The Project Gutenberg eBook of Das Kreuz im Venn

This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org . If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.

Title : Das Kreuz im Venn

Author : Clara Viebig

Release date : October 11, 2024 [eBook #74557]

Language : German

Original publication : Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt

Credits : Peter Becker, Martin Oswald and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS KREUZ IM VENN ***

Anmerkungen zur Transkription:

Die Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originals wurde weitgehend übernommen, lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Die Originalvorlage ist in Fraktur gedruckt. Davon abweichende, in Antiqua gedruckte Textstellen sind hier kursiv dargestellt; gesperrt gedruckter Text erscheint je nach den Möglichkeiten des Lesegeräts gesperrt oder auch anders .

Am Ende des Textes befindet sich eine Liste korrigierter Druckfehler.

Titelseite

Clara Viebig / Ausgewählte Werke

Clara Viebig

Ausgewählte Werke

Achter Band

Verlagssignet

Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart

Berlin und Leipzig

1922

Clara Viebig

Das Kreuz im Venn

Roman

Verlagssignet

Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart

Berlin und Leipzig

1922

*

Alle Rechte vorbehalten

Druck der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart

[S. 1]

I

In die Enge der Gassen war die Sonne noch nicht hinabgedrungen. Oben auf der Ley, wo das Kapellchen beim Kirchhof steht und Tannen ihre Wipfel über den Garten des Todes recken, glänzte sie schon; hell beschien sie die geweihten Ruhestätten derer, die man hier hinaufträgt in Frühlingsluft wie in Sommerglut, in Herbstschauern wie in Winterschnee. Jeden einzelnen auf den Schultern. Denn tief unten im Talspalt liegt die Stadt, neben den Fluß gequetscht, ein Haufe altersgedunkelter Schieferdächer. Zwei schmale Längsstraßen nur hat sie. Finster blickt der verfallene Wachtturm auf Kirche und Apotheke am Markt nieder. Und von der anderen Seite am jenseitigen Berghang schaut die alte Burg herunter auf die schieferigen, schlüpfrigen Treppenplatten, die aus dem Märchen des Mittelalters hinabführen in die enge Wirklichkeit: in den Alltag der Bürgerhäuser und der klingenden Ladentürchen, der rauchenden Fabrikschlöte und der gellenden Dampfpfeife; des murmelnden Betens der Lumpensortiererinnen und des regelmäßigen Geplappers vieler nägelbeschlagener Schuhe auf spitzigem Pflaster; des gemütlichen Schwatzens der Skatbrüder beim Schoppen, des Weibergeträtsches und des Sporenklirrens der Herren vom Schießplatz, die ihre freie Zeit benützen zu einer Flasche Sekt und einem guten Diner bei der schönen Helene im »Weißen Schwan«.

Der Weiße Schwan war heute so wie immer der Sammelplatz. Vor seiner verschnörkelten Barocktür, darüber der Schwan, künstlich aus Kupferplättchen gehämmert, schon ein [S. 2] Jahrhundert sich schaukelt, drängten sich die Herren. Alle in Zylindern und schwarzen Röcken; doch auch einige Uniformen waren unter dem feierlichen Schwarz.

Der Wirt vom Schwan war gestorben, noch ein junger Mann, der einen guten Wein und eine gute Küche geführt hatte.

»Armer Kerl,« sagte Adjutant von Scheffler, der eigens vom Platz herunterbeordert worden war, das Offizierkorps zu vertreten. »War immer höchst fidel und wußte sich doch dabei in den ihm zukommenden Grenzen zu halten. Und engherzig in keiner Weise – nee, wahrhaftig nicht!« Er lächelte flüchtig.

Der junge Leutnant Abeking lächelte auch. Die Augen halb schließend, blinzelte er in den jetzt schnell in die Gasse niedersteigenden Sonnenschein; er konnte das Lächeln nicht unterdrücken, das ihm kam, wenn er der vorigen Sonntagnacht gedachte, in der die schöne Helene bei einer fröhlichen Bowle ihm Blicke zugeworfen hatte – Blicke! Und ihr Fuß hatte den seinen gesucht, und neben ihn war sie gerückt, hatte sich gar nicht mehr um die andern gekümmert, hatte ihm zugetrunken und ihr Knie an dem seinen gerieben! Noch jetzt fühlte er, wie der Strom Leben, der von ihr ausging, ihm durch den Körper rieselte. Und der dicke Wilhelm hatte sein behagliches Lachen dazu gelacht und listig geblinzelt und noch an kein Arg gedacht. Daß der so schnell hatte sterben müssen!

Ein plötzlicher Schauer überrann den jungen Offizier. Scheußlich, so aus dem vollen Leben und von einem so famosen Weibe weg zu müssen!

»Am Suff ist er gestorben,« sagte jetzt plötzlich jemand ganz laut. Das war der Tierarzt. Verschiedene lächelnde und auch einige unwillige Gesichter wendeten sich dem kleinen, untersetzten, immer echauffiert aussehenden Manne zu: natürlich, der Dreiborn konnte wieder seinen Mund nicht halten! Aber diesmal hatte er recht!

[S. 3] Und nun wußte der Apotheker auch Näheres: Herz und Nieren waren längst krank gewesen, der Doktor hatte ihm immer schon Wein und Bier verboten. Aber beides im Keller, und dann nicht davon trinken dürfen! Der dicke Wilhelm hatte eben weiter getrunken, bis ihn die Helene, als sie vergangene Sonntagnacht, sehr spät – na, eigentlich war’s grauender Montagmorgen – nach oben kam, röchelnd im Bett fand.

»Pardon,« der junge Leutnant trat näher, »hat jemand von den Herren sie schon gesprochen? Ob sie sehr unglücklich ist?«

»Unglücklich?!« Der Tierarzt ließ ein Lachen vernehmen, so laut, daß Abeking verletzt zusammenzuckte. Er sah sich verlegen um, aber heute schien der Tierarzt keinen Anstoß zu erregen; überall gleichgültige, wenn nicht heitere Mienen. Man unterhielt sich zwanglos. Nur als jetzt der Landrat, vom Amt her, eilig über die Gasse schwenkte, zusammen mit dem Bezirkskommandeur, legten sich die Gesichter in ernstere Falten. Man grüßte.

Der Landrat dankte verbindlich. Aber es war eine gewisse Unsicherheit in seinem Gruß; sein kluges, vornehmgeschnittenes Gesicht zeigte einiges Unbehagen. Das war eine recht mißliche Geschichte, zu diesem Leichenbegängnis zu gehen! Der Landrat hinter dem Sarg eines notorischen Säufers! Aber die schöne Helene würde ihm sein Fernbleiben nie verzeihen, und dann – er warf einen raschen Blick über die Gasse – sie waren ja alle gekommen! Da waren der Kreisphysikus und der zweite Arzt, der Bürgermeister, der Notar, der Amtsrichter, der Bauinspektor, der Apotheker und so weiter – ah, sieh da, selbst Schmölder von der Tuchfabrik! Und dann die Herren vom Militär.

Das gab ihm Sicherheit. Er richtete flüchtig ein paar Worte an die Ärzte, an den Bürgermeister, den Notar, den Amtsrichter, den Bauinspektor, den Apotheker und so weiter, [S. 4] um dann mit dem Fabrikanten, dem reichsten Mann des Orts, ein paar Schritte zur Seite zu treten. Sie unterhielten sich eine Weile halblaut, langsam dabei auf und nieder gehend. Sie mußten lange warten.

