte sich lang und rekelte sich in höchstem Behagen und sprang dann wieder auf – es litt ihn doch nicht – er mußte sehen, genießen, seine Freiheit genießen.

Nur ein einziger roter Streif über dem blauenden Wald verriet noch, wo die Sonne gestanden hatte, als er sich erst bewußt wurde, wo er eigentlich war. Hier führte die ehemalige Heerstraße von Spandau nach Potsdam; rostbraune und gelbe Kastanien zogen eine Allee durch ödes Land. In selten mehr befahrenen Wegrinnen lag der Sand fußhoch. Aha, hier kam man also nach Potsdam oder nach Spandau, je nachdem! Jedenfalls zu Häusern und zu Menschen – o [S. 185] weh, hörte man da nicht schon Hahnenkrähen und ein Rattern wie von langsamen Rädern?!

Kurz entschlossen bog der Knabe links ab von der alten Fahrstraße, kroch durch einen verbogenen Stacheldrahtzaun, der ein Stück Rodung, das neu angeschont war, schützen sollte, sprang wie ein Hirsch in weiten Sätzen über die kaum handhohen Pflänzlinge dahin und suchte eine Deckung.

Er brauchte keine, hierher kam kein Mensch. Langsamer ging er zwischen den kleinen Bäumchen; er hütete sich wohl, sie zu treten, bückte sich und besah sie, schritt sie ab wie ein Ackerer seine Furchen.

Und auf einmal war es Abend. Über die Erde waren Nebel gekrochen, leicht und klein, waren dann aufgestanden und größer geworden, waren hingehuscht über die Rodung im sich erhebenden Nachtwind und hatten sich dort den einzelnen, stehengebliebenen Knorren wie der Gespenster winkende Schleier angehängt.

Aber Wolfgang fürchtete sich nicht; er empfand kein Grauen. Was konnte ihm hier geschehen, hier, wohin nur ab und zu der ferne Pfiff einer Eisenbahn tönte und der Wind ein wenig Rauch, der Lokomotive entrissen, wie ein leichtes, rasch sich lösendes Wölkchen trug?!

Als wäre man in der Prärie, in den Steppen, dachte sich der Junge, da, wo keine Hütten mehr sind, nur Lagerfeuer ihr bißchen Rauch zum Zeichen senden. In die Seligkeit seiner Freiheit mischte sich eine gewisse Abenteurerlust. Das hatte er sich immer einmal gewünscht, im Freien zu kampieren. Ein Feuer würde er freilich nicht anzünden können und daran kochen; er hatte nichts dazu. Aber Hunger empfand er auch nicht, nur jetzt das einzige Bedürfnis, recht tief und lange zu schlafen.

Ohne Bedenken streckte er sich hin; der Boden war schon [S. 186] kühl, aber sein Anzug war dick und ließ die Kälte nicht durch. Den Kopf ein wenig erhöht bettend, reckte er das Gesicht gegen den Nachthimmel. An dem zogen milde Sterne auf und lächelten zu ihm nieder.

Er hatte geglaubt, gleich einzuschlafen, überwältigt von Müdigkeit, aber nun lag er doch noch lange mit offenen Augen. Ein unerklärliches Empfinden hielt ihn wach: dies war zu schön, zu schön, dies war ja schon ein herrlicher Traum! Goldene Augen behüteten ihn, ein samtiger Mantel hüllte ihn ein, eine Mutter wiegte ihn weich.

Fort waren Sehnsucht, Trotz, Schmerz, Wut, alles, was weh tat. Nur ein Glück war geblieben im unendlichen Frieden.


5

Frida Lämke war nun eingesegnet, sie trug den Rock fast bis zur Erde, und als sie Wolfgang Schlieben nach langer Zeit wieder zum ersten Mal begegnete, war ihr Gruß nicht mehr das vertraulich-bekannte Nicken der Kindheit. Aber sie blieb bei dem früheren Spielgefährten stehen.

»Na, Wolfgang,« sagte sie lachend und zugleich ein bißchen von oben herab – sie kam sich so unendlich überlegen vor –, »na, was machste denn?«

»Gut!« Er setzte eine unternehmende Miene auf, die nicht ganz zu dem Blick seiner Augen paßte.

Sie musterte ihn: war der Wolfgang ein Kerl geworden! Aber er hielt sich so schlecht, so vornüber! »Halt dir doch jrade,« ermahnte sie und reckte ihre eigne binsengleiche Schlankheit. »Warum machste denn so ’n Buckel?! Und mit den Augen blinkerste, als wärste kurzsichtig. Na, warte man, du solltest mal bei meine Prinzipalin kommen – au weih, die [S. 187] würde dir schön zurechtstutzen!« Sie kicherte in sich hinein, ihre ganze schmale Figur schüttelte sich vor heimlicher Lachlust.

»Du bist so vergnügt,« sagte er langsam.

»Na, warum denn nich? Meinste, so’n oller Drache kann mir die Laune verderben? Na, so dumm! Wenn sie schimpft, duck ich mir, ich sage kein Wort, aber innerlich amüsiere ich mir! Haha!« Ihre helle Stimme klang unendlich heiter.

Wie hübsch sie war! Des Knaben dunkle Augen hefteten sich auf Frida Lämke, als hätte er sie noch nie gesehn. Auf ihrem blonden Haar, das sie nicht mehr in einem langen Zopf trug, sondern im Nacken in einem dicken Knoten, schimmerte die Sonne. Ihr Gesicht war so rund, so blühend!

»Du kommst nie mehr zu mir,« sagte er.

»Wie kann ich denn?!« Die Achsel zuckend, tat sie wichtig. »Was meinste wohl, was ich zu tun habe! Morgens schon vor achte ’rein mit die Stadtbahn, un denn nur zwei Stunden Tischzeit – immer ’rein, ’raus – un abends bin ich meist nie vor zehne zu Hause, oft auch noch später. Dann bin ich so müde, dann schlafe ich wie ’ne Ratze. Aber Sonntags, dann läßt mir die Mutter mal ausschlafen, und nachmittags jehe ich mit Arturn und Flebbe los, wir –«

»Wo geht ihr hin?« fragte er hastig. »Ich kann ja auch mal mitgehn!«

»Och du!« Sie lachte ihn aus. »Du darfst ja nich!«

»Nein!« Tief senkte er den Kopf.

»Na, sei man nich traurig,« ermunterte sie und fuhr ihm mit dem Zeigefinger, an dem der schäbige Glacéhandschuh an der Spitze aufgesprungen war, ums Kinn. »Dafor biste ja auch Schüler vons Gymnasium. Artur kommt nächsten Herbst auch in de Lehre. Mutter denkt, bei’n Friseur. Un Flebbe, [S. 188] der lernt ja schon Matrealist – sein Vater hat’s ja dazu – wer weiß, der kriegt an’n Ende noch mal ’n eijnes Jeschäft!«

»Ja,« sagte Wolfgang eintönig in ihr Plaudern hinein. Wie verloren stand er auf der Straße, seine Bücher unter den Arm gepreßt. Ach, wie weit, weit war die hier, waren die alle drei nun auf einmal von ihm gerückt! Die, mit denen er einst täglich gespielt hatte, deren Hauptmann er stets gewesen war, die waren nun schon so groß, und er, er war noch ein dummer Schuljunge!

»Verflixt!« Mit einer heftigen Gebärde schleuderte er seinen Bücherpacken von sich, daß der Riemen, der ihn zusammenhielt, sich löste. Alle Bücher und Hefte flogen auseinander und lagen voneinander gespreizt im Staub der Straße.

»Au weh, aber Wölfchen!« Frida bückte sich ganz erschrocken und las eifrig alles zusammen.

Er half ihr nicht aufsammeln. Mit einem bösen Ausdruck starrte er vor sich hin.

»Da – da haste se wieder,« sagte das vom emsigen Bücken ganz rot gewordene Mädchen, pustete die Bücher ab und zwängte sie ihm wieder unter den Arm.

»Ich mag nicht!« Er ließ sie wieder fallen.

»Na, du bist jut! Was fällt dir denn ein – die teuern Bücher!« Sie konnte sich ordentlich über ihn ärgern. »Weißte denn nich, daß die Jeld kosten?!«

»P–!« Er machte eine Handbewegung, wie: was macht das?! »Dann werden eben neue gekauft!«

»Wenn dein Vater auch Jeld genug hat,« ereiferte sie sich, »das ’s doch nicht recht von dir, so mit die juten Sachen umzujehn!«

Er sagte kein Wort hierauf, aber er hob nun die Bücher auf und schnallte sie wieder in den Riemen. Verlegen standen [S. 189] sie beide zusammen. Sie sah ihn verstohlen von der Seite an: hatte der sich aber verändert! Und er ärgerte sich über seine Heftigkeit: was sollte sie nun wohl von ihm denken?!

»Ich muß nu jehn,« sagte sie plötzlich, »sonst krieg ich nich mal mehr mein Mittagessen jejessen – au, hab ich ’n Hunger!« Sie legte die Hand auf den Magen: »Das wird schmecken! Mutter hat heute Pellkartoffeln un Hering!«

»Ich gehe mit!« Seinen Schritt dem ihrigen anpassend, trabte er neben der eilig Trippelnden her.

Sie war ganz rot geworden: was würde die Mutter sagen, wenn sie Wolfgang mitbrachte?! Nein, das ging wirklich nicht an, es war ja heute, gerade heute bei ihnen nicht aufgeräumt! Und gelogen hatte sie auch: es gab ja gar nicht Hering, nur Zwiebelsauce zu den Pellkartoffeln!

Sie genierte sich vor Wolfgang. »Nee, jeh du man nach Hause,« sagte sie und verschanzte sich hinter einem Schmollen, »biste so lange nich bei uns jewesen, brauchste auch heute nich. Ich bin dir böse!«

»Mir böse – mir?! Was hab ich denn getan? Ich sollte doch nicht zu euch kommen, ich durfte doch nicht – dafür kann ich doch nicht! Frida!«

Sie fing an zu rennen, blutrot im Gesicht; er rannte neben ihr her. »Frida! Frida, mir, mir kannst du doch nicht böse sein?! Och, Frida, sei doch nicht so! Frida, laß mich doch mitgehen! Nun bin ich dir endlich mal begegnet, und nun bist du so?!«

Es lag Trauer in seiner Stimme. Sie fühlte die wohl heraus, aber zugleich ärgerte sie sich: was brauchte er sich ihr so anzukleben! Flebbe würde das auch gar nicht recht sein! Und so sagte sie schnippisch: »Wir passen ja doch nich zusammen. Jeh du nur mit deinen Fräuleins. Zu denen jehörste nu mal!« [S. 190]

»Sag das noch mal – untersteh dich!« Grob schrie er’s und hob die Hand, als wollte er ihr einen Schlag geben. »Dumme Zieraffen, was gehen die mich an?!«

Er hatte recht – das mußte sie ihm innerlich zugestehen – nie hatte er sich an einen der Backfische herangemacht, die hier rund herum in den Villen wohnten. Sie wußte es wohl, daß er sie allen vorzog, und fühlte sich geschmeichelt in ihrer Eitelkeit; besänftigend sagte sie, aber zugleich ausweichend: »Nee, Wölfchen, du kannst aber doch nich mehr mit mir jehen, es paßt sich doch nu mal nich mehr!« Und sie bot ihm die Hand: »Adieu, Wolfgang!«

Sie waren gerade zwischen dem Buschwerk eines kleinen Schmuckplatzes mit Bänken, an dem die Villen, hinter Vorgärten ganz versteckt, weit zurücklagen. Kein Mensch war in Sicht im stillen Mittagssonnenglanz. Aber wären auch Leute gekommen, es hätte ihn nicht abgehalten; mit beiden Armen packte er sie wie in einer Art von Wut: »Ich gehe mit – ich laß dich nicht!«

Unsanft wehrte sie sich: was fiel dem dummen Jungen ein?! Der war wohl verrückt?! »Laß mich doch,« fauchte sie wie eine kleine Katze, »läßte mich jleich los?! Au! Warte man, ich sage es Flebben, der soll dir auf ’n Kopp kommen! Laß mich doch in Ruhe!«

Er ließ sie nicht los. Ohne Wort hielt er sie umklammert, seine Bücher lagen wieder im Staub.

Wollte er sie küssen oder schlagen?! Sie wußte es nicht; aber sie hatte Angst vor ihm und wehrte sich wie sie konnte. »Du Durchbrenner,« zischte sie ihn an, »na, du bist ’n Schöner! Rennt fort von Hause, verkriecht sich im Walde! Aber sie haben dir ja doch jekriegt – ätsch!«

Er hatte sie plötzlich losgelassen; sie stand vor ihm und höhnte ihn aus. Nun hätte sie gut fortlaufen können, aber [S. 191] nun reizte es sie, stehen zu bleiben und ihn herunterzumachen: »Durchbrenner! Auskneifer!«

Er war sehr rot geworden, den Kopf hielt er tief gesenkt.

»Wie konntste das bloß machen?« fuhr sie fort mit einer gewissen Grausamkeit. »Na, so dumm! Alle haben se dir ausjelacht! Wir wollten ’t absolut erst jar nich jlauben. Nee, ich sage, rennt der Bengel weg, ohne Jeld, ohne Mütze, ohne ’n Stück Brot in der Tasche! Du wollt’st wohl so nach Amerika, was?!« Sie musterte ihn von Kopf bis zu Füßen, und dann warf sie ihren Oberkörper ein wenig hintenüber und lachte laut: »Na, so was!«

Er hob den Kopf nicht, murmelte nur vor sich hin: »Lachen sollst du nicht drüber – nein, lachen nicht!«

»Na, was denn? Vielleicht weinen? Was jeht’s mich an! Deine Mutter hat jenug drüber jeweint, un dein Vater ist ’rumgerannt wie ’n Verrückter. Die janzen Beamten vons Revier waren auf ’n Beinen. Sag mal, du hast wohl ordentlich Dresche jekriegt, als sie dir nach Hause brachten am Schlafittchen?!«

»Nein!« Er hob plötzlich den Kopf und sah ihr starr in die ein wenig boshaft funkelnden Augen.

Es war etwas in diesem Blick – ein stummer Vorwurf – das zwang sie, ihre Lider zu senken.

»Geschlagen haben sie mich nicht – das hätte ich mir auch nicht gefallen lassen – nein, geschlagen nicht!«

»Eingesperrt?« fragte sie neugierig.

Er gab ihr keine Antwort; was sollte er sagen?! Nein, eingesperrt hatten sie ihn nicht, er durfte frei umhergehen in Haus und Garten, auf der Straße, in der Schule – und doch, er war doch nicht frei!

Tränen schossen ihm plötzlich in die Augen; stammelnd [S. 192] und stockend brachte er’s heraus: »Du – du solltest – mich – nicht – nicht höhnen – Frida! Ich bin so – so –«

Er wollte sagen ›unglücklich‹; aber das Wort kam ihm zu klein vor und auch wieder zu groß. Und er schämte sich, es laut auszusprechen. So stand er stumm, wie mit Blut übergossen; und nur Tränen, die er nicht mehr zurückhalten konnte, rollten über sein Gesicht und fielen in den Staub der Straße.

Es waren Tränen des Schmerzes und der Wut. Über ein halbes Jahr war’s nun schon her – ach, schon länger – aber es drückte ihn doch noch, als wäre es gestern gewesen. Keinen Augenblick noch hatte er’s vergessen, daß sie ihn eingefangen hatten mit solcher Leichtigkeit. So bald hatten sie ihn gefunden! Beim Morgengrauen schon, noch ehe die Sonne eines neuen Tages aufgegangen war. Und eingebracht hatten sie ihn im Triumph. Was ihm eine große Tat gewesen war, ein Heldenstück, das war ihnen ein Dummerjungenstreich. Die Mutter hatte wohl viel geweint, aber der Vater hatte ihn nur am Ohrläppchen gezogen: ›Einmal und nicht wieder, mein Sohn, das merke dir!‹

Wolfgang weinte still, aber heftig. Frida stand vor ihm und sah ihn weinen, und plötzlich schoß es auch ihr naß in die Augen – sie war doch immer seine gute Freundin gewesen. Nun weinte sie mit.

»Wölfchen,« schluchzte sie, »weine man nich! Es is ja nich so schlimm! Die Leute wissen schon nischt mehr davon – so was verjißt sich! Zu schämen brauchste dir noch lange nich – warum denn? Daß de denen bei dir zu Hause mal en bißchen bange jemacht hast, schad’t jar nischt! Nu sagste einfach, wenn se dir nich zu uns lassen: ›denn renne ich wieder weg!‹ Komm man nächsten Sonntag nachmittag, denn jehe ich nich mit Artur un Flebbe – nee, denn warte ich auf dich!« [S. 193]

Mit der einen Hand wischte sie sich die Tränen ab, mit der andern ihm.

So standen sie im hellen Sonnenglanz, inmitten von blühenden Büschen. Flieder duftete; ein Rotdornbaum und ein Goldregen streuten, geschüttelt vom leisen Maiwind, ihre schönfarbigen Blütenblättchen über sie. Der dunkle und der blonde Kopf neigten sich dicht zueinander.

»Frida,« sagte er und faßte ihre Hand so fest, als klammerte er sich daran, »Frida, bist du mir denn wenigstens noch gut?!«

»Na, natürlich!« Sie nickte und ließ, noch Tränenspuren im Gesicht, gleich wieder ihr helles, frohes Lachen ertönen. »Das wäre ’ne nette Freundschaft, wenn die so rasch in die Wicken jinge! Da –!« Sie spitzte den Mund und gab ihm einen Kuß.

Er wurde sehr verlegen, sie hatte ihm ja noch nie einen Kuß gegeben.

»Da!« Sie gab ihm noch einen. »Un nu sei man auch wieder verjnügt, mein Junge! Es is ja so ’n wunderschönes Wetter!«

*     *

*

»Du kommst heute spät,« sagte die Mutter, als Wolfgang, statt um eins, erst um zwei aus der Schule kam. »Du hast doch nicht etwa nachbleiben müssen?«

Ein Gefühl des Unmuts stieg in ihm auf: wie kontrollierte sie ihn doch immer! Die frohe Stimmung, in die ihn seine Freundin Frida versetzt hatte, war hin; die Fesseln drückten wieder. Aber er dachte noch viel an Frida. Am Nachmittag, beim Arbeiten, tauchte ihr Kopf mit dem dicken Haarknoten immer hinter seinem Pult auf und reckte sich über sein Buch und störte ihn; aber es war eine angenehme Störung. Schade, daß [S. 194] Frida so wenig Zeit mehr hatte! Wie war das doch schön gewesen, als sie noch Kinder waren! Sie war ihm immer die Liebste gewesen, mit ihr hatte er noch besser spielen können als mit den beiden Jungen, sie hatte ihn immer verstanden und immer zu ihm gehalten – ach!

Es war ihm, als müßte er jetzt den Jungen, der damals Räuberhauptmann gespielt und sich Kartoffeln in der Asche gebraten hatte, als müßte er selbst den Jungen, der einmal so krank gewesen war, daß man ihn, als er zum ersten Mal an die freie Luft sollte, im Krankenstuhl fahren mußte, als müßte er diesen Jungen so recht aus tiefster Seele beneiden. Der, der jetzt hier am Pult saß und zerstreut über seine Hefte hinweg ins Leere blinzelte, der war dieser Junge nicht mehr. Der war kein Kind mehr! Es kam Wolfgang auf einmal vor, als läge eine goldene Zeit unwiederbringlich verloren und weit hinter ihm. Als hätte er gar keine Freuden mehr vor sich. Hatte der Prediger, zu dem er jetzt in die Konfirmandenstunde ging, nicht auch gesagt: ›Ihr seid nun nicht Kinder mehr?!‹ Und hatte der Prediger nicht weiter gesprochen: ›Der Ernst des Lebens tritt nun bald an euch heran?!‹ Ach, der war schon da!

Die Stirn gerunzelt, das zerkaute Ende des Federhalters zwischen den Zähnen, saß Wolfgang unlustig vor seiner Arbeit. Er brütete. Allerlei Gedanken kamen ihm, die er früher nie gehabt hatte; Worte fielen ihm auf einmal ein, die er noch nie so überlegt hatte. Was hatten eigentlich die in der Klasse dabei, daß sie ihn oft so sonderbar fragten?! Sie fragten nach seinen Eltern – na, was war denn an denen so Merkwürdiges?! – und wechselten dabei untereinander Blicke und sahen ihn so neugierig an! Was hatte er denn Komisches an sich?! Der Lehmann war am neugierigsten – und so unverschämt! Der hatte ihn neulich so verschmitzt [S. 195] angeplinkt von der Seite und die Backen aufgeblasen, als müßten die platzen beim Lachen über das besonders witzige: ›Du siehst deinem Alten aber mal verflucht wenig ähnlich!‹ Sah er wirklich weder Vater noch Mutter ähnlich – keinem von beiden?!

Als Wolfgang sich heute am Abend auskleidete, stand er lange vor dem Spiegel, der über seinem Waschtisch hing, ein Licht in der Hand, und hielt es bald rechts, bald links, bald höher, bald tiefer. Heller Schein fiel auf sein Gesicht. Der Spiegel war gut, gab jeden Zug treulich wieder in seinem klaren Glas – aber da war keine, auch gar keine Ähnlichkeit zwischen dieser derben Nase und dem feinen Näschen der Mutter! Auch des Vaters Nase war ganz anders. Und keiner von den Eltern hatte eine so breite Stirn mit tief hineingewachsenem Haar, und auch nicht so fast zusammenstoßende Brauen – dunkle Augen hatte der Vater zwar, aber sahen sie diesen hier, die so schwarz waren, daß selbst das ganz nahe gehaltene Kerzenlicht sie nicht erhellen konnte, eigentlich ähnlich?!

Mit einer Miene der Ungewißheit wendete sich der Knabe endlich ab. Und doch war in dem Seufzer, den er jetzt ausstieß, etwas von leiser Befreiung. Wenn er ihnen äußerlich denn so wenig ähnlich sah, brauchte er sich dann zu wundern, daß er oft auch so ganz, ganz anders dachte und fühlte als sie?!

Merkwürdig, wie die Jungen in der Schule ein Abklatsch von zu Hause waren! Und wie die großen Kerle noch ihren Müttern am Rockzipfel hingen! Da war der Kullrich, der hatte vierzehn Tage gefehlt, weil seine Mutter gestorben war, und als er zum ersten Mal nachdem wieder in die Schule gekommen war – eine schwarze Binde um den Jackenärmel –, war die ganze Klasse wie verdreht gewesen. Sie gingen mit ihm um, als wäre er ein rohes Ei, und sprachen ganz gedämpft, [S. 196] und kein Mensch machte einen Witz. Und als zufällig in der Konfirmandenstunde, in die Kullrich auch ging, der Spruch vorkam: ›So euch Vater und Mutter verlassen, der Herr nimmt euch auf,‹ guckten sie alle wie auf Kommando nach ihm hin, und der Kullrich legte den Kopf auf seine Bibel und hob ihn die ganze Stunde nicht mehr auf. Nachher ging der Lehrer zu ihm hin und sprach lange mit ihm und legte ihm die Hand auf den Kopf.

Das war schon eine ganze Weile her, aber vergnügt war der Kullrich noch immer nicht. In der Pause, wenn alle auf dem Hof promenierten und Butterbrot aßen, stand er fern und aß nicht. War es denn so schwer, die Mutter zu entbehren?! –

Es war heute eine wundervolle Mondscheinnacht über den schweigenden Kiefern; lange, lange noch lag der Knabe im Fenster. Die Augen brannten ihm; wie ein Mückenschwarm, der dicht wie eine Wolke in der Luft auf und nieder wirbelt, schwirrten ihm die Gedanken. Woher kamen sie, woher nur so auf einmal?!

Er gab die heiße Stirn, die Brust, auf der das Nachthemd auseinander geglitten war, dem kühlen Atem der Mainacht preis – ah, das tat gut! Das war das Beste, das Einzige, was sänftigte, was Ruhe gab! Ha, diese freie Luft, so rein, so frisch!

Wo jetzt wohl die Cilla sein mochte?! Er hatte nie mehr von ihr gehört. Die war jetzt da, wo er auch gerne hätte sein mögen – ach, so gern! Durch die stille Nacht kam’s wie schwebender Glockenklang, und er reckte die Arme und bog sich weit und weiter zum Fenster hinaus.

In dieser Nacht träumte Wolfgang so lebhaft von Cilla, daß er, als er erwachte, glaubte, sie stehe an seinem Bett, sie sei noch gar nicht fort von ihm. Aber dann sah er, als er [S. 197] sich die Augen gerieben hatte, daß der Platz, auf dem sie noch eben freundlich lächelnd gestanden hatte, leer war.

Nach den Schulstunden mußte er in die Konfirmandenstunde; nächste Ostern sollte er eingesegnet werden. Er war zwar noch etwas jung, aber Schlieben hatte zu Käte gesagt: ›Er ist körperlich so sehr entwickelt. Wir können ihn doch nicht als baumstarken, wenigstens äußerlich völlig erwachsenen Menschen einsegnen lassen. Sein Alter ist übrigens auch ganz das richtige. Es ist viel besser für ihn, wenn er nicht erst zu reflektieren anfängt!‹

Ob er nicht doch schon reflektierte?! Es war Käte oft, als wiche der Junge ihr aus, wenn sie ihn über die Religionsstunden befragte. Verstand der Lehrer es nicht, seine Seele zu fesseln? Doktor Baumann galt für einen ausgezeichneten Theologen, seine Predigten wurden gestürmt, es war eine besondere Vergünstigung, sich der überreichen Zahl seiner Konfirmanden anreihen zu dürfen; alle Schüler schwärmten für ihn, Leute, die er vor zehn, fünfzehn Jahren eingesegnet hatte, sprachen noch davon wie von einem Erlebnis.

Käte machte es sich zur Aufgabe, die Predigten des beliebten Geistlichen fleißig zu besuchen. Sonst war sie eigentlich nur Weihnachten und Karfreitag zur Kirche gegangen, jetzt ging sie fast alle Sonntag, ihrem Knaben zulieb, denn er mußte jetzt gehen. Sie gingen Sonntags gemeinsam aus dem Haus, fuhren gemeinsam zur Kirche, saßen nebeneinander; aber während sie dachte: ›Wie geistvoll, wie durchdacht, welch ein Schwung, muß der ein jugendliches Gemüt nicht mit sich fortreißen?!‹ – dachte Wolfgang: ›Wär’s doch nur schon aus!‹ Er langweilte sich. Und noch nie war seine Seele hier aufgeflogen so wie beim Klingeln des Glöckchens, wie beim Heben der Monstranz, wie beim Duften des Weihrauchs vor dämmernden Altären. [S. 198]

Es war etwas in ihm, das trieb ihn zu jener Kirche, die er einst mit Cilla besucht hatte. Wenn er zur Konfirmandenstunde ging, mußte er da unweit vorüber; aber wenn der Weg auch weiter gewesen wäre, er hätte es doch möglich gemacht, dort einzutreten. Nur ein paar Minuten, nur wenige Sekunden hier in einem Winkel stehen, nur ein paar Atemzüge tun in dieser süßen, ahnungsvollen, einlullenden Weihrauchluft! Allzeit fand er diese Kirche offen; und wenn er dann wieder hinaustrat in das Brausen Berlins, ging er durch die Straßen mit ihrem Rennen und Fahren wie einer, der aus einer andern Welt kommt. Dann achtete er nicht auf das, was man ihm vortrug an Kirchenlehre und Kirchengeschichte – was waren ihm Doktor Martin Luther, Calvin und andere Reformatoren?! – seine Seele war gefangen, sein Denken untergegangen in einem Gefühl dumpfer Gläubigkeit.

So gingen Sommer und Winter hin. Als die Tage längten und eine milde Sonnenwärme alle winterliche Feuchte bald zu trocknen versprach, ließ Schlieben seine Villa verputzen und neu streichen. Auch sie sollte ein festliches Kleid anziehen zu des Sohnes Festtag.

Wunderhübsch guckte das weiße Haus mit den roten Dächern und den grünen Läden hinter den Kiefern hervor; es hätte fast etwas Ländliches gehabt, wären die großen Spiegelscheiben nicht gewesen und der neu angebaute Wintergarten mit seinen Palmen und blühenden Azaleen. Im Garten säte Friedrich den Rasen neu ein, und ein Gehilfe stach die Rabatten sauber ab; überall wurde gegraben und gehackt. Dreist und froh zirpten Spatzen überlaut; aber Papierschnipsel, die, an langen Bindfäden über eingesäte Rasenflächen gespannt, im klärenden Wind flatterten, scheuchten die Frechen vom willkommenen Futter. Alle Gärten erwachten; die Rosenstämmchen waren zwar noch nicht von ihren Hüllen befreit, [S. 199] in denen sie aussahen wie Strohpuppen, aber an den Obstbäumen zeigten sich die knospenden Triebe, und der Seidelbast prangte in seinen pfirsichfarbenen Blüten. Kinderwagen in Weiß und Himmelblau fuhren die Straße auf und nieder, das Baby drinnen guckte schon hinterm Gardinchen vor, und kleine Füßchen trippelten noch nebenher. Aus allen Türen kamen Bonnen und Kinder, die Knaben mit Reifen, die Mädchen mit dem Ball in dem gestrickten Netz. Kichernde Backfische zogen zum Tennis, und junge Herrchen, vom Tertianer an, machten ihnen die Cour.

Überall Helle und Heiterkeit. In den Kiefernwipfeln freudig-erregtes Rauschen, in den Weiden am Seerand ein Auf und Ab von quellendem Saft. Ein Zug von Staren zog über die Grunewaldkolonie, und jeder Vogel äugelte nieder und suchte sich aus, in welchem Kästchen der hohen Stangenkiefern es ihn am meisten gelüstete zu nisten.

Oben auf Wolfgangs Bett lag der neue Anzug ausgebreitet – schwarze Hose und Rock – zur Konfirmation. Nun sollte er ihn einmal anprobieren.

Es war ein eigentümliches Gefühl in Käte, ein Herzzittern dabei, als sie ihm half, den ungewohnten Anzug anlegen. Bis jetzt war er immer wie ein Junge gekleidet gewesen, in Kniehose und Matrosenbluse, nun sollte er auf einmal wie ein Herr angezogen gehn. Der festlich-schwarze, feine Anzug kleidete ihn nicht; nun sah man erst, daß er derb war. Steif stand er da, die lange Hose zwängte ihn, der Rock war ihm ebenso unbequem; er machte ein unglückliches Gesicht.

»Sieh dich doch an, sieh dich doch mal an,« sagte Käte und schob ihn vor den Spiegel.

Er sah hinein; aber er sah den Anzug nicht, er sah nur das Gesicht der Mutter, die mit ihm zu gleicher Zeit ins [S. 200] Glas blickte, und sah, daß da auch nicht ein einziger Zug gemeinsam war zwischen ihm und ihr.

»Wir sehen uns kein bißchen ähnlich,« murmelte er.

»Wie – was sagst du?« Sie hatte nicht verstanden.

Er antwortete nicht.

»Gefällt dir der Anzug nicht?«

»Scheußlich!« Und dann starrte er zerstreut. Was hatten sie doch heute vormittag wiederum gesagt? Sie hatten gestichelt! Lehmann und von Kesselborn, die mit ihm eingesegnet wurden. War es darum, weil ihre Väter nicht so reich waren?! Kesselborns Vater war ein verabschiedeter Offizier, jetzt Standesbeamter, aber Kesselborn war schrecklich eingebildet auf sein ›von‹; und Lehmann war Kesselborns Intimus. Aber er hatte den beiden gesagt, daß er eine silberne Uhr schon seit dem achten Jahr hätte, und daß er zur Einsegnung eine echt goldene bekäme, die er dann immer, für alle Tage tragen würde – das hatte sie schmählich geärgert!

Vor Beginn der Konfirmandenstunde war’s gewesen – sie waren schon alle versammelt –, da hatte Kesselborn auf einmal gesagt: »Der Schlieben ist ein Protz,« und sich dann direkt zu ihm gewendet: »Hab dich nur nicht so!« Und Lehmann hatte noch zugefügt, auch recht laut, daß es alle hören mußten: »Tu dich man nicht so dicke, man weiß doch, was man weiß!«

»Was weißt du?!« Er hatte dem Lehmann anspringen wollen wie ein Tiger, aber da war der Geistliche eingetreten, und sie hatten gebetet. Und als der Unterricht, von dem er fast nichts gehört hatte – er hörte immerfort das andre –, aus gewesen war, wollte er sich über Kesselborn und Lehmann hermachen, aber die saßen nahe bei der Tür und waren schon weg, ehe er aus seiner Bank herauskonnte. Er sah sie nicht mehr. Aber er sah Blicke, in denen eine gewisse Neugier [S. 201] und Schadenfreude lauerte – oder war’s ihm nur so?! Er war sich darüber nicht klar geworden, er hatte auch nicht weiter mehr darüber nachgedacht. Aber wie er nun das Gesicht der Mutter so dicht neben dem seinen im Spiegel erblickte, fiel ihm auf einmal alles wieder ein. Und schwer fiel’s ihm ein, plumpte wie ein Stein in sein Denken.

»Ich sehe dir gar nicht ähnlich,« sagte er noch einmal. Und dann belauerte er sie: »Dem Vater auch nicht!«

»O doch,« sagte sie hastig, »dem Vater sehr!«

»Keine Spur!«

Sie war heftig errötet, und nun sah er, daß sie jäh blaß wurde. Jetzt lachte sie, aber es war etwas Gezwungenes in ihrem Lachen. »Es gibt doch viele Kinder, die ihren Eltern wenig ähnlich sehen – das macht’s doch nicht!«

»Nein, aber –!« Er hielt auf einmal inne und sprach nicht weiter und zog die Brauen finster zusammen, wie er immer tat, wenn er angestrengt nachdachte. Und unter diesen zusammengezogenen Brauen hervor schoß er so scharfe, so mißtrauische, so prüfende Blicke in den Spiegel, daß Käte unwillkürlich zur Seite wich und ihr Kopf nicht mehr neben dem seinen im Glas zu sehen war.

Es hatte sie durchfahren mit plötzlichem Schreck: was meinte er, war’s Absicht, daß er so sprach, oder sagte er’s völlig unbefangen?! Was ahnte er – oder ahnte er nichts?! Was hatte man ihm gesagt, was wußte er?!

Ihre Hände, die sich jetzt an seinem Anzug zu schaffen machten – sie war niedergekniet und zupfte seine Beinkleider länger herunter –, waren voll nervöser Hast, zupften hier, zupften da und zitterten.

Er sah jetzt nicht mehr in den Spiegel, er sah auf die Knieende herunter mit einer Miene, die sich nicht enträtseln ließ. Für gewöhnlich war sein Gesicht nicht ausdrucksvoll [S. 202] und weder schön, noch häßlich, weder bedeutend, noch unbedeutend – es war ein noch ungeprägtes, glattes, unausgereiftes Knabengesicht – aber nun war etwas darin, etwas Zweifelndes, Unruhevolles, was es älter erscheinen ließ, in die Stirn Furchen zog und um den Mund Linien. Hinter dieser gekrausten Stirn schienen Gedanken zu kreisen; die derben Nasenflügel bebten leise, die Lippen preßten sich in einem Zucken aufeinander.

In dem Zimmer ward es ganz still. Die Mutter sprach kein Wort, der Sohn auch nicht. Draußen zwitscherten Vögel, man hörte jedes leiseste Piepen und das heimliche Sumsen des Frühlingswindes in den Kiefernwipfeln.

Langsam erhob sich Käte von den Knieen. Es wurde ihr schwer, aufzustehen, wie eine Lähmung fühlte sie’s in allen Gliedern. Mit der Hand nach dem nächsten Möbel tastend, half sie sich auf.

»Zieh dich nun wieder aus,« sagte sie leise.

Er war schon dabei, sichtlich erleichtert, die ungewohnte Kleidung von sich streifen zu können.

Sie hätte so gern mit ihm gesprochen, irgend etwas ganz Gleichgültiges – nur sprechen, sprechen! – aber sie fühlte eine sonderbare Scheu vor ihm. Es war ihr, als könnte er zu ihr sagen: ›Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?!‹ Und sie verstummte vor Angst.

Nun hatte er den neuen Anzug abgelegt und stand vor ihr mit der breiten Brust, die das nicht zugeknöpfte Hemd nackt ließ, mit den stämmigen Beinen, von denen die Strümpfe herabgerutscht waren, in seiner ganzen grobknochigen, nur halb bekleideten Derbheit. Sie wendete den Blick ab – war das schon ein großer Mensch! – und gleich darauf sah sie doch wieder hin: warum soll eine Mutter sich scheuen, ihr Kind zu betrachten?! Eine Mutter –?! [S. 203]

Vor ihren Blicken flimmerte es. Zur Tür schreitend, drehte sie nicht mehr den Kopf nach ihm, als sie sprach: »Ich gehe jetzt herunter. Du wirst wohl auch ohne mich fertig!«

Er murmelte etwas Unverständliches. Und dann stand er noch lange, halb bekleidet, und blickte so starr ins Spiegelglas, als könnten die Pupillen seiner Augen sich nicht bewegen. –

Immer näher rückte der Tag der Konfirmation; am Palmsonntag sollte sie stattfinden. Doktor Baumann hatte den jungen Menschen die Bedeutung des Schrittes, den sie zu tun im Begriff standen, sehr lebendig vor Augen gerückt. Nun fiel doch etwas vom Strahl der Feierlichkeit in Wolfgangs Gleichgültigkeit. In den letzten Stunden war er aufmerksamer; das kahle Konfirmandenzimmer mit den wenigen Bildern an den einförmigen Wänden dünkte ihn nicht ganz so kahl mehr. War’s nur, weil er sich daran gewöhnt hatte?! Gedämpfteres Licht fiel durch die sonst so tagesnüchternen Fenster und huschte verschönernd über die langweiligen Reihen der Bänke.

Selbst Lehmann und Kesselborn waren ihm in diesem Lichte nicht ganz so unsympathisch mehr. Es wurde alles milder, versöhnlicher. Die harte Knabenseele wurde weich. Wenn der Geistliche über die Gebote sprach und besonders das eine betonte: ›Ehre Vater und Mutter,‹ dann war es Wolfgang, als hätte er seinen Eltern vieles abzubitten: besonders der Mutter.

Aber kam er dann nach Hause, wollte ihr etwas Liebes sagen – ganz unvermittelt, so einfach aus seinen Gedanken heraus – dann war es ihm doch nicht möglich, denn sie fühlte ihm seine Absicht nicht an.

Manchen Tag ging Käte ihm zur Bahn entgegen – o, wie müde mußte der arme Junge heimkehren! Das war [S. 204] jetzt eine zu große Hetzerei, so oft in die Stadt hinein zum Unterricht, und in der Schule gab’s vorm Semesterschluß auch doppelt große Anstrengungen! Streicheln hätte sie ihn mögen, ihn hätscheln wie vormals das kleine Wölfchen. Aber wenn sie ihn dann daherschlendern sah, gar nicht ausschauend nach ihr, ohne Ahnung, daß sie da war, ihn zu erwarten, dann bog sie wohl rasch um die nächste Ecke oder blieb still stehen hinter einem Baum und ließ ihn vorüber. Er bemerkte sie gar nicht. – – –

Es waren ihrer viele, die der beliebte Geistliche zur Einsegnung vorzubereiten hatte, zu viele; er konnte sich nicht um jeden einzelnen kümmern, aber er glaubte doch der Mutter, die in einer gewissen Unruhe ihn aufsuchte, um ihn zu fragen, wie es denn um Wolfgang stehe, versichern zu können, daß er mit ihm zufrieden sei.

»Ich weiß, ich weiß, gnädige Frau! Ihr Herr Gemahl hat es für seine Pflicht gehalten, mich aufzuklären – ich habe ja auch den katholischen Taufschein des Knaben gesehen. Aber ich glaube Sie mit gutem Gewissen versichern zu können: der junge Mensch ist ein aufrichtig überzeugter evangelischer Christ! – Wie, Sie haben noch irgendwelches Bedenken hierüber?!« Ihre zweifelnde Miene, die fragende Ängstlichkeit ihres Blickes erstaunten ihn.