»Jeht et denn noch nicht bald los?« fragte plötzlich laut der Fabrikant. »Zum Donnerwetter, nu hab ich’t aber bald satt, hier zu stehen!«

»St!«

In diesem Augenblick fingen die Glocken der Kirche dumpf an zu läuten; es öffnete sich die verschnörkelte Barocktür. Beide Flügel wurden weit aufgeschlagen, von innen drang ein Schluchzen heraus auf die Gasse. Die Herren vor der Tür gaben den Durchgang frei. Wie sich die Helene hatte!

Hinter der Geistlichkeit, die mit Kreuz und Weihrauchduft die Stufen des Schwans hinabschritt, schleppten die Träger den Sarg heraus. Er war lang und breit, kaum konnte er durch die Tür; der Verstorbene war groß und schwer bei Leibe gewesen. Die vier, die ihn trugen, blickten schier bänglich: würden sie’s schaffen, bis die vier anderen sie ablösen? Sie hoben den Sarg auf die Bahre, der Zug setzte sich in Bewegung, Kinder mit Kränzen vorauf. Dicht hinter dem Sarg trug der Deputierte des Schützenvereins das Kissen mit sämtlichen Preisen und Ehrenzeichen; Wilhelm aus dem Schwan war, ehe noch seine Hand so zitterte, ein berühmter Schütze gewesen, totsicher hatte er allemal getroffen. Jetzt hatte der Tod ihn sicher getroffen. Die Witwe hatte laut aufgeschluchzt, als der Deputierte des Schützenvereins ihr mit diesen Worten, wohl gesetzt, seine Kondolation dargebracht hatte. –

»Gegrüßet seist du, Maria,
Gebenedeite unter den Weibern –«
[S. 5] »Heilige Maria, bitte für uns,
Jetzt und in der Stunde unseres Todes!«

Unablässig, sich immer wieder erneuernd, klang das murmelnde Beten. Die Glocke dröhnte mächtig dazu, mit gemessenem, schwerem Anschlagen. Vor einer langen Reihe schwarzgekleideter Frauen her wankte die Witwe. Man konnte ihr Gesicht nicht sehen; sie hielt es verborgen hinter dem schwarzgeränderten Taschentuch, das sie sich vor die Augen preßte, und hinter dem dichten Kreppschleier, der, vorn und hinten, lang bis zum Saum des schleppenden Kleides, niederfiel.

Sie schien wirklich aufrichtig betrübt! Der kleine Leutnant machte einen langen Hals, aber er konnte nichts von ihr erblicken, als über der Pelzboa ein Streifchen der Haut im Nacken, die trotz des schwarzen Schleiers weiß schimmerte, und ein Weniges von dem blonden Haar, das ein Strählchen der Morgensonne jetzt vergoldend küßte.

»Heilige Maria, bitte für uns,
Jetzt und in der Stunde unseres Todes!«

Die Chorknaben schwangen den Weihrauchkessel. Der Sonnenglast drückte nieder, es war trotz früher Jahreszeit eine schwere Luft in der Gasse. Der Weihrauchdunst konnte nicht höher steigen als bis zum ersten Stockwerk der schieferbekleideten, hochgegiebelten Häuser, die in zwei gepreßten Reihen sich so nahe gegenüberstehen, daß sie sich bis ins Herz hineinsehen können.

An allen Scheiben Neugierige. Über Töpfe mit blühenden Zimmerblumen weg reckten sich Mädchenköpfe aus geöffneten Fenstern. »Ha, ’ne finge Liechezog, ’ne finge jruße!« Die Helene konnte sich wirklich was einbilden; wer da alles mitging! Sie machten sich gegenseitig aufmerksam auf den [S. 6] und jenen: »Jesses Maria un Jusep, nee, ooch der Landrat!« Ein hübscher Herr und sehr vornehm, der von Mühlenbrink! Ein schöner Mann! Beinahe so schön wie der von Scheffler mit dem aufgedrehten Schnurrbart. Der kleine Leutnant konnte dagegen nicht an, von den anderen gar nicht zu reden.

Als fühlte Landrat von Mühlenbrink alle auf ihn gerichteten Blicke, so ging er, behutsam, mit kleinen Schritten. Er sah nicht auf. Es genierte ihn doch etwas, hinter diesem Sarge herzugehen. Aber was tut man nicht! Hier hieß es, mit den Wölfen heulen, und des war er sicher, heute würde seine Popularität erheblich steigen. Auch hierdurch macht man sich Stellung. Und er wollte sich Stellung machen, um jeden Preis. Ein Landrat, der in seinem Kreise populär ist, ist wie ein König. Und dieser Kreis war interessant genug, er stellte Anforderungen, er brauchte eine ganze Kraft. Und war er denn nicht diese Kraft? Gewiß! Sonst hätte man ihn doch nicht hierhergesetzt. Er war noch jung, es war eine Auszeichnung – einen so großen Kreis! Es gab hier vieles zu schaffen; vorerst galt es einmal mit dem alten Schlendrian aufzuräumen, in diese teils kleinstädtische Enge, teils verdummte Bäuerischkeit Licht und Luft zu bringen. Und dann –?! Er hob den Kopf. Wenn es erst hieß: »das hat unser Landrat ins Leben gerufen, das haben wir dem zu verdanken – unser Landrat, unser Landrat« – ah, was ließ sich auf diesem so lange verabsäumten Boden nicht noch alles schaffen, ins Leben rufen! Ein tiefer Atemzug wölbte seine Brust. Eine Fülle segensreicher Einrichtungen! Unwillkürlich reckte er sich: nein, er vergab sich nichts, hinter diesem Sarge herzuschreiten; das schaffte Vertrauen, und Vertrauen muß sich einer erwerben, der wirken will! Sie gingen ja auch alle mit – wahrhaftig, da hinten ja auch der Bürgermeister von Heckenbroich!

Er hatte sich flüchtig umgesehen, ihm war, als ruhe ein [S. 7] langer, fester Blick ihm im Rücken, und er hatte sofort den Mann bemerkt, der die anderen, die vor und neben ihm schritten, um Haupteslänge überragte. Den mußte er doch gleich nachher einmal abfassen! Der machte sich ja so rar hier unten!

Der Zug, unter Gebet und Glockengeläut, war jetzt zur Stelle gelangt, wo der Weg sich teilt. Rechts steigt das Gäßchen zum Kirchhof hinan, links führt eine Straße zum Bahnhof hinauf. Hier, wo die Träger wechseln, pflegen die abzuschwenken, die der Höflichkeitspflicht Genüge getan haben; nur die nächsten Leidtragenden folgen in schmaler Prozession, wie ein schwarzer Wurm unter den fast überhängenden letzten ärmlichsten Häusern des Städtchens hinkriechend, der Leiche die steile Felsstiege hinan. Schon drückte sich da einer und dort einer; man pflegte das meist heimlich zu tun, wie unabsichtlich ein wenig zurückbleibend, aber heute verstellte ein Trupp Männer die rettende Ecke.

Sie standen da und gafften mit stumpfen Augen den Zug an. Fünfzehn Männer in Drillichkitteln; einer wie der andere mit geschorenem Kopf. Und bei ihnen, mit dem Falkenauge sie überwachend, ein schwarzer Kerl, nicht vertrauenerweckender als sie; auch in einer ihren Kitteln ähnelnden Drillichjacke, in Militärhosen und mit einem Karabiner über dem Rücken. Das war der Aufseher, und das waren die Gefangenen.

Aha! Der Landrat kniff die Augen halb zu und trat dann rasch näher. Da war ja der avisierte Kolonisationstrupp! Schon?! Er hatte die Leute eigentlich etwas später erwartet. Aber auch gut so, das Wetter war ja fast frühlingsmäßig, als ob es schon April wäre und nicht erst März. Es konnte immerhin begonnen werden! Mit der Miene des Vorgesetzten musterte er den Aufseher. Der Mann gab ruhig seinen Blick zurück.

[S. 8] Mühlenbrink räusperte sich. »Ich bin der Landrat! Wie heißen Sie?«

»Bräuer.«

»Sie kommen soeben mit dem Morgenzuge von Aachen?«

»Ich habe mich bei der Polizeibehörde zu melden.« Eine gewisse Unlust knurrte in des schwarzen Mannes Stimme, man merkte es ihm an, er liebte es nicht, ausgefragt zu werden.

»Ich bin die Behörde,« sagte der Landrat scharf. Er ärgerte sich über die knappe Antwort dieses Menschen und winkte hochmütig ab: »Sie können jetzt gehen. Ich werde mich bald davon überzeugen, wie die Sache vorangeht!«

»Zu Befehl!« Des Schwarzen scharfes Auge, das hell war, graugrün, mit einem dunklen Ring um den Augapfel wie bei einem Falken, flog über die Drillichkittel; mit einem einzigen Blick umfaßte er sie alle. »Marsch!«

Die fünfzehn, ohne einen Moment des Besinnens, schulterten ihre Bündel, die sie im Stehen hatten sinken lassen. Trapp, trapp. Hart klapperten ihre groben Schuhe auf dem Steinpflaster.

Wie ein bissiger Hund, der seine Herde bewacht, bald nebenher, bald hinterher, lief der Aufseher. Finster waren die Blicke, die er auf neugierige Gaffer in der Straße schoß. Was blieben sie denn stehen und glotzten ihn und seine Kerls an? Es lief mancher Halunke noch frei in der Welt herum, der eigentlich hier zwischen die Drillichkittel gehörte!

»Voran, marsch!« sagte er noch einmal und schlug einen noch schärferen Trab an. Gehorsam fiel seine Schar in den gleichen Tritt.

Der Landrat stand noch und besann sich, ob er den Mann nicht noch einmal zurückrufen und ihm noch einige Instruktionen geben sollte, als auch schon der Trupp um die Krümmung der Längsstraße verschwunden war.

[S. 9] »Stramme Kerls, was?« sagte der Platzkommandant und stellte sich neben dem Landrat auf. »Und gedrillt wie Rekruten. Der Schwarze ist natürlich Unteroffizier gewesen; merkt man gleich, noch gute militärische Zucht drin!«

»Mag sein, aber ein sackgrober Kerl!« Es war etwas Gereiztes in Mühlenbrinks Ton.

Der andere lachte. »Alle Unteroffiziere sind grob, müssen grob sein, sonst sind sie nicht zu gebrauchen. Ich gehe jetzt zum Frühschoppen, kommen Sie mit? Fatal, mit dem Schwan ist’s heute nichts, wir müssen uns schon mit der Gans begnügen!« Der gemütliche Herr belachte seinen Witz. »Sie sind ja heute so schlechter Laune, Mühlenbrink, was ist denn los?«

»Geschäfte!« Der Landrat krauste die Stirn.

»Äh, was, Geschäfte! Adieu!« Der alte Major schwenkte hinüber in das andere Gasthaus, dessen Wirt schon in der Türe stand und sich für heute, da der Schwan geschlossen blieb, viel Zuspruch erhoffte.

Einer der Leidtragenden nach dem andern verschwand im Bierlokal. Nur der, auf den Mühlenbrink, langsam die Gasse hinabschlendernd, wartete, spazierte noch immer nicht in die Wirtshaustür. Wo steckte denn der Bürgermeister von Heckenbroich? War er am Ende mit bis zum Kirchhof hinaufgegangen?

Der Landrat war schon ein paarmal bis zum Gäßchen zurückgeschritten und hatte ungeduldig den Weg emporgesehen, der, teils in Treppenstufen, teils über schieferige Platten führend, zur Kirchhofsley ansteigt. Ein paar Eidechschen schlüpften, vom stechenden Frühlingsschein hervorgelockt, über die Gasse und verschwanden schwänzelnd in den Spalten des bröckligen Mauerwerks, über das das Obergeschoß der Häuschen weit vorspringt.

[S. 10] Mit rüstigem Schritt, den rauhhaarigen Zylinder in der Hand tragend, kam jetzt der Bürgermeister von Heckenbroich die Gasse herunter. Man sah es, er war mit bis oben gewesen, seine Stirn war feucht von Schweiß.

»Endlich! Na, wo stecken Sie denn so lange, lieber Herr Bürgermeister?« Der Landrat schüttelte ihm die Hand.

»Ich hab dem Wilhelm noch die letzte Ehre erwiesen,« sagte ernst Bartholomäus Leykuhlen.

»Eine halbe Stunde warte ich auf Sie. Sie machen sich ja so rar! Ich wollte doch nicht versäumen, Ihnen einmal guten Tag zu sagen!«

»Zuviel Ehre für mich!« Der bäuerliche Mann wischte sich ruhig mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn und setzte dann den altmodischen Zylinder wieder auf. »Darf ich fragen, was der Herr Landrat von mir wissen möcht?« Das frische Gesicht unter dem schon ergrauenden Haar blieb ganz unbewegt. In den klaren Augen, die den andern frei ansahen, konnte man nur eine gewisse erstaunte Frage bemerken, aber nichts von der Ironie, die doch das mißtrauische Ohr aus dem Ton der Stimme zu hören geneigt war.

»Ich – ich? Wissen?« Mühlenbrink lachte ein wenig nervös. »Nein, wissen will ich garnichts von Ihnen. Aber wie steht’s denn eigentlich bei Ihnen oben? Was denken Sie, wird es viel Futter geben, dies Jahr? Und wie ist der Gesundheitszustand?«

»Sehen Sie, da wollen Sie ja als wat wissen!« Leykuhlen lachte ungeniert. »Und wat viel auf einmal. Herr Landrat, dat weiß nur der Himmel. Dat Frühjahr läßt sich trocken an, diesen Winter haben wir auch ausnahmsweis wenig Schnee jehabt; wird wohl knapp mit Wasser werden dies Jahr!«

[S. 11] »Aha, sehen Sie, lieber Freund! Sagte ich’s Ihnen nicht längst? Wasserleitung müßten Sie anlegen!«

»Wat tut dat zur Sach! Wasserleitung – wat soll die wohl unserm Jras nützen?! Ob wir viel Futter kriegen oder wenig, da ändert kein Wasserleitung wat dran!«

»Aber für den Gesundheitszustand ist es doch höchst wichtig. Ich bitte Sie, lieber Freund, diese veralteten Brunnen! Bauen, bauen, nicht so rückständig sein! Eine Wasserleitung bauen, schleunigst!«

»Wir haben kein Jeld,« sagte trocken der Bürgermeister.