Sie nickte: ja, sie hatte ein Bedenken. Merkwürdig, wie ihr das in letzter Zeit so gekommen war! Aber ein Fremder, ein andrer würde es nicht verstehen, auch dieser Mann mit den klugen Augen und dem milden Lächeln nicht. Sie hätte dies Bedenken ja auch kaum in Worten zum Ausdruck bringen können. Und weit, weit hätte sie ausholen müssen, so weit, von damals an, wo sie das Kind seiner Mutter wegnahmen, es ganz in ihre eignen Hände nahmen, das ganze Kind mit Leib und Seele! [S. 205]

So sagte sie nur: »Also Sie glauben – Sie glauben wirklich – o, wie ich mich freue, Herr Doktor, daß Sie glauben, wir haben recht getan?!« Erwartungsvoll sah sie ihn an – ah, sie lechzte ja nach einer Bestätigung – und er neigte den Kopf:

»So weit unser Wissen und Verstehen geht – ja!« –

In der Nacht auf Palmsonntag schlief Wolfgang nicht. Es war ihm heute in der letzten Konfirmandenstunde gesagt worden, er solle sich innerlich vorbereiten. Und er fühlte es auch, daß morgen ein wichtiger Tag sei; ein Abschnitt. Er mühte sich, über all das zu denken, was ein Konfirmand bedenken soll. Er war sehr müde und konnte das Gähnen nicht unterdrücken, aber er riß krampfhaft immer wieder die Lider auf. Doch konnte er’s nicht hindern, daß seine Gedanken sich immer wieder verwirrten; er war nicht mehr ganz klar.

Was für einen Spruch er wohl bekommen würde morgen, zum Andenken an die Konfirmation?! Sie hatten in der Schule schon oft darüber hin und her geredet, jeder hatte seinen Lieblingsspruch, auf den er hoffte. Und ob er morgen früh vor der Kirche die goldene Uhr kriegen würde?! Selbstverständlich! Hei, wie würden sich dann Kesselborn und Lehmann bosen – – die Halunken! Unter die Augen halten würde er sie ihnen: da, seht mal! Grün sollten sie werden vor Neid – was brauchten sie über ihn zu tuscheln, sich um Sachen zu kümmern, die sie gar nichts angingen?! Pah, beunruhigen konnten sie ihn ja doch nicht, nicht mal ärgern!

Und doch sah er auf einmal sein eignes Gesicht so deutlich vor sich und das Gesicht der Mutter daneben, wie im Spiegelglas. Da war auch nicht ein Zug gemeinsam – nein, nicht einer!

Es war in der Tat doch merkwürdig, daß Mutter und [S. 206] Sohn sich so wenig glichen! Er war jetzt hell wach und fing an zu grübeln, die Stirn in Falten gezogen, die Hände zusammengeballt. Was meinten sie bloß mit ihren Anzüglichkeiten?! Wenn er das nur wüßte! Ganz zufrieden wollte er dann sein und ganz beruhigt. Aber so, im unklaren, konnte er an gar nichts andres denken. Immer wieder kreiste sein Sinnen um den einen Punkt. Das war ein scheußliches Gefühl, das ihn jetzt plagte, eine große Unsicherheit, in der er tappte wie im Stockfinstern. Licht, Licht! Er mußte Licht bekommen – ha, er würde schon welches bekommen!

Er wälzte sich unruhig, förmlich gequält, und überlegte und grübelte, wie er es herausbringen, wo er die Wahrheit erfahren sollte. Wer würde ihm bestimmt sagen, ob er der Eltern Kind war oder ob er’s nicht war? Warum sollte er denn eigentlich nicht ihr Kind sein?! Ja, er war’s – nein, er war’s nicht! Aber warum denn nicht?! Wenn er nicht ihr richtiges Kind wäre, würde ihm das sehr leid sein? Nein, nein – aber doch, es erschreckte so!

Schweiß lief dem aufgeregten Knaben über den Körper, und doch fror ihn. Fester zog er die Decke um sich und schüttelte sich wie im Fieber. Seltsam gebärdete sich dabei sein Herz, es flatterte ihm in der Brust wie mit unruhigem Flügelschlag. Ach, wenn er doch schlafen könnte und alles vergessen! Morgen wäre dann kein Gedanke mehr daran da und alles wie sonst!

Krampfhaft preßte er die Augen zu, aber der einmal gescheuchte Schlaf kam nicht mehr wieder. Er hörte die Uhren schlagen: unten vom Eßzimmer dröhnte die alte Standuhr herauf, und die bronzene Pendüle aus dem Zimmer der Mutter rief mit silberner Stimme. Die Stille der Nacht übertrieb die Geräusche; so laut hatte er die Uhren noch nie schlagen hören. [S. 207]

Kam der Morgen denn noch nicht, war das Licht denn noch nicht da?! Er sehnte den Tag herbei, und doch scheute er sich vor ihm. Eine unerklärliche Angst überfiel ihn plötzlich – ei, vor was fürchtete er sich denn so?

Wenn er doch schon in der Kirche wäre – nein, hätte er das doch schon hinter sich! Ein Widerstreben war in ihm, eine plötzliche Unlust. Rasend jagte immer derselbe Gedanke durch seinen Kopf, und sein Herz jagte mit; eine Sammlung war ihm nicht möglich. Seufzend drehte er sich in seinem Bette, fühlte sich unendlich vereinsamt, verängstigt, ja verfolgt.

›Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer‹ – ach, jenem einen Gedanken entfloh er nicht, überall war der und immer, immer da! – –

Als die Frühsonne des Palmsonntags sich zwischen den noch geschlossenen Läden durchstahl, in feinen goldenen Stäbchen in die Innenräume drang, kam Käte in das Zimmer ihres Sohnes. Sie war bleich, hatte sie doch die ganze Nacht mit sich gerungen: sollte sie ihm etwas sagen, jetzt an diesem Lebensabschnitt – sollte sie ihm nichts sagen?! Es war etwas, das in ihr flüsterte: ›der Tag ist da, sag’s ihm, du bist es ihm schuldig‹ – aber als die Morgensonne schien, hieß sie die Stimme der Nacht schweigen. Warum es ihm sagen, was kümmerte es ihn? Was er nicht wußte, konnte ihn nicht grämen; doch wenn er es wüßte, dann – vielleicht, daß er dann – o Gott, nur schweigen, nur nicht ihn verlieren!

Aber es drängte sie, ihn ihre Liebe fühlen zu lassen. Als sie hineinkam auf leisen Sohlen, war sie überrascht, denn er stand schon völlig angekleidet, im neuen schwarzen Rock, in den langen Hosen, am Fenster und sah unbeweglich hinaus [S. 208] auf das Stück Feld, auf dem man jetzt auch anfing, eine Villa zu bauen. Das Untergeschoß war schon fertig, hoch ragte ein Balkengerüst; es wurde ein gewaltiger Kasten.

»Guten Morgen, lieber Sohn!« sagte sie.

Er hörte sie nicht.

»Du! Wolfgang!«

Da fuhr er herum und sah sie an, erschrocken und als kenne er sie nicht.

»O, du bist schon ganz fertig!« Wie Enttäuschung lag’s in ihrem Ton; sie hätte ja so gern mit Hand angelegt, ihm geholfen, gerade an diesem Tage. In ihrem Herzen war ein wunderliches Gefühl; sie hatte nie geglaubt, daß dieser Tag sie so bewegen würde: war’s denn nicht ein Tag, wie andere Tage auch, ein Festtag natürlich, aber einer von vielen?! Und nun war’s ihr doch, als wäre dieser Tag einzig und als käme nie ein ähnlicher wieder.

Sie ging auf Wolfgang zu, legte die Arme um seinen Nacken und sah ihm tief in die Augen: »Mein Kind!« Und dann lächelte sie ihn an. »Nimm meinen Glückwunsch!«

»Wozu?« Er blickte so fremd über sie hin, daß all das, was sie ihm hatte Inniges sagen wollen, ungesagt blieb. Er war doch noch ganz Kind, trotzdem er sie fast überragte, noch viel zu sehr Kind, er verstand die Bedeutung dieses Tages noch gar nicht! So begnügte sie sich damit, nur noch an seinem Anzug zu bessern, ihm hier ein Fädchen abzunehmen, dort ein Stäubchen abzublasen und ihm den Schlips zurechtzuzupfen. Und dann mußte er den Kopf bücken: sie zog ihm den Scheitel noch einmal in dem sich ungern fügenden, immer wieder die Linie störenden, straffen Haar. Und dann konnte sie doch nicht an sich halten, nahm sein rundes Gesicht zwischen ihre beiden Hände und drückte ihm einen raschen Kuß auf die Stirn. [S. 209]

›Warum nicht auf den Mund?‹ dachte er. ›Eine Mutter hätte ihr Kind auf den Mund geküßt!‹

Sie gingen hinunter zum Frühstück. Blumen standen auf dem Tisch; der Vater saß schon da im schwarzen Gehrock, und auf Wolfgangs Teller lag die goldene Uhr. Eine kostbare Uhr. Er besah sie kritisch: ja, die gefiel ihm! ›Zur Erinnerung an den 1. April 1901‹ stand im Innern der goldenen Schale eingraviert. Weder Kesselborn noch Lehmann würden eine solche Uhr bekommen, keiner der Konfirmationsgenossen auch nur eine annähernd so kostbare! Furchtbar schwer war die Uhr – nun müßte er eigentlich auch noch eine goldene Kette dazu haben!

Die Eltern beobachteten Wolfgang, wie er dastand, die Uhr in der Hand, und darauf niedersah – ja, er freute sich! Und das erfreute sie wiederum, besonders Käte. Sie war dafür gewesen, ihm in den Deckel der Uhr auch noch einen Spruch eingravieren zu lassen, aber Paul hatte das nicht gewollt: nur keine Sentimentalitäten! Aber es war ja auch gut so, der Junge hatte seine Freude an dem Geschenk, also war der Zweck erreicht.

»Sie schlägt auch,« erklärte sie eifrig, »mitten im Dunklen kannst du wissen, welche Stunde es ist. Sieh mal, wenn du hier – siehst du? – wenn du hier drückst!«

»Ja! Gib mal – hier?!« Er war ganz bei der Sache.

Beinahe hätten sie sich verspätet; es war Zeit zum Aufbruch. Zwischen den Eltern ging Wolfgang zur Bahn. Als sie an dem Haus vorüberkamen, in dem Lämkes Portiers waren, stand Frida in der Tür. Sie mußte sich heute früher als sonst am Sonntag herausgemacht haben; sie war schon ganz im Staat, sah allerliebst aus, lächelte und nickte. Gleich darauf steckte Mutter Lämke den Kopf aus dem niedrigen Souterrainfenster und sah dem Knaben nach. [S. 210]

»Da jeht er nu hin,« philosophierte sie. »Wer weeß ooch, wie sich det noch im Leben für ihn jestaltet!« Sie war ganz gerührt.

Es war ein herrliches Wetter heute, ein wirklicher Frühlingstag. Eine festliche Helle glänzte über den geschmackvollen Villen; alle Sträucher trieben, Krokus, Tulpen, Primeln blühten freudig. Selbst Berlin mit seinen grauen Häusermassen und seinem lärmenden Verkehr zeigte ein sonntägliches Gesicht. Es war so viel stiller auf den Straßen; freilich sausten die elektrischen Bahnen dahin, und Droschken fuhren und Equipagen, aber keine Lastwagen rollten, keine Bier- und Schlächterkarren. Es ging alles so viel stiller zu, wie gedämpft, wie gesänftigt. Die Straßen erschienen noch breiter als sonst, weil sie leerer waren, und die Menschen, die auf ihnen gingen, zeigten andre Gesichter als sonst.

Zur Kirche strömten die Konfirmanden; es war ihrer eine große Zahl Knaben und Mädchen. Meist fuhren die Mädchen im Wagen vor, sie waren ja alle Töchter aus guten Häusern.

Ach, all diese Jugend! Käte konnte eine leis-sehnsüchtige, fast neidvolle Regung kaum unterdrücken: wer doch auch noch so jung wäre! Aber dann ging jeder selbstische Gedanke unter in dem einen Gefühl: der Junge, der Junge, der schritt nun heraus aus der Kindheit Land! Gott sei mit ihm!

Empfindungen, von denen sie lange nichts mehr gewußt hatte, kindlich gläubige, ganz naive Empfindungen durchwogten sie; alles, was die Jahre und das Leben in der Welt so mit sich gebracht hatten, fiel von ihr ab. Heute war sie wieder jung wie die da vorm Altar, vertrauensselig, hoffnungsfroh.

Doktor Baumann machte die Einsegnung sehr mahnend-ernst; viele der jungen Kinder schluchzten nicht minder als ihre Mütter. Ein Schauer wehte durch die gefüllte Kirche, tief senkten sich die jungen dunklen und blonden Köpfe. Käte [S. 211] sah nach Wolfgang hin: sein Kopf war der dunkelste von allen. Aber er hielt ihn nicht gesenkt, sondern aus unsteten Augen irrte sein Blick durch die Kirche, bis hin zu jenem Fenster; dort blieb er starr haften. Was suchte er da – an was dachte er?! Sie glaubte zu bemerken, daß er nicht bei der Sache war, und das schaffte ihr Unruhe. Näher zu ihrem Mann rückend, flüsterte sie: »Siehst du ihn?!«

Er nickte und flüsterte zurück: »Freilich! Er ist größer als alle andern!« Es lag etwas von Vaterstolz in Schliebens Flüstern. Ja, heute an diesem Tage fühlte er es: wenn man auch manche Sorge hatte, die man sonst nicht gehabt hätte, manche Unbequemlichkeit und Unannehmlichkeit, manche Freude hätte man doch auch nicht kennen gelernt! Trotz allem und allem: der Junge konnte gut werden! Wie jünglinghaft seine Erscheinung war! Einen fast männlichen Zug hatte er um den Mund! Sonst war dem Vater das noch nie aufgefallen – machte wohl der schwarze Anzug die Knabengestalt so ernsthaft?!

Wolfgangs Gedanken gingen eigne Wege; nicht die hier vorgeschriebenen. Viele Empfindungen kreisten in ihm, aber keine derselben konnte er festhalten; er war sehr zerstreut. Durchs Viereck in des Kirchenfensters Scheibe sah er leere Luft, und diese belebte sich ihm mit huschenden Gestalten: Vater, Mutter, Frida, Lehrer und Kameraden. Aber alle glitten sie vorüber, keine Erscheinung blieb. Er fühlte sich plötzlich ganz allein inmitten der Menge von Menschen.

Als die Reihe an ihn kam, trat er mechanisch zum Altar, neben sich Kullrich; vor sich Lehmann und Kesselborn. Wie er diese beiden jetzt auf einmal wieder haßte! Seine Uhr, seine goldene Uhr hätte er ihnen vor die Füße werfen mögen: da, nehmt sie! Aber nehmt zurück, was ihr gesagt habt, nehmt’s zurück! Pfui, was war das für eine gräßliche [S. 212] Nacht gewesen – ekelhaft! Die fühlte er noch in den Gliedern; schwer waren seine Füße, und als er jetzt auf dem Polster niederkniete, das auf der Altarstufe lag, waren seine Kniee steif. Kullrich neben ihm weinte in einem fort leise. Aha, der dachte wohl an seine Mutter, die nicht mehr bei ihm war! Armer Kerl! Und plötzlich fühlte Wolfgang, daß ihm etwas Feuchtheißes in die Augen drängte.

Oben summte die Orgel leise, und in das sanfte Tönen sprach die milde Stimme des Geistlichen die Sprüche hinein, die er seinen Konfirmanden ausgesucht hatte:

»Offenbarung Johannis, Kapitel 21, Vers 4. Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das erste ist vergangen!«

Aha, das war was für Kullrich! Der hob das tränennasse Gesicht, das so rot und heiß war, zu der Tröstung empor. Aber nun, nun – Wolfgangs Atem stockte – jetzt, jetzt kam sein Spruch! Was würde er für einen Spruch bekommen, was würde man ihm sagen?!

»Ebräer 13 Vers 14. Denn wir haben hie keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir!«

Das – das sollte für ihn sein?! Was hieß das?!

Eine ungeheure Enttäuschung kam über Wolfgang, denn – hatte er nicht auf den Spruch geharrt wie auf eine Offenbarung?! Der Spruch, der Spruch, der sollte ein Gottesurteil sein! Der wollte sagen: was wahr war – oder was nicht wahr war. Und nun –?!

›Wir haben hier keine bleibende Statt,
die zukünftige suchen wir‹ –

nun sagte der gar nichts!

In allen Hoffnungen betrogen, erhob er sich mechanisch von der Altarstufe. Er sah nicht, daß der Blick der Mutter [S. 213] ihn heimlich grüßte, daß auch der Vater ihm verstohlen zunickte, Freundlichkeit im Gesicht; er war ganz verstört, ganz ernüchtert, ganz benommen von dieser Enttäuschung.

Wär’s nur schon zu Ende hier! Ach, wie ermüdend war dieses lange Stillesitzen! Wolfgang war blaß und gähnte verstohlen; die durchwachte Nacht machte sich geltend, kaum daß er sich des Einschlafens enthielt. Endlich, endlich erklang das Amen, endlich, endlich brauste von der Orgel der Schlußchoral!

Strömend, wie eine nicht endenwollende Flut, ergoß sich die übergroße Menge aus der Kirche. Jedes Kind gesellte sich zu seinen Eltern; zwischen Vater und Mutter traten die Eingesegneten aus dem Portal.

Auch Wolfgang ging so, wieder wie vordem. Vor sich sah er Kullrich – nur mit seinem Vater; beide trugen noch immer den breiten Trauerflor. Da machte er sich los von den Seinen und trabte rasch hinter Kullrich her. Er hatte dem nie besonders kameradschaftlich nahegestanden, aber nun faßte er ihn bei der Hand und drückte und schüttelte sie ihm, stumm, ohne Worte, und machte dann rasch wieder kehrt.

Die impulsive Teilnahme ihres Sohnes rührte Käte tief; sie war ohnehin heute unendlich weich. Als Wolfgang wieder neben ihr schritt, sah sie ihn von der Seite an mit tiefem Gefühl: ach, er war doch gut, so gut! Und heiße Hoffnungen und Wünsche stiegen aus ihrer Seele zum Himmel empor.

Licht war der Himmel, so blau, kein Wölkchen daran.

Sie nahmen einen Wagen, um nach Hause zu fahren, denn beiden Eltern widerstrebte es, sich mit so und so viel gleichgültigen, schwatzenden Menschen in der Bahn zu drängen; sie hatten das Verlangen, mit ihrem Sohne allein zu sein. Wolfgang war schweigsam; er saß der Mutter gegenüber, ließ seine Hand, die sie auf ihren Knieen hielt, wohl in ihrer Hand, [S. 214] aber seine Finger erwiderten nicht den zarten, warmen Druck. Er saß so still, als sei er gar nicht zugegen.

Wieder fuhren sie am Haus vorüber, in dem Lämkes Portiers waren; beim Rollen des Wagens auf der sonnentrocknen, harten Straße sprang Frida rasch ans Fenster, lächelte und nickte wieder. Aber von Mutter Lämke war jetzt nichts zu sehn, und Wolfgang vermißte das – nun, heute nachmittag, so wie er sich losmachen konnte, würde er zu Lämkes gehen!

In der Villa warteten schon Gäste. Ein großes äußeres Fest wollte man nicht aus der Konfirmation machen, aber den guten alten Sanitätsrat, dessen Frau, und die beiden Sozien hatte man doch einladen müssen. Alles ältere Leute; Wolfgang saß zwischen ihnen, ohne viel andres zu reden als ›Ja‹ und ›Nein‹, wenn er gefragt wurde. Aber er aß und trank tüchtig; das Essen war immer gut, aber Kaviar und Kibitzeier, wie heute, gab’s doch nicht alle Tage. Immer röter wurde sein Kopf und benommener; man hatte zuletzt in Sekt auf sein Wohl getrunken, und Braumüller, der älteste Sozius, ein sehr jovialer Mann, hatte sich einen Spaß daraus gemacht, dem Gefeierten immer wieder einzuschenken.

»Na, Wolfgang, wenn Sie erst ins Geschäft eintreten! Na denn, mein Junge, prost!«

Es war schon fast fünf Uhr, als man von Tische aufstand. Die Damen setzten sich in den Salon zum Kaffee, die Herren gingen ins Rauchzimmer. Wolfgang stahl sich fort, es zog ihn mächtig zu Lämkes. Erstens wollte er die goldene Uhr zeigen, und dann wollte er auch mal fragen, was für einen Spruch Frida eigentlich bei ihrer Einsegnung bekommen hatte, und dann, dann – was wohl Mutter Lämke zu ihm sagen würde?!

›Wir haben hier keine bleibende Statt, die zukünftige suchen wir‹ – das war doch wirklich ein dummer Spruch! [S. 215] Und doch wollte der ihm nicht aus dem Kopfe. Wie er jetzt so langsam dahinschlenderte durch die weiche, silbrige, ahnungsvolle Frühlingsluft, grübelte er in einem fort darüber. Nein, so ganz dumm war der Spruch denn doch nicht! Nachdenklich zog er die Brauen zusammen, sah empor nach den unbewegten Wipfeln der Kiefern und dann umher – ›wir haben hier keine bleibende Stätte‹ – konnte das nicht auch bedeuten: hier ist deine Heimat nicht?! Aber wo – wo?!

Ein seltsamer Glanz kam in das dunkle Auge, ein Suchen war darin. Und dann wurde das weinrote, vom Festmahl erhitzte Gesicht blaß. Wenn es wahr wäre, was die beiden sagten?! Ach, und noch so manches andre kam ihm jetzt auf einmal in die Erinnerung: da war doch die Lisbeth gewesen, das garstige Frauenzimmer, das vor der Cilla bei ihnen gedient hatte – was hatte die Lisbeth doch immer alles geplappert, wenn sie schlechter Laune war?! ›Du hast ja gar nichts zu suchen hier‹ – ›Gnade und Barmherzigkeit‹ – allerhand so was, er brachte es jetzt nur nicht mehr recht zusammen. Schade! Damals war er eben noch zu jung und harmlos gewesen, aber jetzt – jetzt?!

»Verdammte Person!« Er ballte die Faust. Aber, ach, wenn er sie jetzt nur hier hätte! Kein Schimpfwort wollte er ihr sagen, nein, es ihr herauslocken, ganz sanft und schmeichelnd, denn wissen, wissen mußte er’s jetzt!

Ein heftiges Verlangen, eine brennende Neugier waren plötzlich in ihm erwacht, die ließen sich nun nicht mehr zurückdrängen. Etwas Wahres mußte doch daran sein, wie kämen sie sonst dazu, so zu sticheln? Und das Wahre mußte er wissen; er hatte jetzt ein Recht darauf! Seine Gestalt reckte sich. Eigenwille und Trotz gruben feste Linien um seinen Mund. Und wenn es noch so schrecklich war, wissen mußte er’s! Aber war es denn überhaupt schrecklich?! Der Zug [S. 216] um seine Lippen wurde milder. ›Wir haben hier keine bleibende Statt, unsre Heimat suchen wir‹ – wohlan, er würde sie suchen!

Rascher fing er an, auszuschreiten, seinen bummligen Schlendergang aufgebend. Was würde Mutter Lämke sagen?! Und wenn er sie nun fragen würde – sie meinte es ja so gut mit ihm –, wenn er sie fragen würde, wie einer gefragt wird, der schwören soll, wenn er sie fragte, ob – ja, was wollte er sie denn eigentlich fragen?!

Sein Herz klopfte. Ah, das dumme Herz! Das tat manchmal gerade so, als wäre es ein wilder Vogel, den man in ein enges Bauer eingesperrt hat!

Er war wieder ins Laufen gekommen; nun mußte er den Schritt verlangsamen. Und doch war er noch ganz außer Atem, als er die Wohnung der Lämkes betrat. Vater und Sohn waren ausgegangen; aber Mutter und Tochter saßen da, als hätten sie auf ihn gewartet.

Frida sprang auf, daß die Küchenkante, an der sie gehäkelt hatte, zu Boden flog, faßte ihn bei beiden Händen, und aus ihren blauen Augen strahlte die Bewunderung. »Nee, was biste fein, Wolfjang! Wie ’n Herr – riesig nobel!«

Er lächelte: das war mal nett von ihr!

Aber als Frau Lämke gerührt sagte: »Nee, Wolfjang, nu sage ik aber ›Sie‹ ßu Ihnen – nee, Sie sind ßu jroß! – aber ik habe Ihnen drum nich weniger jerne, weeß Jott, man is kaum ärjer uf de eijnen Jöhren« – da fühlte er eine Freude, wie er sie heute noch nicht gefühlt hatte. Sein Gesicht wurde weich in einer warmen Empfindung, und die arbeitsharte Hand, die die seine kräftig schüttelte, drückte er fest.

Dann setzte er sich zu ihnen, sie wollten erzählt haben. Er zeigte ihnen seine goldene Uhr und ließ sie repetieren; [S. 217] aber sonst erzählte er nicht viel, die Atmosphäre der Stube lullte ihn in ein dämmerndes Behagen, und er saß ganz still. Wieder roch es hier wie einst nach frischgebrühtem Kaffee, und der Myrtenstock am Fenster und die blasse Monatsrose mischten ihren schwächeren Duft ein. Er hatte ganz vergessen, daß er schon lange hier saß; plötzlich fiel es ihm ein mit einem jähen Schrecken: er hatte ja was zu fragen!

Mit forschenden Blicken sah er der Frau ins Gesicht. Sie sagte gerade: »Nee, wie sich deine – Ihre Mutter freuen wird, det se nu so ’n jroßen Sohn hat« – da fuhr es ihm heraus: »Bin ich denn ihr Sohn?« Und als Frau Lämke nicht antwortete, nur mit erschrockenen Augen ihn unsicher ansah, schrie er’s fast: »Bin ich denn ihr Sohn?«

Mutter und Tochter wechselten einen raschen Blick; Frau Lämke war ganz rot geworden und sehr verlegen. Mit beiden Händen hielt der Junge ihre Arme gepackt, und ganz dicht beugte er sich zur ihr hinüber. Da gab’s kein Ausweichen.

»Lügen Sie mir nichts vor,« sagte er hastig. »Ich kriege es ja doch heraus. Ich muß es herauskriegen. Ist es meine Mutter? Antwort! Und mein Vater – ist der auch mein wirklicher Vater nicht?«

»Jott in ’n Himmel, Wolfjang, wie kommen Sie ßu so was?« Mutter Lämke verbarg ihre Verlegenheit unter einem erzwungenen Lachen. »Das ’s ja allens Quatsch!«

»O nein!« Er blieb unentwegt ernsthaft. »Ich bin nun alt genug. Ich muß das wissen. Ich muß!«

Die Frau wand sich förmlich: nein, wie war ihr das unangenehm, mochte der Junge doch lieber wo anders fragen! »Die würden mir scheene uf ’n Kopp kommen, wenn ich da was quasselte,« suchte sie auszuweichen. »Fragen Sie doch bei Ihre Eltern selber an, die werden Ihnen schon Bescheid [S. 218] jeben. Ick wer mir hüten, mich mank so ’ne Anjelegenheiten ßu mengelieren!«

Frida machte den Mund auf, als ob sie etwas sagen wollte, aber ein warnender Blick hieß sie schweigen. Heftig fuhr die Mutter dazwischen: »Biste stille! Det fehlte jrade noch, det du de Hände einmanschtest! Was verstehn ieberhaupt so ’ne Jöhren von so was! Was Wolfjangen sein Vater is, der wird schonst wissen, woher er ’n hat. Und wenn die jnäd’ge Frau mit ßufrieden is, hat keen andrer en Wort drieber zu sagen!«

Wolfgang sah die Schwätzerin starr an. »Die Jungens sagen – die Lisbeth sagte – und nun sagen Sie – Sie auch« – er sprang auf – »ich geh und frage. Die!« Er wies mit dem Finger, als deute er irgendwohin in eine weite, ihm ganz fremde Ferne. »Jetzt muß ich’s wissen!«

»Aber Wolfjang – nee, um Jottes willen!« Ganz entsetzt drückte ihn Frau Lämke wieder auf den Stuhl nieder. »Lämke haut mir, wenn er’s ßu wissen kriegt, det ich da mank bin. Wir verlieren womöglich noch de Portjehstelle dadurch – un jetzt, wo de Kinder noch nischt verdienen! Ick habe doch nischt jesagt?! Was kann ick davor, wenn dich andre Leute ’nen Floh ins Ohr setzen! Ick kenne ja deine Mutter jar nich – und was dein Vater is, der wird ihr ooch schon längst nich mehr kennen! Laß man die janze Jeschichte jut sind, mein Junge!« Sie wollte ihn beruhigen, aber er hörte nicht darauf.

»Mein – mein Vater?!« stotterte er. »Also der ist doch mein richtiger Vater?«

Frau Lämke nickte.

»Aber meine – meine richtige M–!« Er brachte das Wort ›Mutter‹ nicht heraus. Die Hände hielt er sich vors Gesicht und zitterte am ganzen Leib. Die Sehnsucht hatte [S. 219] ihn plötzlich übermannt, diese starke, heftige Sehnsucht nach einer Mutter, die ihn geboren hatte. Er sagte kein Wort, aber er stieß Seufzer aus, die wie Stöhnen klangen.

Frau Lämke war zu Tode erschrocken; sie wollte sich herausreden und redete sich immer tiefer hinein: »Ach was, mein juter Junge, so was kommt in ’n Leben doch öfters vor – sehr anständig, daß er dir nich verleujnet hat, det tut noch lange nich jeder! Un was die jnäd’je Frau is, die dir anjenommen hat wie ’n eijnet Kind, so kann man lange suchen, bis man so eine wieder findet. Jroßartig – einfach jroßartig!« Frau Lämke hatte sich oft genug über die vornehme Dame geärgert, aber nun fühlte sie das Bedürfnis, ihr gerecht zu werden. »So ’ne Mutter kannste in Jold fassen – so was jibt’s ja jar nich mehr!« Sie erschöpfte sich in anerkennenden Lobpreisungen. »Un wer weiß auch, ob an’n Ende noch alles wahr is!« Damit schloß sie.

Es würde schon alles wahr sein! Wolfgang war ruhig geworden; wenigstens merkte man seinem Gesichte keine sonderliche Erregung mehr an, als er jetzt die Hände herabgleiten ließ. »Ich muß jetzt gehen,« sagte er.

Frida stand sehr bedrückt da; sie hatte das alles ja längst gewußt – wer wußte das nicht?! – aber daß er ’s nun wußte, das tat ihr so leid. Ihre hellen Blicke trübten sich, voll Mitleid sah sie den Freund an: ach, wie war ihre eigene Einsegnung, vorige Ostern, doch so viel schöner gewesen! Sie hatte keine goldene Uhr bekommen, nur eine ganz kleine Brosche von unechtem Gold – eine Mark fünfzig hatte die gekostet, sie hatte sich die ja selber mit Muttern ausgesucht –, aber sie war so froh gewesen, so froh!

»Was für ’n Spruch haste denn jekriegt?« fragte sie rasch, um Wolfgang auf andre Gedanken zu bringen.

»Ich weiß ihn nicht auswendig,« sagte er ausweichend, [S. 220] und seine verblaßten Wangen wurden purpurrot. »Aber er stimmt!« Und damit ging er aus der Türe.

Geradeswegs ging er nach Hause – was sollte er noch Zeit versäumen, es eilte! Er sah nicht die Stare aus- und einfliegen aus ihren Nistkästchen an den hohen Stangenkiefern, sah nicht, daß schon eine helle Mondsichel schwebte am dunkler werdenden Abendhimmel und ein goldener Stern daneben stand, sah nur mit Genugtuung, als er in die Halle der Villa trat, daß Mäntel und Hüte von den Haken verschwunden waren. Das war gut, die Gäste waren fort! Er stürmte gegen die Salontür, fast fiel er ins Zimmer. Da saßen Vater und Mutter noch – nein, der Vater und sie, die – die –!

»Nun, sage mal, wo hast du denn so lange gesteckt?« fragte der Vater, nicht ohne Anflug von Ärgerlichkeit in der Stimme.

»Heute, gerade heute!« sagte die Mutter. »Sie lassen dich alle grüßen, sie haben noch auf dich gewartet. Aber nun ist es ja fast schon acht Uhr!«

Unwillkürlich sah Wolfgang nach der Pendüle auf dem Kaminsims – richtig, schon bald acht! Aber das war ja nun alles gleichgültig! Und den Blick starr geradeaus gerichtet, als sähe er unverrückt nach einem Ziel, stellte er sich vor den beiden auf.

»Ich muß euch was fragen,« sagte er. Und dann – ganz unvermittelt kam’s heraus, ganz brüsk –: »Wessen Kind bin ich?!«

Da war’s gesagt! Die junge Stimme hatte hart geklungen. Oder tönte sie nur so verletzend in Kätes Ohren? Sie hörte ein furchtbares Gellen wie von mißlautendem Trompetenstoß. O Gott, da war sie, die furchtbare Frage! Eine jähe Blutwelle legte ihr einen dichten Schleier mit flimmernden Punkten vor die Augen; sie konnte ihren Knaben [S. 221] nicht mehr sehen, sie hörte nur diese seine Frage. Hilflos, blindlings griff sie mit der Hand um sich – Gott sei Dank, da war ihr Mann, der war noch da! Und jetzt hörte sie auch ihn sprechen.

»Wie kommst du zu der Frage?« sagte Schlieben. »Unser Sohn – natürlich! Wessen Kind denn sonst?«

»Das weiß ich nicht. Das will ich ja eben von euch wissen,« sprach wieder die harte Knabenstimme.

Es war merkwürdig, wie ruhig diese Stimme klang, aber sie dünkte Käte doppelt entsetzlich in dieser sachlichen Einförmigkeit.

Nun hob sie sich ein wenig: »Gib mir doch Antwort – ich will – ich muß es wissen!«

Käte schauderte: welche Unerbittlichkeit, welche Hartnäckigkeit lag in diesem ›Ich will‹ – ›Ich muß‹ –! Der würde nie mehr aufhören, zu fragen! Wie vernichtet sank sie bebend ganz in sich zusammen.

Auch des Mannes ruhige Stimme verriet ein heimliches Beben: »Lieber Junge, dir hat mal wieder einer – ich will nicht fragen: wer, es gibt immer Klätscher und Hetzer genug – etwas in den Kopf gesetzt. Warum stellst du dich so feindlich gegen uns? Sind wir dir nicht immer wie Vater und Mutter gewesen?«

O, das war falsch – wie Vater und Mutter?! Grundfalsch! Käte fuhr auf. Sie streckte die Arme aus: »Mein Junge!«

Aber er blieb stehen, als bemerkte er diese ausgestreckten Arme nicht; die Brauen finster zusammengezogen, sah er nur den Mann an. »Ich weiß wohl, daß du mein Vater bist, aber sie – die –« er warf einen flüchtigen Seitenblick – »die ist meine Mutter nicht!«

»Wer sagt das?!« Käte schrie laut auf. [S. 222]

»Alle Welt!«

»Nein, niemand! Das ist nicht wahr! Eine Lüge, eine Lüge! Du bist mein Kind, mein Sohn, unser Sohn! Und wer das leugnet, der lügt, betrügt, verleumdet, der –«

»Käte!« Ihr Mann sah sie sehr ernst an, und ein Vorwurf lag in seinem Ton und eine Mahnung: »Käte!«

Und dann wendete er sich zu dem jungen Menschen, der trotzig dastand, fast herausfordernd in der Haltung – den einen Fuß vorgestellt, gerade aufgerichtet, den Kopf in den Nacken geworfen – und sagte: »Die Mutter ist begreiflicherweise sehr aufgeregt, du solltest sie schonen – gerade heute! Geh jetzt, und wir werden morgen –«

»Nein, nein!« Käte ließ ihn nicht aussprechen; sie rief in höchster Erregung: »Nein, nicht aufschieben! Laß ihn doch reden – jetzt – laß ihn nur! Und antworte du ihm – jetzt – gleich – daß er unser Sohn ist, unser Sohn ganz allein! Wolfgang – Wölfchen!« Sie brauchte heute wieder seit langer Zeit den alten süßen Kinderschmeichelnamen. »Wölfchen, liebst du uns denn gar nicht mehr? Wölfchen, komm doch zu mir!«

Wieder streckte sie die Hände nach ihm aus, aber er sah wiederum nicht diese verlangenden, liebevoll gebreiteten Arme. Er war sehr blaß und sah starr vor sich nieder.

»Wölfchen, komm!«

»Ich kann nicht!«

Nichts regte sich in seinem Gesicht, und seine Stimme hatte immer noch den eintönigen Klang, der ihr so furchtbar war. Sie schluchzte auf, und ihre Blicke klammerten sich an ihren Mann – nun sollte der ihr helfen! Aber er sah sie finster an; deutlich las sie in seiner Miene den Vorwurf: ›Warum bist du mir nicht gefolgt?! Hätten wir’s ihm gesagt beizeiten –‹ nein, auch bei ihm fand sie keine Hilfe! Und [S. 223] jetzt – was sagte Paul jetzt gar?! Ihre Augen erweiterten sich in plötzlichem Schrecken, mit beiden Händen umklammerte sie die Seitenlehnen ihres Sessels, wollte zurücksinken und bäumte sich doch auf, sich wehrend gegen das, was nun kommen mußte. War Paul von Sinnen?! Er sprach: »Du bist nicht unser Sohn!«

»Nicht euer Sohn?!« Der Knabe stammelte. Er hatte sich durch nichts beirren lassen wollen, aber diese Antwort beirrte ihn doch. Sie verwirrte ihn; er wurde rot und blaß, und sein Blick glitt unsicher von dem Mann zur Frau, von der Frau zum Mann.

Also auch er – der – wäre nicht sein Vater?! Aber Frau Lämke hatte es doch gesagt! Aha, der wollte ihn jetzt wohl verleugnen?! Mißtrauisch sah er den Mann an, und dann wallte es wie eine Kränkung in ihm auf: wenn der da nicht sein Vater wäre, hätte er ja eigentlich hier gar kein – nein, gar kein Anrecht?!

Und einen Schritt nähertretend, sagte er hastig: »Du bist wohl mein Vater. Du willst es jetzt nur nicht sagen. Aber sie« – er nickte kurz nach dem Sessel hin – »sie ist nicht meine Mutter!« Seine Augen leuchteten; mit einem tiefen Aufatmen sagte er nun, als sei es ihm eine Erleichterung: »Das habe ich immer gewußt!«

»Du bist falsch berichtet! Wäre es nach mir gegangen, ich hätte dir längst die Wahrheit gesagt. Aber da nun einmal – leider! – der richtige Moment versäumt ist, so sage ich sie dir heute. Ich sage sie dir – so wie ein Mann zum anderen spricht, auf Ehrenwort – ich bin dein Vater nicht, ebensowenig wie sie deine Mutter ist. Von Geburt bist du uns fremd, ganz fremd. Wir haben dich aber angenommen an Kindes Statt, weil wir gerne ein Kind haben wollten und keins hatten. Wir haben dich aus dem –« [S. 224]

»Paul!« Wie damals, als Schlieben dem Knaben, empört über dessen Undankbarkeit, hatte etwas verraten wollen, fiel Käte ihm mit einem lauten Schrei an die Brust. Sie umklammerte ihres Mannes Nacken; hastig, heftig, mit zitterndem Hauchen raunte sie ihm ins Ohr: »Sag ihm nicht: woher! Um Gottes willen nicht, woher! Dann geht er, dann ist er mir ganz verloren! Ich ertrage es nicht – hab Mitleid, Erbarmen mit mir – sag ihm nur nicht: woher!«

Er wollte sie von sich schieben, aber sie ließ ihn nicht los. Immer dies weinende Stammeln, dies zitternde, angstvolle, verzweifelnde Beschwören: nur nicht woher, nur nicht woher!

Ein großes Mitleid mit ihr überkam ihn: seine arme Frau, so eine arme Frau – mußte ihr das geschehen?! Und ein Zorn kam dazu gegen den Knaben, der da so breitspurig stand – dreist – ja, dreist – der da forderte, wo er zu bitten hatte, und unbewegt, mit großen kalten Augen nach ihnen hinsah.