Der andere triumphierte. »Sie haben aber doch eine so große Kirche gebaut – ein Dorf solche Kirche – schöner Unsinn! Für die hundertfünfundsiebzigtausend Mark – oder wieviel war es doch gleich, was die Gemeinde vom Militärfiskus für Abtretung des Weidelandes bekommen hat? – na, eine anständige Summe jedenfalls. Die Gemeinde konnte auf einen grünen Zweig kommen. Statt dessen – zu dumm, zu dumm!«

»Sie waren eben damals noch nit unser Landrat, Herr von Mühlenbrink,« sagte Bartholomäus Leykuhlen mit einem Lächeln.

Der andere nahm das als Schmeichelei.

»Übrigens ist die Kirch nit von dem Jeld jebaut, Sie irren, Herr Landrat! Dafür haben wir jespart, jespart, schon seit Jahrzehnten. Aus freiwilligen Beiträgen ist sie erbaut. Et ist uns en Herzenssach jewesen. Dat Jeld vom Militärfiskus haben wir noch!«

»Sie sind wirklich der einzig vernünftige Mensch hier,« sagte der Landrat halblaut und legte vertraulich dem großen Mann seine Hand auf den groben Tuchrockärmel. »Kommen Sie ein bißchen mit mir, wir trinken ein Glas Wein bei mir zu Haus. Hier wird einem ja aus jedem Fenster zugehört!«

[S. 12] »Ich danke, Herr Landrat!« Leykuhlen machte sich frei und lüftete den Zylinder. »Aber ich bin heut zu sehr pressiert. Die beste Kuh will kalben, da muß der Uehm [1] selber zu Haus sein. Empfehle mich!«

Fort war er. Wie ein verdutzter Knabe sah der andere ihm nach. Wieder ausgewichen! Eine Röte stieg ihm in die Stirn. Im Grunde ein eingebildeter Patron – wenn man ihn nur nicht so nötig brauchte! Kein Mensch hier, bei dem man sich bessere Informationen über Land und Leute holen konnte. Und keiner, der soviel Einfluß hätte bei diesen Bauern. Man mußte ihn für die Wasserleitung zu gewinnen suchen – diese war durchaus nötig. Das Geld hatte die Gemeinde also doch noch nicht ganz verplempert? – die Regierung würde zusteuern – es wäre wirklich ein kolossaler Erfolg, könnte man die Wasserleitung durchsetzen! – – – –

Mit starken Schritten weit ausholend hatte Bartholomäus Leykuhlen das Pflaster bald hinter sich. Gott sei Dank, da war er in der Au! Er schüttelte sich und atmete tief auf. Noch einmal schaute er zurück, wie etwas Unangenehmem glücklich entronnen.

Er schlug den Fußweg nach Heckenbroich ein. Zwischen gewaltigen Tannen, an deren Ästen lange Bärte von Moos hängen, führt der steinige Pfad jäh bergan, während die Fahrstraße noch unten im Tal bleibt, um erst bei der Schmölderschen Fabrik in großen Kehren langsamer nach oben zu steigen.

Unten im engen Tal in einem Felskessel eingepreßt blieb das Städtchen zurück, mit seiner überragenden Burg, mit seinen Treppen und Treppchen, seinen Winkeln und Gäßchen, mit seinen hoch an den Felsen hängenden, auf Ziegenpfaden nur erreichbaren Gartenfleckchen, mit seiner ganzen mittelalterlichen [S. 13] Aufeinandergebautheit, mit seinem düsteren Blau und Grau von altersgedunkeltem Schiefer und verwittertem Felsgestein.

Der Landmann schüttelte den Kopf: wie man das nur schön finden konnte und malerisch! Ihm konnte das gar nicht gefallen. Wenn es nicht des Wilhelms wegen gewesen wäre, den er doch kannte, seit er als Junge mit seinem Vater selig zur Kirmeß oben auf den Hof gekommen war, um ein Stück Reiskuchen zu essen, – weiß Gott, er wäre heut nicht da heruntergekrochen. An so einem lichten Tag erst recht nicht!

Der grauhaarige Mann fing an zu pfeifen wie ein Knabe. Wie warm das schon war! Wunderschön! Der Himmel rein blau, ohne Wolken, wie gefegt; und immer klarer der Sonnenschein, je weiter man von dem Neste abkam. Leidiges Pflaster! Und was dem Mühlenbrink nun schon wieder einfiel! Leykuhlens Stirn umwölkte sich. Fing der schon wieder an zu tripelieren?! Gesundheitszustand – veraltete Brunnen – ja wohl! Leykuhlen lachte auf und fing dann an, laut zu sprechen, als ging noch einer neben ihm: »Wat de sich denkt! So dumm sind wir nit, unser jut Jeld eso eraus zu schmeißen! Wasserleitung – ha, ha!« Er lachte wieder. »De is wohl jeck! Unsere Brunnen sind jut; Wasser drin kalt und klar. Un wenn et emal knapp is – no, Wasserleitungswasser würd doch kein Bauer trinken, wer weiß, wat da für ’ne Dreck drin is! Jesundheitszustand, Jesundheitszustand – jesund un krank, dat steht in Jottes Hand. Dat verjißt der Herr Landrat!«

Der Bürgermeister von Heckenbroich blieb stehen und ließ seine Augen mit Wohlgefallen schweifen. Wie schön war dieses Land, diese mißachtete Eifel! Und auch gesund. Fünfzig Jahre stand er nun schon auf dieser Erde, hatte die langen Winter und die noch längeren Regenzeiten über sich hingehen lassen, hatte vom einsamen Hof, weit draußen am Schieferbruch, [S. 14] wo er aufgewachsen war, täglich eine Stunde Marsch zur Dorfschule gehabt und eine wieder zurück, sowohl im Sonnenbrand als wenn der Westwind schnaufte; war tropfnaß geworden und wieder trocken, und war doch alle Zeit gesund gewesen bis auf den heutigen Tag. Er streckte den Arm aus, an dem die Muskeln kraftvoll schwollen, und schlug sich dann auf die Brust. Das war ein Brustkasten! Noch einmal. Der Arm hier konnte frei in der Schwebe an die hundert Pfund halten ohne zu zittern – das Mariechen war ihm auch nicht zu schwer! Er freute sich an der eigenen Kraft.

»Sie machen wohl Freiübungen?« sagte plötzlich eine Stimme.

Leykuhlen sah auf.