Der ernste, aber doch weiche Ton, in dem Schlieben bis jetzt zu Wolfgang gesprochen hatte, wurde streng: »Übrigens verbitte ich mir diese deine Art, zu fragen!«

»Ich habe ein Recht, zu fragen!«

»Ja, das hast du!« Der Mann war ganz betroffen: ja, der Junge hatte das Recht! Wer hier im Unrecht war, das war ganz klar! Und so sagte er einlenkend und wieder freundlicher: »Wenn du aber auch nicht unser Sohn bist in Fleisch und Blut, so denke ich doch, haben Erziehung und jahrelanges Mühen, treue Fürsorge dich im Geiste zu unserm Kinde gemacht. Komm, mein Sohn – und wenn sie alle sagen, du wärest nicht unser Sohn, ich sage dir: du bist unser Sohn, in Wahrheit!«

Er hielt dem regungslos Dastehenden die freie Hand [S. 225] hin – mit der andern hielt er seine Frau umfaßt –, da war noch Platz an seiner Brust, hier konnte auch noch der reuige Knabe liegen. Aber langsam wich Wolfgang zurück, er nahm die gebotene Hand nicht, er ließ sich nicht ziehen.

»Nein,« sagte er. Und dann ging er, ohne Tränen, die trockenen Augen immer starr auf die, die er so lange Eltern genannt hatte, gerichtet, langsam rückwärts zur Tür.

»Junge, wohin?! Aber so bleibe doch!« Schlieben rief es ihm gütig nach – der Junge war ja auch in einer scheußlichen Situation, man mußte Geduld mit ihm haben! Und er rief noch einmal: »Wolfgang, bleibe doch!«

Aber Wolfgang schüttelte den Kopf: »Ich kann nicht. Ihr habt mich betrogen. Laß mich los!« Mit einer gewaltsamen Bewegung schüttelte er des Mannes Hand, die sich auf seinen Ärmel gelegt hatte, ab.

Und nun schrie er auf wie ein verwundetes Tier: »Was quält ihr mich noch? Laßt mich doch gehen! Ich will gehen, ich will an meine Mutter denken – wo ist sie?!«


[S. 226]

Drittes Buch


1

Die Uhren im Haus gingen schreckhaft laut. Man hörte sie durch die Stille der Nacht wie mahnende Stimmen.

O, wie rasend schnell jagte die Zeit hin! Eben war es noch Abend gewesen – eben Mitternacht – und nun schlug die Pendüle auf dem Kaminsims schon ein kurzes, helles, hartes Eins!

Mit einem Zusammenschaudern hob die einsame Frau die Hände an die Schläfen und preßte sie fest dagegen. Ah, wie es dadrinnen hämmerte, und wie sich Gedanken – quälende Gedanken – jagten, rasend schnell und rastlos wie das hastige Ticken der Uhren!

Alle schliefen im Haus. Der Diener, die Mädchen; auch ihr Mann – längst! Nur sie, sie allein hatte noch keinen Schlaf gefunden.

Und draußen schlief auch alles. Die Kiefern standen ums Haus, regungslos, und ihre dunklen Silhouetten, steif wie aus Pappe geschnitten, hoben sich scharf ab vom silbrigen Nachthimmel.

Kein Ruf, kein Fußtritt, kein Räderrollen, kein Singen, kein Lachen, nicht einmal ein Hundegekläff stieg auf aus der schlafenden Grunewaldkolonie. Nur wie ein leises Seufzen ging’s um die weiße Villa mit dem roten Dach und den grünen Läden. [S. 227]

Die Mutter, die auf ihren Sohn wartete, horchte auf: war da jemand?! Nein, es war das Nachtlüftchen, das dort die Äste der alten verknorrten Kiefer zu bewegen versuchte.

Käte Schlieben stand jetzt am Fenster – vorhin hatte sie es ungeduldig aufgerissen – nun beugte sie sich hinaus. Soweit ihr Auge reichte, war niemand zu sehen – gar niemand. Er kam noch immer nicht!

Zwei schlug die Uhr. Mit einem fast verzweifelten Blick sah sich die Frau nach dem Kamin um: o, diese quälende, diese unerträgliche Uhr! Es konnte nicht sein, sie mußte falsch gehen, es konnte nicht sein, daß es schon so spät war!

Käte hatte schon manchen Abend aufgesessen und auf Wolfgang gewartet, aber so lange wie heute war er noch nie ausgeblieben. Paul hatte nichts dagegen, wenn der Junge seine eignen Wege ging. ›Liebes Kind,‹ hatte er ja gesprochen, ›das kannst du nicht ändern. Lege dich hin und schlafe, das ist viel vernünftiger. Der Junge hat den Schlüssel, er wird schon wohlbehalten ins Haus kommen. Einen jungen Menschen in seinem Alter kannst du nicht mehr gängeln. Laß ihn – du verleidest ihm ja sonst unser Haus – laß ihn doch ruhig gehen!‹

Was Paul sich dachte! Freilich, er hatte ganz recht, gängeln durfte sie ihn nicht mehr! Das konnte sie auch gar nicht mehr – hatte sie nie gekonnt. Aber wie konnte sie sich ruhig zu Bett legen?! Schlafen würde sie ja doch nicht. Wo blieb er?! –

Käte war grau geworden. In den drei Jahren, die verstrichen waren seit des Sohnes Einsegnung, hatte sie sich äußerlich sehr verändert. Während Wolfgang in die Höhe wuchs, stark und sich breitete wie ein junger Baum, hatte ihre Gestalt sich geneigt wie eine Blume, die regenbeschwert ist oder welken will. Ihre feinen Züge waren dieselben geblieben, [S. 228] aber ihre Haut, die so lange eine fast mädchenzarte Glätte bewahrt hatte, war schlaffer geworden; ihre Augen sahen aus, als hätten sie viel geweint. Die Bekannten fanden Frau Schlieben recht gealtert.

Wenn sich Käte jetzt in dem Spiegel sah, hatte sie nicht mehr das freudige Erröten über die eigne wohlkonservierte Erscheinung; sie sah sich nicht gern mehr an. Es hatte ihr irgend etwas innerlich und äußerlich einen Ruck gegeben. Was das gewesen war, ahnte niemand. Schlieben freilich wußte es, aber er sprach mit seiner Frau nicht darüber: warum sie von neuem aufregen, alte Wunden wieder aufreißen?!

Er hütete sich wohl, noch einmal wieder auf jenen Konfirmationstag zurückzukommen. Es war auch bequemer so. Den Jungen hatte er freilich damals noch ordentlich vorgenommen, ihm in strengen Worten sein undankbares Verhalten klar gemacht und ein rücksichtsvolleres und besonders gegen die Mutter liebevolleres Benehmen von ihm verlangt. Und der junge Mensch, den sein Betragen wohl längst reuen mochte, hatte dagestanden wie ein armer Sünder, nichts hatte er gesagt, den gesenkten Blick nicht gehoben. Und als der Vater ihn zuletzt zur Mutter geführt hatte, hatte er sich führen lassen und sich von der Mutter, die ihn mit beiden Armen umschlang, umschlingen lassen. Sie hatte über ihm geweint und ihn dann geküßt.

Und dann war nie, nie mehr darüber geredet worden. –

Das weiße Haus mit seinem heiteren Grün und Rot, an dem und in dem immer wieder neue Verschönerungen und Verbesserungen vorgenommen wurden, fiel allen, die vorübergingen, als besonders anheimelnd auf. Die Sonntagsausflügler blieben am schmiedeeisernen Gitter stehen und bewunderten die Blumenfülle; im Sommer die hängenden Geranien der Balkons und die Pracht der edlen Rosenstöcke, im Winter die [S. 229] Azaleen und Kamelien hinterm dicken Glas des Wintergartens und die farbigen Primelreihen zwischen den Doppelfenstern und die frühen Hyazinthen und Tulpen. Die Dame in dem weichen Tuchkleid mit dem welligen grauen Scheitel und dem sanften Gesicht, auf dem es wie ein leicht-wehmütiges Lächeln lag, paßte gut zu dem Haus und zu den Blumen, zu dem ganzen Frieden. ›Entzückend,‹ sagten die Leute.

Wenn Wolfgang früher, als Junge, so etwas gehört hatte, hatte er den Bewunderern ein Fratze geschnitten: was gingen die Haus und Garten an, da war doch nichts daran zu bewundern?! Nun schmeichelte es ihm, wenn sie stehen blieben, wenn sie’s gar beneidenswert fanden. O ja, es war recht nett hier! Er fühlte sich.

Schlieben und Käte hatten nie einen besonderen Wert auf Geld gelegt, sie hatten ja immer genug gehabt, das gute Auskommen war ihnen einfach selbstverständlich; sie ahnten es gar nicht, daß der Sohn Wert auf den Reichtum legte. Wenn Wolfgang daran dachte, daß er einst in knabenhaftem Ungestüm das alles nicht geachtet hatte, fortgelaufen war in die Irre, ohne Geld, ohne Brot, mußte er lächeln: wie kindisch! Und wenn er bedachte, daß er einmal, als er doch schon älter geworden war und überlegen konnte, mit Ungestüm etwas verlangt hatte, das gleichbedeutend gewesen wäre mit Aufgabe all dessen, was sein Leben so bequem gestaltete, dann schüttelte er jetzt den Kopf: zu einfältig!

Es gewährte ihm eine gewisse Genugtuung, sich mit andern zu vergleichen. Kesselborn schwitzte noch in Prima – der sollte durchaus studieren, Theologie, womöglich wegen seines Adels Hofprediger werden – Lehmann mußte seinem Vater bei der Spedition helfen, trotz des Einjährigen, mit dem er abgegangen war, Möbelwagen karren! Und Kullrich – [S. 230] ach, Kullrich erst, der hatte die Schwindsucht! Wie seine Mutter. Trauriges Erbe das!

Ein halb geringschätziges, halb mitleidiges Lächeln zog Wolfgangs Mundwinkel herab, wenn er der Schulkameraden gedachte. Hieß das leben?! Ah, und leben, leben war so wunderschön!

Wolfgang hatte das Bewußtsein seiner Kraft: er konnte Bäume entwurzeln, Mauern, die sich ihm entgegenstellten, umpusten, als seien es Kartenblätter.

Es war nicht länger mehr mit ihm auf der Schule gegangen, seine Glieder und seine Neigungen hatten nicht mehr in die Schulbank hineingepaßt. Er bekam ja auch schon einen Schnurrbart! Wie ein schwarzer Schatten war der schon lange auf der Oberlippe zu ahnen gewesen; nun war er da, er war da! So ein fertiger Mensch konnte doch nicht mehr in Sekunda sitzen? Wozu auch, er sollte ja kein Gelehrter werden?! Mit der Reife für Prima war Wolfgang abgegangen.

Schlieben hatte die Absicht, ihn gleich nach Absolvierung der Schule ins Ausland zu schicken, noch für ein Jahr aufgegeben; erst wollte er ihn doch noch etwas unter Augen behalten. Nicht, daß er ihn etwa so ängstlich wie Käte zu hüten bestrebt war, aber der alte Sanitätsrat, der gute Freund, auf den er so viel gab, hatte ihn in einer vertraulichen Stunde, in der sie ganz allein, von niemandem gehört, beim Glase Wein saßen, gemahnt: »Hören Sie, Schlieben, nehmen Sie den Jungen doch lieber in acht! Ich würde ihn noch nicht so weit weggeben – er ist so jung. Und er ist ein Unband und – wissen Sie, bei dem, was er als Kind durchgemacht hat – hm, man kann doch nicht sagen, ob das Herz so mit standhält!«

»Warum nicht?« hatte Schlieben da betroffen gefragt, »Sie halten ihn also für krank?!« [S. 231]

»Nein, durchaus nicht!« Der Arzt war ordentlich ärgerlich geworden: gleich diese Übertreibung! »Wer sagt denn was von ›krank‹?! Aber drauf losgehen darf der Bursche doch nicht so. Na, und Jugend hat doch keine Tugend! Das wissen wir doch auch noch von unsrer Zeit her!«

Und beide Männer hatten sich zugenickt, waren heiter geworden und hatten gelacht.

Wolfgang bekam ein Reitpferd, ritt erst in der Bahn und dann täglich seine paar Stunden draußen. Der Vater hielt darauf, daß er nicht zu viel im Kontor saß: was ihm zum kaufmännischen Beruf not tat, würde er schon lernen, rechnen konnte er ja!

Die beiden Sozien, alte Junggesellen, waren entzückt von dem frischen Jungen, der mit der Reitgerte ins Bureau kam und auf dem Kontorbock hockte, als säße er auf einem Gaul.

Schlieben hörte keine Klagen über den Sohn; das ganze Personal, Leute, die ihre zehn, zwanzig Jahre in der Firma waren, alle gut eingeölte, tadellos funktionierende Maschinen, schnurrten um den jungen Menschen herum: das war doch der künftige Chef! Es ging alles glatt.

Beide Eheleute bekamen Komplimente über den Sohn zu hören: ›Ein famoser Mensch! Welche Frische!‹ »Er soll ja erst werden,« sagte Schlieben dann wohl, aber man merkte ihm doch eine gewisse innere Befriedigung an. Er hatte nicht diese peinliche Seelenunruhe wie seine Frau. Käte zog nur die Augenbrauen ein wenig höher und lächelte ein leicht zustimmendes, etwas wehmütiges Lächeln.

Sie konnte sich nicht mehr über den großen Menschen freuen, wie sie sich einst über das kleine Jungchen auf ihrem Schoß gefreut hatte. Ihr war, als sei ihr überhaupt die Fähigkeit zur Freude abhanden gekommen, langsam zwar, ganz allmählich, aber doch stetig, bis der letzte Rest dieser [S. 232] Fähigkeit auf einmal ausgerissen ward, mit der Wurzel, an einem Tag, in einer Stunde, in jenem unglückseligen Augenblick – ›ich will gehen, ich will an meine Mutter denken, wo ist sie?!‹ – seitdem! Sie wünschte ihm noch alles Beste auf Erden, aber sie war gleichgültiger geworden; müde. Er hatte sie zu schwer aufs Herz getreten, schwerer, als einst seine kleinen urkräftigen Füße auf ihren Schoß gestampft hatten. –

Mit einem tiefen Seufzer lehnte sich die einsam Wartende weiter zum Fenster hinaus. War das nicht unerhört, unverzeihlich von ihm, so spät nach Hause zu kommen?! Wußte er denn nicht, daß sie auf ihn wartete?!

In der Anwandlung eines Zornes, der ihr sonst selten kam, ballte sich ihre Hand, die sich auf den Fenstersims stützte, zur Faust. Sie war eine Närrin, auf ihn zu warten! War er nicht alt genug – achtzehn Jahre – brauchte er noch erwartet zu werden wie ein Knabe, der zum ersten Mal allein von einer Kindergesellschaft heimkommt?! Er hatte sich mit andern jungen Leuten in Berlin verabredet – weiß Gott, in welchem Nachtcafé sie jetzt herumbummelten!

Sie stieß mit dem Fuß auf. Ihr heißer Atem stieg wie ein Rauch in die kalte klare Frühlingsnacht, es fröstelte sie vor Überwachtheit und Unbehagen. Und Stunden fielen ihr ein, alle Stunden, die sie schon um ihn verwacht hatte, und eine große Bitterkeit quoll in ihr auf. Selbst ihre Zunge kostete Bitternis – das war Galle. Nein, sie fühlte jetzt nicht mehr die Liebe früherer Jahre! Damals, ja damals war – selbst wenn sie um ihn litt – noch Wonne dabei gewesen; jetzt fühlte sie nur dumpfen Groll. Warum hatte er sich in ihr Leben gedrängt?! O, wie war das früher so glatt, so sorgenlos, so – ja, so viel glücklicher gewesen?! Wie hatte er sie zerbrochen – würde sie sich je wieder aufrichten können?! [S. 233]

Nein! Ein hartes kurzes Nein. Und dann dachte sie an ihren Mann. Auch den hatte er ihr geraubt. Waren sie zwei nicht früher eins gewesen, ganz eins? Nun hatte sich dieser dritte dazwischen gedrängt, sie beide immer weiter und weiter voneinander geschoben – bis daß er hier ging, und sie da!

Ein jäher Schmerz stieg in der Grübelnden auf, ein erbarmungsvolles Mitleid mit sich selber trieb ihr die Tränen in die Augen; heiß tropften sie nieder auf die Hände, die sich auf dem kalten Steinsims ballten. Wenn er, wenn er doch nie in ihr Leben –

Da schreckte sie eine Hand, die ihre Schulter berührte, auf. Blitzschnell wendete sie sich: »Bist du endlich da?!«

»Ich bin’s,« sagte Schlieben. Er war aufgewacht, hatte sie nicht neben sich atmen hören und sich dann geärgert: wahrhaftig, da saß sie nun wieder unten und wartete auf den Jungen! Solch ein Unverstand! Und als er noch ein Weilchen gelegen und auf sie gewartet und sich geärgert hatte, warf er notdürftige Kleidung über, schlüpfte in die Morgenschuhe und tappte durchs nächtliche Haus. Ihn fröstelte, und er war schlechter Laune. Nicht genug, daß er aus dem besten Schlaf gestört war und daß sie morgen Migräne haben würde, nein, was noch schlimmer war, Wolfgang mußte es ja geradezu unleidlich finden, so beobachtet zu werden!

Es war natürlich, daß er mit ihr schalt. »Was ist denn Schlimmes dabei, wenn er einmal ein bißchen länger ausbleibt, ich bitte dich, Käte! Das ist ja rein lächerlich von dir! Ein bißchen bummeln, das hab ich auch als junger Mensch getan, und meine Mutter war, Gott sei’s gedankt, verständig genug, sich nicht darum zu kümmern. Komm, Käte, komm jetzt zu Bett!«

Sie wich zurück. »Ja – du!« sagte sie langsam, und [S. 234] er wußte nicht, wie sie’s meinte. Sie drehte ihm den Rücken und lehnte sich wieder zum Fenster hinaus.

Er stand noch einige wenige Augenblicke und wartete, aber als sie nicht mitkam, sich nicht einmal umwandte nach ihm, schüttelte er den Kopf: man mußte sie lassen, sie wurde eben geradezu wunderlich!

Schlaftrunken stieg er wieder allein die Treppe hinauf; er taumelte fast vor Müdigkeit, und die Glieder waren ihm schwer, und trotzdem war sein Denken klarer, unerbittlicher als am Tage, an dem so vieles rund umher ablenkt und zerstreut. Eine Sehnsucht stieg in dieser Stunde in ihm auf nach einer Frau, die seine alten Tage in sanftem Geleise ruhig und freundlich führen würde, deren Lächeln nicht nur Schein war wie das Lächeln auf Kätes Gesicht. Eine Frau, die mit dem Herzen lächelt, ach, leider, so eine war seine Käte nicht!

Mit einem Seufzen der Enttäuschung legte sich Schlieben wieder nieder und zog frierend die Decke hoch hinauf. Aber es dauerte lange, bis er einschlafen konnte. Wenn der Junge doch nur endlich käme! Heute dauerte es wirklich etwas lange! Solche Bummelei ging denn doch zu weit! –

Der Morgen graute, als eine Droschke langsam die Straße herunter zockelte. Vor der weißen Villa hielt sie an, und zwei Herren halfen einem dritten heraus. Die beiden, die den dritten unter den Armen gefaßt hielten, lachten, und der Kutscher auf dem Bock, der interessiert herunterguckte, lachte auch verschmitzt: »Soll ick helfen, meine Herren? Na, jeht’s?!«

Sie lehnten ihn gegen das Gitter, das den Vorgarten verschloß, tippten auf die Klingel, sprangen dann eilig wieder in den Wagen und schlugen den Schlag zu: »Los Kutscher, zurück!« [S. 235]

Die Klingel hatte nur einen leisen vibrierenden Ton von sich gegeben – wie einen bangen Hauch – Käte hatte ihn gehört, obgleich sie im Sessel eingeschlafen war; nicht fest, es war mehr ein hindämmerndes Versinken gewesen. Nun sprang sie erschrocken auf, es gellte ihr in den Ohren. Rasch ans Fenster! Draußen am Gitter lehnte jemand. Wolfgang –?! Ja, ja, er war’s! Aber warum schloß er denn nicht auf und kam herein?!

Was war ihm denn passiert?! Es war ihr auf einmal, als müßte sie um Hilfe rufen: Friedrich! Paul! Paul! Nach den Mädchen klingeln. Es war ihm etwas geschehen, es mußte ihm etwas geschehen sein, – warum kam er denn nicht herein?!

Er lehnte da so schwer gegen das Gitter. Ganz seltsam! Der Kopf hing ihm auf der Brust, der Hut saß ihm im Nacken. War er krank?!

Oder hatten ihn Strolche angefallen?! Die abenteuerlichsten Ideen schossen ihr plötzlich durch den Kopf. War er verletzt? Herrgott, was war ihm denn widerfahren?!

Befürchtungen, über die sie sonst gelächelt haben würde, kamen ihr jetzt zu dieser Stunde, in der es nicht Nacht mehr war, und doch auch noch nicht Tag. Ihre Füße waren kalt und steif, wie erfroren, kaum kam sie bis zur Haustür; den Schlüssel konnte sie erst nicht finden, und als ihre zitternden Hände ihn ins Schloß stießen, brachten sie ihn nicht herum. Sie war so ungeschickt in ihrer Hast, so sinnlos in ihrer Angst: etwas Furchtbares mußte geschehen sein! Ein Unglück! Sie fühlte das.

Endlich, endlich! Der Schlüssel ließ sich endlich drehen. Und nun stürzte sie durch den Vorgarten ans Gittertürchen; eine eisige Morgenluft schlug ihr entgegen wie Winterhauch. Sie drückte das Gitter auf: »Wolfgang!« [S. 236]

Er gab keine Antwort. Sein Gesicht konnte sie so nicht recht sehen; er stand unbeweglich.

Sie faßte seine Hand: »Um Gottes willen, was ist dir denn?!«

Er rührte sich nicht.

»Wolfgang! Wolfgang!« Sie rüttelte ihn in höchster Angst; da fiel er so schwer gegen sie, daß er sie beinahe umgestoßen hätte und stammelte, lallte wie ein Blöder, dessen schwerer Zunge man etwas eingelernt hat: »Par–don!«

Sie mußte ihn führen. Sein Atem, ganz voll Alkoholdunst wehte sie an. Ein ungeheurer Ekel, schrecklicher noch als die Angst vorher, packte sie. Das war das Furchtbare, das sie erwartet hatte –, nein, das war noch furchtbarer, noch unerträglicher! Er war ja betrunken, betrunken! So mußte ›betrunken‹ sein!

In ihre Nähe war noch nie ein Betrunkener gekommen; nun hatte sie einen dicht bei sich. Ein Entsetzen schüttelte sie, daß ihr die Zähne aufeinander schlugen. O pfui, pfui, wie ekelhaft, wie gemein! Wie niedrig erschien er ihr, und sie selber wie miterniedrigt. Das war ihr Wolfgang nicht mehr, ihr Kind, das sie an Sohnes Statt angenommen hatte! Dies hier war ein ganz gewöhnlicher, ein ganz gemeiner Mensch von der Straße, mit dem sie nichts, aber auch gar nichts mehr zu schaffen hatte!

Hastig wollte sie ihn von sich schieben, ins Haus eilen, die Tür hinter sich schließen – mochte er sehen, was er machte! Aber er hielt sie fest. Seinen Arm hatte er schwer um ihren Nacken gelegt, er drückte sie fast nieder; so zwang er sie, ihn zu führen.

Und widerwillig, mit innerem verzweifeltem Aufbäumen und doch bezwungen, führte sie ihn. Sie konnte ihn doch nicht aufgeben, dem Gespött der Dienstboten preisgeben, dem [S. 237] Gelächter der Straße! Wenn ihn jemand so sähe?! Wie lange noch, und die ersten Menschen kamen vorüber, die Milchjungen, die Bäckermädchen, die Straßenarbeiter und die frühen Karlsbadtrinker. Um Gottes willen, wenn jemand eine Ahnung davon bekäme, wie tief er gesunken war!

»Stütze dich, stütze dich fest,« sagte sie mit zitternder Stimme. »Nimm dich zusammen – so!« Sie brach fast unter ihm zusammen, aber sie erhielt ihn auf den Füßen. Er war so betrunken, er wußte nicht, was er tat, er wollte sich durchaus vor der Schwelle niederlegen, platt auf die Steinstufen. Aber sie riß ihn auf.

»Du mußt – du mußt,« sagte sie, und er folgte ihr wie ein Kind. ›Wie ein Hund‹ dachte sie.

Nun hatte sie ihn in der Vorderhalle – die Haustür war wieder verschlossen – aber nun kam die Angst vor der Dienerschaft. Noch war diese nicht auf, aber nicht lange mehr, und Friedrich tappte auf Lederpantoffeln von der Gärtnerwohnung herüber, und die Mädchen kamen aus ihren Mansarden herunter, das Fegen und Aufräumen fing an, das Öffnen der Fenster, das Hochziehen der Jalousieen, daß Helle – grausame Helle – in jeden Winkel drang. Sie mußte ihn die Treppe hinauf bekommen, in sein Zimmer, ohne daß jemand etwas ahnte, ohne daß sie einen Menschen zu Hilfe rief!

Einen Augenblick hatte sie an ihren Mann gedacht –, aber nein, auch den nicht, kein Mensch durfte ihn so sehen! Mit einer Kraft, die sie sich selber nicht zugetraut hätte, half sie ihm hinauf; sie lud ihn sich förmlich auf. Und sie flehte ihn an dabei, immer flüsternd, aber mit hartnäckiger Eindringlichkeit: »Leise, leise!« Sie mußte ihm schmeicheln, sonst ging er nicht weiter: »Leise, Wölfchen! Geh, geh, Wölfchen – so ist’s schön, Wölfchen!«

Es war eine Höllenqual. Er stolperte und polterte; [S. 238] bei jedem Anstoßen seines Fußes an die Treppenstufen, bei jedem Knarren des Geländers unter seiner dagegensinkenden Hilflosigkeit, fuhr sie zusammen, und ein banger Schreck lähmte sie fast. Wenn jemand das hörte, wenn jemand das hörte! Aber weiter, voran!

»Leise, Wölfchen, ganz leise!« Es klang wie eine Bitte und war doch ein Befehl. Wie er sie vordem bezwungen hatte, mit seinem schweren Arm, so zwang sie ihn jetzt mit ihrem Willen.

Alle im Hause mußten taub sein, daß sie diesen Lärm nicht hörten! Der Frau klang jeder Tritt wie ein Donnergepolter, das sich im weiten Raum mit Rollen fortsetzt und bis in den fernsten Winkel hallt. Paul mußte auch taub sein! Sie kamen an seiner Tür vorüber; gerade am Schlafzimmer der Eltern blieb der Trunkene stehen, er wollte durchaus nicht weiter – da hinein – nicht einen Schritt mehr weiter! Sie mußte ihn locken, wie sie einst das Kindchen gelockt hatte, das süße Kindchen mit den blanken Beerenaugen, das vom Stühlchen aus noch weiter bis zum nächsten Halt laufen sollte. »Komm, Wölfchen, komm!« Und sie brachte ihn glücklich vorüber.

Nun waren sie endlich in seinem Zimmer. »Gott sei Dank, Gott sei Dank,« stammelte sie, als sie ihn auf dem Bett hatte. Sie war so blaß wie er, dessen blödes Gesicht immer fahler und fahler wurde im sich hellenden Morgengrau. Hier – hier – ach, das war derselbe Raum, in dem sie einst vor vielen Jahren – unendlich lange war’s her! – um des Kindes teures, geliebtes Leben mit Angst und Zittern gerungen hatte, vor der Allmacht Gottes gekrochen war wie ein Wurm: nur leben, Gott, laß ihn nur leben! Ach, wäre er damals lieber gestorben!

Wie ein Pfeil, aus allzu straffem Bogen geschnellt, [S. 239] blitzschnell dahinschwirrt, so durchschwirrte das ihren Sinn. Der Gedanke war ihr schrecklich, sie verzieh ihn sich nicht, aber sie konnte sich seiner nicht erwehren. Mit bebenden Knieen stand sie, entsetzt ob der eignen Herzlosigkeit, und dachte doch: wäre er damals lieber gestorben, besser wär’s gewesen! Hier – hier, das war dasselbe Zimmer noch, in dem sie dem Heranwachsenden die Einsegnungskleider anprobiert hatte! Nun zog sie dem Erwachsenen die Kleider aus; zerrte ihm den Smoking ab, die eleganten Beinkleider – so gut es eben ging bei seiner nun völligen Bewußtlosigkeit – und schnürte ihm die Lackschuhe auf.

Wo war er gewesen?! Ein Geruch von Zigaretten und Parfüm und Weinneigendunst strömte von ihm aus; es benahm ihr fast den Atem. Da hing derselbe Spiegel noch, in dem sie neben ihrem hellen weichen Frauengesicht das bräunliche Knabengesicht gesehen hatte, frisch und rundwangig, ein wenig derb, ein wenig trotzig, aber doch so hübsch in seiner Kernigkeit, so lieb in seiner Unschuld. Und jetzt –?!

Ihr Blick streifte das fahle Gesicht, aus dessem offenem Munde der dunstige Atem mit Schnarchen und Röcheln ging, und sah dann im Spiegel ihr eignes verängstetes, überwachtes Antlitz, in dem alle Weichheit sich verschärft hatte zu harten, vergrämten Linien. Ein Schauer durchrieselte sie; mit ihrer kalten Hand strich sie sich die grauen, verwirrten Strähnen aus der Stirn, ihre Augen zwinkerten, als wollte sie weinen. Aber sie zwang die Tränen nieder: nun durfte sie nicht mehr weinen, die Zeit war vorbei!

Sie stand noch eine Weile mitten im Zimmer, regungslos mit angehaltenem Atem, die überanstrengten Arme schlaff herunterhängen lassend; dann schlich sie auf Zehen zur Tür. Er schlief ganz fest. Von außen verschloß sie die Tür und steckte den Schlüssel in ihre Tasche – niemand durfte hinein! [S. 240]

Sollte sie sich nun noch zu Bette legen? Schlafen konnte sie ja doch nicht – o Gott, die innere Unrast war so groß, – aber sie mußte sich niederlegen, ja, sie mußte das, was sollten sonst die Mädchen denken und Paul?! Mußte dann aufstehen wie alle Tage, sich waschen, ankleiden, am Frühstückstisch sitzen, essen, sprechen, lächeln, wie alle Tage, als sei nichts, gar nichts geschehen. Und doch war ihr so viel geschehen!

Sie fühlte eine trostlose Vereinsamung, als sie neben ihrem Mann im Bette lag. Da war ja niemand, dem sie klagen konnte. Hatte Paul sie schon früher nicht verstanden, jetzt würde er sie erst recht nicht verstehen; er war ja so ganz anders geworden mit der Zeit. Und war er nicht jetzt noch dazu blind vernarrt in den Jungen? Merkwürdig, früher, als sie den Knaben so geliebt hatte, war’s immer zu viel der Liebe gewesen – wie oft hatte er ihr deswegen Vorwürfe gemacht – und jetzt, jetzt – nein, sie verstanden sich eben nicht mehr! Sie mußte allein durch, ganz allein!

Als Käte die ersten Geräusche im Hause hörte, wäre sie gerne aufgestanden, aber sie zwang sich noch, liegen zu bleiben: es würde den Leuten auffallen, sie so früh zu sehen. Aber eine furchtbare Angst quälte sie: wenn der Mensch – jener – dort drüben in seinem Rausch nun aufwachte, Lärm schlug, an die verschlossene Tür polterte?! Was sollte sie dann sagen, um ihn zu entschuldigen, was machen?! Fiebernd vor Unruhe lag sie im Bett. Endlich war es ihre gewohnte Aufstehenszeit.

»Der Junge ist wohl schrecklich spät nach Hause gekommen,« fragte Paul beim Frühstück. »Wohl vielmehr früh? Was?«

»O nein! Gleich nachdem du heraufgegangen warst!«

»So? Ich habe aber noch eine ganze Weile wach gelegen!« [S. 241]

Er hatte es leichthin gesagt, ohne jeden Argwohn, aber sie bekam doch einen Schrecken. »Wir – wir – er hat mir noch eine ganze Weile erzählt,« brachte sie stockend heraus.

»Töricht,« sagte er, weiter nichts und schüttelte den Kopf.

O, es war doch schwer, zu lügen! In welche Lage brachte Wolfgang sie!

Als Schlieben zur Stadt gefahren war, die Köchin unten im Souterrain wirtschaftete und Friedrich im Garten, belauerte Käte das Hausmädchen: wie lange brauchte das denn heute im Schlafzimmer? Scharf sagte sie: »Sie müssen rascher hier oben aufräumen, Sie sind ja über die Maßen langsam!«

Ganz verwundert über den ungewohnten Ton sah die Dienerin ihre Herrin an und sagte nachher unten zur Köchin: »Hu, ist die Gnäd’ge heute schlechter Laune, hat die mich gehetzt!«

Käte hatte dabei gestanden, bis das Aufräumen des Schlafzimmers beendet war, sie hatte das Mädchen förmlich gejagt. Nun war sie allein, ganz allein mit ihm hier oben, nun konnte sie sehen, was mit ihm war!

Würde er noch betrunken sein?! Als sie vor seiner Türe stand, hielt sie den Atem an; das Ohr geneigt, lauschte sie. Drinnen war nichts zu hören, nicht einmal ein Atemzug. Wie ein Dieb, sich scheu umblickend, schloß sie auf und schlich hinein, hinter sich wieder zuschließend. Vorsichtig, leise trat sie auf das Bett zu; doch so hastig fuhr sie zurück, daß der hochlehnige Stuhl, an den sie stieß, mit Gepolter umstürzte. Was war das – da – was?!

Ein ekler Dunst, der die geschlossene Stube erfüllte, reizte sie zur Übelkeit; zum Fenster taumelnd, riß sie es auf, stieß den Laden zurück – da sah sie. Da lag er wie ein Tier – [S. 242] er, der sorgsam Gewöhnte, er, der als Kind seine kleinen Hände ausgestreckt hatte, klebte nur ein Krümchen daran: ›Sauber putzen!‹ und geweint hatte dabei. Jetzt lag er da, als merkte er nichts, als ginge ihn das um ihn her nichts an, als ruhte er in lauter Reinheit; hielt die Augen, deren kohlschwarze Wimpern wie Schatten auf die bleichen Wangen fielen, fest geschlossen und schlief den Schlaf bleischwerer Müdigkeit.

Sie wußte nicht, was sie tat. Sie hob die Hand, um ihn ins Gesicht zu schlagen, ihm ein Wort zuzurufen, ein heftiges Wort des Ekels und Abscheus; sie fühlte, wie ihr der Speichel im Munde zusammenlief, wie es sie drängte, auszuspeien. Das war zu schrecklich, zu schmutzig, zu entsetzlich!

Durchs offene Fenster drang ein Strom von Licht herein, von Licht und Sonne; eine Amsel sang, voll und rein. Da war Sonne, da war Schönheit, aber hier, hier –?! Wimmernd hätte sie ihr Antlitz verhüllen mögen, davonlaufen und sich verbergen. Aber wer sollte dann hier tun, was zu tun nötig war, wer Ordnung schaffen und Reinlichkeit?! Der umgestürzte Stuhl, die hastig abgezogene Kleidung, der widrige Dunst – ach, all das mahnte nur zu deutlich an eine wüste Nacht. Das durfte nicht so bleiben. Und wenn sie ihn auch nicht mehr liebte – nein, nein, keine Stimme in ihrem Herzen sprach mehr von Liebe! – der Stolz gebot ihr, sich nicht vor den Dienstboten zu demütigen. Beiseite schaffen, niemanden etwas davon merken lassen, rasch, rasch!

Die Zähne zusammenbeißend, den Ekel zurückdrängend, der ihr immer wieder und wieder würgend aufstieg, fing Käte an, zu waschen, zu reiben, zu putzen, holte sich immer wieder Wasser, den Krug voll, einen ganzen Eimer voll. Heimlich mußte sie es tun, auf Zehen über den Gang schleichen. O weh, wie das plätscherte, mit welchem Geräusch das Wasser [S. 243] aus dem aufgedrehten Hahn in den untergehalten Eimer schoß! Daß nur niemand, niemand etwas merkte!

Sie hatte ein Scheuertuch gefunden, und, was sie in ihrem Leben noch nie getan hatte, nun tat sie’s: sie lag wie eine Magd auf den Knieen und wischte den Boden ab und rutschte vor dem Bett herum, bis unters Bett, und reckte die Arme lang und streckte und dehnte sich, um nur ja jeden Winkel zu erreichen. Nichts durfte vergessen werden, alles mußte überschwemmt werden mit frischem, reinem, erlösendem Wasser. Es kam ihr alles im Raum beschmutzt vor – wie beleidigt und erniedrigt – die Dielen, die Möbel, die Wände; am liebsten hätte sie auch die Tapeten abgewaschen oder sie ganz heruntergerissen, diese schönen, tieffarbenen Tapeten.

So hatte sie noch nie in ihrem Leben gearbeitet; der Schweiß der Anstrengung und der Angst klebte ihr das elegante Morgenkleid mit dem Seideneinsatz und den Spitzen an den Körper. An den Knieen zeigte der Rock dunkle Flecke vom Rutschen im Naß, der Saum der Schleppe war tief ins Wasser getunkt; unordentlich hingen ihre Haare, sie hatten sich gelöst und zausten um das erhitzte Gesicht. Kein Mensch hätte so Frau Schlieben erkannt.

Gott sei Dank, endlich! Mit einem Seufzer der Erleichterung sah Käte sich um; eine andre Luft herrschte nun im Zimmer. Der frische Wind, der hereinwehte, hatte alles geklärt. Nur er, er paßte noch nicht in die Reinheit! Seine Stirn war voll klebrigen Schweißes, seine Wangen erdfahl, seine Lippen geschwollen, geborsten, sein Haar borstig, sich sträubend in Büscheln. Da wusch sie auch ihn, kühlte seine Stirn und trocknete sie, rieb seine Wangen mit Seife und Schwamm, holte Bürste und Kamm, kämmte und glättete sein Haupt, lief hurtig hinüber in ihr Zimmer, brachte das Toilettenwasser von ihrem Tisch und ließ es über ihn hinsprühen. [S. 244] Nun noch die Decke frisch bezogen! Mehr konnte sie nicht tun, es ward ihr zu schwer, ihn zu heben. Denn er erwachte nicht. Wie ein gefällter Baum – tot, starr, unbeweglich – lag er da und merkte nichts von den zitternden Händen, die über ihn hinhuschten, zupften und glätteten, bald hier, bald da.

Wie lange sie um ihn geschafft hatte, wußte sie nicht; ein Klopfen an der Tür brachte sie in die Zeit zurück.

»Wer ist da?«

»Ich, der Friedrich!«

»Was wollen Sie?«

»Gnädige Frau, der Herr läßt zu Tisch bitten!«

»Zu Tisch – der Herr?!« Sie faßte sich an den Kopf: war’s möglich, Paul schon zurück – Mittagszeit? Das konnte nicht sein! »Wieviel Uhr?« schrie sie schrill. Selbst nach der Uhr zu sehen, die auf dem Nachttisch lag, fiel ihr nicht ein; sie hätte es ja auch nicht gekonnt, die kostbare goldene Uhr, das Geschenk zur Konfirmation, stand still, nicht aufgezogen zur Zeit.

»Gnädige Frau, es ist halb drei,« sagte Friedrich draußen. Und dann wagte es der langjährige Diener respektvoll zu fragen: »Ist der junge Herr nicht wohl, daß er noch nicht aufgestanden ist? Kann ich vielleicht was helfen, gnädige Frau?«

Einen Augenblick zauderte sie: sollte sie Friedrich einweihen? Es wäre dann leichter für sie! Aber die Scham schrie aus ihr: »Es ist nichts zu helfen, gehen Sie nur! Der junge Herr hat Migräne, er wird noch eine Stunde liegen bleiben. Ich komme gleich!«

Und sie stürzte hinüber in ihr Zimmer; das Kleid zu wechseln war keine Zeit mehr, aber wenigstens das heruntergefallene [S. 245] Haar mußte sie aufstecken, den Scheitel glattstreichen und ein Häubchen darauf stülpen mit zartem Band.

»Noch in Morgentoilette?« fragte verwundert Schlieben, als sie ins Eßzimmer trat. Etwas von Vorwurf war auch in der Frage; er mochte es nicht leiden, wenn man nicht korrekt zum Mittagstisch kam.