An der Wegseite, hinter einem großen Felsbrocken, den die Ley, deren Nase schroff über die Tannenwipfel ragte, heruntergespuckt zu haben schien, saß ein Mann. Dieser sprang jetzt lebhaft auf: »Tag, Leykuhlen! Kennen Sie mich noch? Ich habe Sie schon von weitem erkannt!«

»Tag, Josef!« Leykuhlen streckte seine Hand hin. »Biste wieder hier? Ich hatt et als jehört!«

Der andere blickte einen Augenblick verwundert, das »Du« war ihm doch ungewohnt, nachdem man sich so viele Jahre nicht gesehen hatte. Aber er fand sich in den Ton. »Bärtes«, sagte er herzlich, und ein liebenswürdiges Lächeln verschönte sein Gesicht, »das ist wahrhaftig nett von dir, daß du mich noch kennst. Mich haben nicht viele hier gekannt – oder sie wollten mich nicht kennen.« Das letzte sagte er mit einiger Verbissenheit. »Es ist eine verflucht schwere Situation, der Vetter eines reichen Mannes zu sein und selber kein Geld zu haben!« Er starrte zur Seite hinunter in das Tal, wo zwischen dem weißen Band der Chaussee und dem Bach, der mit starkem Gefälle die Au durchströmt, die Tuchfabrik aufragt. [S. 15] »Da hat der Heinrich nun mit seinem Kasten das schöne Tal schimpfiert – der Banause! Sieh an, Bärtes, wie der Schornstein sich frech gegen die Tannen reckt! Und der Rauch stinkt – stinkt nach Lumpen, pfui!« Er spuckte aus. »Und nach Geld!«

Leykuhlen nickte. »Dat is wahr, zur Verschönerung trägt die Fabrick jrad nit bei. Ich hab mich als oft jenug drüber jeärjert. De hätt können drinnen im Nest bleiben. Aber mer darf doch nix sagen –« er zuckte die Achseln – »so wat jibt Brot!«

»Brot, Brot – trauriges Brot das! Morgens um sieben anfangen, abends um sieben aufhören – Lumpen, Gestank, erstickender Rauch – nicht mal Zeit am Mittag, was Warmes essen zu gehen. Ich habe zugesehen von hier oben, schon seit ein paar Tagen lungere ich hier herum – siehst du, Bärtes? Jetzt, jetzt!« Aufgeregt ergriff er den andern beim Ärmel und zerrte ihn bis dicht zum Rand.

Unten, gerade unter ihrem Standpunkt lag die Fabrik. Es hatte eben Mittag geläutet. Die Türe des Saales hatte sich geöffnet, heraus strömte ein ganzer Schwarm; ein Summen drang bis zu ihnen herauf.

»Siehst du, Bärtes, siehst du die Mädchen mit den roten Kattuntüchern um die Köpfe?« Er wies mit unruhigem Finger hinab. »Da – eine, zweie, dreie! Da sitzen sie nun auf den Lumpenballen, und mit denselben Fingern, die eben noch Lumpen sortiert haben – fremde Lumpen, Gott weiß woher, Lumpen, an denen die Pest sitzt, Tuberkulose, Krebs, was weiß ich für scheußliche Krankheiten – mit diesen selben Fingern brechen nun die armen Dinger ihr Brot. Ich habe zu Heinrich gesagt: ›du bist ein Volksvergifter!‹ Da hat er mich ausgelacht: ›Volksbeglücker, willst du sagen. Was sollten die Leute denn anfangen, wenn sie meine Fabrik nicht hätten? Aus allen [S. 16] Ortschaften, drei Stunden weit, kommen die Mädchen gerannt, sie reißen sich um den Verdienst. Laß sie sich doch waschen, wenn ihnen meine Lumpen nicht rein genug sind, ein Brunnen steht im Hof, und im Bach ist Wasser genug.‹ So spricht mein Vetter – was sagst du dazu, Bärtes?!« Mit Dringlichkeit blickte der Aufgeregte dem andern ins Gesicht.

»Ja,« – Leykuhlens heiteres Gesicht war ernst geworden – »dat is freilich mit den Lumpen en schmierige Sach, un an et Waschen sind die Leut nit so recht dran zu kriegen. Sie sind et eben gewöhnt, mit Arbeitshänden ihr Brot zu essen. Dat macht auch nix, sie werden nit jleich Pest und Cholera dervon kriegen. Und der Heinrich hat auch janz recht, wenn der sagt, dat seine Fabrick Verdienst in die Dörfer bringt. Un doch wär et besser, sie ständ nit da. Et is wahr, nit alle können zu Haus bleiben, et sind Kinder und Alte jenug da, um et Vieh zu hüten. Aber mögen die Jungens jehen, meinswegen, laß die in die Fabricken zu Aachen, zu Düren und über die Jrenz nach Verviers jehen – um die Mädchens, die in die Fabrick jehen, um die is et mir leid!«

»Die Schwindsucht rennen sie sich an den Hals,« rief der andere heftig. »Sieh dir die Mädchen an, sehen die etwa stark aus? Spitznasig, schmalwangig, engbrüstig. Nicht wie Landmädchen, deren Wangen leuchten sollen wie rote Äpfel, deren Brüste das Mieder schwellen sollen, fest und rund!«

»No, no!« lächelnd klopfte ihm Leykuhlen auf die Schulter. »Biste noch immer der alte, Josef? Immer noch derselbe Haselebaues, [2] der du in der Klass’ schon warst? Haben dich zwanzig Jahre noch nit klein jekriegt? Wir haben aber doch hübsche Mädchens, wenn ich auch sagen muß: Fabricksarbeit [S. 17] taugt ihnen nix. Wat sie da lernen, is keine jute Sitt – un dat is dat Schlimmste!«

»Sitte hin, Sitte her! Aber sind das Mädel, die kräftige Kinder gebären können, die einem neuen Geschlecht das Leben geben sollen?«

»Oh, Kinder haben wir jenug im Dorf,« sagte trocken der Bürgermeister. »Beruhig dich, Josef! Und nette Kinder. Besuch du uns bald emal, da sollste wat zu sehen kriegen. In jedem Haus ihrer fünf, sechs – mindestens. Da is der Jörres Huesgen, der Weber, de hat en janze Heck voll. Acht Stück; un dat neunte is unterwegs!«

»Um Gottes willen!«

»No siehste! Die Eifel stirbt so bald noch nit aus! Und wat die Mädchens anbelangt, so haben die fast all en Schatz und werden auch schon –«

»Genug davon, Bärtes!« Josef Schmölder legte ihm hastig die Hand auf den Mund. »Ich mag nichts mehr davon hören. Es beelendet mich. Überall das gleiche. Und ich dachte, hier würde es anders sein – besser. Hier auf dieser Höhe, der der Himmel so nahe ist!« Mit Schwärmerei im Blick sah er sich um und breitete dann plötzlich beide Arme aus: »Mensch, was hast du es so gut, hier oben immer gelebt zu haben! Wie schön, wie unbeschreiblich schön!«

Sie waren im Gespräch weiter gegangen; nun hielten sie auf einer Lichtung, deren trockene Heidegräser versilbert standen in einer Flut von Licht. Kein Haus, kein höherer Berg hemmten hier die Aussicht. Wie verklärt vom ersten Sonnenschein des jungen Jahres zeigte sich rundum die Ferne, sie enthüllte sich schleierlos; und die Luft war leicht, von jeder irdischen Schwere befreit, und durchsichtig klar, klarer als das reinste Glas. Da lagen unendliche Züge einsamer Heide mit schweigenden Tannenwäldern und tief einschneidenden [S. 18] Schluchten; im Grunde der Schluchten flossen Bäche, man sah nicht bis zu ihnen hinab, aber man sah den von der Sonne vergoldeten Duft, der von ihnen zu den Schluchträndern aufstieg. Noch zeigten die Matten von Heckenbroich nicht ihr saftiges Sommergrün, noch stieß der braune Rücken des Venns schwer und tot gegen die Helle des Horizonts, aber doch regte sich schon heimlich neues Leben in der Natur. Jene Wälder, deren Blau den ganzen Winter kalt und stumpf die Wellenlinie des Hochlandes gesäumt hatte, zeigten nun tieferes, wärmeres, ein besonntes Blau. Die Weidenbüsche an den Moorlachen trugen weiche, grausilberige Kätzchen; der Haselstrauch schüttelte lange, goldbepulverte Blütenräupchen.