»Du kamst heute ausnahmsweise früh,« entschuldigte sie sich. Sie wagte nicht, frei aufzusehen, unendlich gedemütigt; essen konnte sie auch nicht, eine unleidliche Erinnerung verekelte ihr jeden Schluck und jeden Bissen.

»Wo ist denn Wolfgang?«

Da war die Frage, auf die sie eigentlich hätte vorbereitet sein müssen und die sie dennoch traf, gänzlich vernichtend. Sie hatte keine Abwehr. Was sollte sie antworten? Sollte sie sagen: er ist krank?! Dann ging der Vater hinauf und sah nach ihm. Sollte sie sagen: er ist betrunken und schläft?! O Gott, nein, es war nicht zu verheimlichen! Sie wurde blaß und rot, ihre Lippen zuckten und sagten nichts.

»Aha!« Schlieben lachte plötzlich auf – ein wenig gutmütig, ein wenig spöttisch – und dann streckte er ihr die Hand über den Tisch hin und sah sie ruhig an: »Du mußt dich nicht so aufregen, Käte, wenn der Junge mal einen kleinen Kater hat. So was kommt vor, das macht jede Mutter durch!«

»Aber nicht so schrecklich – nicht so schrecklich!« Sie schrie laut heraus, von Schmerz und Zorn überwältigt. Und dann packte sie die Hand ihres Mannes und klemmte sie zwischen ihre beiden feuchtkalten Hände und raunte ihm zu, halb erstickt: »Er war betrunken – ganz betrunken – sinnlos betrunken!«

»So –?!« Schlieben runzelte die Stirn, aber das Lächeln erstarb nicht ganz auf seinen Lippen. »Nun, ich [S. 246] werde mal mit dem Jungen, wenn er ausgeschlafen hat, ein Wörtchen reden. Sinnlos betrunken, sagst du?«

Sie nickte.

»Es wird wohl nur halb so schlimm gewesen sein! Aber überhaupt, betrunken, das darf nicht vorkommen! Angeheitert, du lieber Gott!« Er zuckte die Achseln, und wie eine sonnige Erinnerung glitt’s über sein Gesicht. »Angeheitert – wer wäre jung gewesen und nicht einmal angeheitert?! Ah, ich erinnere mich noch ganz deutlich an meinen ersten Schwips, der Kater nachher war fürchterlich, aber der Schwips selber schön, wunderbar schön! Ich möchte ihn nicht missen!«

»Du – du bist einmal angetrunken gewesen?!« Sie sah ihn starr an mit weiten Augen.

»Angetrunken – das nennt man doch nicht gleich angetrunken! Angeheitert,« verbesserte er. »Du mußt nicht so übertreiben, Käte!« Und dann aß er weiter, als wäre nichts geschehen, als hätte ihm diese Unterhaltung gar nicht den Appetit rauben können.

Sie fieberte: wann würde Wolfgang erwachen, und was würde dann sein?!

Gegen Abend hörte sie oben seinen Tritt, hörte ihn sein Fenster schließen und wieder öffnen und sein leises Pfeifen wie Vogelgezwitscher. Paul ging, seine Zigarre rauchend, im Garten auf und ab. Sie saß zum ersten Mal in diesem Frühjahr auf der Veranda und sah zu ihrem Mann hinunter in den Garten. Es war lind und warm. Jetzt fühlte sie, daß Wolfgang nahte; sie wollte den Kopf nicht wenden, so schämte sie sich, aber sie wendete ihn doch.

Da stand er in der Tür, die vom Eßzimmer hinaus in die Veranda führte; hinter ihm war das Dämmerlicht des Parterreraumes, vor ihm die flutende Helle der Abendsonne. Er blinzelte und kniff die Augen zusammen, rot war sein [S. 247] Gesicht bestrahlt – oder schämte er sich so? Was würde er nun sagen, wie beginnen? Ihr Herz klopfte; sie hätte kein Wort sprechen können, ihre Kehle war wie zugeschnürt.

»’n Abend,« sagte er laut und vergnügt. Und dann räusperte er sich, wie eine leichte Verlegenheit herunterschluckend, und sagte leise, der Mutter einen Schritt näher tretend: »Pardon, Mama, ich habe verschlafen, ich hatte keine Ahnung, wie spät es war – ich war todmüde!«

Sie sagte noch immer nichts.

Er wußte nicht, wie er mit ihr daran war. Sie war so still, das beirrte ihn ein wenig. »Ich bin gestern abend nämlich sehr spät nach Hause gekommen!«

»So – bist du?« Sie wendete den Kopf von ihm weg und sah wieder angelegentlich hinaus in den Garten, wo Paul jetzt gerade mit Friedrich sprach und mit dem Finger zu einem schon blühenden Zierkirschenbaum hinaufwies.

»Ich glaube wenigstens,« sagte er. Was sollte er sagen? War sie böse?! In der Tat, er mußte wohl sehr spät nach Hause gekommen sein, um wieviel Uhr konnte er sich nicht erinnern, er konnte sich überhaupt an nichts klar erinnern, es war ihm alles etwas dunkel. Er hatte auch einen bösen Traum gehabt, sich scheußlich gefühlt, aber jetzt war ihm wohl, so wohl! Nun, wenn sie was gegen ihn hatte, konnte er ihr auch nicht helfen!

Die Lippen wieder zu einem leisen Pfeifen, wie Vogelzwitschern spitzend, wollte er, die Hände in den Taschen seiner gutsitzenden modischen Hose, von der Veranda herab in den Garten schreiten, als sie ihn zurückrief.

»Du wünschest, Mama?«

»Du warst betrunken,« sagte sie leise und heftig.

»Ich –?! Oh!« Eine plötzliche Verlegenheit überkam ihn: war er wirklich betrunken gewesen? Er hatte keine [S. 248] Ahnung davon. Aber freilich, es konnte am Ende sein, er hatte ja auch gar keine Ahnung, wie er nach Hause gekommen war!

»Du hast wohl wieder aufgesessen und auf mich gewartet?!« Mißtrauisch sah er sie von der Seite an, seine breite Stirn zog sich über der Nasenwurzel in eine so tiefe Falte, daß die dunklen Brauen ganz zusammenstießen. »Du mußt nicht immer auf mich warten,« sagte er dann mit heimlicher Ungeduld, aber äußerlich im Ton der Besorgnis. »Das nimmt mir ja jede Lust, etwas mitzumachen, wenn ich denke, du opferst deine Nachtruhe. Bitte, Mama, tu das nicht mehr!«

»Ich werde es nicht mehr tun,« sagte sie und sah in ihren Schoß. Sie hätte ihn nicht ansehen können, so verachtete sie ihn. Wie hatte er dagestanden, so breit und groß und dreist und ganz vergnügt ›’n Abend‹ gesagt! Tat so, als ob er von nichts wüßte, nicht, daß er vor ein paar Stunden noch hatte kriechen wollen auf allen Vieren, sich strecken auf die Schwelle, als wäre da sein Bett oder er ein Hund! War so unbefangen, als hätte er nicht heute mittag noch da oben in seinem Zimmer gelegen, so – so – schmutzig! Als wenn sie ihn nicht gesehen hätte in seiner tiefsten Erniedrigung. Nein, nie, nie mehr würde sie ihn küssen können, ihn streicheln, die Arme um seinen Hals legen, wie sie’s dem Knaben so gern getan hatte! Er war ihr auf einmal ein ganz fremder Mensch geworden.

Sie sagte kein Wort mehr, machte ihm keinen Vorwurf. Teilnahmslos hörte sie das, was jetzt ihr Mann unten im Garten zu ihm sprach.

So milde wie Schlieben diesen Mittag seiner Frau gegenüber geschienen hatte, jetzt, dem Sohne gegenüber, war er es denn doch nicht. Ernsthaft sagte er: »Ich höre, du bist angetrunken nach Hause gekommen – was soll das heißen?! Schämst du dich nicht?« [S. 249]

»Wer hat das gesagt?«

»Das ist ja ganz gleichgültig, ich weiß es, und das genügt!«

» Sie natürlich,« sagte der Sohn bitter. »Mama übertreibt gleich alles so. Betrunken bin ich sicher nicht gewesen, nur ein bißchen im Schwum – das waren wir alle – Gott, Papa, man kann sich doch nicht ausschließen! Was soll man denn auch sonst machen an so ’nem langen Abend?! Aber schlimm war’s jedenfalls nicht. Ich bin ja jetzt so frisch!« Und er packte den Zierkirschenbaum, unter dem sie gerade standen, mit beiden Händen, als wolle er ihn ausreißen, und ein ganzer Schauer von weißen Blüten ging nieder über ihn und den Weg.

»Laß meinen Baum nur stehen,« sprach der Vater lächelnd.

Käte sah: Paul konnte lachen?! Also so ernst war’s ihm doch nicht! Aber sie erregte sich nicht mehr, wie sie sich wohl früher hierüber erregt haben würde, es war ihr, als sei alles in ihr kalt und tot. Sie hörte die beiden sprechen wie aus weiter, weiter Ferne, ganz schwach nur war der Stimmen Klang, und doch sprachen sie beide laut und auch lebhaft.

Die Unterhaltung war nicht so ganz freundschaftlich; wenn Schlieben dem Jungen auch nicht ernstlich zürnte, so hielt er es doch für Pflicht, ihm Vorhaltungen zu machen. Er schloß: »Ekelhaft sind solche Saufereien!« Im stillen dachte er freilich: ›so schlimm, wie Käte es macht, kann es unmöglich gewesen sein, man müßte doch sonst dem Jungen etwas anmerken!‹ Seine bräunlichen Wangen waren glatt und fest, so blank, so frisch gewaschen, seine nicht großen, aber durch ihre dunkle Tiefe auffallenden Augen hatten heute sogar einen besonderen Glanz.

Schlieben legte dem Sohne die Hand auf die Schulter: [S. 250] »Also, wenn wir gute Freunde bleiben sollen, nie mehr so etwas, Wolfgang!«

Sorglos zuckte dieser die Achseln: »Ich weiß wirklich nicht, Papa, was ich verbrochen habe. Es ist mir alles etwas schleierhaft. Aber es soll nicht mehr vorkommen, gewiß nicht!«

Und sie schüttelten sich die Hände.

Nun rührte sich doch etwas in Käte; sie hätte aufspringen mögen, schreien: ›Glaub ihm nicht, Paul, glaub ihm nicht! Er wird sich doch wieder betrinken, ich traue ihm nicht! Ich kann ihm ja nicht trauen! Hättest du ihn gesehen, wie ich ihn gesehen habe – o, er war ja so gemein!‹ Und wie eine Vision tauchte plötzlich eine Bauernschenke vor ihr auf, eine Schenke, die sie nicht gesehen hatte – rohe Kerle saßen um den Holztisch, die Ellbogen aufgestemmt, pafften stinkenden Tabak von sich, tranken wüst, gröhlten wüst – – ah, saßen da nicht sein Vater, sein Großvater auch darunter, alle die, von denen er abstammte?! Eine furchtbare Angst fiel über sie her: das konnte ja nie, nie gut enden!

»Du bist so bleich, Käte,« sagte Schlieben beim Abendbrot. »Du hast zu lange stillgesessen; es ist doch noch zu kalt draußen!«

»Ist dir nicht wohl, Mama?« fragte Wolfgang höflich-besorgt.

Käte antwortete dem Sohn nicht, sie sah nur zu ihrem Manne hin und schüttelte verneinend-abwehrend den Kopf: »Mir ist ganz wohl!«

Da gaben sie sich zufrieden.

Wolfgang aß mit gutem Appetit, mit besonders großem sogar; er war völlig ausgehungert. Es gab auch lauter gute Sachen, die er gern aß: warmes Hühnerfrikassee mit Kalbsmilch, Klößchen und Krebsschwänzen, und dann noch feinen Aufschnitt, Butter und Käse und junge Radieschen. [S. 251]

»Junge, trink nicht so viel,« sagte Schlieben, als Wolfgang schon wieder nach der Weinflasche griff.

»Ich habe Durst,« sagte der Sohn mit einem gewissen Trotz, schenkte sein Glas aufs neue voll bis an den Rand und goß es hinunter auf einen Zug.

»Das kommt vom Schwärmen!« Der Vater hob leicht drohend den Finger, lächelte aber dabei.

›Vom Saufen kommt’s‹ dachte Käte, und der Ekel schüttelte sie wieder; sie hatte sonst, selbst in Gedanken, nie einen solchen Ausdruck gebraucht, nun dünkte ihr keiner stark, schroff, verächtlich genug.

Es kam keine gemütliche Unterhaltung zustande, trotzdem das Zimmer so wohnlich war, der Tisch so reich besetzt, Blumen auf dem weißen Tuch, zierlich eingesteckt in eine kristallene Schale, und über dem allen mildes, gedämpftes Licht unter einem grünseidenen Schirm. Käte war so einsilbig, daß Paul bald nach der Zeitung griff, der Sohn verstohlen durch die Nase gähnte und endlich aufstand. Das war denn doch zu gräßlich öde, hierzusitzen! Ob er noch einmal nach Berlin hineinfuhr oder zu Bette ging?! Er wußte selbst nicht recht, was tun.

»Du gehst jetzt zu Bett?!« Es sollte wie eine Frage klingen, aber Käte hörte selber, daß es nicht wie eine Frage klang.

»Natürlich geht er jetzt zu Bett,« sagte der Vater, einen Augenblick den Kopf hinter seiner Zeitung hervorhebend. »Er ist müde. Gute Nacht, mein Junge!«

»Ich bin nicht müde!« Wolfgang wurde rot und heiß: was fiel ihnen denn ein, ihm einreden zu wollen, er sei müde?! Er war doch kein Kind mehr, das man zu Bette schickt! Besonders der Mutter Ton reizte ihn – ›du gehst jetzt zu Bett‹ – das war ja ein Befehl! [S. 252]

In seinen dunklen Augen wurde der Glanz zum Flackern; ein Zug von Trotz und Widersetzlichkeit machte sein Gesicht nicht angenehm. Man hätte wohl sehen können, wie es in ihm aufbrauste, aber der Vater sagte: »Gute Nacht,« und hielt ihm, mit seiner Zeitung vorm Gesicht, ohne aufzublicken, die Hand hin.

Die Mutter sagte auch: »Gute Nacht!«

Und der Sohn ergriff eine Hand nach der andern – auf der Mutter Hand drückte er den gewohnten Kuß – und sagte: »Gute Nacht!«


2

Schlieben saß in seinem Privatkontor in dem roten Lederstuhl, den er sich zur Bequemlichkeit hatte hier hineinstellen lassen, lehnte sich aber nicht an, sondern saß ungemütlich, gerade aufgerichtet, und sah aus wie einer, der eine unliebsame Entdeckung gemacht hat. Wie konnte das zugehen, daß der Junge Schulden gemacht hatte?! Bei so reichlichem Taschengeld?! Und dann, daß er nicht das Herz hatte, zu kommen und zu sprechen: ›Du, Vater, ich habe zu viel ausgegeben, hilf mir heraus –,‹ das war einfach unfaßlich! War er denn ein so strenger Vater, daß der Sohn sich vor ihm fürchten mußte? Trieb die Furcht die Liebe aus?! Er ging sein eigenes Verhalten durch; er konnte sich wirklich nicht den Vorwurf machen, zu streng gewesen zu sein. Wenn er auch nicht alle Zeit so nachgiebig gewesen war – zu nachgiebig – wie Käte, so hatte doch auch er dem Jungen immer und immer wieder zu zeigen geglaubt, daß er ihn lieb hatte. Und hatte er denn nicht auch – gerade in letzter Zeit – geglaubt, der Junge hätte auch ihn lieb? Lieber als früher?! [S. 253] Wolfgang war eben zu Verstand gekommen, hatte eingesehen, wie gut man’s mit ihm meinte, daß er seiner Eltern lieber Sohn war, ihre wachsende Freude, ihre Hoffnung – ja, nun, da man alt geworden war, die ganze Zukunft! Wie kam’s, daß er lieber zu andern ging, zu Leuten, die ihn gar nichts angingen, und sich von denen borgte, anstatt den Vater zu bitten?!

Mit Betrübnis nahm Schlieben einen Brief von seinem Schreibtisch, las ihn, den er doch schon drei-, viermal gelesen hatte, noch einmal durch und legte ihn dann mit einer ärgerlichen Gebärde wieder zurück. Da schrieb ihm Braumüller, der kürzlich aus der Firma ausgetreten war und sich zur Erholung und zum Vergnügen in der Schweiz befand, der Junge hätte ihn schon wieder mal angepumpt. Nicht, daß er’s ihm nicht gerne geben würde, es käme ihm ja gar nicht darauf an, aber er hielte es doch für seine Pflicht – und so weiter, und so weiter.

›Es kann nicht anders sein, lieber Schlieben, der Junge lumpt. Es ist mir höchst fatal, ihn zu verpetzen, aber ich kann doch nicht länger warten, denn so gut wie er zu mir kommt, geht er auch zu andern. Und es wäre doch höchst peinlich, wenn der Sohn der Firma Schlieben & Co., zu der ich mich immer noch in alter Anhänglichkeit rechne, etwa gar in der Leute Mäuler käme. Nimm’s nicht übel, alter Freund! Was der Junge mir schuldet, schenke ich ihm; ich mag ihn gern und bin auch mal jung gewesen. Im übrigen bin ich ganz froh, daß ich keine Kinder habe, es ist doch ein verdammt schweres Stück, eins zu erziehen. Leb wohl, grüße Deine Frau vielmals, es ist herrlich hier – – –‹

Mit gerunzelter Stirn starrte Schlieben über das Papier hinweg; dieser Brief, der so gut gemeint, so herzlich geschrieben war, tat ihm weh. Daß Wolfgang hierin so wenig Vertrauen [S. 254] zu ihm hatte! War er überhaupt nicht offen?! Schlieben erinnerte sich genau, daß Wolfgang als Kind immer wahr gewesen war, gerade heraus bis zur verletzenden Offenheit – ungezogen war er gewesen, aber nicht verlogen –, sollte er sich jetzt so verändert haben? Wie kam das, und woher?!

Der Vater beschloß, nichts von dem Brief zu erwähnen, wohl aber Wolfgang scheinbar gelegentlich – aber sobald als möglich – zu fragen, wie es denn eigentlich mit seinen Finanzen stünde? Da würde er ja hören!

Es drängte ihn förmlich zu dieser Frage, und doch brachte er sie nicht über die Lippen, als bald darauf Wolfgang ins Privatkontor trat, ohne vorher anzuklopfen, wie sie’s doch alle taten, mit der ganzen unbekümmerten Sicherheit des Sohnes. Er setzte sich rittlings auf das Schreibpult des Vaters, ganz achtlos, daß sein helles Beinkleid mit dem Tintenfaß in unliebsame Berührung kam. Draußen war helle Luft und eine höchst sommerliche Sonne; er brachte eine ganze Menge davon mit herein in den dunkel gehaltenen, kühlen und abgeschlossenen Raum.

»Ärger gehabt, Papa?!« Was der alte Herr wohl wieder für Grillen hatte? O, sicher nichts von Belang! Wie konnte man jetzt überhaupt Ärger haben in dieser köstlichen, wohligen Sommerzeit?!

Wolfgang liebte die Sonne; wie er sie als Kind angestaunt hatte in ihrem kleinen Abbild, der runden gelben Sonnenblume seines Gärtchens, so freute er sich noch jetzt an ihr. Perlte der Schweiß in Tropfen auf seiner braunen Haut, dann schob er wohl den weißen Panamahut ein wenig aus der Stirn zurück, aber nie ging sein Atem freier, leichter, unbeklemmter.

»Es war herrlich, Papa,« sagte er, und seine Augen [S. 255] leuchteten. »Erst geschwommen – was sagst du dazu, dreimal hintereinander die ganze Breite des Sees, ohne Pause hin und her, und wieder hin und her und wieder hin und her?!«

»Viel zu anstrengend, ganz unvernünftig!« Schlieben sagte es nicht ohne Besorgnis: Hofmann war eigentlich gar nicht sehr dafür, daß der Junge schwamm!

»Unvernünftig, anstrengend?! Haha!« Wolfgang amüsierte sich. »Das ist mir doch ’ne Kleinigkeit! Weißt du, eigentlich habe ich meinen Beruf verfehlt, du hättest mich nicht ins Kontor stecken sollen. Schwimmer, Reiter hätte ich werden sollen oder – na, so ’n Cowboy im wilden West!«

Er hatte es scherzend gesagt, ohne jede Absichtlichkeit, aber es wollte den Mann, der ihn mit plötzlich mißtrauisch gewordenen Augen ansah, bedünken, als berge sich hinter dem Scherz ein Ernst, eine Anklage. Was wollte er denn, wollte er wie ein zügelloser Knabe ins Leben hineingaloppieren?!

»Nun, deine sportlichen Fähigkeiten werden dir ja schon zustatten kommen, wenn du deine Militärzeit abmachst,« sagte er kühl. »Vorderhand ist das wichtiger, was du hier zu tun hast. Hast du den Lieferungsvertrag für Weiß Gebrüder entworfen? Zeig mal her!«

»Sofort!«

Wolfgang verschwand; aber es dauerte eine ganze Weile, bis er wiederkam. Hatte er jetzt erst rasch die ihm als dringend überwiesene und sorgfältig auszuführende Arbeit erledigt?! Die Tinte war noch ganz frisch, die Schrift, wenn auch leserlich, so doch sehr flüchtig; keine Kaufmannsschrift! Schlieben runzelte die Stirn, er war heute merkwürdig gereizt. Zu andrer Zeit hätte ihm die Geschwindigkeit, mit der der Junge die verabsäumte Arbeit nachgeholt hatte, gewissermaßen imponiert; aber heute ärgerte ihn die Flüchtigkeit der [S. 256] Schrift, die Tintenspritzer am Rand, die ganze Nachlässigkeit, die ihm gleichbedeutend schien mit Interesselosigkeit.

»So, hm« – er prüfte noch einmal kritisch –, »wann hast du denn das gemacht?«

»Als du mir’s auftrugst!« Wolfgang sagte das so unverfroren, daß man unmöglich daran zweifeln konnte.

Schlieben schämte sich ordentlich: wie doch so ein Körnchen Mißtrauen gleich aufgeht! Da hatte er dem Sohn wirklich unrecht getan! Aber das mit dem Gelde, das blieb doch nun einmal bestehen, darin war der Junge doch nicht offen und ehrlich gewesen! Es war dem Vater, als könne er dem Sohne von jetzt ab doch nicht mehr ganz trauen. –

Es war kaum Mittag, als Wolfgang schon wieder das Kontor verließ. Er hatte sich mit ein paar Bekannten verabredet, im Kaiserkeller unweit der Linden; ob er nun da frühstückte oder da, frühstücken mußte er doch; nur ein belegtes Brötchen, wie der Vater sich eins mitnahm, konnte ihm nach Schwimmen und Reiten nicht genügen.

Am Nachmittag zeigte er sich dann wieder eine Stunde im Bureau, aber schon im Tennisanzug, in den weißen Schuhen, den Schläger in der Hand.

Als Wolfgang heute den Sportplatz des Westens verließ, erhitzt und rot – sie hatten lange und hartnäckig gespielt –, um herüber nach dem Bahnhof ›Zoologischer Garten‹ zu gehen, stand er, schon im Eingang, zögernd. Es trieb ihn so gar nicht nach Hause. Sollte er nicht lieber noch einmal hinein in die Stadt fahren? Eigentlich lockte es ihn jetzt nicht in die Straßen, die die treibende Menge mit noch größerer Stickigkeit erfüllte, draußen war’s besser, da strich über die Villa wenigstens ein Hauch von Freiheit, aber er mußte dann mit den Eltern zusammensitzen! Na, wenn der Vater heute abend wieder so schlechter Laune war, wie heute morgen im Kontor, [S. 257] dann war’s gräßlich! Dann war es doch besser, sich in Berlin irgendwo Gesellschaft zu suchen. Wenn nur der Tennisanzug nicht wäre! Der hinderte. Unschlüssig stand er noch, da sah er im Gewühl der Menge, die jetzt nach Geschäftsschluß und Feierabend wie ein langer eilender Wurm sich durch den Bahnhofseingang schlängelte, und sich rechts und links die Treppen hinan spaltete, unter einem in die Stirn gerückten weißen Matrosenhütchen mit blauem Samtband ein blondes Haar aufleuchten, das ihm bekannt vorkam. Es war ein schönes, helles, seidiges Haar, glatt und glänzend; anscheinend lässig, aber doch mit vieler Sorgfalt in einen mächtigen Knoten gedreht. Und nun erkannte er unterm Strohhütchen die blauen Augen und das kecke Näschen. Frida Lämke! Ah, wie lange hatte er die nicht gesehen! Hundert Versäumnisse fielen ihm ein. Wie wenig mehr hatte er sich um die guten Leute gekümmert! Das war recht schlecht! Und auf einmal war ihm, als hätte er sie immer, alle die Zeit her vermißt. Mit einem Satz, wie ein ungestümer Junge, nicht achtend, daß er hier auf ein Kleid trat und da einen in die Seite rempelte, war er neben ihr.

»Frida!«

Sie fuhr ein wenig zusammen: wer redete sie denn so dreist an?!

»Tag, Frida! Wie geht’s dir?!«

Sie erkannte ihn erst nicht, aber dann errötete sie und spitzte den Mund. Was war der Wolfgang für ein Herr geworden! Und sie antwortete, ein bißchen schnippisch, ein bißchen geziert: »Jut! Jeht’s Ihnen auch jut?« lachte und warf den blonden Kopf in den Nacken.

Er wollte nichts davon hören, daß sie ›Sie‹ zu ihm sagte. »Unsinn, Frida, was fällt dir ein?!« Und war so herzlich, so ganz wieder der Wolfgang von früher, daß sie [S. 258] sich rasch in ihn hineinfand. Sie ließ ihre Ziererei ganz fahren. Als wäre nicht fast ein Jahr vergangen, seit sie zuletzt miteinander gesprochen hatten, so gingen sie vertraulich nebeneinander her.

›Ein junges Liebespärchen,‹ dachte manch einer, der sie streifte, als sie an den Büschen des Tiergartens entlang schlenderten. Sie hatten ihren Zug fahren lassen, er hatte so wie so keine Eile nach Hause, und so gingen sie immer tiefer hinein in das grüne, schon nächtliche Dunkel, in dem selbst sein heller Tennisanzug und ihre helle Bluse unkenntlich verschwammen. Die Nachtigallen waren längst verstummt; man hörte ab und zu nur leises Mädchenauflachen wie ein Girren und gedämpftes Flüstern von Pärchen, die man nicht sah. Auf den Bänken, die im Dunkel standen, raunte es, es raschelten Sommerkleider, es leuchteten wie Glühwürmchen brennende Zigarren auf, alle Sitze, auf die man zutappte, waren besetzt; es war unendlich schwül im Park.

Wolfgang und Frida sprachen von Frau Lämke. »Sie ist immer krank, hat schon so viel gedoktert,« sagte das Mädchen, und dabei bebte eine aufrichtige Betrübnis in seinem Ton. Es tat Wolfgang sehr leid. –

Als Frida heute abend ganz außergewöhnlich spät heimkehrte – das Haus war längst geschlossen, Frau Lämke hatte sich schon geängstigt und wußte nicht, wie sie die Bratkartoffeln warm halten sollte – fiel sie der Mutter um den Hals: »Mutter, Mutterken, zanke nicht!« Und dann sprudelte sie heraus, daß sie dem Wolfgang begegnet wäre: »Wolfjang Schlieben, du weißt doch! Der war so nett – nee, Mutter, du kannst dir jar nich denken, wie nett er war! Nich ’n bißchen stolz! Und er fragte jleich nach dir, und als ich ihm sagte, du hättest’s mit’n Magen und mit’n Nerven, da tat ihm das so leid. Und er sagte: Mutter muß mal ’raus [S. 259] in der schönen Sommerszeit, und jab mir den Schein, hier, siehste, ’nen grünen Schein – ich wollt ihn durchaus nich nehmen, was soll’n denn wohl die Leute von denken?! – aber er jing so mit Jewalt, er hatt’n mir in die Hand jestopft, ich hätte schreien können, so hat er mir die Finger auseinander jebogen – biste böse, Mutter, daß ich ihn jenommen habe? Ich wollte nich, ich wollte wahrhaftig nich! Aber er sagte: ›Es ist doch für deine Mutter!‹ Und, ›sei doch vernünftig, Frida!‹« Frida weinte fast vor dankbarer Rührung.

Frau Lämke nahm’s ruhiger: »Nu wer ich vielleicht nach Eberswalde fahren bei meinen Bruder oder an Ende bei meine Schwester ins Riesenjebirge! Un ich jebe für’n paar Wochen de Reinemachstellen uf, det wird mir riesig jut tun. Der jute Junge, das ’s scheen von ihn, daß er an seine alte Freundin denkt – na, er kann’s ja ooch, was sind fufzig Mark für so eenen?!« –

Wolfgang war, als er Frida bis an ihre Haustür gebracht hatte, langsam weitergeschlendert, den Tennisschläger unterm Arm, die Hände in den Taschen der weiten Hosen. Über ihm spannte sich ein reichgestirnter Nachthimmel, unendlich freundlich blinkten goldene Augen zu ihm nieder; alles Räderrollen war verstummt, keine Spaziergänger in großen Trupps wirbelten mehr den Staub der Straße auf. Was die hin und wieder rollenden Sprengwagen des Tages nicht vermocht hatten, das hatte jetzt der Tau der Nacht getan. Der lose Sand war gelöscht, eine kühlende Frische stieg vom Boden auf, Bäume und Büsche dufteten nach Grün; von Gartenbeeten, im Dunkel versunken, stiegen Blumengerüche auf. Wolfgang atmete mit Wohlgefühl, leise pfiff er; eine friedvolle Freudigkeit war in ihm: nun war es doch gut, daß er sich nicht mehr in Berlin umhertrieb! Es war so [S. 260] nett gewesen mit Frida, wie gut hatte er sich mit ihr unterhalten – und dann – es machte ihm wirklich ein riesiges Vergnügen, Mutter Lämke ein wenig unter die Arme greifen zu können!

So recht im Innersten vergnügt kam er zu Hause an.

»Die Herrschaften haben längst abgegessen,« erlaubte sich Friedrich mit einem gewissen Vorwurf zu bemerken – der junge Herr war denn doch gar zu unpünktlich!

»Na, wenn schon,« sagte Wolfgang. »Sagen Sie der Köchin, sie soll mir rasch noch was machen, ein Kotelett oder Beefsteak, oder was gab’s denn sonst heute abend? Ich habe ’nen Mordshunger!«

Friedrich sah ihn ganz verdutzt an: jetzt noch, um halb elf noch? Das war doch Herrn Schlieben oder der gnädigen Frau noch nie eingefallen, so etwas zu verlangen – warmes Abendbrot noch, um halb elf Uhr?! Er stand zögernd.

»Na, wird’s bald,« sagte der junge Herr über die Schulter weg und ging ins Eßzimmer hinein.

Da saßen die Eltern – beide lasen – noch am Tisch, aber der Tisch war leer.

»Guten Abend,« sagte der Sohn, »schon abgedeckt?!« Aus seinem Ton klang laut die Verwunderung.

»Na, da bist du ja!« Der Vater nickte ihm zu, aber sah dabei nicht auf, er schien von seiner Lektüre ganz in Anspruch genommen. Und die Mutter sprach: »Setzt du dich noch ein wenig zu uns?«

Dem jungen Menschen fröstelte auf einmal. Draußen war’s wohlig warm gewesen, hier innen kühl.

Und dann war es eine Weile ganz still, bis Friedrich mit einem Tablett hereinkam, auf dem, neben dem Gedeck, nur ein wenig kaltes Fleisch, Brot, Butter und Käse zu sehen waren. Es fiel Wolfgang auf, wie laut er klapperte; [S. 261] für gewöhnlich servierte das Hausmädchen. »Wo ist denn Marie?«

»Zu Bett!« sagte die Mutter kurz.

»Schon?!« Wolfgang wunderte sich im stillen darüber. Horch, da schlug eben drüben die Pendüle in Mutters Zimmer – elf?! Wirklich schon elf Uhr?! Da konnten sie aber machen, daß er etwas zu essen kriegte, der Magen schrumpfte ihm ja ordentlich zusammen vor Hunger! Er sah unverwandt nach der Tür, durch die Friedrich wieder verschwunden war: gab’s nun bald was?!

Er wartete.

»So iß doch!« Die Mutter rückte ihm das Schüsselchen mit kaltem Fleisch näher.

»Warum ißt du denn nicht?« fragte der Vater plötzlich.

»O, ich warte ja noch!«

»Es gibt nichts andres mehr,« sagte die Mutter, und ihr Gesicht, das unendlich abgespannt aussah, wie das eines Menschen, der lange und vergeblich gewartet hat, rötete sich schwach.

»Nichts andres – nichts mehr – wieso denn?!« Der Sohn sah außerordentlich enttäuscht drein, sah von der Mutter auf den Tisch, aufs Büfett und dann wie suchend im Zimmer umher.

»Habt ihr denn nichts andres gegessen?!«

»Ja, wir haben andres gegessen – aber wenn du nicht kommst!« Der Vater runzelte die Stirn, und nun sah er zum ersten Mal heute abend den Sohn voll an und maß ihn mit einem ernsthaften Blicke. »Du kannst doch unmöglich verlangen, wenn du so unpünktlich nach Hause kommst, noch warmes Abendbrot zu finden?«

»Aber ihr – ihr braucht ja doch deswegen nicht« – der junge Mensch verschluckte den Rest – es wäre ihm ja [S. 262] viel lieber, die Eltern säßen nicht da und warteten auf ihn, die Dienstboten würden schon ihre Schuldigkeit tun!

»Meinst du vielleicht, die Dienstboten brauchen keine Nachtruhe?« fragte der Vater, als hätte er diese Gedanken erraten. »Die Mädchen, die den ganzen Tag in der Küche gesteckt haben, wollen abends auch Schluß machen. Darum mußt du schon früher kommen, wenn du mit uns essen willst. Im übrigen wird es einem jungen Menschen wohl nichts schaden, wenn er abends mal mit einem Butterbrot vorlieb nimmt. Übrigens du, der du« – er hatte eigentlich sagen wollen: ›Du, der du so gut zum Mittag issest‹ –, aber nun reizte ihn die Miene des jungen Menschen, in der so viel maßloses Staunen lag, und er sprach laut, ganz gegen seine Gewohnheit heftig, heftiger, als er’s je im Sinn gehabt hatte: »Du – bist du etwa berechtigt, solche Ansprüche zu machen? Wie kommst du dazu, gerade du?!« Eine Bewegung Kätes, ein Rauschen ihres Kleides erinnerten ihn an ihre Gegenwart, und er fuhr gemäßigter fort, aber mit einem gewissen ärgerlichen Hohn: »Leistest du etwa so viel? Zwei Stunden vormittags im Kontor – knapp –, nachmittags eine Stunde – ja, das ist eine erstaunliche, eine kolossale Tätigkeit, die große Ansprüche an deine Kräfte stellt! Eine ganz besondere Verpflegung erheischt, in der Tat! Nun, was denn, was?!«

Wolfgang hatte etwas sagen wollen, aber der Vater ließ ihn nicht zu Worte kommen: »Setze erst eine bescheidene Miene auf, und dann rede! Junge, ich sage dir, wenn du Braumüller noch einmal um Geld angehst!«

Da, da war es heraus! All das diplomatische Fragen und Aushorchenwollen war im Ärger vergessen. Schlieben fühlte sich förmlich erleichtert, nun er sagen konnte: »Das ist ja eine unerhörte Sache! Es ist eine Schmach für dich und – für mich!« Die erregte Stimme war leiser geworden, [S. 263] bei den letzten Worten erstickte sie in einem Seufzer. Der Mann stützte den Arm auf den Tisch und den Kopf in die Hand; man sah es ihm an, wie nah es ihm ging.

Käte saß stumm und blaß. Ihre Augen öffneten sich schreckhaft weit – also das, das hatte er getan, sich Geld geborgt?! Auch das?! Nicht allein, daß er sich betrank, sinnlos betrank – auch das, auch das?! Es konnte ja gar nicht sein – nein! Flehend suchte ihr Blick Wolfgangs Gesicht: er mußte ja verneinen!

»Aber, Papa,« sagte Wolfgang und versuchte zu lächeln, »ich weiß wirklich nicht, wie du mir vorkommst! Ich habe deinen Sozius, der mir’s übrigens mal selber angeboten hat, der mir überhaupt sehr entgegengekommen ist, um ’ne kleine Gefälligkeit gebeten. Ich wollte es ihm gerade wieder schicken –,« er lugte von der Seite den Vater an: wußte der, wieviel? – »morgen schicke ich es ihm!«

»So, morgen!« Es lag Mißtrauen in Schliebens Ton, aber doch eine gewisse Beruhigung, er wollte ja so gern das Beste von seinem Jungen annehmen. »Was hast du noch für Schulden?« fragte er. Und dann kam plötzlich die Furcht über ihn, daß dieser junge Mensch da ihn hinterginge, und in der Angst vor einer Riesenverantwortlichkeit, die er sich auferlegt hatte, sagte er härter, als es eigentlich seine Absicht war, viel härter, als es sich mit seinem Herzen vertrug: »Ich würde dich züchtigen wie einen nichtsnutzigen Buben, wenn ich’s erführe! Meine Hand von dir abziehen – sieh, wie du fertig wirst! Pfui, Schulden, ein Schuldenmacher!«

Käte sah immerfort ihren Mann an, so hatte sie ihn noch nie gesehen. Sie wollte rufen, ihn unterbrechen: ›Du bist so streng, viel zu streng, so schneidest du ihm ja jedes Geständnis ab!‹ – aber sie brachte nichts heraus. Sie verstummte unter der Last der Befürchtungen, die über sie [S. 264] her stürzten. Voll verzehrender Unruhe hingen ihre Blicke an dem jungen Gesicht, das bleich geworden war.

Wolfgangs Lippen zuckten, es arbeitete in ihm. Er hatte sprechen wollen, schon angesetzt dazu, es eingestehen, daß er mehr verbraucht, als er gehabt hatte. Wäre der Vater nur nicht immer so riesig korrekt! Liebe Zeit, es ist eben nicht zu vermeiden, daß man die Hände voll Geld aus den Taschen zieht, wenn man’s dazu hat! Hier denen, denen sagte er nur zu ungern davon! Sie waren ja im Grunde gute Leute, aber sie hatten eben gar keine Ahnung! Gute Leute –? Nein, das waren sie denn doch nicht!

Nun kam die Empörung. Wie konnte der Vater sich’s einfallen lassen, ihn so anzufahren, ihn abzukanzeln in solchem Tone? Wie einen Verbrecher! Und sie, warum starrte sie ihn denn so an mit Blicken, in denen er etwas wie Verachtung zu lesen glaubte?! Nun, so wollte er sie denn doch noch mehr entsetzen, ihnen ins Gesicht schleudern: ›Natürlich hab ich Schulden, was ist denn dabei?!‹ Aber mitten in der Hitze kam ihm die kühle Berechnung: wie hatte der Vater gesagt? – ›ich würde die Hand von dir abziehen‹ –?!

Wolfgang bekam auf einmal einen großen Schrecken: den hier brauchte er, den hier konnte er doch nicht entbehren! Und so raffte er sich denn auf in schnellem Umschwung: nur nichts eingestehen, nur sich nicht verraten! Er sagte, vom trotzigen Aufbrausen hinübergleitend zur glatten Kühle: »Ich weiß nicht, warum du dich so aufregst, Papa! Ich habe ja keine!«

»Wirklich keine?« Ernst fragend sah ihn der Vater an, aber aus dem Ernst leuchtete schon die frohe Hoffnung.

Und als der Sohn erwiderte: »Nein!« da streckte er ihm die Hand über den Tisch hin: »Das freut mich!« [S. 265]

Sie waren diesen Abend sehr nett gegen ihn. Wolfgang empfand es mit Genugtuung: nun ja, sie hatten ihm ja auch was abzubitten! Er ließ sich verwöhnen.