»Et will lenzen!« sprach der Landmann froh.

Josef Schmölder seufzte. Er stand in sich gekehrt; das, was ihn eben noch so entzückt hatte, schien ihm jetzt nicht mehr zu gefallen.

»Du has’ höck keene jute Dag,« sagte Leykuhlen teilnahmvoll. Ihn faßte plötzlich ein Mitleiden, als er den andern betrachtete, der, vornüber geneigt, mit grauem Gesicht und gegen den Wind hüstelnd, neben ihm stand: arg mitgenommen sah der Josef aus, als ob er ebenso hoch in die Fünfzig zählte, wie er noch in den Vierzig war! Aber was sie im Städtchen über ihn klatschten, daß er sein Leben verlüdert, und daß er dem reichen Vetter recht zum Possen heimgekehrt sei, nein, das glaubte er nicht! Dem alten Kameraden, mit dem er ein paar Jahre unten in der Lateinschule zusammen gesessen hatte, die Hand auf die Schulter legend, sprach Leykuhlen herzlich: »Laß die Jrillen, Jung! Und wenn se dir unten zu viel Fisematenten machen, dann kömmste erauf bei uns. Du bist herzlich willkommen, Josef. Mariechen wird sich auch sehr freuen!«

[S. 19] »Danke, danke!« Josef Schmölder drückte Leykuhlen die Hand, aber kein Lächeln der Freude erhellte sein abgespanntes, von vielen feinen Kritzchen frauenhaft verfältetes Gesicht. »Du bist ein guter Kerl, Bärtes! Aber ich glaube an Freundschaft nicht mehr. Du mußt mir das nicht übel nehmen. Ich habe viel Freunde in meinem Leben gehabt – wo sind sie?!« Er spitzte den Mund und blies in die Luft, wie man ein Stäubchen fortbläst. »Es mag an mir liegen. Ich tauge eben zu nichts. Ich kann mich nicht in den Alltag schicken. Ich möchte alles anders haben, als es ist, besser, schöner – nenn es Egoismus, nenn es Menschenliebe, wie du willst. Ich weiß es selber nicht. Jedenfalls gefällt es mir nicht auf der Welt. Ich habe mich da und dort versucht. Erst war ich in London, dann in New York, sollte Propaganda machen für Schmölder und Kompagnie – damals lebte der Alte noch, und Heinrich war Kompagnon – ich konnte den Leuten nicht das Lumpentuch anschmieren. Tuch aus Lumpen gemacht! Haha! ’s ist nichts wert – ich glaube, das habe ich gesagt!«

Leykuhlen sah ihn ganz verdutzt an. »Aber, Josef, sie machen doch jar kein Hehl draus, dat sie Lumpen zur Fabrikation verwenden! Ihre Tuche sind eben drum billiger. Und manchem tun sie et doch auch.«

»Lug und Trug, darin wie in allem!« Heftig stampfte Josef Schmölder mit dem Fuß auf. »Ich tauge nicht zum Kaufmann. Das haben sie auch eingesehen. Gelernt hab ich nichts anderes, Talente hab ich auch weiter nicht, meine Gesundheit ist zum Teufel, nervös bin ich, ha, so nervös« – er faßte sich an den Kopf mit beiden Händen und hielt ihn sich – »Geld habe ich keins, nie habe ich was in der Tasche halten können, die Finger haben mich gejuckt, bis es raus war – rausgeschmissen, wenn du willst – nun bin ich untergekrochen. [S. 20] Nun esse ich das Gnadenbrot.« Er lachte bitter auf. »Wenig stolz, wirst du sagen! Hast recht, ich bin ein Lump, ein Feigling, ein – ein« – er suchte noch nach einem stärkeren Ausdruck, fand ihn aber nicht und sagte dann kleinlaut: »ein gänzlich reduzierter Mensch!«

Leykuhlen stand betroffen: also, es war doch wahr, was sie unten sagten? Verjuxt hat der Josef alles, und nun war er heimgekommen. Schön war das weiter nicht und dem Heinrich Schmölder nicht zu verdenken, daß er ein schiefes Gesicht zog. Aber schlecht war der Josef nicht, nein, wahrhaftig nicht! Er hatte Herz; er hatte nur keine Willenskraft! Und sich selber in seiner ganzen bäuerischen Kraft reckend und die breite Brust frei gegen den hier oben stärker wehenden Wind kehrend, schrie er laut: »Jung, du machst dich viel schlechter als du bist! Du bist keine Lump und auch keine Feigling, dir fehlt nur dat, wat uns stark macht und frei und aufrecht – zu zufriedenen Leut! Und du hast auch kein rechtes Zuhaus. Siehste, ich sag et ja immer: am jlücklichsten die, die derheim bleiben können. En eigen Haus, en eigen Stück Land – un sei et noch so jering – dat jibt ’ne Stolz: hier steh ich auf meinem Jrund; nur Jott über mir!« Er hatte sich in Feuer geredet. Es war etwas Leidenschaftliches über den ruhigen Mann gekommen; man sah es an seinen Augen, ihr Graublau war dunkler geworden, und es sprühte darin. »Weißte, Josef,« – er schlug dem Jugendfreund mit einem so kräftigen Schlag auf die Schulter, daß diesem fast die Kniee einknickten – »besuch mich nächsten Sonntag. Da hab ich Zeit. Da wollen wir weiter über die Sach reden. Et interessiert mich, wat du derjegen zu sagen hast!«

»Ich habe ja gar nichts dagegen zu sagen!« Plötzlich erheitert, lachte der andere fast. Aber sein Gesicht verdüsterte sich rasch wieder. »Es ist eben nicht jedem vergönnt, auf [S. 21] eigener Scholle zu sitzen. Man möchte hadern gegen den Gott – wenn es einen gibt – der die Lose so ungleich verteilt hat.«

»Nu hör aber auf!« Der Bürgermeister wurde grob. »Wenn du mit Philosophieren anfängst, dann haste verspielt. Da kömmt nix bei eraus. Du bist wohl rein jeck? ›Wenn et ’ne Jott jibt‹ – da schlag doch en Donnerwetter drein, jewiß jibt et ’ne Jott, wenn wir uns ihn auch nit eso vorstellen können, wie die Kinder sich ihn denken, mit ’m langen weißen Bart auf ’nem joldnen Stuhl. Jott ist über uns, er sieht uns und kehrt bei uns ein im heiligen Sakrament. Den Jlauben soll mir keiner nehmen, nee!«

»Du Glücklicher!« Josef Schmölder lächelte trüb, und dann streckte er dem Jugendfreund die Hand hin: »Adjüs, Bärtes! Ich komme dich besuchen. Grüß deine Frau – und nichts für ungut!«

Sie schüttelten sich die Hände; lange genug hatten sie hier oben auf zugiger Höhe gestanden, der noch nicht an die starke Luft Gewöhnte fühlte, wie der Wind ihm erkältend alle Knochen durchblies. Sie wollten sich eben trennen, als sie von einem Mädchen gestreift wurden. Eiligen Schritts, fast im Lauf, stürmte die junge Person den Fußpfad herauf.

»No, Bäreb,« sagte Leykuhlen, »wo köst du dann här? Jehst du dann net mieh no’r Fabrick?«

Die schwarzen Augen blickten nur rasch von der Seite. »Dag zusammen,« sagte das Mädchen atemlos.

»Wat löfst du dann esu der Berg erop?« Der Bürgermeister hielt sie auf. »Willste dir de Lung us ’m Hals renne?«

Das Mädchen schien das für einen Witz zu nehmen, es kicherte in sich hinein; aber dann machte es sich, ernst werdend, rasch wieder frei: »Loßt mich jonn, Hähr! Mi Motter es arg krank, seit diese Morje. Do konnt ich nit no’r Fabrick jonn. [S. 22] Mir hant de Frau jehollt, do saat di: hollt der Dokter. Do bin ich geloofe, han en äwer nit ajetroffe, de wor no’m Begräfniß vom Hähr aus ’m Schwan, un dann bei der Witfrau, der war et kollig [3] . Do bin ich no’m angere jejange, de wor beim Fröhschoppe, äwer de wellt nu diese Vormittag komme!«

»Wie is et dann mit der Motter, Bäreb? Es et Köngd als do?«

»Jo, ’ne düchtige Jong, Hähr Burjermeester,« sagte das Mädchen mit Stolz. »Äwer mi Motter es siehr schwaach. Se liegt janz still un säät nühst.«

»Wer es dann bei ihr?«

»De Tünnes on et Drückche, de Jilles on de Dores; de angeren sin no’r Scholl.«

»Biste jeck?« Ganz wütend fuhr Leykuhlen das Mädchen an. »Läuft dat fort und läßt die kranke Frau mit den kleinen Kindern janz allein liegen!«

Das Mädchen brach in Tränen aus. »Wat soll ich dan maache?! Mi Vatter es in Aoche, de könt net bis Samstig Aowend. Oß Doresche krog jester de Krämp, doröwer hat de Motter sich esu erfirrt [4] se hätt jut drinn bliewe könne, hat de Frau gesaat!«

»Dat es en Öwerläg!« [5] Der Bürgermeister wischte sich über die Stirn. »Loof ens flott, Bäreb, loof! Loof bi ming Frau, se soll jleich mit dich jonn; un aus dem Keller soll se de Flasch Champagner holln – Champagnerwein, Bäreb, verstehste mich – davon jebt der Motter alle halw Stund ’ne Löffel ein. Ich hollen der Doktor!«

»Laß mich ihn holen! Geh du mit dem Mädchen; das ist besser!« Rasch entschlossen hielt Schmölder den Freund [S. 23] zurück. »Ich möchte auch was tun – helfen! Ich bitte dich, geh mit ihr. In zwanzig Minuten bin ich schon unten – oh, ich kann rennen – adieu – ich schicke ihn sofort herauf!«

Er wartete gar keine Entgegnung mehr ab. Er hörte kaum mehr, daß der andere hinter ihm drein schrie: »Huesgen, Weber Huesgen, am grünen Klee!« In elastischen Sprüngen, plötzlich jünger geworden, setzte Josef den steilen Pfad hinunter. Loses Geröll prasselte hinter ihm drein.

[1] Hauswirt.

[2] Hitziger, fahriger Mensch.

[3] Unwohl.

[4] Erschreckt.

[5] Bedenkliche Sache.


II

Es hatte lenzen wollen, zu früh in diesem Jahr. Nun kam der Schnee noch nach. Kein tiefer, fester Winterschnee, der unter den Tritten knarrt und die breiten Äste der Tannen belastet mit glitzernder Pracht, der für Wochen und Wochen Heide und Weide in flaumweiche schützende Decken einwickelt und erst schmilzt, wenn wahrhaftiger Frühling kommt und die Schneelasten zu tauenden, befruchtenden Quellen wandelt, die die Bäche füllen, die Brunnen versorgen, jede Graswurzel tränken. Flüchtig weilende Flocken wirbelten dahin, aber sie näßten, erkälteten, durchschauerten bis ins Mark. Atemberaubend fauchte der Wind in Stößen, zerrte an den Kleidern, raffte Schnee zusammen und warf ihn wütend denen ins Gesicht, die sich ihm entgegen zu stemmen wagten.

Hinter seinen hohen Hainbuchenhecken, die sich giebelhoch, mit mauerfestem Astgefüge schützend vor jedes Haus im Dorf stellen, duckte sich Heckenbroich. Aber weiter hinauf oben auf dem Vennbuckel gabs keine schützenden Hecken mehr. Überhaupt keinen Schutz. Einem Ungeheuer gleich, gierig, zischend, pfeifend, schnaufend, bellend, brüllend tobte der Nordweststurm. [S. 24] Gewaltige Wolkengebilde rollten ihre schweren Leiber übers raschelnde Kraut. Keine Ahnung von Himmelsblau, kein Durchblick in die Ferne; alles grau, erloschen, verhangen, stumpf, tot. Und trostlos.

Und doch bauten sie. Die fünfzehn unter Simon Bräuer. Wie aus Stein stand der schwarze Kerl, die Beine breit gesetzt, den Kopf steil aufrecht; der Wind tat ihm nichts, er zwinkerte nicht einmal, wenn ihm eine Ladung Schnee wie nasser Sand gegen die Augen flog und sich ihm an die Wimpern klebte. Mit dem Auge des Raubvogels, dem runden, weitsichtigen, stoßsicheren, beäugte er seine Leute. Und sein Ton war hart, wenn er kommandierte. Pah, so ein bißchen Windrumoren und Nebelspreuen, was machte das? Es konnte hier noch ganz anders blasen. Er kannte das. Nicht umsonst hatte er als verwaister Junge hier oben den Bauern das Vieh gehütet und Beeren zwischen den Mooren gesammelt und später Torf gestochen und aufgesetzt und, knöcheltief im Wasser stehend, das Vennheu gemäht. Hier war er herumgestoßen worden von einem zum andern, hier hatte er gefroren und oft auch gehungert, und doch, und obgleich es ihm beim Militär so gut gegangen war – satt Essen und Trinken, warme Montur, freie Wohnung in den Kasematten in Köln, nie Arrest – er hatte sich doch immer hierher zurückgesehnt. Hier war seine Heimat.

Simon Bräuer, dem langgedienten Unteroffizier, der dann Aufseher zu Siegburg gewesen war, hatte man es gern bewilligt, als Pionier voranzugehen; es hatten sich ohnehin nicht viele gemeldet zur Kolonisation oben im Venn. Er hatte sich dazu gedrängt. Seine Frau hatte zwar geweint, seine Kinder sich an ihn gehängt – nein, dahin wollten sie nicht mit ihm gehen – aber er hatte kurz gesprochen: »Ich geh!« Wenn [S. 25] die Geschichte hier oben erst ordentlich im Gang war, zum Sommer vielleicht, dann sollten sie nachkommen.