Der Vater war froh, förmlich erleichtert, daß nicht noch andres, Schlimmeres zutage gekommen war, und die Mutter hatte, zum ersten Mal seit langen Wochen, die Empfindung, als könne sie den jungen Menschen da doch wieder lieb haben. Ihre Stimme hatte, wenn sie zum Sohne sprach, wieder etwas von dem alten Klang. Und sie sprach viel zu ihm, es war ihr ein Bedürfnis. In all den Wochen hatte sie nicht so viel mit ihm gesprochen. Jetzt war ihr, als wäre ein Quell in ihr zugemauert gewesen, als müsse sich der jetzt ergießen. Er hatte keine Schulden gemacht! Gott sei Dank, er war doch nicht ganz so schlimm! Jetzt tat es ihr leid, daß sie, verdrossen über sein zu spätes Nachhausekommen – Umhertreiben hatte sie’s bei sich genannt –, die Dienstmädchen zu Bett geschickt und kein ordentliches Abendbrot mehr für ihn hatte. Hätte sie sich nicht vor ihrem Mann gescheut, so wäre sie hinab in die Küche gegangen, hätte selber versucht, ihm noch etwas Besseres herzurichten.

»Bist du auch satt geworden?« fragte sie ihn leise.

»Na, es geht!« Er fühlte sein Übergewicht.

Schlieben legte heute seine Zeitung beiseite. Auf das höfliche »Willst du nicht lesen?« des Sohnes schüttelte er abwehrend den Kopf: »Nein, ich habe schon den ganzen Abend gelesen!« Auch er fühlte das Bedürfnis, ja, die lebhafte Verpflichtung, sich freundschaftlich mit dem Sohne zu unterhalten, wenn er auch fand, daß Käte wieder entschieden des Guten zuviel tat. So sich um den Jungen zu bemühen brauchte sie denn doch nicht, unrecht getan hat er auf alle Fälle, die Sache mit Braumüller war nicht zu vergessen, offen hatte er kommen müssen – aber freilich, freilich, es war [S. 266] im Grunde nur eine Dummheit, eine Sache, wie sie unter hundert Fällen neunzigmal vorkommen mochte!

Schlieben beschloß, vom nächsten Ersten ab das Monatsgeld des Sohnes um hundert Mark zu erhöhen. Dann war es doch gewiß reichlich bemessen, ein Nichtauskommen und Verheimlichen war dann ein für allemal ausgeschlossen!

Es war schon weit nach Mitternacht, als Eltern und Sohn sich endlich trennten. Mit einem lange nicht mehr gekannten Wohlgefühl streckte sich Käte in ihrem Bett: heute würde sie bald einschlafen, heute würde sie nicht mehr so lange liegen müssen und auf den Schlaf harren, heute war sie so befriedigt, so beruhigt, so still in sich. Es war ja alles nun auf besserem Wege, es würde am Ende doch noch alles gut werden! Und leise flüsterte sie zu ihrem Mann hinüber: »Du – Paul!« Er hörte sie nicht, er war schon im Einschlafen. Da raunte sie eindringlicher: »Du, Paul!« Und als er sich regte, sagte sie weich: »Paul, bist du mir böse?!«

»Böse? Aber warum denn?!«

»Ach, ich meinte nur!« Sie mochte es nicht erklären, es tat ja wohl auch nicht not, hatte sie doch das Gefühl, als empfände auch er’s, daß nun auch zwischen ihnen beiden alles wieder besser, schöner, inniger und einiger sich gestalten würde. Ach ja, wenn sie sich mit ihm – mit dem Sohn – besser fanden, dann fanden auch sie beide sich wieder!

Eine heiße Sehnsucht nach den Tagen der Liebe überkam die alternde Frau. Sie schämte sich vor sich selber, aber sie konnte es nicht lassen, sie langte nach dem Nebenbett: »Gib mir deine Hand, Paul!«

Und als sie im Dunklen tastete und suchte, begegnete sie seiner auch suchenden Hand. Ihre Hände legten sich ineinander.

»Gute Nacht, lieber Mann!« [S. 267]

»Gute Nacht, liebe Frau!«

So schliefen sie ein. – – –

Wolfgang stand am Fenster seiner Stube, sah hinaus ins Dunkel, das alle Sterne verhüllte, und hörte das Brausen eines fernen Windes. War die Nacht so beklommen, oder war nur ihm so unerträglich schwül? Ein Gewitter schien aufzuziehen. Oder war es nur eine innere Unruhe, die ihn so belästigte? Was war es denn, das ihn quälte?!

Er glaubte sich kaum je in einer unangenehmeren Stimmung befunden zu haben. Er ärgerte sich über den Vater, ärgerte sich über die Mutter – wenn sie nicht wären, wie sie eben waren, wenn nicht alles so wäre, wie es eben war, dann hätte er nicht zu lügen brauchen, nicht zu heucheln! Er ärgerte sich über sich selber. Ach, dann wäre ihm jetzt wohl leichter, viel freier! Im Unwillen zog er die Stirn zusammen; eine jähe Sehnsucht nach etwas, das er nicht zu benennen wußte, machte ihn erbeben. Was wollte er denn, nach was verlangte er denn? Ja, wenn er das selber wüßte!

Er seufzte laut auf und streckte die Arme mit den kräftigen Fäusten hinaus in die Nacht. So eng, so eng! Wenn er doch noch der Junge wäre, der hier einmal aus dem Fenster, ja, aus diesem Fenster – er beugte sich hinaus und maß die Höhe –, hinausgeklettert war, fortgerannt war, heidi, ohne Fragen wohin, immer zugerannt war, einfach ins Blaue, ins Weite hinein. Das war prachtvoll gewesen, ein seliges Laufen!

Und immer weiter beugte er sich hinaus; der Nachtwind raunte, das war wie eine lockende Melodie. Er zitterte vor Begier. Er konnte sich nicht losreißen, er mußte am Fenster stehen bleiben und lauschen. Das säuselte in der Nacht, das rauschte in den Bäumen, das schwoll und schwoll, wuchs und wuchs. Das Säuseln wurde zum Sausen. [S. 268]

Er vergaß, daß hier eine Stube war und hier ein Haus und hier Eltern, die gern schlafen wollten, er stieß einen Ton aus, einen lauten Ruf, halb ein Juchschrei: da draußen war’s gut, ha!

Sturm. Der plötzlich aufschnaubende Gewitterwind pustete ihm ins Haar und sträubte es ihm um die Schläfen. Ha, wie köstlich das kühlte! Es war drinnen nicht auszuhalten, da war eine Dumpfheit, eine Enge. Ihm wurde so ängstlich bang. Wie sein Herz hämmerte! Und die Unlust war groß: wie war das heute abend wieder unangenehm gewesen! Der Vater sagte, er hätte es ihm eingestehen müssen – natürlich, richtiger wäre es gewesen –, aber wenn der jetzt schon, nachdem die Sache doch eigentlich erledigt war, so drohte, was hätte er dann erst vorher gesagt?! Nicht zum Aushalten war’s, dies ewige Gegängeltwerden! War man etwa noch ein Kind? War man ein erwachsener Mensch, oder war man’s nicht? War man der Sohn aus reichem Hause oder war man’s nicht? – Nein, nicht! Man war’s eben nicht!

Fern im Dunklen grollte der Donner. Es zuckte plötzlich ein blendender Strahl – er war’s eben nicht, nicht der Sohn, nicht der Sohn hier vom Haus! Sonst wäre alles anders! Wie , wußte er nicht – aber anders, o, ganz anders!

Lange hatte Wolfgang nicht nachgedacht – die Tage waren zu reich an Zerstreuung –, aber nun, in dieser dunklen, gewitterigen Nacht, in der er doch nicht schlafen konnte, mußte er denken. Was er immer von sich geschoben hatte, weil’s ihm nicht angenehm war, was er ganz vergessen zu haben glaubte – vielleicht, weil er’s gern vergessen wollte – das mußte er jetzt bedenken. Das, was so lange zurückgedrängt gewesen war, das brach jetzt durch, mit Macht, wie der Sturmwind, der plötzlich daherfuhr und die Wipfel der [S. 269] Kiefern beugte, daß sie niederduckten vor Angst. In das Brausen des Sturmes hinein hätte Wolfgang seine Stimme ertönen lassen mögen, viel lauter als der.

Er war wütend, ganz unvernünftig wütend, ganz ohne Überlegung wütend. Hei, wie das blitzte, krachte, grollte, brauste und schnob! Das war ein Kampf – aber das war doch schön! Er hob sich auf den Zehen und gab die hämmernde Brust dem starken Wehen preis. Gleiche Lust hatte er kaum je empfunden, wie jetzt bei diesen Windstößen, die seine Brust wie mit Fauststößen trafen. Er warf sich ihnen entgegen, er fing sie förmlich auf mit seiner breiten Brust.

Und doch war bei der Lust eine Qual. Gegenüber diesem großen Gewitter, das ihm wurde wie ein Ereignis, dünkte ihn alles andere erbärmlich klein, und er selber mit. Da stand er nun, in Rock und Beinkleidern, die Hände in den Hosentaschen, klimperte mit dem losen Gelde, ärgerte sich darüber, daß er sich hatte abkanzeln lassen, und hatte doch nicht den Mut, alles von sich zu werfen, ganz zu tun, wie ihm beliebte.

Mit glühenden Augen folgte der junge Mensch dem gelben und blauen Zucken der Blitze, die den dunklen Wetterhimmel spalteten in schneidendem Zickzack und die Welt übergossen mit blendendem Zauberlicht. Wer doch hinfahren könnte wie dort der Blitz! Der fuhr aus den Wolken hinab zur Erde, riß ihr den Schoß auf und wühlte sich hinein!

Das junge Blut, dem die ungenützte Kraft in den Fäusten zuckte, die Kraft, die von keiner Arbeit verbraucht ward, ächzte laut auf. Wolfgang verwünschte auf einmal sein Leben. Ah, ganz wo anders müßte er sein, ganz wo anders leben, ganz wo anders! Und wenn er’s da auch nicht so bequem hätte, nur fort von hier, fort! Das langweilte ihn hier ja so unsäglich. Das ekelte ihn an. Er atmete tief auf: ha, hätte man doch eine Arbeit, die man gerne tun möchte! Die einen [S. 270] so müde machte, daß man keinen andern Wunsch mehr hätte, als essen und dann schlafen. Lieber Taglöhner als so einer, der auf dem Kontorstuhl hockt, Zahlen sieht, immer lauter Zahlen, und Konten und Hauptbücher und Kassabücher – nur nicht Kaufmann, nein, das war doch noch das allergräßlichste!

Wolfgang hatte bis dahin noch nie mit Bewußtsein empfunden, daß er nicht zum Kaufmann taugte; jetzt wußte er’s. Nein, er mochte das nicht, er konnte das nicht bleiben! Jeder muß doch das werden, wozu er geboren ist!

Morgen schon wollte er es sagen – nein, er machte nicht mehr mit, er tat’s nicht länger! Frei wollte er sein! Er bog sich wieder weit zum Fenster hinaus und witterte mit geblähten Nüstern wie ein dürstender Hirsch gierig-lechzend nach dem feuchten Wohlgeruch, der der getränkten Erde entstieg.

Nach Donner und Blitz war der Regen gekommen und tränkte den verlangenden Boden und drang in ihn ein, ihm alle Poren mit Fruchtbarkeit füllend. Es rauschte und rauschte ohne Unterlaß, ging nieder in Strömen, als nähme des Flutens kein Ende.

In Wolfgangs Seele löste sich etwas; sie wurde weich.

»Mutter,« flüsterte er verträumt und streckte die heißen Hände aus, daß der kühle Regen sie badete. Streckte auch den Kopf ganz weit hinaus, hob das Gesicht mit den geschlossenen Augen aufwärts, daß fallende Tropfen die brennenden Lider kühlten, und die durstigen Lippen, weit geöffnet, die Tränen des Himmels einsogen wie köstlichen Wein.


Aber am Morgen, als der Sand des Grunewalds all den Regen in sich geschluckt hatte, und vom befreienden Gewitter der Nacht nichts übrig war als ein etwas frischeres Grün des Rasens, ein stärkeres Duften der Kiefern, viel abgeschlagene [S. 271] Eicheln und Kastanien am Promenadenweg, dachte Wolfgang doch wieder anders. Der Tag war schön; er konnte schwimmen, reiten, ein bißchen ins Kontor gehen, essen, trinken, Tennis spielen, sich zum Abend irgendwohin verabreden – es gab ja so viele Orte, an denen man sich amüsieren konnte –, warum sollte er sich und am Ende dem Vater auch den schönen Tag verderben? Er schob jeden ernsteren Gedanken als lästig weit von sich. Aber in seiner Seele war doch eine Unruhe. Er suchte sich zu betäuben.

Heute abend schlief Käte nicht so rasch und sanft ein wie am gestrigen Abend; wenn sie sich’s auch selber geschworen hatte, nicht mehr aufzusitzen und auf ihn zu warten, schlafen konnte sie doch nicht, wenn er nicht zu Hause war. Wie damals hörte sie die Uhren gehen, schreckhaft laut; durch die Stille des Hauses drang jedes noch so leise Geräusch verstärkt an ihr lauschendes Ohr. Sie würde ihn hören, sie mußte ihn ja hören, sowie er nur den Schlüssel unten in die Haustür steckte!

Aber sie hörte nichts, solange sie auch wach lag und horchte. Die Stunden schlichen, der Tag graute, durch einen Spalt der geschlossenen Läden hindurch stahl sich ein daumbreiter falber Schein; sie sah ihn an der Wand, ihrem Bett gegenüber. Der Schein wurde tiefer nach und nach, bestimmter in der Farbe, bekam ein warm-leuchtendes, sonniges Rotgold. Es kündete kein Haushahn mit triumphierendem Schrei den neuen Tag, es lag das Haus so still, so stumm der Garten, aber jener Schein dort, der verriet den Morgen. – – –

Sie mußte doch geschlafen haben, ohne daß sie es wußte: wie, schon der Morgen da?! Nun war sie auch sicher, daß er längst zu Hause war, sie hatte sein Kommen eben überhört. Das beruhigte sie. Aber sie zog sich doch eilig an, flüchtiger als sonst, und sie konnte es doch nicht lassen, ehe sie zum Frühstück [S. 272] hinunterging, an seiner Türe stillzustehen und zu lauschen. Er war noch nicht auf – natürlich noch nicht, er war ja so spät nach Hause gekommen – noch schlief er! Sie konnte einmal heimlich nach ihm sehen. Sie trat ein, aber er schlief nicht.

Mit ganz wirren Augen blickte die Frau aufs Bett – da stand es, aufgeschlagen, einladend weiß und behaglich, aber er lag nicht darin. Das Bett war gar nicht berührt! Leer das Zimmer!

Da erstarrte ihr das Herz in eisigem Schreck: sie hatte doch nicht geschlafen, sie hatte sein Kommen doch nicht überhört! Dazumal war er gekommen – betrunken freilich, aber er war doch noch nach Hause gekommen –, dieses Mal nicht mehr!


3

»Wolfgang wieder nicht da?« sagte Schlieben, als er zu seiner Frau ins Zimmer trat. »Ins Geschäft kommt er auch so wenig; sie behaupten zwar immer, gerade wäre er dagewesen – warum hält er aber nicht dieselbe Geschäftszeit ein wie ich?! Wo ist er denn?!« Er sah seine Frau fragend und ungeduldig an.

Sie zuckte die Achseln, und das Abendrot, das im Scheiden noch einen letzten Schimmer durch das hohe Fenster warf, gab ihrer Wange ein überhuschendes Rot. »Ich weiß es nicht,« sagte sie leise. Und dann sah sie so verloren hinaus in den Herbstabend, daß der Mann fühlte, sie war mit ihren Gedanken ganz abwesend, die irrten draußen suchend umher.

»Käte,« sagte er ein wenig empfindlich, und der Ärger, den er über des Sohnes Abwesenheit empfand, mischte dem Ton noch eine besondere Schärfe bei, »ich bin eben aus der [S. 273] Stadt nach Hause gekommen – müde, hungrig, es ist ja schon acht Uhr – wir wollen essen. Und nicht mal ein freundliches Gesicht?!«

Sie stand rasch auf, um nach dem Abendbrot zu klingeln, und versuchte zu lächeln. Aber es wurde kein rechtes Lächeln.

Er sah’s, und das verstimmte ihn noch mehr. »Laß nur, laß! Tu dir keinen Zwang an!« Müde setzte er sich zu Tisch. Aber sein Hunger schien doch nicht so rege zu sein, denn als die Speisen aufgetragen waren und vor ihm dampften, langte er nur lässig zu und aß lässig, ohne zu wissen, was.

Das Eßzimmer war viel zu groß für die zwei einsamen Menschen; ungemütlich leer erschien heute an dem kühlen Herbstabend der schöne Raum. Fröstelnd schauerte die Frau zusammen.

»Wir müssen die Heizung in Gang bringen lassen,« sagte der Mann.

Das war das einzige, was während des Essens gesprochen wurde. Nachher stand Schlieben auf, um in sein Arbeitszimmer hinüberzugehen. Dort wollte er rauchen, dort war’s kleiner, gemütlicher; er bemerkte es nicht, daß seine Frau ihn förmlich mit den Blicken verfolgte.

Wenn Paul ihr doch nur sagen möchte, was er von Wolfgangs Ausbleiben dachte! Wo Wolfgang nur wieder sein mochte?! Sie vertiefte sich ganz in ihre suchenden, irrenden Gedanken und merkte es kaum, daß sie allein blieb in dem kalten, leeren Zimmer.

Sie hatte ein Buch vor sich liegen, ein Buch, das alle Welt interessant fand – eine Bekannte hatte ihr gesagt: ›Ich konnte gar nicht aufhören damit, ich hatte so viel im Kopf, aber ich habe alles drüber vergessen,‹ – sie vergaß nichts darüber. Wie in einem großen Kummer, der dumpf macht, fühlte sie sich. Noch stumpfer, abgestorbener gegen [S. 274] alles Äußere, wie damals nach dem Tode ihres Vaters und ihrer Mutter. Gerade in diesen Trauerjahren hatte sie so viel gelesen, so mit besonderem Interesse, als seien ihr alte Dichtwerke neu geschenkt und neue eine tröstende Offenbarung. Nun konnte sie nichts lesen, den Gedanken eines andern nicht folgen. Sie klebte an ihren eignen Gedanken; ihr Auge überflog wohl die Seite, aber wenn sie unten angelangt war, wußte sie nicht, was sie gelesen hatte. Es war ein unerträglicher Zustand. Ach, wie gern, wie gern wollte sie sich für etwas interessieren! Was gäbe sie darum, könnte sie doch einmal recht herzlich lachen; früher hatte sie nie die gleiche Sehnsucht gehabt nach Frohsinn, Heiterkeit und nach Humor. Ah, welche Erlösung wäre es für sie gewesen, hätte sie lachen und weinen können! Jetzt konnte sie nicht lachen, aber – ach! – auch nicht mehr weinen, und das war das schlimmste: ihre Augen blieben trocken. Jedoch innerlich brannten die ungeweinten Kummertränen und fraßen an ihrem Leben mit dem unvergossenen salzigen Naß.

Nein, der Tod war das schrecklichste nicht! Es gab Schrecklicheres. Es war schrecklich, wenn man sich sagen mußte: all dein Leid hast du dir selber heraufbeschworen. Warum ließest du dir nicht genügen, warum mußtest du erzwingen, was die Natur dir versagte?! Es war schrecklicher, wenn man fühlte, wie häusliches Glück, eheliches Glück, Liebe, Treue, Einigkeit, wie all das, was zwei Menschen innig zusammenhält, ins Wanken geriet – fühlte sie’s denn nicht alle Tage, wie ihr Mann kälter und kälter wurde, und wie auch sie gleichgültiger gegen ihn ward?! Ach, der Sohn, dieser Dritte, der brachte sie zwei auseinander! O, wie kläglich fielen alle ihre Theorieen von Erziehung, Beeinflussung, vom Geboren werden im Geiste über den Haufen! Wolfgang war doch nicht das Kind, in dem sie beide sich mit Leib [S. 275] und Seele einten – er war und blieb fremdes Blut. Und er hatte eine fremde Seele. Armer Sohn!

Im Herzen der Frau, die tage-, wochen-, monate-, die jahrelang nichts als Bitterkeit und Kränkung, sogar manchmal etwas wie Empörung gegen den empfunden hatte, der ihre Tage also verstörte, keimte plötzlich ein einsichtsvolles Mitleid. Wie konnte sie ihm, den es nicht mit hundert Banden ans Elternhaus fesselte, so sehr zürnen?! Es war eben nicht sein Elternhaus. Unbewußt mochte er es fühlen, daß der Boden hier für ihn nicht Heimatboden war – nun suchte er, nun irrte er!

Den Kopf schwer in die Hände stützend, grübelte Käte: was sollte sie beginnen? Sollte sie ihm gestehen, woher er kam? Ihm alles erzählen? Vielleicht daß es dann besser wurde! Ach, würde es besser, so würde sie gern alles tun! Aber ach, es war so schwer! Doch es mußte sein. Sie durfte nicht länger schweigen! Sie fühlte ihr zitterndes Herz erstarken in einem festen Entschluß: wenn er nach Hause kam, würde sie sprechen. Was sie gehütet hatte als größtes Geheimnis, über dem sie zitternd gewacht hatte, was ihr, wie sie glaubte, nichts hätte entreißen können, das war sie nun bereit, freiwillig zu offenbaren. Sie mußte. Wie konnte es sonst je besser werden, wie je zu gutem Ende kommen, überhaupt zu einem Ende?!

Mit inbrünstigem Suchen schauten ihre Augen um sich; es war ein angstvolles Blicken in ihnen. Aber da war kein andrer Ausweg. Mit einer Entschlossenheit, deren Käte Schlieben vor einem Jahr noch nicht fähig gewesen wäre, bereitete sie sich auf das Geständnis vor. Einen Augenblick kam ihr der Wunsch, sich Paul zu Hilfe zu rufen. Aber rasch verwarf sie den Gedanken – hatte er denn Wolfgang je so geliebt wie sie? Es würde ihm vielleicht gleichgültig sein. [S. 276] Oder nein, es würde ihm vielleicht ein Triumph sein, er war ja immer andrer Meinung als sie gewesen. Und dann, noch eins! Er könnte ihr dann vielleicht zuvorkommen, es selber Wolfgang sagen, und das durfte nicht sein. Sie, sie allein durfte das mit all der Liebe, deren sie noch fähig war, damit er’s weich hörte, schonend und zart!

Hastig lief sie hinüber in ihren Salon. Da bewahrte sie in ihrem Schreibtisch seinen Taufschein und die Abtretungsurkunde aus seinem Heimatdorf; diese Papiere hatte sie selbst ihrem Manne nicht anvertraut. Nun holte sie sie hervor und legte sie bereit. Sie würde ihm doch zeigen müssen, daß alles sich so verhielt, wie sie sagte!

Die Papiere knitterten unter ihren zitternden Händen, aber sie zwang ihre Aufregung nieder. Ruhig mußte sie sein, ganz ruhig und verständig; in vollem Bewußtsein dessen, was sie tat, das Luftschloß umstoßen, das sie sich erbaut hatte und das nicht so geworden war wie in ihren Träumen. Aber wenn auch dieses Luftschloß zusammenfiel, konnte nicht aus seinen Trümmern etwas gerettet werden, doch noch etwas Gutes erstehen?! Er würde ihr ja dankbar sein, er mußte ihr ja dankbar sein. Und das war das Gute!

Sie faltete die Hände über den Dokumenten aus grobem Papier, und aus ihrer Brust stiegen bebende Seufzer, die wie flehende Gebete waren. Gott hilf, Gott hilf!

Wenn er sie aber nun nicht richtig verstünde, wenn sie vielleicht nicht die Worte fand, die man finden mußte?! Wenn sie ihn dadurch verlieren würde?! Ein Schreck überfiel sie, sie erblaßte und griff tastend um sich, wie jemand, der eine Stütze braucht; aber sie hielt sich aufrecht: dann lieber ihn verlieren, als daß er sich verlor!

Denn – und Tränen, wie sie sie lange, lange nicht mehr hatte vergießen können, tropften ihr erlösend aus den Augen [S. 277] – denn sie liebte ihn doch noch, liebte ihn mehr, als sie es selber für möglich gehalten hätte.

So wartete sie auf ihn. Und wenn sie warten sollte bis morgen früh, und wenn er wieder betrunken nach Hause käme – betrunkener noch als das erste Mal – sie würde ihn doch erwarten. Heut noch mußte sie es ihm sagen! Es brannte förmlich in ihr.

Schlieben war längst zur Ruhe gegangen; er war ärgerlich auf seine Frau, hatte nur flüchtig den Kopf in ihr Zimmer gesteckt, hatte genickt: »Gute Nacht« und war hinaufgegangen. Sie aber ging mit langsamen Schritten unten im Zimmer auf und ab; das ermüdete sie körperlich, gab aber ihrem Geist Ruhe und dadurch Kraft. –

Als sei ihre zarte Gestalt gewachsen, so gerade und aufrecht trat sie in der Vorhalle Wolfgang entgegen, als sie ihn hatte die Haustür schließen hören. Das Haus schlief mit allen, die darinnen waren, nur er und sie waren noch wach; so allein, so ungestört waren sie sonst nie mehr auf der Welt. Jetzt galt’s!

Und sie gab ihm die Hand, wie sie es sonst nicht getan hätte, wäre er so spät gekommen – Gott sei Dank, er war nicht betrunken! – und näherte ihr Gesicht seinem Gesicht und küßte ihn auf die Wange: »Guten Abend, mein Sohn!«

Er war wohl etwas verdutzt über diesen Empfang, aber seine dunkelumrandeten und tiefliegenden Augen sahen gleichgültig an ihr vorbei.

Er war entsetzlich müde – man sah es ihm an – oder war er krank?! Aber das würde ja alles, alles nun bald besser werden! Mit erwachter Hoffnungsfreudigkeit ergriff Käte wiederum seine Hand und zog ihn hinter sich her in ihr Zimmer hinein. [S. 278]

Er ließ sich ziehen, ohne zu widerstreben, er fragte nur gähnend: »Was ist denn los?«

»Ich muß dir etwas sagen!« Und dann, rasch, als könne er ihr entgehen oder sie den Mut verlieren, setzte sie hinzu: »Etwas Wichtiges – was dich betrifft – deine – deine Herkunft betrifft!«

Was sagte er nun – unwillkürlich hatte sie innegehalten – was würde er nun sagen?! Seine Herkunft, um die er gerungen hatte, in Sehnsucht, in Kämpfen – ach, was waren das für Szenen gewesen! – nun wurde sie ihm offenbar.

Sie hatte sich unwillkürlich zu ihm geneigt, bereit, ihn zu stützen.

Da gähnte er wieder: »Muß es jetzt gerade sein, Mama? Morgen ist doch auch noch ein Tag. Ich bin nämlich todmüde. Gut Nacht!« Und er machte kehrt und ließ sie stehen und ging zum Zimmer hinaus und die Treppe hinauf und oben in seine Stube.

Sie stand ganz starr. Dann griff sie sich nach dem Kopf: was, was, sie hatte wohl nicht recht verstanden, war taub, blind, nicht ganz mehr bei sich?! Oder er war taub, blind, nicht ganz mehr bei sich! Sie war ihm entgegengetreten, das Herz auf den Lippen, sie hatte die Hand ausgestreckt, sie hatte ihm von seiner Herkunft sprechen wollen – und er?! Er hatte gegähnt – war gegangen, es interessierte ihn augenscheinlich gar nicht. Und hier, hier, in diesem selben Zimmer – noch nicht viere Jahre waren’s her – fast auf diesem selben Fleck, da hatte er doch gestanden im schwarzen Einsegnungsrock – fast so groß schon wie jetzt, nur runder, kindlicher von Gesicht – und hatte laut aufgeschrieen: ›Mutter, Mutter, wo ist meine Mutter?!‹ Und jetzt wollte er nichts mehr wissen –?! [S. 279]

Es konnte nicht sein, sie hatte ihn wohl nicht recht verstanden oder er sie nicht! Sie mußte ihm nach, gleich auf der Stelle! Ihr war, als dürfte sie keine Minute versäumen.

In ihrem grauen Kleid huschte sie lautlos die Treppe hinauf; im matten Licht, das die elektrische Birne an die Treppenwand warf, sah sie ihren gleitenden Schatten, aber sie lächelte: nein, sie war nicht die Sorge mehr, die da so gespenstisch glitt! In ihrem Herzen war lauter Freudigkeit, Hoffnung und Vertrauen: sie brachte ihm ja Gutes, nur Gutes!

Ohne anzuklopfen trat sie in seine Tür, in aller Eile, ohne Überlegung. Er lag schon in den Kissen, gerade hatte er das Licht auslöschen wollen. Nun setzte sie sich auf seinen Bettrand.

»Wolfgang,« sprach sie weich. Und als er sie verwundert, ein wenig befremdet, fast unfreundlich ansah, klang es noch weicher: »Mein Sohn!«

»Ja – was ist denn nun schon wieder?«

Er war wirklich ärgerlich, sie merkte es an seinem ungeduldigen Ton, und da sank ihr plötzlich der Mut: ach, wenn er sie so ansah, so kalt, und wenn sein Ton so abwehrend klang, wie war es da schwer, das richtige Wort zu finden! Aber es mußte sein, er sah ja so bleich aus, und so mager war er, sein rundes Gesicht war förmlich lang geworden! Was ihr vorhin schon aufgefallen war, fiel ihr jetzt doppelt auf, und sie bekam einen großen Schreck. »Wolfgang,« sagte sie hastig, fast mit Angst seinen Blick vermeidend – o, wie anklagend würde der sein, wie vorwurfsvoll, und berechtigt vorwurfsvoll! – »ich muß es dir endlich sagen – es ist besser – es wird dich ja auch weiter nicht verwundern – erinnerst du dich noch jenes Sonntags – es war der Tag deiner Konfirmation – da – da fragtest du uns –« [S. 280]

Ach, wieviel Vorreden mußte sie doch machen! Sie hieß sich selber feige; aber es war so schwer, so unsäglich schwer!

Mit keinem Laut unterbrach er sie, er fragte nicht, er seufzte nicht, er rührte sich nicht einmal.

Sie wagte nicht, ihren Blick, der, starr und geradeaus gerichtet, an einem Punkte hing, nach ihm zu wenden. Sein Schweigen war schrecklich, schrecklicher als sein Aufbrausen! Und sie schrie es laut heraus mit verzweifelter Entschlossenheit: »Du bist nicht unser Sohn, nicht unser eigner Sohn!«

Er sagte noch nichts; antwortete durch keinen Laut, durch kein Sichrühren. Da wendete sie den Blick nun doch nach ihm. Und sie sah, wie die Lider ihm über die müden, schon halb verglasten Augen fielen, wie er sie mühsam wieder aufriß und sie doch wieder herabsanken, kurz, wie er mit dem Schlaf rang.

Er konnte schlafen, während sie ihm dieses – dieses sagte?! Eine furchtbare Ernüchterung kam über sie, aber sie packte ihn doch am Arme und rüttelte ihn, während ihr die eignen Glieder wie in Fieberschauern bebten: »Hörst du – hörst du’s denn nicht?! Du bist nicht unser Sohn – nicht unser eigner Sohn!«

»Ja, ich weiß,« sagte er müde. »Laß, laß!« Abwehrend bewegte er die Hand.

»Und das –« eine völlige Fassungslosigkeit machte sie stammeln wie ein Kind – »das berührt dich nicht? Das – das läßt dich so kalt?!«

»Kalt?! Kalt?!« Er zuckte die Achseln, und in seinen müden, glanzlosen Augen fing es an ein wenig zu funkeln. »Kalt?! Wer sagt dir, daß es mich kalt läßt – kalt gelassen hat?« verbesserte er sich rasch. »Aber ihr habt ja nicht danach gefragt. Nun will ich nichts mehr davon hören. Nun bin ich müde. Ich will schlafen!« Er drehte ihr den Rücken, [S. 281] kehrte das Gesicht gegen die Wand und rührte sich nicht mehr.

Da stand sie – er schlief schon, oder wenigstens schien er zu schlafen. Ein paar Minuten noch verweilte sie bang – würde er, mußte er sich nicht wieder nach ihr wenden: ›erzähle, jetzt höre ich!‹ Aber er wendete sich nicht.

Da schlich sie aus dem Zimmer wie ein armer Sünder. Zu spät, zu spät! Sie hatte zu spät gesprochen, und nun wollte er nichts mehr hören, nun gar nichts mehr davon wissen!

In ihrer Seele schmerzten die Worte ›zu spät‹ in ihrer stumpfen Trostlosigkeit wie eingebrannt.


Käte hatte nicht mehr den Mut, auf das, was sie Wolfgang in dieser Nacht hatte gestehen wollen, noch einmal zurückzukommen. Wozu auch? Sie hatte das lebhafte Gefühl: ihm war nicht mehr beizukommen, nicht mehr zu helfen. Sie aber fühlte sich niedergedrückt wie durch eine unermeßliche Schuld. Und das Gefühl dieser schweren Schuld machte sie milder gegen ihn, als sie es sonst gewesen wäre; es hieß sie, sein Tun und Lassen zu beschönigen, vor sich selber und vor ihrem Manne.

Schlieben war sehr unzufrieden mit Wolfgang. »Wenn ich nur wüßte, wo er sich immer herumtreibt! Er ist doch nachts zu Hause – wie?!«

Ein unwillkürlicher Laut seiner Frau hatte ihn unterbrochen, nun sah er sie forschend an. Aber sie verzog keine Miene, nickte nur: »Ja!« Da verließ sich der Mann auf seine Frau. –

Nun waren die letzten Tage des scheidenden Herbstes da, die oft noch so warm sind und golden, goldener als der Sommer sie je gewährt. Um vor dem Winter sich noch einmal in [S. 282] Luft und Sonne zu baden, strömte alles hinaus in den Grunewald. Als sei alle Tage Sonntag, so drängten sich die Spaziergänger in Hundekehle und Paulsborn, bei Onkel Tom und in der Alten Fischerhütte. Überall Lachen, oft auch Musik, und Mädchen in hellen Kleidern, in letzten, noch nicht ganz vertragenen Sommertoiletten. Kinder lärmten jetzt weniger durch den Wald wie zur Sommerszeit, es dunkelte jetzt bereits zu früh; desto mehr Pärchen wandelten, denen der frühe und doch noch warme Dämmerschein köstliche Gelegenheit bot, ihre Zärtlichkeiten zu tauschen, und alte Leute, die noch einmal die Sonne genießen wollten, ehe vielleicht bald die Nacht für sie kam, der kein Morgen mehr folgt.

Schlieben hatte es in früheren Jahren immer verabscheut, an solchen Tagen, in denen es im Grunewald wimmelte, sein Haus und seinen Garten zu verlassen. Es war ihm unangenehm gewesen, den Staub des Gewühls zu schlucken. Jetzt war er weitherziger: warum sollten die Leute, die sonst immer in ihre engen Wohnungen gebannt waren, nicht auch einmal hier draußen sein und für Stunden wenigstens den Kiefernduft einatmen, den sie, die Bevorzugten, alle Tage genossen? Es war doch etwas Schönes darum, zu sehen, wie die Menschen sich freuen!

Sowohl aus eignem Antrieb, wie um Käte zu zerstreuen, die ihm in letzter Zeit noch ernster und merkwürdig in sich gekehrt vorkam, bestellte er einen Wagen, einen bequemen Landauer, und fuhr mit seiner Frau spazieren. Sie fuhren die bekannten Straßen, die den Grunewald durchziehen, stiegen auch zuweilen aus, wenn der Wagen langsamer durch den Sand mahlte, und gingen auf dem, durch gefallene Nadeln glatt gemachten und festgetretenen Fußpfad ein Stückchen nebenher.

Sie kamen nach Schildhorn. Über dem Wasser lag [S. 283] roter Abendschimmer; die Sonne war nicht mehr im vollen Glanz zu sehen, ein dämmernder, melancholischer Friede lag über der Havel und den Kiefern. So tief hatte Käte dieser Wald noch nie gedeucht. Es fröstelte sie plötzlich: ah, dort drüben lag ja auch der Friedhof der Selbstmörder! Sie mochte nicht hinsehen, nervös preßte sie die Augen zu. Vor ihren Blicken hatte plötzlich ein junger Bursch gestanden – jung und frisch und doch schon verdorben – mancher Mutter Sohn!

Schaudernd wollte sie rasch vorüber, und doch zog es ihren Fuß unwiderstehlich hin zu dem im Wehsand eingehegten Fleck. Sie konnte nicht anders, sie mußte stehen bleiben. Sinnend ruhte ihr Blick auf den so wenig schönen, ungepflegten Gräbern: ob sie denn Frieden gefunden hatten, die hier ruhten?! Ein paar grüne Zweige und ein paar Blümchen, die sie unterwegs gepflückt hatte, entsanken ihrer Hand. Der abendliche Wind wehte sie aufs nächste Grab; da ließ sie sie liegen. Ihr war unendlich weh ums Herz.

Paul rief: »Käte, so komm doch! Der Wagen wartet ja längst auf uns!«

Bis tief ins Innerste war sie verstimmt. Befürchtungen und Ahnungen, von denen sie niemand sagen konnte, drangen auf sie ein. Wolfgang war leichtsinnig – aber schlecht?! Nein, schlecht war er nicht – noch nicht! O Gott, nein, das wollte sie doch nicht denken, schlecht nicht! Aber wie sollte es werden? Wie enden?! Gut konnte es nicht mehr werden, nie – wie sollte es auch?! Da müßten ja Wunder geschehen, und Wunder geschehen nicht mehr zu diesen Zeiten!

Helles Lachen schreckte sie auf. Im Restaurationsgarten waren alle Tische besetzt; hier war so viel Jugend, und so viel leichter Sinn, und hier waren so viele Liebespaare. Sie waren wieder in ihren Wagen gestiegen und fuhren jetzt langsam am [S. 284] Restaurationsgarten vorüber und sahen so all die hellen Blusen und die bunten Blumenhüte, all den Putz des kleinen Bürgerstandes.

Horch, wieder das helle Lachen! Ein lautes Mädchenlachen, so recht frei heraus, und nun ein: ›Oho, fangt sie, kß, kß‹ – bei dem Käte wie erstarrt den Atem anhielt. Sie wurde ganz schwach, alles Blut wich ihr vom Herzen fort: das war ja Wolfgang! Ihr Wolfgang!

Da sprang er in großen Sätzen hinter einem Mädchen her, das, aufjuchzend, vor ihm über den Weg floh und jenseits hinein in den Wald lief zwischen die Stämme. Er jagte hinter ihr drein. Einen Augenblick noch sah man das helle Mädchenkleid und Wolfgangs fliegenden Schatten um die Kiefern wischen, dann erblickte man nichts mehr von ihnen. Aber er mußte sie erreicht haben, man hörte jetzt ihr gellendes Aufkreischen und sein Lachen; beides trieb Käte das Blut in die Wangen. Das klang ihr beleidigend, klang ihr gemein. Also so, so weit war er gekommen, trieb sich hier mit solchen, solchen – Personen umher?! Aha, da kamen ja noch ein paar andre nach, die gehörten auch zur Gesellschaft! Ein vierschrötiger Mensch mit rotem, pausbackigem, sehr erhitztem Gesicht lärmte mit Hallo hinter dem verschwundenen Paar drein, und ein schmächtiger Schlingel, der zuletzt kam, lachte so recht verschmitzt-spitzbübisch.

›Paul, Paul,‹ wollte Käte aufschreien, ›Paul, sieh nur, sieh!‹ Aber dann schrie sie doch nicht und rührte sich nicht. Da war ja nichts mehr zu ändern! Ganz stumm lehnte sie in ihrer Wagenecke: das hatte sie ja gewollt, sie durfte nicht klagen. Ach, hätte sie ihn doch gelassen, wo er war! Jetzt mußte sie schweigen, beide Augen zudrücken, tun, als hätte sie nichts gesehen!

Aber alles war ihr verleidet. Und als ihr Mann ihr in [S. 285] einer Lücke der Kiefernwipfel den schwimmenden Mond im lichtgrauen Äther wies und rechts dabei den freundlichen, ruhig leuchtenden Stern, hatte sie auf sein entzücktes: »Ist das nicht schön?« nur ein kühl-zustimmendes: »O ja!«

Das verstimmte ihn. Welche Freude hatte sie sonst an der Natur gehabt, die größte und reinste Freude, nun auch das nicht einmal mehr! Auch dieses hin?! Alles hin! Er seufzte.

Und jedes von ihnen, in eine Ecke des Wagens gelehnt, verharrte in Schweigen. Mit trüben Augen schauten sie beide in die tiefer und tiefer sinkende Dämmerung. Es wollte Abend werden, der Tag – auch ihr Tag – hatte sich geneiget. –

*     *

*

Wolfgang hatte mit Frida Lämke, deren Bruder und Hans Flebbe eine längst geplante Landpartie unternommen. Frida hatte sich für den Nachmittag im Geschäft freigemacht; ausnahmsweise, und weil sie etwas unabweisbar Dringendes vorschützte, gelang es ihr, abzukommen. Nun war sie aber auch wie losgelassen, voller Übermut: ha, war das fein, ha, wollten sie sich mal amüsieren! Wolfgang hatte eine Droschke spendiert; er und Frida im Fond, die beiden andern ihnen gegenüber auf dem Rücksitz, so hatten sie eine Rundfahrt durch den grünen, grünen Wald gemacht, hatten dieses Lokal besucht und jenes, waren Karussell gefahren und Boot und hatten in der Würfelbude gewürfelt. Wolfgang war sehr galant, Frida durfte immer noch mal; eine Butterdose von blauem Glas, eine Glanzpapierdüte mit Pfeffernüssen, vor allem aber ein kleiner Piepmatz in einem winzigen Holzgitterkästchen machten sie selig. Alles das durfte Hans nun tragen, während sie auf dem Nachhauseweg, den sie von Schildhorn zu Fuß antraten, sich mit Wolfgang jagte und neckte. Der [S. 286] Bräutigam störte weiter nicht. Hans hatte von Anfang an darauf verzichtet, seine Frida am Arm zu führen; man hätte sie dreist für das Verhältnis des eleganten jungen Herrn halten können. Aber als sie nun ganz außer Atem, rot und zerzaust war und die Dämmerung des Abends, der hier innen zwischen den dichten Stämmen schon eher dunkelte als draußen, ihr ein kleines Gruseln und ein wonniges Sich-erschrecken einjagte, hing sie sich doch wie selbstverständlich an den Arm ihres Hans. Sie blieben ein wenig zurück.

Nun war Wolfgang allein, denn Artur rechnete er nicht, obgleich der neben ihm her über die Wurzeln stolperte und schrill pfiff. Und Wolfgang beneidete den dicken Hans, über den sie heute, seine Braut am meisten, so viel gelacht hatten; auch er hatte das Bedürfnis, jetzt ein Mädchen am Arm hängen zu haben. Das brauchte nicht einmal so niedlich wie Frida zu sein – wenn’s nur ein Mädel war! Die Dämmerung des Waldes, die so wohlig war und verschwiegen, lud förmlich ein. Und vom Boden, der so mager war, lauter Sand, stieg heute abend doch ein sattes Duften auf, ein reichliches Gewähren. Wolfgang fühlte sich lebens- und liebeshungrig, gierig nach Freude, nach Genuß. Hätte er jetzt Frida neben sich gehabt, bei beiden Armen hätte er sie gepackt, sie an sich gerissen, blitzschnell ihr den Mund mit Küssen verschlossen und sie nicht mehr losgelassen.

Er konnte nicht mehr an sich halten, er mußte wenigstens Artur packen und mit ihm dahinwalzen durch den sandigen Waldboden, daß dem aufgeschossenen Jungen, der heute schon zu so und soviel Kunden gelaufen war, um sie zu rasieren, Hören und Sehen verging. Die übrigen Spaziergänger blieben stehen: das war ihnen nichts Neues auf Landpartieen, wenn’s nicht größeren Unfug gab! Sie amüsierten sich, und als Wolfgang zum Schluß den Partner mit einem lauten [S. 287] Juchhe in die Höhe hob und ihn ein paar Mal um sich herumschwenkte, klatschten sie Beifall.

Wolfgang war nun doch sehr außer Atem. Als sie zum Walde hinaus waren, mußten sie langsamer gehen; jetzt, in bewohnteren Regionen – schon tauchten die eleganten Landhäuser auf – hätte man Menschen tottreten können. Das war eine Fülle! An der Abfahrtstelle der elektrischen Bahn drängte und drückte es sich. Sie stellten sich auch auf: das war ein Spaß, zu sehen, wie die Leute, die gerne mitkommen wollten, sich pufften. Es war noch leidlich hell und warm wie im Sommer, aber rasch würde es ganz dunkel sein, und je später, desto größer der Ansturm. Lachend standen die beiden und sahen dem Drängen gelassen zu: was machte es ihnen aus, wenn sie nicht mitkamen, sie liefen eben das Stückchen zu Fuß weiter bis nach Hause.

Wolfgang fühlte sein Herz heftig pochen – es hatte ihm doch zu viel Spaß gemacht, mit Frida zu tanzen! In einem Lokal, in dem im angebauten Brettersaal ein Klavierspieler aufs Klavier paukte, hatte er Frida ein paar Mal ordentlich herumgeschwenkt, und auch noch ein paar andre Mädchen, die verlangend nach dem stürmischen Tänzer gesehen hatten. Es war eine Lust gewesen. Noch fühlte er den Nachhall davon in sich zittern, seine Brust hob und senkte sich unruhig – hei, so ein Mädchen im Arm sich herumschwenken, lustig sein! Wundervoll, es war alles so wundervoll!

Die Zähne zusammenbeißend, um nicht durch einen lauten, jubelnden Aufschrei die Blicke auf sich zu lenken, bebte Wolfgang innerlich vor ungebändigter Lebenslust. Ha, das wäre fein, ha, das wäre eine Wohltat, jetzt irgendeine Dummheit begehen zu können! Er überlegte: was gab man jetzt nur an?!

Da störte ihn ein Husten. Wie hohl das klang, als [S. 288] sei inwendig alles lose! Der junge Mann, der hinter seinem breiten Rücken stand, mochte wohl eine Weile so gehustet haben – er hatte es nur nicht beachtet – nun ekelte ihn vor dessen Auswurf. Unwillkürlich wich er zur Seite: pfui, wie hustete dieser Mensch!

»Ach,« hörte Wolfgang jetzt den älteren Mann sagen, auf dessen Arm der Hustende sich stützte, »ich bin ganz außer mir, daß keine Droschke zu bekommen ist! Bist du sehr kaputt? Geht’s noch?« Es lag so viel Angst in diesem ›Geht’s noch?‹

»O, ganz gut!« Der junge Mensch antwortete mit heiserer Stimme. Wolfgang merkte auf: diese Stimme war ihm doch bekannt? Und nun erkannte er auch das Gesicht. War das nicht Kullrich? Donnerwetter, wie der sich aber verändert hatte! Unwillkürlich lüftete er den Hut: »’n Abend, Kullrich!«

Jetzt erkannte dieser auch ihn. »Schlieben!« Kullrich lächelte, daß man all seine Zähne, lang und weiß, hinter den blutlosen Lippen sah. Und dann reichte er dem früheren Schulkameraden die Hand: »Du bist auch nicht mehr auf der Schule? Ich auch nicht mehr. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen!«

Wolfgang fühlte die Hand unangenehm feuchtkalt in der seinen, und es durchrieselte ihn. Daß er einmal gehört hatte, Kullrich hätte die Schwindsucht, hatte er längst vergessen; nun fiel’s ihm auf einmal wieder ein. Aber das konnte ja gar nicht sein, so jung stirbt man doch nicht?! Alles in ihm sträubte sich dagegen.

»Bist du krank gewesen,« fragte er rasch. »Aber jetzt geht’s dir doch wieder ganz gut?« Es wurde ihm ordentlich schwer, das alte ›du‹ zu gebrauchen, der Kullrich hier war ihm so fremd.

»O ja, es geht,« sagte Kullrich und lächelte wieder. Ein [S. 289] ganz merkwürdiges Lächeln, das selbst dem achtlosen jungen Mann auffiel. Kullrich war nie hübsch gewesen, er hatte eine Kartoffelnase; jetzt mußte Wolfgang ihn immer ansehen: wieviel feiner war das Gesicht geworden und so – er konnte nicht an sich halten, er sagte es plötzlich gerade heraus: »Wie siehst du jetzt aus?! Ich hätte dich beinahe nicht erkannt!«

»Mein Sohn wird jetzt bald verreisen,« sagte der Vater rasch, und dabei zog er den Arm seines Jungen fester in den seinen. »Dann kommt er hoffentlich ganz gesund wieder. Es war so schönes Wetter – viel Luft und Kiefernduft, sagt der Arzt – wir sind zu lange draußen geblieben. Es wird dir doch nichts schaden?!« Wieder so viel Angst im Ton. »Ist dir auch nicht kalt? Willst du dich nicht so lange setzen?« Der Vater stellte ein Feldstühlchen zur Erde, das er unterm Arm getragen hatte und klappte es auseinander: »Setz dich doch ’n bißchen, Fritz!«

Der arme Kerl! Der Ton des Vaters, in dem die liebende Angst zitterte, berührte Wolfgang eigentümlich. Der arme Kerl, der war wahrhaftig doch sehr krank! Wie schrecklich! Ein Grauen kam ihn an, unwillkürlich zog er sich zurück, daß ihn der Atem des Kranken nicht treffe; der ganze Egoismus der Jugend und der Gesundheit war in ihm: wie fatal, daß er heute, gerade heute dem hier begegnen mußte!

»Kann ich Ihnen vielleicht einen Wagen besorgen?« fragte er rasch – daß der Kullrich nur fortkam, das Husten war ja gräßlich anzuhören – »ich weiß hier Bescheid, ich bekomme schon einen!«

Der Vater Kullrich, wie aus einer großen Angst erlöst, sagte aufatmend: »Ach ja, ach ja! ’ne Droschke, ’ne geschlossene womöglich! Mit der Bahn kommen wir ja doch nicht mit! Und es wird so spät! Ist dir auch wirklich nicht kalt, Fritz?!« Ein kühler Wind hatte sich plötzlich erhoben und [S. 290] der alte Mann zog seinen Überzieher aus und hängte ihn dem Sohn noch um die Schultern.

Mußte dem scheußlich zumute sein, seinen Jungen so zu sehen, dachte Wolfgang. Sterben überhaupt, sterben, wie schrecklich! Und wie der Mann seinen Sohn liebte! Das hörte man am Ton, sah man an den Blicken!

Wolfgang war froh, nach der Droschke umherrennen zu können. Es war jetzt schwer, eine zu bekommen, er rannte sich völlig außer Atem. Endlich hatte er einen Wagen. Wie er am Halteplatz der elektrischen Bahn anlangte, war Herr Kullrich bereits völlig verzweifelt. Er hatte die Hoffnung schon aufgegeben gehabt, und der Sohn hatte sehr viel gehustet.

Jetzt löste er sich fast auf in Dankbarkeit. Der einfache Mann – er war ein Subalternbeamter und hatte es gewiß nicht dazu – versprach dem Kutscher ein reiches Trinkgeld, wenn er sie nur rasch nach Halensee, Ringbahnstraße 111, fahren wollte. Er hüllte den Sohn in die Decke, die auf dem Rücksitz lag; der Kutscher gab noch eine Pferdedecke zu, Wolfgang wickelte dem Schulkameraden die Beine ein.

»Danke, danke,« sagte Fritz Kullrich matt; er war jetzt ganz abgefallen.

»Besuchen Sie uns doch mal, Herr Schlieben,« sagte der Vater und drückte dem Retter die Hand. »Fritz würde sich freuen. Und ich bin Ihnen ja so dankbar!«

»Aber komm bald,« sprach der Sohn und lächelte wieder sein seltsames Lächeln. »Adieu!«

»Adieu!« Wolfgang stand und starrte hinter dem rasch davonrollenden Wagen drein – da fuhr der Kullrich! Seiner Mutter nach.

Die frohe Laune Wolfgangs war verflogen. Als die Genossen des Nachmittags mit Hallo nach ihm suchten – [S. 291] Hans mußte seine Frida ordentlich abgeküßt haben, das Hütchen saß ihr schief, ihre Augen glänzten verliebt –, machte er sich rasch von ihnen frei. Er sagte ihnen kurz Adieu und ging allein. Der Tod hatte ihn gestreift. Und ein altes Lied, das er, unter so vielen anderen, einst mit Cilla, dem Mädchen seiner Kindheit, gesungen hatte, schoß ihm urplötzlich durch den Sinn. Jetzt verstand er zum ersten Mal die tiefere Bedeutung:

›Prahlst du gleich mit deinen Wangen,
Die wie Milch und Purpur prangen,
Ach, die Rosen welken bald!‹

Er ging gleich nach Hause, er hatte heute nicht Lust mehr, draußen herumzubummeln. Und als er so ging mit wiegendem, schlenderndem Gang, entlegene Wege, in denen es still war, richtete sich etwas auf vor ihm in der dunklen Färbung des Herbstabends und stellte sich in seinen Weg – das war eine Frage:

›Und du –?! Wohin du –?!‹

In einer Stimmung, die seltsam weich und versöhnlich war, betrat er das Elternhaus. Aber als er ins Zimmer trat, saßen die Eltern da wie zu Gericht.

Käte hatte es nun doch nicht verheimlichen können, es hätte ihr das Herz abgepreßt, sie hatte jemandem erzählen müssen, was sie beobachtet hatte. Und Schlieben hatte sich mehr darüber aufgeregt, als seine Frau erwartet hatte: also in solche Gesellschaft war der Junge geraten?!

»Wo treibst du dich herum?« fuhr er den Sohn an.

Der Eintretende stutzte: was war das für ein Ton, es war doch heute nicht so spät?! Im Gefühl des Unrechts, das ihm geschah, hob er den Kopf.

»Sieh mich nicht so unverschämt an!« Den Vater verließ [S. 292] die Beherrschung. »Wer ist das Frauenzimmer, mit dem du dich herumtreibst?«

Herumtreibst – Frauenzimmer?! Dem jungen Menschen schoß das Blut heiß zu Kopf. Frida Lämke ein Frauenzimmer – das war toll! »Sie ist kein Frauenzimmer!« brauste er auf. Und dann: »Ich habe mich nicht herumgetrieben!«

»Nun, nun, ich habe –« Schlieben verbesserte sich rasch, er konnte doch nicht sagen: › ich habe dich gesehen‹ – so sagte er: »Wir haben dich gesehen!«

Wolfgang wurde sehr rot. Aha – sie hatten ihn belauert – heute wohl – waren ihm nachgeschlichen?! Nicht einmal weit draußen war man sicher vor ihren Späherblicken! Er war empört. »Wie kannst du sagen ›Frauenzimmer‹! Sie ist kein Frauenzimmer!«

»So – was ist sie denn, wenn ich fragen darf?«

»Meine Freundin!«

»Deine Freundin?!« Der Vater lachte ein kurzes zorniges Lachen. »Freundin – nun ja, aber für dich ist das denn doch noch ein wenig früh! Ich verbiete dir solche Freundinnen zweifelhaften, mehr als zweifelhaften Genres!«

»Sie ist nicht zweifelhaft!« Wolfgangs Augen funkelten. Wie recht hatte Frau Lämke, die neulich, als er sie wiederum besuchte, gesagt hatte: »So sehr ick mir ooch freue, kommen Se doch nich zu oft, Wolfjang. Frida is man ’n armes Mädchen, un bei so einer wird gleich was gered’t!«

Nein, hier gab’s nichts anzuzweifeln! Bleich vor Wut starrte der Sohn dem Vater in die Augen. »Sie ist ein so anständiges Mädchen, wie es nur eines gibt! Wie darfst du so von ihr sprechen?! Wie darfst du dich unter –« Er stockte, er war zu wütend, die Stimme versagte ihm. [S. 293]

»›Unterstehen‹ – sag’s nur heraus, ›unterstehen‹!« Schlieben beherrschte sich jetzt mehr, er war etwas ruhiger geworden, denn was er auf seines Jungen Gesicht sah, dünkte ihn ehrliche Entrüstung. Nein, ganz verdorben war der doch noch nicht, der war wohl nur verführt, solche Frauenzimmer hängen sich ja mit Vorliebe an noch sehr junge Leute! Und er sagte mit einer gutgemeinten Überredung: »Mache dich los von der Geschichte, so bald als möglich. Du ersparst dir viel Unangenehmes. Ich will dir wohl helfen dabei!«

»Danke!« Der junge Mensch steckte die Hände in die Hosentaschen und stellte sich breitbeinig auf.

Die weiche Stimmung war längst verflogen, die hatte Wolfgang sofort verloren beim ersten Schritt ins Zimmer; nun war er recht in der Laune, sich nichts, aber auch gar nichts gefallen zu lassen. Sie hatten Frida beschimpft!

»Wo wohnt sie?« fragte der Vater.

»Ja, das möchtest du wohl wissen!« Der Sohn lachte höhnisch auf; er empfand eine gewisse Genugtuung, ihrer Neugier das vorzuenthalten. Das würden sie nie erfahren! Das hatte er ja gar nicht nötig, sie wissen zu lassen! Protzig warf er den Kopf in den Nacken und antwortete nicht.

O Gott, was war aus dem Jungen geworden! Ganz entsetzt starrte Käte drein: er hatte sich ja völlig gewandelt, war ein ganz, ganz andrer geworden! Aber dann kam die Erinnerung – sie hatte ihn doch einmal so sehr geliebt – und der Schmerz, ihn gänzlich und auf immer verloren zu haben. »Wolfgang, sei doch nicht so, ich bitte dich! Wolfgang, wir meinen es doch so gut mit dir!«

Er maß sie mit einem unerklärlichen Blick. Und dann sah er an ihr vorbei ins Leere hinaus.

»Es wäre besser, ich wäre gar nicht da!« stieß er plötzlich hervor, ganz unvermittelt. Es wollte trotzig klingen, aber [S. 294] der Trotz erstickte im jähen Ausbruch einer schmerzlichen Erkenntnis.



4

Sie waren übereingekommen, daß Wolfgang nun nicht mehr draußen bei ihnen in der Villa wohnen sollte. Er war zwar noch sehr jung, aber die Zeit zur Selbständigkeit war da, das sahen die Eltern ein. Zwei hübsch möblierte Zimmer wurden gemietet in der Nähe des Geschäfts – Wolfgang sollte jetzt entschieden fleißiger heran – sonst mochte er unbehelligt sein. Dies späte Nachhausekommen, diese verantwortliche Kontrolle – nein, es ging nicht an, daß Käte sich völlig aufrieb! In tiefer Resignation hatte Schlieben diesen Schritt getan.

Und es schien, als sollten wirklich jetzt ruhigere, friedlichere Tage über die Villa Schlieben kommen. Der Winter war da, und der Schnee war eine so weiche, deckende Hülle für manche begrabene Hoffnung.

Wolfgang kam zu Besuch heraus; nicht zu oft, den Vater sah er ja ohnehin täglich im Kontor. Daß es die Mutter doch verlangte, ihn öfter zu sehen, schien er nicht zu ahnen. Sie ließ es ihn auch nicht merken. Sollte sie etwa betteln: ›Komm öfter?!‹ Nein, sie hatte schon allzuviel gebettelt – Jahre, fast achtzehn Jahre lang –, und mit Bitterkeit sagte sie sich: ›Verlorene Müh!‹

Wenn er herauskam, waren sie freundlich miteinander; die Mutter sorgte nach wie vor für tadellose Anzüge, für die bestgeplätteten Oberhemden, für die feinen Batistnachthemden und die hohen Kragen. Daß er oft nicht so aussah, wie er [S. 295] hätte aussehen müssen, war nicht ihre Schuld. Es lag auch vielleicht nicht an seiner Kleidung, es lag vielmehr an seiner abgespannten Miene, seinen müden Augen, an seiner ganzen nachlässigen Haltung; er ließ sich hängen, verbummelt sah er aus.

Die Eheleute sprachen aber nicht miteinander darüber. ›Wenn er nur erst zum Militär käme,‹ dachte Schlieben. Von dem Muß, von der strengen Regelung im Dienst erhoffte er eine Regelung des ganzen Lebens; was sie, die Eltern, mit aller Sorgfalt nicht zuwege gebracht hatten, würde der Drill schon fertig bringen! Zum April sollte sich Wolfgang stellen. Jetzt, zur Winterszeit, hielt er zwar regelmäßiger und gewissenhafter die Kontorstunden ein, aber, aber wie sah er oft morgens aus! Entsetzlich blaß, förmlich fahl. ›Verkatert!‹ Mit einem Kopfschütteln stellte das der Vater fest, aber er sagte nichts zum Sohn darüber; wozu auch, es würde nur eine unangenehme Szene geben, die nichts mehr nutzte, die höchstens nur noch mehr verdarb. Sie standen eben nicht mehr auf gemeinsamem Boden.

Und so ging es weiter, ohne sonderliche Erregung, aber sie litten doch alle drei; auch der Sohn.

Frida glaubte Wolfgang oft eine Verstimmung anzumerken. Zuweilen ging er mit ihr ins Theater, ›was zu lachen‹ mochte sie so gern; aber er lachte nicht mit, lachte selbst dann nicht, wenn ihr die Lachtränen über die Wangen liefen. Sie konnte sich ordentlich darüber ärgern, daß er so wenig Sinn für was Lustiges hatte.

»Amüsierst du dich denn nich?«

»Na, mäßig!«

»Bist du denn krank?« fragte sie ganz erschrocken.

»Nein!«

»Na, was haste denn?« [S. 296]

Dann zuckte er die Achseln, war so abweisend, daß sie ihn nicht weiter ausforschte, ihm nur die Hand drückte und ihm versicherte, sie amüsiere sich köstlich.

Nach und nach versiegten diese Theatereinladungen, die meist so hübsch mit einem Plauderstündchen in irgend einem Bier- oder Weinlokal geendet hatten. Frida sah den Freund überhaupt jetzt selten, nie mehr holte er sie an ihrem Geschäft ab, und in der Wohnung der Mutter ließ er sich auch nicht mehr sehen.

»Wer weeß ooch,« sagte Mutter Lämke, »ob er sich nich bald verloben tut. Er hat gewiß eene uf ’n Kieker!«

Frida warf die Lippen auf, sie schmollte, daß Wolfgang sich gar nicht sehen ließ. Was hatte er bloß?! Sie fing an, ihm nachzuspionieren; aber nicht nur aus Neugier.

Und noch eine andre forschte seinen Wegen nach – das war die Mutter. Wenigstens versuchte sie, ihm nachzuforschen. Aber nur das brachte sie in Erfahrung, daß man ihn einmal in einem der kleinen Theater mit einer hübschen Person gesehen hatte, einer Blondine, die recht auffallend frisiert gewesen war. Ah, das war dieselbe von Schildhorn! Noch immer sah sie das blonde Haar im scheidenden Abendlicht glänzen – die war sein Unheil!

Mit einem Spürsinn, der einem Polizisten Ehre gemacht hätte, forschte die Mutter dem Sohne nach. Hätte Schlieben eine Ahnung davon gehabt, wie oft, zu allen Tages- und Abendzeiten, seine Frau um Wolfgangs Wohnung strich, er wäre dem auf das entschiedenste entgegengetreten. Der brennende Drang, von Wolfgang zu hören, von ihm zu wissen, ließ Käte die eigene Würde vergessen; mehr als einmal ging sie, während sie ihn abwesend wußte, hinauf in seine Wohnung, angeblich, um ihm dieses oder jenes zu bringen. Aber war sie dann allein – die schwatzhafte Wirtin wußte sie sich vom Halse [S. 297] zu halten –, so fuhr sie mit forschenden Augen in beiden Zimmern umher, spähte auf seinen Schreibtisch, wendete sogar jedes Blättchen Papier. Sie kam hier oben gar nicht zur Besinnung ihres Tuns, ging sie aber wieder die Treppe hinab, dann kam ihr das Gefühl eigner Erniedrigung; sie wurde rot und schämte sich vor sich selber und schwor sich’s zu mit hundert Eiden, dies nie, nie wieder zu tun. Und tat es doch wieder. Es war ihr eine Qual, und sie konnte es doch nicht lassen.

An einem kalten Wintertag war es – schon Abend, nicht spät für Berliner Begriffe, aber doch immerhin schon Ladenschluß, und Theater und Konzerte hatten längst begonnen – als Frau Schlieben noch in der Wohnung ihres Sohnes saß. Acht Tage war er nicht draußen bei ihr gewesen – warum nicht?! Eine große Unruhe hatte sie heute plötzlich gepackt, sie hatte hin zu ihm müssen. Ihr Mann wähnte sie in der Hauptmann-Premiere – dahin konnte sie ja auch noch später gehen – Wolfgang mußte jetzt doch gleich nach Hause kommen! Auf ihr fragendes Briefchen hatte er geantwortet: er sei erkältet und halte sich abends zu Hause. Nun, sie wollte es ja auch gar nicht, daß er zu ihr hinauskam und sich noch erkältete, aber es war wohl natürlich, daß sie nun einmal nach ihm sah! Sie machte sich selber etwas vor.

Und so wartete sie und wartete. Die Zeit verstrich sehr langsam. Gegen sieben Uhr war sie gekommen, jetzt war es bereits neun. Zum so und sovielten Male hatte sie die beiden Zimmer durchmustert, am Fenster gestanden, zerstreut auf das Straßengewühl hinabgeblickt, sich hingesetzt, sich wieder erhoben und wieder hingesetzt. Jetzt ging sie in rastloser Unruhe auf und nieder. Die Wirtin war schon ein paar Mal hereingekommen und hatte sich drinnen zu schaffen gemacht; die neugierig-forschenden Blicke wären Käte sonst lästig gewesen, [S. 298] jetzt achtete sie gar nicht auf diese. Noch konnte sie sich nicht entschließen, fortzugehen – wenn er krank war, warum kam er dann nicht nach Hause?! Ihre Unruhe wuchs. Es lastete auf ihr wie die Vorahnung eines nahenden Unheils. Nun mußte sie aber wirklich die Wirtin fragen – schon zehn Uhr –, kam er denn immer so spät, trotz seiner Erkältung?! Sie klingelte nach der Frau.

Diese kam, innerlich sehr gereizt: warum hatte Frau Schlieben sie denn nicht längst ins Vertrauen gezogen?! Ei, nun konnte die lange warten, die hochmütige Liese!

»Mein Sohn kommt wohl immer spät?« fragte Käte. Ihre Stimme klang gemacht ruhig: sie durfte doch solch eine Frau nicht merken lassen, wie unruhig sie eigentlich war.

»Na,« sagte die Wirtin, »mal so, mal so!«

»Ich wundere mich nur, daß er heute so spät kommt bei seiner Erkältung!«

»So – ist der junge Herr erkältet?«

Wie, die Frau, bei der Wolfgang nun schon fast ein Vierteljahr wohnte, wußte so wenig von ihm?! Und sie hatte doch versprochen, besonders gut für ihn zu sorgen! »Sie müssen ihm abends eine Wärmflasche machen. Es ist kalt hier im Zimmer.« Fröstelnd rieb sich Käte die Hände. »Und bringen Sie ihm morgens vor dem Aufstehen ein Glas Emser mit heißer Milch!«

Die Wirtin hörte sofort den gar nicht ausgesprochenen Vorwurf heraus und wurde noch gereizter. »Na, wenn er überhaupt nich nach Hause kommt, kann ich ihm doch abends keine Wärmkruke machen und morgens keine heiße Milch!«

Wie – gar nicht nach Hause kommt?! Käte glaubte nicht recht verstanden zu haben. Sie sah die Frau mit großen Augen an. »Überhaupt nicht nach Hause kommt!«

Die Frau nickte: »Ich sage Ihnen, werte Dame, möbliert [S. 299] vermieten ist kein Spaß, da muß man vieles mit in Kauf nehmen. So ’ne junge Herren – na, ich sage schon!« Sie lachte, halb ärgerlich, halb belustigt auf. »Da hatte ich mal einen, der blieb gleich ganze acht Tage weg – der erste war vor der Tür, ich hatte Angst um meine Miete – ich mußte nach der Polizei gehen!«

»Wo war er denn – wo war er denn?!« Kätes Stimme schwankte.

Die Frau lachte: »Na, da fand er sich denn wieder an!« Sie sah die Angst der Mutter, und ihre Gutmütigkeit siegte über ihre Schadenfreude. »Der kommt schon wieder, gnä’ Frau,« sagte sie beruhigend. »Sie kommen alle wieder. Haben Sie man keine Angst. Und Herr Schlieben ist ja auch erst zwei Tage weg!«

Zwei Tage weg – zwei Tage?! Zwei Tage war’s her, daß er auf ihr Briefchen geantwortet hatte: er sei erkältet und müsse sich zu Hause halten! Wie eine Irre sah Käte um sich, ganz verstörten Blickes. Wo war er denn gewesen, diese ganzen zwei Tage? Nicht hier und nicht bei ihr – o, bei ihr schon seit acht Tagen nicht! Im Geschäft mußte er aber noch gewesen sein, sonst hätte Paul doch darüber gesprochen. Aber wo war er die ganze übrige Zeit? Das waren doch immer nur ein paar Stunden. Und ein Tag ist lang. Und die Nächte, die Nächte! Herrgott, die Nächte, wo war er die Nächte?!

Käte hätte laut herausschreien mögen, aber die Wirtin sah sie an mit so neugierigen, harten Augen, daß sie, die Nägel der einen Hand in die Innenfläche der andern grabend, sich bezwang. Aber ihr Sprechen war nur ein Flüstern mehr: »Ist er denn seit zwei Tagen gar nicht zu Hause gewesen?«

»Nee, gar nich! Aber warten Sie mal!« Die Lust am Schwatzen machte alle vorgenommene Zurückhaltung der [S. 300] Wirtin zuschanden. Der auf einen Stuhl Hingesunkenen nähertretend und sich einen Stuhl heranziehend, schwatzte sie umständlich: »Sonntag war’s – nee, Sonnabend merkt ich schon: der hat was. Ja, das ist einer, ein ganz forscher! Rein verrückt war er!«

»Wieso denn?! ›Verrückt‹, sagen Sie?!«

Die Vermieterin lachte. »Ach, so mein ich ja gar nich, das müssen Sie nich gleich so wörtlich nehmen, gnä’ Frau! Na, ebent so – na, wie soll ich denn schon sagen? – na, so wie sie dann alle sind! Na, und abends ging er dann wie gewöhnlich weg – na, und dann kam er ebent nich mehr zu Hause!«

»Und wie – wie war er –?!« Ruckweise nur stieß die Mutter die Worte hervor, sie konnte gar nicht zusammenhängend mehr sprechen, ein sie plötzlich überfallender Schreck lahmte fast ihre Zunge. »War er – etwa verstört?!« Wie eine Vision tauchte sein fahles Gesicht vor ihr auf, und da bei Schildhorn der verwehte Platz im Sand – mancher Mutter Sohn, mancher Mutter Sohn – Gott, Gott, wenn er sich ein Leides getan hätte! Sie zitterte wie Laub im Sturm und sank ganz in sich zusammen.

Die Wirtin erriet instinktiv der Mutter Gedanken; gutmütig-beruhigend versicherte sie: »Nee, gar nich an zu denken! Der war nich traurig – auch nich grade vergnügt – na, so – so – na, grade so in der richtigen Stimmung!«

»Und Sie – ach, können Sie mir nicht einen – einen Wink geben – wo – wo er hin – sein könnte?«

Die Frau wiegte zweifelnd den Kopf: »Wer kann das wissen! Sehen Sie, gnä’ Frau, der Versuchungen gibt’s gar viele. Aber, warten Sie mal!« Sie kniff die Augen zu und dachte nach. »Da kam mal vor einiger Zeit immer so’n hübsches Mädchen her, sie holte ihn immer ab, sie sagte [S. 301] ›zum Theater‹ – na, es kann ja auch wahr gewesen sein! Oft kam sie, sehr oft – mindestens einmal die Woche! Blond war sie, wirklich ’n hübsches Mädchen!«

»Blond – ganz hellblond – viel Haar, wellig über den Ohren?!«

»Ja ja, so war sie frisiert, über die Ohren gekämmt, hinten ’nen mächtigen Knoten – so recht auffallend hellblond! Und sie duzten sich!«

Blondes Haar – auffallend blond! Ah, das hatte sie damals gleich gewußt, als sie ihn in Schildhorn sah mit der Blonden! Wie eine Erleuchtung kam es über Käte. »Sie – wissen wohl nicht – ach, wissen Sie vielleicht, wie sie heißt?«

»Er sagte ›Frida‹ zu ihr!«

»Frida?!«

»Ja, Frida! Das weiß ich bestimmt. Nu kommt sie aber nich mehr. Vielleicht aber, daß er ’nen Brief von ihr gekriegt hat. Ich will mal nachsehen, warten Sie mal!« Und die Frau bückte sich, zog unterm Schreibtisch den Papierkorb vor und fing an darin zu wühlen.

»Er schmeißt nämlich allens in den Papierkorb,« sagte sie erklärend.

Freilich, da hatte sie noch nicht gesucht! Mit starren Augen sah Käte zu, wie die Frau mit geübten Fingern alle Papierblätter wendete. Plötzlich schrie die auf: »Na, sehen Sie, da haben wir’s!« Und vor die Mutter legte sie triumphierend ein paar Papierfetzen auf den Tisch: »Da is ’n Brief von ihr. Sehen Sie! Ich kenne die Schrift. Woll’n mal sehen!«

Beide Frauen, die Köpfe zusammensteckend, versuchten, die einzelnen Stücke des zerrissenen Briefes zusammenzufügen; es gelang aber nicht, es fehlte zu viel, nur ein paar Sätze waren halb zusammen zu bringen. [S. 302]

›nicht mehr kommst –
böse mit dir –
nächstens zu dir abends ’rauf –
immer deine‹

Doch da, halt, da war die Unterschrift! Die war nicht durchrissen, groß und zusammenhängend stand sie unten auf dem Briefbogen:

immer

Deine Frida Lämke!

»Frida Lämke –?!« Käte schrie laut auf vor Überraschung. Frida Lämke – nein, das hätte sie nie gedacht – oder gab es vielleicht zwei gleichen Namens? Dieses blonde Kind, das einst bei ihr im Garten gespielt hatte?! Aber ja, ja, dreiste Augen hatte die immer gehabt!

»Sie kennen die wohl?« fragte die Wirtin, und die Augen funkelten ihr vor Neugier.

Käte gab keine Antwort. Vor sich hinbrütend stierte sie auf den Teppich: war das nun schlimmer – oder war das weniger schlimm? Konnte es nun nicht noch verhindert werden, nun, da sie die Fährte hatte, oder war alles verloren?! Sie wußte es nicht; verständig überlegen konnte sie überhaupt nicht mehr, nicht einmal mehr denken. Sie hatte nur den Trieb: hin, hin zu den Lämkes! Nur hin, so rasch wie möglich hin! Aufspringend sagte sie hastig: »Schon gut, schon gut – danke! Ah, es ist alles in Ordnung!« Und an der verdutzten Frau vorübereilend, hastete sie zur Tür und die Treppe hinunter. Gerade öffnete unten jemand von außen die verschlossene Haustür; so kam sie hinaus.

Nun war sie auf der Straße. So ganz allein hatte sie um diese Zeit noch nie auf der Friedrichstraße gestanden; ihr Mann hatte sie immer begleitet, und war sie einmal allein ins Theater oder Konzert gegangen, hatte er sie immer [S. 303] selber abgeholt oder mindestens von Friedrich abholen lassen. Nun kam sie’s plötzlich wie eine Furcht an, trotzdem die schöne Straße taghell erleuchtet war.

So viele Männer, so viele Frauen! Wie ein Strom flutete es an Käte vorüber, sie wurde mitgerissen. Gleich Wellen umwogten sie Gestalten – raschelnde Frauenröcke, die stark nach Parfüm dufteten, und Herren, Männer, junge und alte, Greise und Jünglinge und kaum dem Knabenalter Entwachsene. Das war ja hier wie ein Korso – was suchten die hier alle?! Das war also das vielgerühmte und amüsante Nachtleben Berlins? Schrecklich war es, o, über alle Maßen abscheulich!

Alles sah Käte auf einmal nur aus dem einen Gesichtspunkt. Bisher war sie ja blind gewesen, ahnungslos wie ein Kind. Der Helm eines Schutzmanns tauchte auf. Sie floh dahin wie eine Gejagte: der konnte ja nicht sehen, daß sie graue Haare hatte, und daß sie eine Dame war! Der hielt sie vielleicht auch für eine solche, für eine von denen hier! Nur fort, fort!

Sie stürzte sich in eine Droschke, sie fiel mehr in den aufgerissenen Schlag, als daß sie hineinstieg. Mit zitternder Stimme nannte sie dem Kutscher ihre Adresse. Eine glühende Sehnsucht überkam sie plötzlich: nach Haus, nur nach Haus! Heim in ihr reinliches, geordnetes Haus, in die Mauern, die wie ein Schutz sie umgaben! Nein, er durfte nicht mehr hinein in ihr reines Haus, seinen Schmutz nicht mit in dessen Räume tragen!

Ganz in eine Ecke geschmiegt, die zuckenden Lider krampfhaft zugepreßt, machte sie die weite Fahrt; heute kam ihr die schier endlos vor. Wie langsam fuhr die Droschke! Ach, was würde Paul sagen, er würde sich ängstigen, daß sie so spät kam! [S. 304]

Und Käte wünschte plötzlich, sich in die Arme ihres Mannes zu flüchten, Schutz zu suchen an seiner Brust. Daß sie gleich hatte zu Lämkes hingehen wollen, hatte sie ganz vergessen. Wie konnte sie auch, es war ja bald Mitternacht, und wer weiß, vielleicht traf sie da auch nur eine Mutter, ebenso unglücklich wie sie selber es war?! Verlorene Kinder – ach, man weiß nicht, was schrecklicher ist: verlorener Sohn – verlorene Tochter?!

Käte weinte bitterlich. Aber als die Tränen unter ihren geschlossenen Lidern sich vorstahlen und über ihre Wangen rannen, wurde sie ruhiger. Nun, da sie den großen Zug der Straße nicht mehr sah, ihr nächtliches Wehen nicht mehr spürte, schwand ihre Furcht. Der Mut wuchs ihr wieder; und mit dem gestärkten Mut wuchs ihr eine Erkenntnis: sie war eben nur eine schwache und ängstliche Frau, er aber war doch ein rüstiger Junge, der ein Mann werden sollte, ein starker Schwimmer. Noch brauchte man nicht ganz zu verzweifeln!

Als die ersten Kiefern der stillen Kolonie rechts und links an ihr vorbeiglitten und der Mondschein ihr auf den Ästen ein reines Weiß zeigte, hatte Käte ihren Entschluß gefaßt: morgen würde sie zu Lämkes gehen und würde mit der Mutter sprechen, und ihrem Manne würde sie vorderhand noch nichts sagen. Dieselbe Scheu, die sie jetzt so oft verstummen ließ vor ihm, kam sie wieder an: er würde ja doch nicht so empfinden, wie sie empfand. Mit rauher Hand vielleicht würde er den Sohn anfassen, und das durfte nicht sein; noch war sie da und berufen, mit linder Hand dem Strauchelnden zu helfen!

Ganz ruhig schritt Käte ihrem Manne entgegen, so gelassen, daß er ihr nichts anmerkte. Aber als sie am nächsten Tag den Weg zu Lämkes antrat, klopfte ihr das Herz doch [S. 305] wieder so zitternd-unruhig wie vordem. Den ganzen Morgen hatte sie gegen Scheu und Kleinmut gerungen; nun war es darüber fast Mittag geworden. Paul hatte ihr beim Frühstück erzählt, daß Wolfgang gestern gar nicht ins Geschäft gekommen, nachdem er den Tag vorher auch nur ganz kurz dagewesen sei. »Ich weiß nicht, was mit dem Jungen los ist,« hatte er gesagt. »Ich bin zu ärgerlich auf ihn. Aber man müßte sich doch wohl mal um ihn kümmern!«

»Das werde ich auch,« hatte sie darauf geantwortet.

Die Füße trugen sie kaum, als sie langsam ihren Weg schlich, zuletzt aber lief sie fast: er war doch ihr Kind lange, lange Jahre gewesen, und sie hatte einen Teil der Verantwortung! Sie fragte sich jetzt nicht mehr, wie sie eigentlich bei Frau Lämke die Unterredung beginnen sollte, sie hoffte, daß der Augenblick ihr das rechte Wort geben werde.

So tappte sie die dunklen Stufen zu Lämkes Portierwohnung hinab und klopfte und trat zugleich ein, ohne das Herein abgewartet zu haben.

Frau Lämke wischte gerade den Boden auf, der Schrubber entfiel ihrer Hand, geschwind ließ sie ihr rundum hochgenommenes Kleid herab: die gnädige Frau, die Frau Schlieben?! Was wollte die denn bei ihr?! Das blasse, mager gewordene Gesicht mit den harmlosen Augen blickte die Eintretende völlig verdutzt an.

»Guten Tag, Frau Lämke,« sagte Käte ganz freundlich. »Ist Ihre Tochter Frida zu Haus? Ich muß sie sprechen!«

»Nee, Frida is nich zu Hause!« Die Lämke blickte noch verdutzter: was wollte die gnädige Frau denn von Frida? Um die hatte sie sich noch nie gekümmert! »Frida is ins Jeschäft!«

»So? Wissen Sie das ganz genau?«

Es lag etwas Anzügliches in dieser Art des Fragens, [S. 306] aber Frau Lämke merkte nichts in ihrer Harmlosigkeit. »Frida is immer noch nich aus’s Jeschäft ßurück um die Zeit, aber in ’ne kleine halbe Stunde kann se woll hier sein. Se hat zwei Stunden Mittag; Abend kommt se erst jejen zehne, denn um neune machen se man erst ßu. Aber wenn se nach Tische mal bei die gnädige Frau vorkommen soll,« – Frau Lämke war zu neugierig: was wollte die bloß von Frida? – »recht jerne!«

»Sie kommt in einer halben Stunde, sagen Sie?«

»Jawoll! Es pressiert ihr immer sehr, daß se bei Muttern kommt – un denn der Hunger!«

»Wenn Sie gestatten, werde ich auf sie warten,« sagte Käte.

»Bitte, nehmen Sie jefälligst Platz!« Eilfertig wischte Frau Lämke mit ihrer Schürze über einen Stuhl: das war doch immerhin eine Ehre, daß Wolfgangs Mutter zu Frida hier in den Keller kam! Und mit einer Stimme, der man den herzlichen Anteil anmerkte, fragte sie: »Wie jeht’s denn dem jungen Herrn, wenn ich fragen darf, is er denn recht munter?«

Käte blieb die Antwort schuldig: das war denn doch eine zu große Frechheit, eine ganz unglaubliche Frechheit! Wie konnte die nur so unverfroren fragen?! Aber dann kam ihr auf einmal ein Zweifel: wußte die denn überhaupt etwas? Sie sah in die harmlosen Augen. Diese hier war wohl auch hintergangen, wie sie hintergangen worden war! Sie hatte nicht das Herz, ein aufklärendes Wort zu sprechen – arme Mutter! So nickte sie nur und sagte ausweichend: »Danke!«

Sie schwiegen, beide in einer gewissen Verlegenheit. Frau Lämke schälte Kartoffeln zum Mittag und setzte sie auf und warf ab und zu einen verstohlenen Blick auf die wartende [S. 307] Dame. Käte war blaß und gähnte verstohlen, ihrer Aufregung war eine ungeheure Abspannung gefolgt. Sie wartete ja vergeblich! Und diese Mutter hier würde heute auch vergeblich warten! Das Mädchen, diese heuchlerische Kreatur, kam ja nicht! Wie Wut packte es Käte, wenn sie an des Mädchens blondes Haar dachte. Das hatte ihren Jungen verführt, ihn umstrickt – nun kam er vielleicht nicht mehr los! ›Immer deine – deine Frida Lämke‹ – ein Schmollen war in dem Brief gewesen, wahrscheinlich hat er sich zurückziehen wollen, aber – ›wenn du nicht kommst, komme ich zu dir‹ – o, die würde sich wohl hüten, ihn loszulassen, die hielt fest!

Käte glaubte nicht mehr daran, daß Frida Lämke nach Hause kommen würde. Es ging schon auf zwei Uhr: die Mutter log, die steckte vielleicht doch mit unter der Decke!

Aber jetzt fuhr Käte zusammen, ein Tritt ließ sich auf der Kellertreppe vernehmen, bei dem die Mutter erfreut sagte: »Das ’s Frida!«

Draußen trällerte ein Liedchen – nun ging die Tür auf.

Frida Lämke trug jetzt statt des kleinen Matrosenstrohhutes ein dunkles Pelzbarett auf den blonden Haaren; der Pelz war unecht, aber sie hatte ein paar Taubenflügel an der Seite stecken, und das Mützchen saß ihr schick über dem kecken Gesicht.

In höchster Erregung stand Käte; sie war aufgesprungen und sah das Mädchen an mit brennenden Augen. Da war sie – wahrhaftig – doch gekommen! Die war hier – aber Wolfgang, wo war der?! Sie schrie förmlich das Mädchen an: »Wissen Sie, wo mein Sohn ist – Wolfgang – Wolfgang Schlieben?!«

Der überraschten Frida rosiges Gesicht wurde blaß. Sie wollte etwas sagen, stotterte, stockte, biß sich dann auf die [S. 308] Lippen und wurde dunkelrot. »Woher soll ich das wissen? Ich weiß doch nicht!«

»Sie wissen es wohl! Lügen Sie doch nicht!« Mit Heftigkeit faßte die Frau Frida bei beiden Armen. Ins blonde Haar hätte sie ihr greifen mögen und beim Dranreißen laut schreien: ›Mein Junge! Gib mir meinen Jungen wieder!‹ Aber sie fand nicht die Kraft, diese schlanken Mädchenarme so lange zu schütteln und zu rütteln, bis ein Bekenntnis herausgezwungen war.

Die blauen Augen Fridas hatten sie ganz offen angesehen, vollständig freimütig, wenn auch eine leise Unruhe in dem Blicke lag. »Ich habe ihn lange nicht jesehen, jnädige Frau,« sagte Frida ehrlich. Und dann ward ihr Ton leiser, eine gewisse Besorgnis lag darin: »Sonst kam er wohl, aber jetzt kommt er jar nich mehr – nich wahr, Mutter?!«

Frau Lämke schüttelte den Kopf: »Nee, jar nich mehr!« Ihr war gar nicht recht wohl zumute, das kam ihr alles so seltsam vor: Frau Schlieben hier im Keller, und was wollte die denn von Frida?! Da ging was vor, da war was nicht richtig! Aber was auch immer sein mochte, ihre Frida war unschuldig, das mußte Frau Schlieben wissen! Und so faßte sie sich denn ein Herz: »Wenn Sie etwa jlauben, jnädige Frau, daß da meine Frida mittenmank is, da irren Se sich aber! Meine Frida jeht schonst lange mit dem Flebbe – Hans Flebbe, dem Sohn vom Kutscher, er is nu Matrialist – un überhaupt, Frida is ’n anständijet Mächen – was denken Sie wohl von meiner Tochter? Herrje, det ’s aber immer so, ’n Mächen aus unserm Stande, die kann ja nich anständig sein, nee!« Die gekränkte Mutter wurde jetzt geradezu ausfallend. »Meine Frida war ’ne sehr jute Freundin von Ihren Wolfjang, un ich bin ihn ja ooch janz jut – als ich in ’n Sommer so elend war, hat er mir doch fufzig Mark [S. 309] geschickt, daß ich konnte nach Fangschleuse ßiehn, drei Wochen, un mir erholen – aber nu soll er mir mal wieder kommen, ’raus schmeiß ich ihn, den Bengel!« In ihrer unbestimmten Angst, daß man ihrer Frida etwas nachsagen könnte, wurde ihr blasses Gesicht heiß und rot.

Frida flog auf sie zu und faßte sie mit einem Arm um die Schultern: »Ärjere dich doch nich, Mutter! Du sollst dich doch nich aufregen, sonst schlägt’s dir wieder auf ’n Magen!«

Frida wurde jetzt ganz energisch; ihre Mutter noch immer um die Schultern gefaßt haltend, drehte sie den blonden Kopf nach Frau Schlieben: »Jnädige Frau, da müssen Sie sich schon an ’ne andre Adresse wenden. Ich kann Ihnen nichts über Ihren Herrn Sohn sagen. Mutter un ich haben noch neulich drüber jesprochen, daß er nu jar nich mehr kommt. Un ich habe ihm noch jerade ’n Briefchen jeschrieben, er soll uns doch mal besuchen – weil ich ihn doch ewig nich jesehen hatte und – und – na, weil er doch sonst jerne mit mir zusammen war! Aber er hat mir jar nich drauf jeantwortet. Ich habe ihm doch nischt jetan! Er hat sich aber ebent sehr verändert!« Sie setzte eine altkluge Miene auf: »Jnädige Frau, ich jlaube, es wäre doch besser, wenn er noch bei Ihnen wohnte!«

Käte sah sie starr an: was ahnte die – was wußte die – wußte die überhaupt etwas?! Zweifel stiegen in ihr auf, und dann kam ihr die Gewißheit: dieses Mädchen hier war harmlos, sonst hätte es so nicht sprechen können! Die Abgefeimteste konnte so treuherzig nicht dreinblicken! Und sie gestand es ja auch ganz von selber offen ein, daß sie neulich an Wolfgang geschrieben hatte – nein, so schlecht war die hier nicht, eine andere mit blondem Haar mußte es sein! Aber wo war die zu suchen – wo, wo Wolfgang zu finden?! [S. 310]

Und die Hände wie abbittend gegen das Mädchen hebend, sagte sie in einem jammervollen Ton: »Aber wissen Sie denn gar nicht, haben Sie denn gar keine Ahnung, wo er hin sein könnte? Gestern waren es zwei Tage, daß er fort ist – verschwunden – ganz verschwunden, seine Wirtin weiß nicht, wohin!«

»Ganz fort – seit zwei Tagen schon?!« Frida riß die Augen weit auf.

»Ich sagte es Ihnen ja schon – darum frage ich Sie ja – er ist fort, ganz fort!«

Eine wilde Ungeduld kam über die Mutter, und zugleich die ganze Erkenntnis ihrer peinvollen Lage, sie schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte laut auf.

Mutter und Tochter Lämke wechselten mitleidsvolle Blicke. Frida wurde blaß und rot, es war, als ob sich ihr etwas auf die Lippen drängen wollte, aber sie schwieg doch.

»Schlecht is er aber doch nich, nee, schlecht is er nich,« flüsterte Frau Lämke.

»Wer sagt, daß er schlecht ist?!« Käte fuhr auf, ließ die Hände vom Gesicht sinken; der ganze Gram langer Jahre und die ganze Hoffnungslosigkeit lag in ihrem Ton: »Verführt ist er, verirrt, – verloren, verloren!«

Frida weinte laut heraus: »Ach, sagen Sie das nich! Er findet sich schon wieder an, findet sich jewiß wieder an! Wenn ich nur –« sie stockte und zog die Stirn zusammen im Nachdenken – »sicher wüßte!«

»Helfen Sie mir! Ach, können Sie mir nicht helfen?!«

Frau Lämke schlug bei diesem ›Helfen Sie mir‹ der armen Frau die Hände zusammen und zitterte vor Erregtheit: wenn eine das an ihrem Kind erleben muß, an einem Kinde, das sie mit Schmerzen geboren hat! Allen Respekt außer acht lassend, wankte sie auf Käte zu und faßte deren kalte, [S. 311] schlaff herunterhängende Hand: »Jotte doch, es tut mir so leid, so schrecklich leid! Aber trösten Se sich man! Wissen Se, ’ne Mutter hat doch so ’ne Kraft, so was ganz Besonderes, ’n Kind verjißt ihr doch nie janz!« Und sie lächelte in einer gewissen Sicherheit.

»Er ist ja nicht mein Sohn – mein eigner Sohn nicht – ich bin ja gar nicht seine wirkliche Mutter!« Was Käte noch nie eingestanden hatte, jetzt gestand sie es ein. Die Angst preßte ihr’s heraus und die Hoffnung, daß diese Frau hier sagen würde: ›Auch solch eine Mutter wird nicht vergessen, sicher nicht!‹

Aber Frau Lämke sagte das nicht. Zweifelnd sah sie drein und schüttelte den Kopf: daran hatte sie eben für einen Augenblick gar nicht gedacht, daß die ja Wolfgangs richtige Mutter gar nicht war!

Trübes Schweigen war im Raum. Nur ein zitterndes Atmen war vernehmbar, bis endlich Frida, mit ihrer hellen Stimme die lähmende Stille durchbrechend, fragte: »Sind Sie denn heute auch schon bei der Wirtin jewesen?! Nee?!« Käte hatte stumm verneint. »Na, denn, jnädige Frau – gestern waren’s zwei Tage, sagen Sie? – denn kann er aber doch heute wieder jekommen sein! Man muß doch mal wieder nachfragen! Soll ich mal rasch hinjehn?!«

Und schon war sie an der Türe, hörte gar nicht, daß die Mutter ihr nachrief: »Frida, Frida, doch man erst ’n Happen essen, du hast ja noch jar nich Mittag jejessen!« sondern lief die Kellerstufen hinan in gutmütiger Hast und mitleidsvoller Teilnahme.

Käte lief hinter ihr drein. –

Aber sie erhielten in der Friedrichstraße keine andre Auskunft. Die Zimmer waren zwar geheizt, Staub gewischt, sogar der Frühstückstisch gedeckt, als sollte der junge Herr [S. 312] jeden Augenblick eintreten – die Wirtin erhoffte ein besonderes Lob ihrer Fürsorge –, aber der junge Herr war wieder nicht erschienen.

*     *

*

Käte Schlieben war krank. Der Sanitätsrat zuckte die Achseln: da war nicht viel zu machen, es war eine vollständige Apathie. Wenn nur etwas käme und sie aufrüttelte, etwas, für das es ihr verlohnen würde, sich aufzuraffen, dann würde es schon wieder werden! Vorderhand verordnete er Kräftigungsmittel – der Puls war ja so schlecht – alle Stunden einen Teelöffel Puro, Fleischgelee, Eier, Milch, Austern und dergleichen.

Am Bett seiner Frau saß Schlieben, er war eben aus der Stadt nach Hause gekommen. Nun saß er da, den Kopf gesenkt, die Stirn in Falten gezogen.

»Noch immer nichts von ihm – was sagte die Frau – gar nichts von ihm?« hatte Käte eben mit verlöschender Stimme geflüstert.

Er sagte nur: »Wir werden uns nun doch an die Polizei wenden müssen!«

»Nein, nein, nicht an die Polizei! Ihn suchen lassen, wie einen Verbrecher?! Du bist schrecklich, Paul! Schweig doch, Paul!« Ihre anfänglich so schwache Stimme war fast schreiend geworden.

Er zuckte die Achseln: »Es wird uns nichts übrig bleiben,« und blickte bekümmert sie an und dann stumm vor sich nieder.

Ihm war, als könne er sein Unglück nicht übersehen, als sei das ganz unüberblickbar. Acht Tage waren es nun her, daß Wolfgang fort war – schrecklich, schrecklich, was dieser Mensch ihnen für Sorgen machte! Aber größere Sorgen machte ihm seine Frau. Wie sollte das enden?! Diese [S. 313] gesteigerte Nervosität war gefährlich; und dabei auch dieser Kräfteverfall! Käte war nie eine Riesin gewesen, aber nun wurde sie so dünn, so mager; in den acht Tagen war ihre Hand, die da so matt auf der Decke lag, geradezu durchsichtig geworden. Ach, und ihr Haar so grau!

Mit traurigen Blicken suchte der Ehemann im Gesicht seiner Frau die einstige Schönheit: zu viel Falten, zu viel eingegrabene Linien, Furchen, die der Pflug des Grams gezogen hatte! Er mußte weinen; das kam ihm doch zu hart an, sie so zu sehen. Den Kopf von ihr abwendend, beschattete er die Augen mit der Hand.

So saß er stumm und rührte sich nicht, und sie rührte sich auch nicht, lag, als ob sie schliefe.

Da klopfte es. Erschrocken sah Schlieben nach der Kranken hin: war sie nun gestört worden? Aber sie hob die Lider nicht.

Auf den Zehen ging er zur Tür und öffnete. Friedrich brachte die Post, allerhand Briefe und Zeitungen. Nur aus Gewohnheit griff Schlieben danach, es interessierte ihn jetzt alles so wenig. Die ersten paar Tage nach Wolfgangs Verschwinden hatte Käte immer gezittert, es möchte etwas von ihm in der Zeitung stehen, die schrecklichsten Befürchtungen hatten sie gequält; jetzt fragte sie nicht mehr. Aber nun zitterte der Mann tief im Innern, obgleich er sich selber hart zu machen strebte: was würde man noch erleben müssen?! Keine Zeitung faßte er an, ohne eine gewisse Scheu.

»Knittere doch nicht so unerträglich,« sagte die schwache Frau gereizt. Da erhob er sich, um aus dem Zimmer zu schleichen – es war besser, er ging, sie mochte seine Nähe nicht! Doch sein Blick fiel auf einen der Briefe. Was war denn das für eine unausgeschriebene, noch schulmäßige Handschrift? Wohl ein Bettelbrief? Er war an seine Frau gerichtet, [S. 314] aber sie machte ja jetzt keine Briefe auf; dazu drängte es ihn förmlich, diesen, gerade diesen Brief zu öffnen. Es war nicht Neugier, ihm war, als müsse er es tun.

Er öffnete den Brief, rascher, als es sonst seine Art war. Das hatte eine Frau geschrieben, ein Mädchen sicherlich – es waren ganz unausgeprägte, finzlige Buchstaben. Und das Bestreben war auffällig, die Handschrift zu verstellen.

›Wenn Sie was über Ihren Sohn erfahren wollen, müssen Sie Puttkammerstraße gehn, 140, und aufpassen, drei Treppen hoch im Hof, Seitenflügel links, wo Knappe an der Klingel steht. Da wohnt sie!‹

Eine Namensunterschrift war nicht vorhanden, nur: ›Eine gute Freundin‹ – stand darunter.

Schlieben hatte das Gefühl, als brenne ihm das Papier die Finger – geringes Papier, aber zartrosa und nach parfümierter, billiger Seife riechend – ein anonymer Brief, pfui! Was sollte ihnen der Wisch?! Schon wollte er ihn zusammenknittern, da rief Kätes Stimme vom Bett her: »Was hast du da, Paul? Einen Brief? Zeig mal her!«

Und als er sich ihr nur langsam, zögernd näherte, richtete sie sich auf und riß ihm den Brief aus der Hand. Sie las und schrie laut auf: »Den hat die Lämke geschrieben! Ich bin sicher, er ist von ihr. Sie wollte ihn ja suchen – und ihr Bruder, ihr Bräutigam – sie werden ihn gefunden haben! Puttkammerstraße – wo ist die? 140, da müssen wir hin! Gleich, sofort! Klingle dem Mädchen! Meine Schuhe, meine Sachen – ach, ich kann ja gar nichts finden! So klingle doch! Sie soll mich frisieren – ach, laß nur, ich kann ja schon alles allein!«

Sie war aus dem Bett gesprungen in zitternder Hast; nun saß sie schon vor dem Toilettentisch und kämmte selber ihr langes Haar. Es war verwirrt vom Bettliegen, aber sie riß den Kamm hindurch mit unbarmherziger Eile. [S. 315]

»Daß wir nicht zu spät kommen! Wir müssen uns eilen. Da ist er sicher, da ist er ganz sicher! Was stehst du noch und siehst mich so an? Mach dich doch fertig! Ich bin gleich fertig, wir können gleich gehen. Paul, lieber Paul, wir werden ihn da gewiß finden – o Gott!« Sie faßte um sich, von einem Schwindel der Schwäche ergriffen, aber ihr Wille überwand die Schwäche. Nun stand sie ganz fest auf den Füßen.

Niemand würde es glauben, daß sie eben noch wie eine ganz Hilflose dagelegen hatte! Schlieben wagte es nicht, ihr zu widerstreben: was sollte auch noch Schlimmeres kommen?! Schlimmer, als es jetzt gewesen war, konnte es nicht mehr werden, und wenigstens konnte sie ihm dann nicht mehr vorwerfen, er hätte den Jungen nicht lieb gehabt!

Als sie nach kaum einer halben Stunde den Wagen bestiegen, den Friedrich herbeitelephoniert hatte, war sie weniger blaß und sah weniger alt aus, als er.


5

Wenn Frida Lämke jetzt Wolfgang Schlieben begegnete, schlug sie die Augen nieder, und er tat, als sähe er sie nicht. Er war böse auf sie: verdammte kleine Krabbe, die ihn verraten hatte! Nur sie, sie allein konnte die Eltern auf seine Spur gehetzt haben! Wie hätten die sonst eine Ahnung gehabt? Er hätte sich prügeln mögen, daß er dieser Schlange einmal Andeutungen über seine Bekanntschaft in der Puttkammerstraße gemacht hatte. Die Frida mit ihrer Freundschaft, die sollte ihm noch mal von Freundschaft reden! Pah, Weiber überhaupt, die waren alle nichts wert!

Eine grimmige Weiberverachtung hatte den jungen [S. 316] Menschen gepackt. Er hätte ihnen allen am liebsten ins Gesicht gespieen – alles feile Kreaturen –, er kannte sie jetzt zur Genüge, ja bis zum Ekel!

Der noch nicht Neunzehnjährige fühlte sich müde und alt; seltsam müde. Wenn Wolfgang an die letztvergangene Zeit zurückdachte, kam sie ihm vor wie ein Traum; jetzt, da die Zimmer in der Friedrichstraße aufgegeben waren und er wieder bei den Eltern wohnte, jetzt sogar wie ein böser Traum. Und wenn er dann Frida Lämke begegnete – das ließ sich nicht vermeiden, nun er regelmäßig herein- und herausfuhr zu den Bureaustunden –, gab es ihm jedesmal einen Stich durchs Herz. Er grüßte sie nicht einmal, selbst dazu konnte er sich nicht überwinden.

Wenn er doch nur den Druck abschütteln könnte, den er auf sich fühlte! Sie taten ihm doch nichts – nein, sie waren sogar sehr gut –, aber er hatte doch immer das Gefühl, nur gelitten zu sein. Das reizte ihn und machte ihn zugleich traurig. Vorwürfe hatten sie ihm nicht gemacht, würden sie ihm wohl auch nicht machen, aber der Vater war stets ernst, zurückhaltend, und der Mutter Blick hatte geradezu etwas Quälendes. Ein krankhaftes Mißtrauen erfüllte ihn: warum sagten sie ihm nicht lieber, daß sie ihn verachteten?!

In Nächten, in denen Wolfgang nicht schlafen konnte, plagte ihn etwas, das fast Reue war. Dann klopfte sein Herz heftig, flatterte förmlich, er mußte sich im Bett aufsetzen – das Liegen konnte er nicht ertragen – und nach Atem ringen. Mit ängstlich aufgerissenen Augen stierte er dann ins Dunkel: ach, was war das für ein scheußlicher Zustand! Am Morgen, wenn der Anfall vorüber war – dieser ›moralische Kater‹, wie er ihn spöttisch benannte – ärgerte er sich über seine Sentimentalität. Was hatte er denn Schlimmes getan? Nichts andres, als was hundert andere junge Leute [S. 317] auch tun, nur daß die nicht so dumm waren wie er! Diese Frida, diese verwünschte Klätscherin! Er hätte sie erwürgen können.

Nach den schlechten Nächten war Wolfgang dann noch unliebenswürdiger, noch wortkarger, noch verdrossener, noch in sich verschlossener. Und noch elender sah er aus.

›Er ist reduziert!‹ sagte sich Schlieben. Er sagte es nicht zu seiner Frau – wozu die noch mehr aufregen? – denn daß sie sich beunruhigte, das zeigte ihm die Art, wie sie Wolfgang umsorgte. Nicht mit Worten, nicht mit Liebkosungen, die Zeiten waren vorbei; aber eine besondere Sorgfalt legte sie auf seine Ernährung, er wurde förmlich gepäppelt. Ein Mensch in seinen Jahren müßte doch ganz anders bei Kräften sein! Der Rücken schien nicht mehr so breit, die Brust nicht mehr so gewölbt, die schwarzen Augen lagen dunkel umrandet in ihren Höhlen. Die Haltung war schlecht, die Stimmung noch schlechter. Die Stimmung, ja die Stimmung! Die war die Wurzel alles Übels, aber da konnte keine Pflege helfen und auch kein Medikament. Der junge Mensch war eben unzufrieden mit sich, war’s ein Wunder?! Er schämte sich!

Und vor Schliebens Augen stand die Situation grausam deutlich, in der er ihn gefunden hatte.

Er hatte Käte unten warten lassen – sie hatte zwar durchaus mit hinaufgewollt, aber er hatte darauf bestanden, sie mußte unten auf dem Hof, auf diesem engen, dunklen Hof, der nach Moder und Müllstaub roch, stehen bleiben – war allein hinaufgegangen. Drei Treppen. Sie waren ihm unendlich steil vorgekommen, noch nie hatte ihm Treppensteigen so die Kniee angestrengt. Da stand ›Knappe‹. Er hatte an die Klingel gerührt – hei, wie fuhr er zusammen, als sie so schrillte. Was wollte er denn eigentlich hier?! Auf [S. 318] einen anonymen Brief hin drang er zu fremden Leuten ein, in eine fremde Wohnung, er, Paul Schlieben?! Das Blut stieg ihm zu Kopf – da hatte schon die Person geöffnet, in einem hellblauen Schlafrock, gar nicht mehr jung, aber üppig, mit gutmütigen Augen. Und er hatte einen eleganten Überzieher und einen feinen Filzhut im Entree hängen sehen beim Schein des erbärmlichen Küchenlämpchens, das den selbst am Mittag stockdunklen Flur erhellte, und erkannte in ihnen Wolfgangs Sachen. Also wirklich, er war hier?! Hier?! Der anonyme Brief log also doch nicht?!

Was er dann getan hatte, wußte er selber nicht mehr genau; er wußte nur, er war Geld losgeworden. Und dann hatte er den jungen Menschen beim Arm die Treppe hinuntergeführt, das heißt, mehr geschleppt als geführt. In halber Höhe schon war ihnen Käte entgegengekommen, es hatte ihr da unten zu lange gedauert, Kinder mit offenen Mäulern hatten sich um sie versammelt, und aus den Fenstern hatten Weiber auf sie herabgespäht. Sie war fast verzweifelt: warum blieb Paul denn so entsetzlich lange?! Sie hatte ja keine Ahnung, daß er den Sohn erst aus einem bleiernen Schlaf in einem unordentlichen Bett erwecken mußte. Das durfte sie auch nie, nie erfahren!

Nun hatten sie ihn wieder zu Hause, aber war’s eine Freude? Darauf mußte Schlieben sich, und wäre er noch so versöhnlich gestimmt gewesen, noch so vergebungsbereit, mit einem schroffen ›Nein‹ antworten. Hier erblühte ihnen keine Freude mehr. Vielleicht, daß sie später, ganz später, noch einmal welche an ihm erlebten! Vorerst war es das beste, daß der junge Mensch zum Militär kam!

Zum ersten April sollte Wolfgang eintreten, darauf setzte Schlieben die letzte Hoffnung.

Wolfgang hatte immer gewünscht, bei den Rathenower [S. 319] Husaren zu dienen, aber nach den letzten Erfahrungen hielt Schlieben es für angemessener, ihn ganz solide bei der Infanterie eintreten zu lassen.

Früher würde der Sohn heftigen Widerspruch erhoben haben – Kavallerie mußte es sein, auf jeden Fall – jetzt fiel ihm das gar nicht mehr ein. Wenn denn gedient sein mußte, war es ganz gleichgültig wo; er war todmüde. Er hatte nur den Wunsch, sich einmal ganz ausschlafen zu können. Kullrich war tot – gegen Weihnachten hatte der trauernde Vater ihm aus Görbersdorf die Anzeige geschickt – und er? Er hatte zu viele Nächte verbummelt. –

Es war ein Schlag für Schlieben, daß Wolfgang nicht zum Militär genommen wurde. ›Untauglich‹ – ein hartes Wort – und warum untauglich?!

›Schwerer Herzfehler –‹ die Eltern lasen’s mit Augen, die falsch zu lesen glaubten und es doch richtig lasen.

Wolfgang war sehr abgespannt von der Untersuchung nach Hause gekommen, aber er zeigte sich nun weiter nicht aufgeregt über seine Untauglichkeit. Er zeigte es nicht – aber ob er es nicht doch war?!

Der Sanitätsrat zwar, nachdem auch er ihn untersucht hatte, versuchte alles so tröstlich als möglich hinzustellen: »Herzfehler, lieber Gott, Herzfehler! Es gibt ja gar keinen Menschen, der ein ganz normales Herz hat! Wenn Sie sich ein bißchen danach halten, Wolfgang, und solide leben, können Sie steinalt werden!«

Der junge Mensch sagte kein Wort hierauf.

Schliebens überschütteten ihren Arzt mit Vorwürfen: warum hatte er ihnen das nicht längst gesagt? Er mußte das doch wissen! Warum hatte er sie so im unklaren gelassen?!

Hofmann verteidigte sich: hatte er denn nicht immer und immer wieder zur Vorsicht gemahnt?! Seit dem Scharlach [S. 320] damals hatte er für des Jungen Herz gefürchtet und das auch nicht verhehlt. Aber freilich, daß sich die Sache so schnell verschlimmern würde, hatte auch er nicht gedacht. Der Junge hatte eben zu sehr drauf los gelebt!

›Schwerer Herzfehler‹ – das war wie ein Todesurteil. Wolfgang streckte die Waffen. Auf einmal fühlte er nicht mehr die Kraft in sich, gegen diese nächtlichen Anfälle anzukämpfen. Was er früher, ehe er das wußte, ganz für sich allein in seinem Bett, selbst ohne Licht anzuzünden, abgemacht hatte, das trieb ihn jetzt auf die Füße. Es trieb ihn ans Fenster – er riß es auf – trieb ihn in der Stube umher, bis er endlich, völlig ermattet, im Lehnstuhl Ruhe fand. Das trieb ihn sogar, bei den Eltern anzuklopfen: »Schlaft ihr? Ich habe solche Angst! Wacht doch mit mir!«


Wochenlang waren es böse Nächte gewesen. Wolfgang hatte gelitten, und die Mutter mit ihm. Wie konnte sie schlafen, wenn sie wußte, daß nebenan jemand sich quälte?!

Nun ging es wieder besser. Die Medikamente des alten Freundes hatten gewirkt, und Wolfgang hatte eine regelrechte Kur durchgemacht: Bäder, Abreibungen, Massage, besondere Diät. Nun konnte man ganz zufrieden mit dem Erfolge sein. Besonders das streng geregelte Leben hatte ihm gut getan; das Körpergewicht hatte wieder zugenommen, sein Auge war glanzvoller, seine Gesichtsfarbe frischer. Sie hatten alle die größte Zuversicht – nur einer nicht. Dieser eine hatte eben keinen Willen zum Leben mehr. –

Der April war rauh und stürmisch, ganz außergewöhnlich kalt; es war nicht möglich, daß der Rekonvaleszent so viel im Freien sein konnte wie wünschenswert war, besonders da warmmachende Bewegungen, wie Tennis, Radfahren, Reiten, [S. 321] für ihn noch zu ermüdend waren. Der Arzt schlug vor, Wolfgang nach der Riviera zu schicken. Wenn auch dort nur noch ein paar Wochen blieben, bis es zu heiß wurde, die würden schon genügen.

Schlieben war sofort bereit, den jungen Mann reisen zu lassen: wenn’s ihm gut tat, nun natürlich! Käte erbot sich, mitzureisen.

»Aber warum denn, liebste Frau? Der Junge kann ganz gut allein reisen,« versicherte der Sanitätsrat.

Aber sie bestand darauf, sie wollte ihn begleiten. Jetzt war’s nicht mehr die Besorgnis, er könne ihr verloren gehen: es war ihre Pflicht so, sie mußte ihn begleiten, selbst wenn sie es nicht gern getan hätte. Und ein wenig eigne Lust, sich ganz heimlich, ihr selber unbewußt, in ihr regend, kam auch noch dazu. Sie wußte ja so gut Bescheid im Süden – wenn sie zum Beispiel nach Sestri gingen? Fragend sah sie ihren Mann an. Hatten sie nicht dort an der Riviera Levante einst wahrhaft glückliche Tage verlebt? Dort am blauen Meer, wo die breiten Pinien grüner und schattender stehen, als tiefer im Süden die Palmen, wo die Luft bei aller Milde etwas Herbes und Erfrischendes hat, wo nichts Schlaffes ist, lauter Belebung!

Er lächelte: gewiß, sie konnten ja dahin reisen! Ach, er freute sich ja so über den doch noch nicht gänzlich verlöschten Enthusiasmus seiner Frau.

Am Nachmittag seiner Abreise kramte Wolfgang lange in seinem Zimmer. Käte, die besorgt war, daß er sich beim Packen zu sehr anstrengen könnte, hatte ihm Friedrich zu Hilfe geschickt. Aber dieser kam bald wieder herunter: »Der junge Herr will’s alleine machen!«

Als Wolfgang das Letzte in seinen Koffer gelegt hatte, sah er sich nachdenklich im Zimmer um. Hier war er nun [S. 322] aufgewachsen, hier dieses Zimmer hatte er oft als einen Käfig betrachtet – ob er nun wieder in diesen zurückkehrte?!

– – Wir haben hie keine bleibende Statt, die zukünftige suchen wir – –

Drüben hing, schön gerahmt, sein Konfirmationsspruch an der Wand. Lange nicht gelesen. Jetzt las er ihn wieder; leicht lächelnd, ein bißchen spöttisch, und ein bißchen wehmütig. Ja, er würde wieder hier hinein zurückflattern, er war eben an den Käfig gewöhnt!

Und nun beschloß er, als allerletztes, noch etwas Übriges zu tun, und – zu Frida zu gehen. –

Frau Lämke war sprachlos vor Staunen, fast erschrocken, als sie gegen die Zeit, in der ihre Frida gewöhnlich nach Hause zu kommen pflegte, den jungen Herrn Schlieben bei sich eintreten sah. Sie stotterte vor Verlegenheit: »Nee, Frida is noch nich zu Hause – un Artur is auch nich hier – un Vater is oben in die Loge – aber wenn Sie so lange – so lange – bei mir vorlieb nehmen wollen!« Sie schob ihm mit großem Gerappel einen Stuhl hin.

Er rückte sich den Stuhl dicht an den Tisch heran, an dem sie genäht hatte. Nun saß er wieder hier wie einst. Und er entsann sich ganz deutlich jener ersten Einladung zu Lämkes – Fridas zehnter Geburtstag war’s gewesen –, da hatte er hier gesessen mit den Kindern, und der Kaffee und die Kuchenschnecken hatten ihm so köstlich geschmeckt.

Und eine Menge von Erinnerungen kamen ihm noch – lauter nette Erinnerungen – aber doch wollte kein rechtes Gespräch mehr zwischen ihm und Frau Lämke zustande kommen. Fühlte er eine Beklemmung vor dem Wiedersehen mit Frida? Oder was machte ihn so unruhig hier?! Ja, es war so, auch hier war er nicht mehr am Platze!

Es lag wie eine Trauer in seiner Stimme, als er, Mutter [S. 323] Lämke die Hand zum Abschied reichend, sagte: »Nun denn – adieu!«

»Na, verjniegte Erholung – auf Wiedersehen!«

Daraufhin nickte er und schüttelte ihr noch einmal die Hand, und dann ging er; er wollte lieber Frida entgegen gehen, das war besser als hier innen zu sitzen. Er hatte Herzklopfen. Da sah er sie schon auf sich zukommen.

Obgleich es dunkel war, die Beleuchtung nicht so taghell wie drinnen in der Stadt, erkannte er sie schon von weitem. Sie trug das gleiche Matrosenhütchen mit blauem Band wie im vorigen Sommer; das war zwar noch etwas verfrüht, aber es paßte zu ihr. So frühlingsfrisch!

Ein Gefühl quoll in Wolfgang auf, als sie vor ihm stand, das er sonst Frauenzimmern gegenüber nicht gekannt hatte: ein brüderliches Gefühl inniger Zärtlichkeit. Ach, sie hatte es doch wohl nur gut gemeint!

Stumm grüßte er, sie aber sagte froh: »Ach du, Wolfjang?!« und streckte ihm die Hand hin.

Wie früher schlenderte er neben ihr her; sie hatte unwillkürlich ihren Schritt verlangsamt. Sie wußte nicht recht, wie sie wieder mit ihm anfangen sollte, aber das glaubte sie zu fühlen: böse war er nicht mehr.

»Wir reisen morgen,« sagte er.

»Nanu, wohin denn?«

Und er erzählte ihr’s.

Mitten darin unterbrach sie ihn. »Bist du mir böse?« fragte sie ganz leise.

Er schüttelte verneinend den Kopf, aber weiter ging er nicht darauf ein.

Alles, was sie ihm sagen wollte, daß sie nicht anders gekonnt hätte, daß Hans ihn ›ausbaldowert‹, daß sie’s doch seiner Mutter versprochen und daß sie selber so große Angst [S. 324] um ihn gehabt hätte, unterblieb. Es war nicht nötig. Es war, als sei das Vergangene nun tot für ihn, als hätte er es ganz vergessen.

Als er dem interessiert zuhörenden Mädchen von der Riviera, wohin er nun reisen würde, erzählte, beschlich es ihn leise doch wieder wie neue Lebensfreudigkeit. Ah, nur heraus hier, heraus! Wenn er erst dort war, würde alles besser werden! Er machte sich noch kein rechtes Bild, wie es eigentlich dort sein würde; mit halbem Ohr nur, nein, gar nicht hatte er zugehört, wenn die Mutter ihm vom Süden gesprochen hatte, es war ihm ja alles ganz gleichgültig gewesen. Nun empfand er es selber wie eine Wohltat, daß er wieder Teilnahme hatte. Er atmete tief auf.

»Schickst du mir auch ’ne schöne Ansichtskarte von da?« bat sie.

»Natürlich, viele!« Und dann legte er den Arm um ihre schmalen Schultern und zog sie an sich.

Und sie ließ sich ziehen.

Auf offener Straße, an deren Rändern die Büsche schon knospten und der Flieder im ersten Safte schwoll, standen sie und hielten sich umfaßt.

»Komm jesund wieder,« schluchzte sie.

Und er küßte sie zart auf die Wange: »Frida, ich muß mich wirklich noch bei dir bedanken!« – – – – – – –

Als Frida am andern Morgen ins Geschäft ging – die Uhr war halb acht – sagte sie zur Mutter: »Nu is er fort,« und blieb nachdenklich den ganzen Tag. Lange Wochen hatte sie nicht mit Wolfgang gesprochen gehabt – da war es ihr auch ganz gleichgültig gewesen – aber seit gestern abend war ihr weh ums Herz. Sie dachte viel an ihn, sie konnte ihn gar nicht vergessen.


[S. 325]

6

Käte war nun mit dem Sohn allein. Nun hatte sie ihn ganz für sich. Das, was sie früher in eifersüchtigem Ringen erstrebt hatte, nun war es ihr gegeben. Nicht einmal die Natur draußen, die mit so lockenden Augen in die Fenster sah, konnte ihn an sich ziehen. Es erstaunte sie – ja, nun verstimmte es sie fast – daß er nicht mehr Anteil zeigte. Sie fuhren durch die Schweiz – er sah sie zum ersten Mal – aber das, was sie beim ersten Anblick zu Tränen anbetender Bewunderung gerührt hatte, diese hohen Berge, deren Gipfel sich in Schnee und Wolken verloren, zwangen ihm kaum einen Blick ab. Dann und wann sah er wohl einmal zum Coupéfenster hinaus, aber meist lehnte er in seiner Ecke, las oder träumte mit offenen Augen vor sich hin.

»Bist du müde?«

»Nein,« sagte er; bloß ›nein‹, aber ohne die schroffe Kürze, die ihm sonst eigen gewesen war. Es war keine unliebenswürdige Ablehnung mehr in seinem Ton.

Mit besorgten Augen sah Käte den Sohn an: die Reise griff ihn doch wohl an? Es war gut, daß sie mit ihm war! Sie kam sich unentbehrlich vor, und das Gefühl innerer Genugtuung ließ die Anstrengungen der weiten Reise gar nicht empfinden.

In Mailand, wo sie einen Tag rasteten, wollte Wolfgang nicht viel vom Dom wissen. »Ja, großartig,« sagte er, als sie sich am Wunderbau begeisterte. Aber auf die Plattform, von der man heute bei dem hellen Wetter eine kolossale Rundsicht haben würde bis hin zu den fernen Alpen, wollte er nicht mit ihr hinauf. »Geh du allein, laß mich hier!«

Es kam ihr anfänglich komisch vor, daß sie, die alte Frau, hinaufsteigen sollte, während er, der junge Mann, [S. 326] unten blieb. Zuletzt konnte sie der Lust, die sie drängte, das früher schon einmal Genossene, Herrliche wieder neu aufleben zu sehen, doch nicht widerstehen. Sie löste sich die Karte zum Hinaufsteigen, und er klappte sich einen der Feldstühle auseinander, die zum Gebrauch in der weiten Leere des Riesendomes stehen, und ließ sich, den Rücken an eine Marmorsäule gelehnt, nieder.

Ah, hier ruhte sich’s gut! Nach dem Markt draußen mit seinem Gelärm und dem Geschwirr von Tönen und bunten Farben, umfing ihn hier die weihrauchdurchwürzte Dämmerung. Es störte ihn nicht, daß Türen auf- und zuklappten, daß Leute aus- und einzogen in Scharen. Daß hier ein Fremdenführer mit blecherner Stimme seinen Fremden die eingelernte Belehrung herleierte, ganz laut, nicht achtend, daß er dabei fast über die Füße derer stolperte, die auf niedrigen Bänkchen vor einem sitzenden Priester, flüsternd ihre Sünden bekannten. Daß dort einer die Messe zelebrierte – die Meßner knicksten und klingelten – während hier eine Köchin, das an den Beinen zusammengebundene Geflügel neben sich, mit einer Gevatterin schwatzte.

Das alles störte ihn nicht, er bemerkte es gar nicht. Die köstliche Dämmerung umfing seine Sinne, er wurde so schläfrig, so selig müde. Vor seinen verschwimmenden Blicken lächelten alle Heiligen, süße Marien und pausbackige Engelchen, die Amoretten glichen. Es wurde ihm wohlig hier. Der Mailänder Dom, dies Wunder der Welt, verlor seine befremdende Großartigkeit; die weiten Mauern rückten zusammen, wurden eng und traulich und umfaßten doch die Welt. Eine friedvolle Welt, in der Sünder niederknieen und als Reine auferstehen. Eine ungeheure Sehnsucht erfaßte Wolfgang, auch hier niederzuknieen . Ah, da war sie wieder, die Sehnsucht seiner Knabenjahre! Wie hatte er dazumal [S. 327] die Kirche, in die ihn das Mädchen Cilla geführt hatte, geliebt! Er liebte sie noch, er liebte sie wieder, er liebte sie heute mit noch sehnsüchtigerer Liebe als dazumal. Hier war er zu Haus, hier hatte er das warme Gefühl der Zugehörigkeit.

– › Qui vivis et regnas in saecula saeculorum ‹ – – hocherhoben strahlte die goldene Monstranz, tief neigten sich die Beter, seliger Wohlklang schwebte unterm hochgewölbten Kuppeldach, immer schöner, schöner – leise, leiser. Die Lider fielen ihm zu.

Und er sah Cilla. So frisch, so schön wie das Leben selber. O, wie wunderschön! So hatte sie sonst doch nicht ausgesehen?! Er war sich bewußt, daß er träumte, aber er war nicht imstande, den Traum abzuschütteln. Und sie kam ihm ganz nah – o, so nah! Und sie machte das Zeichen des Kreuzes über ihm – leise tönte Orgelmusik – horch, was sprach sie, was flüsterte sie über ihm?! Er wollte nach ihrer Hand greifen, sie befragen, da hörte er eine andre Stimme:

»Wolfgang, schläfst du?«

Kätes Hand hatte sich leise auf seine Hände gelegt, die er gefaltet auf den Knieen hielt. »Ich bin wohl lange oben geblieben? Du hast dich gelangweilt?«

»O nein, nein!« Er sagte es mit Enthusiasmus.

Sie gingen zusammen zum Dom hinaus, aus dem die Orgel hinter ihnen hertönte bis auf den Markt. Käte war ganz begeistert von der genossenen Fernsicht und merkte darüber nicht den heimlichen Glanz, der in Wolfgangs Augen war. Er war still und schien mit allem einverstanden.


Seine Art fing die Mutter fast an zu beängstigen. Das, was sie früher beglückt haben würde – ach, wie hatte sie sich in früheren Jahren nach einem gefügigeren Kinde gesehnt! – [S. 328] stimmte sie jetzt wehmütig. War er am Ende doch kränker, als sie alle ahnten?

Sie waren jetzt an der Küste angelangt, in Sestri. Das waren noch dieselben Pinien, unter denen sie vor achtzehn Jahren als jüngere Frau gesessen und gemalt hatte. Aber ein andres Hotel war seitdem entstanden, ein ganz deutsches: deutscher Wirt, deutsche Bedienung, deutsche Küche, deutsche Gesellschaft, aller Komfort, so, wie Deutsche ihn lieben. Käte hatte sich ganz zurückhalten wollen, nur für Wolfgang leben; nun war es ihr aber doch Bedürfnis, dann und wann mit diesem oder jenem zu plaudern, denn wenn sie auch mit Wolfgang zusammen war, allein fühlte sie sich doch. Was dachte er? Daß er etwas dachte, zeigten ihr seine Stirn und seine Augen; aber er sprach seine Gedanken nicht aus. War er verstimmt – heiter? Fröhlich – traurig? Reute ihn manches und grübelte er darüber nach – oder langweilte er sich hier?! Das alles wußte sie nicht.

Mit einem gewissen Eigensinn zog er sich von allen übrigen zurück. Vergebens ermunterte Käte ihn, mit jungen Mädchen, die einen Partner suchten, Tennis zu spielen; wenn er’s nicht übertrieb, durfte er das immerhin schon wagen. Auch zu Segelfahrten wurde er aufgefordert, aber der Sport schien ihm gleichgültig geworden zu sein.

Meist lag Wolfgang vorn auf der Mole, an deren felsiger Spitze sich das blaue Meer rastlos zu weißem Schaum zerpeitscht, sah hinüber nach der Küste der Ponente, die in rotviolettem Dufte schwimmt, oder blickte zurück nach den nackten Gipfeln der Apenninen, in deren Halbkreis sich die weißen und roten Häuser von Sestri schmiegen.

Wenn die Fischerboote mit schlaffen Segeln wie müde Vögel in den Hafen glitten, stand er auf und schlenderte langsam zum Anlegeplatz ihnen entgegen. Die Hände in den [S. 329] Hosentaschen stand er dann dabei und sah zu, was sie an Fischen ausluden. Viel Beute war es nicht. Dann zog er die Hände aus den Hosentaschen und gab den Fischern, was er an Geld bei sich hatte.

Wenn die Mutter gewußt hätte, was der Sohn dachte! Wenn sie geahnt hätte, daß seine Seele dahinflog mit müden Flügeln wie eine treibende Möwe über uferlosem Meer!

Wolfgang hatte Heimweh. Hier gefiel es ihm nicht. Hier war es viel zu weich, viel zu schön; das langweilte ihn. Nur die Pinien, die streng duftenden, gefielen ihm; die waren doch besser als die Kiefern im Grunewald. Aber Heimweh nach dem Grunewald hatte er eigentlich auch nicht. Es war eben immer dasselbe, ob hier, ob da, ihn quälte immer die Sehnsucht. Wonach – wohin?! Darüber grübelte er. Aber der Mutter hätte er es nicht sagen mögen, denn jetzt sah er’s, daß sie sich um ihn mühte. Und öfters, als er es sonst je in seinem Leben getan hatte, fand er jetzt ein herzliches Wort.

Also endlich, endlich doch! Käte sah ihn oft verstohlen von der Seite an: war das noch derselbe, der sich als Knabe trotzig gegen sie gestemmt, ihre Liebe abgewehrt hatte, all ihre große Liebe?! Dieser hier, dessen Anblick im Mailänder Dom sie so seltsam gerührt hatte, war das noch derselbe, der auf der Schwelle gelegen hatte, betrunken – pfui, so betrunken! Derselbe noch, der so gesunken war, so tief, daß er – ach, gar nicht mehr daran denken!

Käte wollte vergessen; ehrlich mühte sie sich darum. Neulich, als sie ihn im Dom gefunden hatte, an einer Säule sitzend, die Hände gefaltet, die Lider träumerisch geschlossen, da war er ihr so jung vorgekommen, noch rührend jung; seine Stirn war glatt gewesen, alles darauf wie weggewischt. Und sie mußte denken: ob man nicht doch zuviel von ihm verlangt hatte? War man ihm auch immer ganz gerecht [S. 330] geworden? Hatte man ihn so verstanden, wie man ihn hätte verstehen müssen?! In ihrer Seele stiegen Zweifel auf. Sie hatte sich immer für eine gute Mutter gehalten; seit jenem Tag im Dom war es ihr, als hätte sie etwas verfehlt. Was, konnte sie selber nicht sagen. Aber in die Genugtuung, daß der Sohn nun doch zu ihr kam, mischte sich Wehmut und ein reichlich Teil selbstquälerischen Schmerzes. Ah, nun war er ja gut, nun war er wenigstens annähernd so, wie sie sich ihn gewünscht hatte – weicher, lenksamer – aber nun – ach, was hatte sie nun?!

›Wolfgang macht mir doch Sorge,‹ schrieb sie an ihren Mann. ›Es ist so schön hier, aber er sieht es nicht. Mir ist oft bange!‹

Als Schlieben ihr angeboten hatte, auch mitzureisen – er hatte das getan, weil er wünschte, seiner Frau manches abzunehmen – hatte Käte fast ängstlich abgewehrt: nein, nein, es war durchaus nicht nötig! Sie wollte viel lieber mit Wolfgang allein sein, sie hielt es für ihn und für sich so viel ersprießlicher. Nun dachte sie doch viel an ihren Mann und schrieb ihm fast alle Tage. Und wenn es auch nur ein paar Zeilen auf einer Postkarte waren, sie fühlte das Bedürfnis, ein Wort mit ihm zu tauschen. Er, ja er würde es hier so schön finden, wie sie es schön fand! Wie sie es einst vereint schön gefunden hatten! Hier diesen Pfad über die Klippen waren sie einst zusammen geklettert, er hatte ihr die Hand gereicht, sie geführt, damit ihr nicht schwindelte, und mit einem Gefühl wonnigen Grausens hatte sie tief unter sich das blaue gläserne Meer gesehen und hoch über sich den grauen Felsenfirst mit den tiefgrünen Pinien, die das Blau des Himmels küßten. War sie denn in diesen achtzehn Jahren so alt geworden, daß sie sich diesen Pfad nicht mehr getraute zu gehen? Sie hatte es versucht, aber vergeblich, ein jäher Schwindel [S. 331] hatte sie erfaßt. Die Hand war eben nicht da, die sie so fest, so sicher gestützt hatte. Ach ja, damals waren es bessere Zeiten gewesen, glücklichere!

Käte vergaß ganz, daß sie damals etwas so heiß begehrt hatte, daß sie dadurch sich und ihm manche Stunde getrübt, jeden Genuß vergällt hatte. Jetzt sah sie über den Sohn weg, der neben ihr schlenderte, sah mit weichem Blick, in dem noch ein Strahl verlorener Jugend aufglänzte, in die Ferne – ihr guter Mann, er war so allein! Ob er an sie dachte, wie sie an ihn?!

Am Abend, als Wolfgang sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte – was er da trieb, ob er noch aufsaß, las, schrieb oder sich schon niedergelegt hatte, wußte sie nicht – schrieb sie ihrem Mann.

Es war nicht die Länge und Ausführlichkeit des Briefes, die Schlieben so erfreuten – damals aus Franzensbad hatte sie ihm auch lange und ausführliche Briefe geschrieben – er las etwas zwischen den Zeilen. Das war ein unausgesprochener Wunsch, ein Verlangen, eine Sehnsucht nach ihm. Und er beschloß, nun doch noch nach dem Süden zu reisen: man hatte am Ende so lange Jahre miteinander gelebt, daß es wohl zu verstehen war, fühlte der eine Teil ohne den andern sich vereinsamt!

Mit tatkräftigem Eifer wickelte Schlieben seine laufenden Geschäfte ab. In acht Tagen spätestens hoffte er reisefertig zu sein. Aber nichts schreiben, ja nichts vorher schreiben, das sollte einmal eine Überraschung werden!


Die Mittagssonne in Sestri brannte heiß, aber die Zeit gegen Sonnenuntergang war noch, trotz aller leuchtenden Kraft, angenehm und erquickend. Da strömte jedes Kräutchen Wohlgeruch aus. So viel Balsam, so viel Köstlichkeit in [S. 332] dieser strömenden Duftfülle! Käte fühlte ihr Herz überfließen: Gott sei Dank, noch war sie nicht ganz zermürbt, noch nicht ganz verbraucht, noch besaß sie die Fähigkeit, Schönes zu empfinden! Wenn Paul jetzt hier wäre!

Ganz vorn, hoch oben am äußersten Vorsprung der Küste, umbrandet vom weißen Schaum des sehnsüchtigen Meeres, das gern hinauf möchte zu den Zypressen und Pinien, zu den Steineichen und Erdbeerbäumen, zu den vielen duftenden Rosen liegt der Garten eines reichen Marchese. Hier saßen Mutter und Sohn. Stumm sahen sie nach der Riesensonne, die rot, tief purpurn, dicht über dem Meere hing, das da strahlte in glanzvollem Widerschein, still-andächtig, erwartungsfeierlich in der heiligen Empfängnis des Lichts. Es war eine jener Stunden, jener wunderbaren seltenen Stunden, in denen auch das Stumme beredt wird, das Verschwiegene sich offenbart, in der die Steine schreien.

Käte schrak förmlich zusammen, als sie schaute und schaute: o, da war sie ja, dieselbe riesige rote Sonne, die sie einst hatte versinken sehen in den Wellen des wilden Venns!

Ach, daß ihr dieser Gedanke auch jetzt kommen mußte und sie quälen! Mit scheuer Besorgnis wendete sie rasch ihre Augen zu Wolfgang – wenn der’s ahnte?! Aber er saß ganz gleichgültig auf einem Stein, hatte die Beine übereinandergeschlagen, die Augen halb geschlossen. Von was träumte er?! Sie mußte ihn aufstören.

»Ist das nicht herrlich, großartig, erhaben?!«

»O ja!«

»Sie sinkt – sieh, wie sie sinkt!« Käte war aufgesprungen vom efeuumrankten Pinienstumpf, sie streckte den Finger aus, warm angestrahlt, ganz Begeisterung für dieses purpurne Meer, dieses glanzvolle Licht, das da in solcher Schönheit zu sterben ging. Die Augen wurden ihr naß; sie [S. 333] waren geblendet. Als sie wieder sah, fiel es ihr auf, daß Wolfgang sehr blaß war.

»Frierst du?« Eine plötzliche Kühle wehte vom Meer herauf.

»Nein! Aber ich –« er blickte sie, die dunklen Augen plötzlich groß aufmachend, fest an – »ich möchte was von meiner Mutter wissen. Jetzt kannst du reden – ich höre!«

»Von deiner – deiner –« sie stotterte, das kam ihr zu unerwartet. O weh, die Sonne, die Sonne des Venns! Jetzt hätte sie lieber geschwiegen, sie hatte auf einmal den früheren Mut nicht mehr.

Aber er drängte sie. »Erzähle!« Es lag etwas Gebieterisches in seinem Ton. »Wie heißt sie – wo wohnt sie – lebt sie noch?!«

Mit angstvollen Blicken sah Käte um sich. ›Lebt sie noch?‹ – darauf konnte sie nicht einmal antworten! Aber ja, ja, sicherlich – gewiß – die lebte ja ewig!

Und sie erzählte ihm alles. Erzählte ihm, wie sie ihn aus dem Venn fortgeschafft hatten, mit ihm geflohen waren wie mit einem Raub.

Sie wurde blaß und rot dabei und wieder blaß – o, wie würde er aufbrausen, sich leidenschaftlich erregen! Und ihr zürnen. Hatten sie sich doch nie mehr um seine Mutter gekümmert, seit sie das Venn verlassen hatten, nie mehr! Sie wußte ihm nichts weiter mehr zu erzählen.

Er fragte auch nicht mehr. Er brauste aber auch nicht auf, wie sie gefürchtet hatte; sie hätte es nicht nötig gehabt, sich, als er nun eine Weile stumm blieb, zu verteidigen, sich förmlich zu entschuldigen. Er sah sie freundlich an und sagte nur: »Du hast es gut gemeint, das glaube ich wohl!« –

Als sie vom Park die Treppenstufen zum Ort hinunterstiegen, bot er ihr den Arm. Scheinbar führte er sie, aber [S. 334] sie hatte doch die Empfindung, als sei er es, der der Stütze bedürfe; er ging schwankend. –

Hinter dem Garten des Marchese liegt der Kirchhof von Sestri. Die weißen Marmormonumente leuchteten durch das Abendgrau; gerade über die Parkmauer weg ragten noch die weißen Flügel eines Riesenengels. Käte blickte zurück: wehte es ihnen nicht von dorther nach wie eine Ahnung – oder war es eine Hoffnung?! Sie wußte nicht, ob Wolfgang so empfand wie sie, ob er überhaupt etwas empfand, aber sie drückte seinen Arm fester, und er erwiderte leise diesen Druck. –

In der Nacht nach jenem Abend im Garten der Villa Piuma hörte sie ihn unruhig in seinem Zimmer auf und nieder gehen. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, ihn sich selber zu überlassen – hatte sie sich doch früher allzuviel um ihn gekümmert – aber sie bedachte, daß er noch Patient sei und daß die innere Erregung, in die ihn ihre Erzählung versetzt haben mochte, ihm schaden könnte. Sie wollte bei ihm eintreten, aber seine Tür war verschlossen. Erst auf wiederholtes Klopfen, und als sie ihn inständig bat, ihr zu öffnen, schloß er auf.

»Was willst du?« Es war wieder etwas von dem alten abweisenden Klang in seiner Stimme.

Aber sie ließ sich nicht abschrecken. »Ich dachte, es wäre dir doch vielleicht lieb, noch – nun, noch darüber zu reden,« sagte sie weich.

»Was soll ich tun?!« Er rief’s, rang die Hände und ging wieder mit großen Schritten rastlos im Zimmer auf und ab. »Wenn mir nur einer sagen wollte, was ich jetzt tun soll! Aber das weiß ja keiner! Kann ja auch keiner wissen! Was soll ich tun – was soll ich tun?!«

Bestürzt stand Käte: ach, nun machte er sich solche Gedanken! [S. 335] Sie sah es, er hatte geweint. In sorgendem Mitgefühl hing sie sich an ihn. Was sie lange, ewig lange nicht getan hatte, sie küßte ihn. Und von seinem ›Was soll ich tun?‹ wie von einem gerechten Vorwurf im innersten Herzen erschüttert, bat sie zerknirscht: »Quäle dich nicht! Gräme dich nicht! Wenn du willst, reisen wir hin – wir suchen sie – wir finden sie gewiß!«

Aber er schüttelte den Kopf in heftiger Verneinung und stöhnte: »Das ist ja nun zu spät – viel zu spät! Was soll ich jetzt noch da? Dafür und hierfür« – er machte eine ablehnende Handbewegung – »für alles untauglich! Mutter, Mutter!« Käte mit beiden Armen umschlingend, fiel er schwer vor ihr nieder und preßte das Gesicht in ihr Kleid.

Sie fühlte sein Schluchzen am Zucken seines Körpers, am Krampfen seiner heißen Hände, die ihre Taille umklammerten.

»Wenn ich nur wüßte – meine Mutter – Mutter – ach, Mutter, was soll ich tun?!«

Jetzt weinte er laut heraus, und sie weinte mit ihm in mitleidsvoller Teilnahme. Wenn doch nur Paul hier wäre! Sie selber fand kein tröstendes Wort, sie fühlte sich selber so getroffen, sie glaubte an keine Tröstung mehr. Vor ihr stand eingegraben in großen Lettern, wie Inschriften stehen über Kirchhofstüren, die eine peinvolle, qualvolle Frage: ›Wie soll das enden?!‹

*     *

*

Käte überlegte sich: sollte sie an ihren Mann schreiben: ›Komm!‹ –? Wolfgang war entschieden wieder nicht wohl. Er klagte nicht, er sagte nur, er könne nachts nicht schlafen, [S. 336] und das mache ihn so müde. Nun wußte sie nicht, war es seelisches Leiden, das ihm den Schlaf nahm, oder körperliches. Sie war in einer großen inneren Unruhe, aber sie verschob das Schreiben an ihren Mann doch noch. Warum sollte sie ihn herjagen, ihn die weite Reise machen lassen? Hier war doch nichts zu helfen! Daß sie ihn für sich, für sich selber herwünschte, das war ihr noch nicht klar. Sie unterließ sogar ein paar Tage das Schreiben an ihn ganz.

Wolfgang lag viel auf dem Ruhebett in seinem Zimmer, bei geschlossenen Läden; er las nicht einmal. Sie kam oft zu ihm herein, um ihm Gesellschaft zu leisten – er durfte sich nicht vereinsamt fühlen! – aber es schien ihr fast so, als bliebe er ebensogern allein.

Wenn sie nun über ihr Buch hinweg im Halbdunkel des Zimmers verstohlen nach ihm schaute, konnte sie doch wiederum gar nicht denken, daß er so krank sei. Es war wohl mehr die Unlust an sich selber, eine Schlaffheit des Wollens, die ihn auch körperlich so apathisch machte. Wenn sie ihn nur aufrütteln könnte! Sie schlug ihm alles mögliche vor: Wagenfahrten die Küste entlang, zu all den herrlich gelegenen Nachbarorten; Touren hinauf ins Gebirge – es war ja unbegreiflich schön, den höchsten Gipfeln der Apenninen so nah, hinabzublicken in die gesegneten Weintäler der cinque terre – Fahrten auf dem Golf, bei denen unterm regelmäßigen Ruderschlag geübter Schiffer das Schiffchen so sanft trägt, daß man kaum die Entfernung vom Lande merkt und doch bald weit draußen auf hoher See schwimmt, auf diesem himmlisch-blauen klaren Meer, dessen Hauch die Seele befreit. Wollte er nicht fischen – es gab ja so entzückende bunte Fischchen hier, die Signorinen und Trillien, die dumm-gefräßig auf jeden Köder beißen –, wollte er nicht auf Fischadler schießen? Sie quälte ihn förmlich. [S. 337]

Aber er wich ihr immer aus; er wollte nicht. »Ich bin heute wirklich zu müde!«

Da ließ sie den italienischen Arzt holen. Aber Wolfgang war ungehalten: was sollte ihm der Quacksalber? Er war so unliebenswürdig gegen den alten Mann, daß Käte sich förmlich schämte. Nun ließ sie ihn gewähren. Was sollte sie ihm denn Liebes tun, wenn er sich nicht Liebes tun lassen wollte?! Sie verzweifelte an ihm. Es drückte sie unsagbar nieder, daß auch die Reise hierher verfehlt schien – ja, sie war es, mit jedem Tage sah sie das mehr ein. Der Reiz der Neuheit, der ihn während der ersten Tage angeregt hatte, war verflogen; nun war’s wieder wie vordem. Noch schlimmer.

Denn nun schien ihm die Luft nicht mehr zu bekommen. Wenn sie zusammen spazierten, stand er oft still und schöpfte Atem, wie einer, dem das Atmen sauer wird. Es wurde ihr oft ganz ängstlich dabei: »Laß uns umkehren, dir ist wohl nicht gut?!« Aber diese Atembeschwerden gingen doch immer wieder so rasch vorüber, daß sie sich ihrer übertriebenen Fürsorge wegen, mit der sie sich viele Jahre vergällt hatte, schalt.

Aber in einer Nacht bekam er einen neuen Anfall, schlimmer als die andern Anfälle, die er schon zu Hause gehabt hatte.

Es mochte gegen Mitternacht sein, als Käte, die sanft schlief, eingewiegt vom steten Rauschen des Meeres, durch ein Pochen an der Tür, die ihre beiden Zimmer verband, aufgeschreckt wurde. Und durch ein Rufen: »Mutter, ach Mutter!« Jammerte da nicht ein Kind?! Schlaftrunken richtete sie sich auf – da erkannte sie seine Stimme.

»Wolfgang, ja, was ist dir?« Erschrocken warf sie ihren Morgenrock über, schlüpfte in die Samtschuhe, öffnete – da stand er vor ihrer Tür, im Hemde, auf bloßen Füßen, [S. 338] zitterte und stammelte: »Mir ist – so schlecht!« Sah sie mit angstvollen Augen flehend an und fiel, ehe sie noch zufassen konnte, ihn zu halten, schon um.

In ihrer Angst riß Käte fast die Klingel ab. Portier und Zimmermädchen kamen. »An meinen Mann, an meinen Mann depeschieren: ›Komm!‹ Rasch, sofort!«

Als der erschrockene Wirt auch erschien, legten sie den Kranken wieder auf sein zerwühltes Bett; der Portier stürmte zu Telegraphenamt und Arzt, das Zimmermädchen schluchzte. Der Hotelier eilte selber in seinen Keller, um vom ältesten Kognak, vom besten Champagner zu holen. Der junge Mensch tat ihnen allen so unbeschreiblich leid; er schien in einer tiefen Ohnmacht zu liegen.

Käte weinte nicht, wie die gutmütige Person, das Zimmermädchen, dem in einem fort die Tränen über die Backen liefen. Sie hatte zu vieles zu beachten, sie hatte ihre Pflicht zu tun bis zum Schluß. Zum Schluß – jetzt wußte sie’s. Es bedurfte nicht des Kopfschüttelns des Arztes, nicht seines geheimnisvollen Flüsterns mit dem Hotelier. Medikamente wurden aus der Apotheke gebracht; man bettete den Kopf des Erkrankten tiefer, die Füße höher, man machte Kampfereinspritzungen – das Herz ließ sich nicht mehr anpeitschen.

Käte verließ ihn nicht; sie stand dicht an seinem Bett. Glorreich hob sich eben draußen das goldene, unbesiegliche, ewige Licht aus den Wellen, da lallte er noch einmal etwas. Sie beugte sich dicht über ihn, so dicht, wie sie es einstmals über den schlafenden Knaben getan, da es sie gedrängt hatte, ihm Odem von ihrem Odem einzuhauchen, ihn für sich umzubilden, Leben aus ihrem Leben. Nun hatte sie diesen Wunsch nicht mehr. Nun gab sie ihn frei. Und wenn sie sich jetzt so nah zu ihm neigte, so hingebend an seinen Lippen [S. 339] hing, so war es nur, um seinen letzten Wunsch zu vernehmen.

»Mut–ter?!« Es klang so fragend. Weiter sagte er nichts mehr. Er öffnete nur noch einmal die Augen, sah suchend um sich, seufzte und verschied.


Von außen lachte die Sonne herein. Und die Frau, die jetzt am Fenster stand und mit trockenen Augen hinaus in den Glanz sah, in den erquickenden, herrlichen Morgen, der leuchtender war als einer je zuvor, fühlte sich bezwungen von der Kraft der Natur. Die war so groß, so erhaben, so unwiderstehlich – vor der Natur mußte sie sich bewundernd beugen, so umflort auch ihr Blick war. Lange, lange stand Käte sinnend: draußen war das Leben, hier innen war der Tod. Der Tod aber ist der Übel größtes nicht! Mit einem zitternden Aufseufzen wandte sie sich und trat zurück ans Bett: »Gott sei Dank!«

Nun sank sie vor dem Toten in die Kniee, faltete seine kalten Hände und küßte sie.

Sie hörte es nicht, daß leise angepocht wurde.

»Madame!« Das Zimmermädchen steckte den Kopf herein. Und hinter dem Zimmermädchen reckte sich ein Männerkopf.

»Madame!«

Käte hörte nicht.

»Hier ist jemand – der Herr – der Herr ist angekommen!«

»Mein Mann?!«

Schlieben hatte das Mädchen beiseite geschoben und war eingetreten, blaß, hastig, in höchster Erregung: seine Frau, seine arme Frau! Was hatte sie allein durchmachen müssen! [S. 340] Der Junge tot! Man hatte ihn unten damit empfangen, als er ahnungslos ankam, sie beim Morgenkaffee zu überraschen.

»Paul!« Es war ein Aufschrei seligster Überraschung, wahrer Erlösung. Von dem kalten Toten weg flüchtete sie in seine warmen Arme. »Paul, Paul – Wolfgang ist tot!« Nun fand sie Tränen. Nicht endenwollende, strömende und doch so wohltuende Tränen.

All die Bitterkeit schwamm mit ihnen weg, die sie gegen den Sohn in sich getragen hatte, als er noch lebend war. »Armer Junge – unser armer, lieber Junge!« Diese Tränen wuschen ihn rein, so rein, daß er wieder das kleine, unschuldige Jungchen wurde, das im blühenden Heidekraut gelegen und mit blanken Augen in die helle Sonne gelacht hatte. O, hätte sie ihn dagelassen! Diesen Vorwurf, den sie sich selber machen mußte, den wurde sie ja nie wieder los!

»Paul, Paul,« schluchzte sie auf. »Gott sei Dank, daß du da bist! Hast du’s geahnt? Ja, du hast es geahnt! Du weißt, wie schrecklich, wie furchtbar mir zumute ist!« Die gealterte Frau umschlang den gealterten Mann mit noch fast jugendlicher Inbrunst: »Wenn ich dich nicht hätte – ach, das Kind, das arme Kind!«

»Weine nicht so sehr!« Er wollte sie trösten, aber auch ihm liefen die Tränen über das gefurchte Gesicht. Da war er nun hergereist in fliegender Hast, von einer jähen Unruhe getrieben – ihre Briefe waren ja ausgeblieben! – er war gekommen, freudig, um sie zu überraschen, und nun fand er’s so hier?! Er rang nach Fassung.

»Hätt ich ihn dort gelassen – ach, hätt ich ihn dort gelassen!«

Schlieben fühlte seiner Käte die Qual, den Selbstvorwurf nach, aber er wies auf den Toten, dessen Gesicht über dem weißen Hemd seltsam verfeinert, fast edelschön, jung und glatt [S. 341] war und ganz friedvoll, und zog sie mit der andern Hand fester an sich. »Weine nicht! Du hast ihn doch eigentlich erst zum Menschen gemacht – das vergiß nicht!«

»Meinst du –?! Ach, Paul« – in tiefem Schmerz neigte sie das betränte Gesicht – »ich habe ihn dadurch nicht glücklicher gemacht!«

Sie mußte weinen, unaufhaltsam weinen in tiefer Erkenntnis menschlichen Irrens. Zitternd faßte sie ihres Mannes Hände und zog ihn mit sich nieder am Totenbett.

Beider Hände falteten sich vereint über dem verlorenen Sohn. Wie aus einem Munde, in tiefer Reue flüsterten sie:

»Vergib uns unsre Schuld!«

[S. 342]

Verlag von Egon Fleischel & Co. / Berlin W 9

Romane und Novellen

von

C. Viebig

Einzelausgaben


Kinder der Eifel / Novellen

11. Auflage. Preis geh. M. 3.50; geb. M. 5.–

In diesem Werke der bisher unbekannten Schriftstellerin offenbart sich ein siegreiches Talent, an dem nicht nur die Reife der Lebensanschauung, sondern auch die geschlossene Lebendigkeit der Darstellungskunst überrascht. Das Eifelgebirge und die aparte Natur seiner Bewohner sind mit erstaunlicher Kraft gezeichnet, und das Buch gewinnt dadurch jenen herben Erdgeruch, welcher den meisten Werken moderner Autoren fehlt.

( Internationale Literaturberichte. )

Rheinlandstöchter / Roman

11. Auflage. Preis geh. M. 6.–; geb. M. 7.50

Realismus in der Wahrhaftigkeit der Darstellung, Idealismus in der Gesinnung und Denkweise.

( St. Petersburger Zeitung. )

Dilettanten des Lebens / Roman

5. Auflage. Preis geh. M. 3.50; geb. M. 5.–

Mit ergreifender Wahrheit malt uns Clara Viebig den Verlauf eines tragischen Geschickes, und sie entfaltet eine bedeutende Kraft und lebensvolle Anschaulichkeit.

( Norddeutsche Allgemeine Zeitung. )

Vor Tau und Tag / Novellen

5. Auflage. Preis geh. M. 3.–; geb. M. 4.50

Eine überreiche Skala von Stimmungstönen steht der Verfasserin zur Verfügung, und sie macht ausgiebigsten Gebrauch davon.

( Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung. )

[S. 343]

Es lebe die Kunst / Roman

5. Auflage. Preis geh. M. 6.–; geb. M. 7.50

Was dem Roman einen starken Wert verleiht, ist zuerst sein typischer Gehalt: Er hat den Wert eines Kulturdokuments.

( Die Nation. )

Das Weiberdorf / Roman aus der Eifel

26. Auflage. Preis geh. M. 3.50; geb. M. 5.–

Ein Werk, wie es in der Frauenliteratur in gleicher Wucht noch nicht geschrieben worden ist.

( Tägliche Rundschau. )

Das tägliche Brot / Roman (Volksausgabe)

20. Auflage. Preis geh. M. 3.–; geb. M. 4.–

Das tägliche Brot ist eine der bedeutendsten sozialen Dichtungen unserer Zeit.

( Breslauer Zeitung. )

Die Rosenkranzjungfer / Novellen

8. Auflage. Preis geh. M. 3.–; geb. M. 4.50

Herzbewegend, voll mahnender Anregung sind diese Erzählungen alle, kurz angeschlagene Töne, die lange noch nachklingen in wehmütiger Trauer.

( Berliner Börsen-Courier. )

Die Wacht am Rhein / Roman

24. Auflage. Preis geh. M. 6.–; geb. M. 7.50

Es ist ein Buch für das deutsche Volk im höchsten und besten Sinne, ein Buch, das in keinem deutschen Hause fehlen sollte, ein deutscher Roman, wie wir ihn brauchen.

( Der Tag. )

Vom Müller-Hannes / Eine Geschichte aus der Eifel

12. Auflage. Preis geh. M. 3.50; geb. M. 5.–

Möchten recht viele den herben Eifelwind einatmen, der durch die Geschichte vom Müller-Hannes weht; er ist erfrischend und gesund.

( Rheinisch-Westfälische Zeitung. )

Das schlafende Heer / Roman

26. Auflage. Preis geh. M. 6.–; geb. M. 7.50

Es findet sich unter den deutschen Romandichtern der Gegenwart wohl kaum einer, der mit dieser ungewöhnlichen Kraft der Darstellung noch so viel Anmut und Schönheit verbände.

( Neue Hamburger Zeitung. )

[S. 344]

Naturgewalten / Neue Geschichten aus der Eifel

12. Auflage. Preis geh. M. 3.50; geb. M. 5.–

Ein herrliches Buch, die »Naturgewalten«! Ein Buch voll wuchtiger Kraft, ein Buch – voll Schönheit.

( Österreichische Rundschau. )

Einer Mutter Sohn / Roman

20. Auflage. Preis geh. M. 5.–; geb. M. 6.–

Einer Mutter Sohn ist eine bange Schmerzensklage, ein zitternder Angstruf aus krankem Herzen, die ergreifende Bitte einer irre gegangenen Seele.

( Frankfurter Zeitung. )

Absolvo te! / Roman

18. Auflage. Preis geh. M. 5.–; geb. M. 6.–

Das ist ein Roman wie ein Sturm. Ein Föhn der Leidenschaft setzt gleich im Anfang ein und braust mit nie ermüdendem heißem Atem bis zum Schluß.

( Berner Bund. )

Das Kreuz im Venn / Roman

17. Auflage. Preis geh. M. 6.–; geb. M. 7.50

Das Venn ist der eigentliche Held des Romanes, und aus dem Blühen der Heide, und der dörrenden Glut der Julisonne, aus dem Brausen des Schneesturms klingt eine Stimme, eindringlicher als Menschenwort, erlauscht von einer feinhörigen, überzeugten Kunst.

( Berliner Tageblatt. )

Die heilige Einfalt / Novellen

12. Auflage. Preis geh. M. 3.–; geb. M. 4.–

Diese lautere Glut in einer Zeit, schlapp und bekenntnisfeig wie unsere, sie erzwingt sich Achtung und Bewunderung.

( Die Zeit, Wien. )

Die vor den Toren / Roman

16.-21. Tausend. Preis geh. M. 6.–; geb. M. 7.50

Ein groß angelegtes und glänzend durchgeführtes Kulturgemälde, das von einer Fülle scharf individualisierter, lebensechter Typen belebt wird. Es ist nicht bloß ein herbes, sondern auch ein starkes Buch, das jeden Freund einer ernsthaften epischen Kunst zu hoher Bewunderung zwingt.

( Neues Tagblatt, Stuttgart. )


Buchdruckerei Roitzsch, Albert Schulze, Roitzsch.

Liste korrigierter Druckfehler

Seite 11 , »wennn« durch »wenn« ersetzt (Ja, wenn Käte ein Kind hätte, dann wäre alles gut, ...);

Seite 32 , »ererziehen« durch »erziehen« ersetzt (Ich werde es mir erziehen.);

Seite 38 , Punkt ergänzt hinter »sollte« (wie sie sich und ihre fünf satt machen sollte.);

Seite 43 , Punkt ergänzt hinter »dagegen« (Sie preßte die Hände dagegen.);

Seite 44 , »Aste« durch »Äste« ersetzt (... mit mächtigen Hieben ein paar starke Äste zu zerkleinern.);

Seite 58 , »auseinandergreissen« durch »auseinandergerissen« ersetzt (... dessen Nebelwand jetzt für Augenblicke durch einen wütenden Windstoß auseinandergerissen ward ...);

Seite 78 , Anführungszeichen am Ende der wörtlichen Rede ergänzt (»Nein – um keinen Preis – nein! Nie, nie!«);

Seite 90 , Punkt ergänzt hinter »gesammelt« (Oder Kienäpfel in den großen Sack gesammelt.);

Seite 95 , »zufllig« durch »zufällig« ersetzt (Hätte nicht zufällig ein Arbeiter den Ranzen entdeckt ...);

Seite 112 , Einfaches Anführungszeichen hinter »schon« ergänzt (... Spittelmarcht zehne, die weeß schon‹ – au weih, war mich schlecht!);

Seite 121 , »weiß« durch »weißt« ersetzt (Du weißt es ja gar nicht!);

Seite 135 , Punkt ergänzt hinter »leid« (... es tat ihm aufrichtig leid.);

Seite 146 , »heraußbeißen« durch »herausbeißen« ersetzt (...wie häßlich von den Dienstboten, die andre herausbeißen zu wollen!);

Seite 168 , Punkt ergänzt hinter »riet er« (»Du müßtest mehr lachen,« riet er.)

Seite 220 , »Unwikürlich« durch »Unwillkürlich« ersetzt (Unwillkürlich sah Wolfgang nach der Pendüle auf dem Kaminsims ...);

Seite 234 , »einen« durch »einem« ersetzt (... und zwei Herren halfen einem dritten heraus.);

Seite 242 , »zusamenbeißend« durch »zusammenbeißend« ersetzt (Die Zähne zusammenbeißend, den Ekel zurückdrängend, ...);

Seite 245 , »Muter« durch »Mutter« ersetzt (So was kommt vor, das macht jede Mutter durch!);

Seite 252 , »eine Zug« durch »ein Zug« ersetzt (... ein Zug von Trotz und Widersetzlichkeit machte sein Gesicht nicht angenehm.);

Seite 258 , »er leuchteten« durch »es leuchteten« ersetzt (... es leuchteten wie Glühwürmchen brennende Zigarren auf, ...);

Seite 266 , »Mittenacht« durch »Mitternacht« ersetzt (Es war schon weit nach Mitternacht, ...);

Seite 321 , »in Zimmer« durch »im Zimmer« ersetzt (... sah er sich nachdenklich im Zimmer um.);

Seite 326 , »nierderzuknieen« durch »niederzuknieen« ersetzt (Eine ungeheure Sehnsucht erfaßte Wolfgang, auch hier niederzuknieen.).

Seite 334 , »inere« durch »innere« ersetzt (... und daß die innere Erregung, ...).