Und nun atmete Simon Bräuer wieder Vennluft. Die Nasenflügel gebläht, die unter dem Schnauzbart sonst so fest aufeinandergesetzten Lippen halb geöffnet, schlürfte er den feuchten Schneedunst ein. Das tat ihm gut. Er hatte nicht einmal den dicken Uniformrock angetan, er ging im Leinenkittel; ihm war warm. Was froren denn die Kerle, warum klapperten sie mit den Zähnen?! Er fuhr sie an: hier wurde nicht geschnattert, wie alte Weiber tun, und auch nicht gehustet. Hier wurde frisch drauf los geschafft, nicht in die Hände gepustet und mit den Füßen gestampft! Er lachte.

»Frieren dir die Poten ab?« sagte er zu einem jungen Menschen, der, blau vor Kälte, in seinen Holzschuhen schlotterte. »Wenn du arbeitest, frierste nit – voran!«

Einen bösen Blick unter gesenkten Lidern herauf schoß der Sträfling, nur einen einzigen, Sekunden dauernden, kurzen Blick, aber der Aufseher schrie ihn an: »Hier wird nit jemuckst!«

Nein, sie hätten ja auch kein Wort gewagt. Mit gesenkten Köpfen, wie eine Herde, betäubt von Unwetter mit Blitz und Donnerschlag, so duckten sie stumm unter. Vor ihnen lag das Venn, ohne Schranken, frei und offen; sie hatten zwei Beine, Füße zum Laufen, wer wollte sie hindern, davonzurennen, dahinzuschießen wie ein Pfeil, vom straffen Bogen geschnellt? Dieser einzelne Mann doch wohl nicht?! Und doch rannte keiner. Sie waren wie geschlagen, wie gelähmt.

Nun arbeiteten sie schon ein paar Wochen hier; vom ersten Tagesstrahl an bis in den sinkenden Abend, bis die Nebel so dicht übers Venn krochen, daß sie wie in Wolken standen, daß keiner zehn Schritt weit den andern sehen konnte. Es war jetzt über sie selber eine Hast gekommen, war es doch [S. 26] ein zu schlechtes Kampieren in dem alten Torfschuppen, der an der Chaussee steht, die das Venn quer durchschneidet.

Dort schloß der Aufseher sie des Nachts ein; er selber schlief im nächsten Haus des Dorfes und machte nur dann und wann unvermutet einmal die Runde. Er hätte auch das nicht nötig gehabt. So oft er aufschloß und mit der Laterne die fernsten Winkel der Strohhütte beleuchtete, sie waren alle da, und keiner von ihnen rührte sich.

Man hatte die kräftigsten unter den Gefangenen zu der Arbeit im Venn ausgesucht. Es hatten sich auch viele unter ihnen dazu gemeldet, mancher mochte wohl gedacht haben: da oben kannst du gut weg. Jetzt aber lagen sie hier ganz gleichgültig, wie Hunde in sich zusammengekrochen, und was sie sich auch gedacht und erwartet haben mochten von der größeren Freiheit, jetzt hatten sie nur das eine Verlangen: schlafen, schlafen. Sie waren totmüde und eiskalt. –

Ein Stück Land war schon gerodet und planiert, man hatte Strünke und Heidegestrüpp abgebrannt und einen Zaun darum aufgeführt, roh aus Fichtenstangen zusammengeschlagen. Nun erhob sich in halber Manneshöhe bereits der Bau.

Die Dörfler hatten etwas zu bereden und zu besehen auch; sie standen von weitem halb neugierig, halb scheu. Man hatte den Frauen und Kindern verboten, nahe heran zu gehen – rumorten nicht jene Gestalten da wie die bösen Geister des Venns, den Sümpfen entstiegen?! Mit unheimlichem Druck lastete diese Nachbarschaft auf Heckenbroich.

Der Bürgermeister bekam in der nächsten Gemeinderatssitzung etwas anzuhören: wofür war er denn Bürgermeister und hatte das Wohl der Gemeinde zu vertreten, wenn er so was zustande kommen ließ? Nicht sicher war man jetzt mehr im eigenen Haus, man mußte zuschließen. Und wie sollte das erst werden, wenn die Beeren reiften im Herbst? Konnte man [S. 27] dann noch Frauen und Kinder sammeln schicken auf das Venn, wo die Verbrecher, die Halunken – Mörder wohl gar – sich herumtrieben?! Lange Jahre hatte man in Frieden im Dorfe gelebt, nun hatte man zu einer Hand das Lager – schlimm genug, daß die Soldaten den Mädchen nachpfiffen und daß man sich fürchten mußte auf dem eigenen Acker, wenn Scharfschießen war – aber schlimmer noch war das Haus, das sie einem da im Rücken bauten. Das würde man sich nicht gefallen lassen! Hundert Jahre und darüber hatte das Venn dem Bauer gehört, er hatte sich dort Holz gehauen, wenn’s ihm beliebte – ganze Tannen waren verschwunden in den Öfen von Heckenbroich – Torf hatte man sich gestochen und Streu geholt, wenn’s Stroh knapp war, und nun kam auf einmal die Regierung, die sich sonst einen Dreck um das Venn gekümmert hatte, und legte die Hand darauf und setzte einem Gesindel her, vor dem man sich grausen mußte. Steine sollte man den Kerlen nachwerfen, wenn sie Sonntags durchs Dorf zur Kirche getrieben wurden – mochten sie beten, wo sie wollten, nicht hier!

Der Bürgermeister hatte viel zu beschwichtigen. War es etwa seine Schuld, daß man ihnen die Strafkolonie so auf den Hals gerückt hatte?! Da hätte man sich eben selber daran machen müssen, das Venn anzubauen. Ganz verschließen konnte man sich da der Einsicht nicht, daß die Neu-Anforstungen, gegen die man auch erst sich so mächtig gewehrt hatte, jetzt schon das Klima verbessert hatten, dem Wild Schutz gewährten und dem Wanderer, der ohne diese Schonungen sich ganz und gar verloren haben würde, wenigstens in etwas die Richtung angaben?! Diese weiten, öden Strecken von Sumpf und Heide – verlorenes Land – konnten sie der nächsten Generation nicht schon vielleicht Wiesen und Kartoffel- und Roggenäcker bieten?!

[S. 28] Bürgermeister Leykuhlen machte viele Worte, aber er überzeugte nicht. Es gab ein dröhnendes Gelächter im Gemeinderat.

»Dat sinn woll ooch eso ’n neumodsche Ideen, Hähr Burjermeester? Für eso jet sin mir net zo han. Ihr sedd im Jrongd jo ooch net dofür!« sagte der Bauer Balthasar Adams vom Hof am grünen Klee, einer der gewichtigsten von Heckenbroich und der höchste Steuerzahler. Er wurde ganz energisch: »Nee, mir bliewe beim Alde. Mir trecke oß Vieh, mir mähe oß Jras, un wann mer zo wennig han, dann welle mir oß Venn behalde för oß uszehelfe. Oß Äldere woren domit zofredde, oß Jrußäldere ooch – nu hammer als die Iserbahn, dat is mieh wie jenug!«

Wahrhaftig, da hatte der Adams ganz recht! Es war gar kein Glück, wenn immer alles anders wurde, als es früher gewesen war. Wenn die Regierung helfen wollte, sollte sie lieber dem armen Mann ein Sümmchen vorstrecken, bar, gegen geringe Zinsen oder gegen gar keine, daß er sich noch eine Kuh zukaufen und sein Anwesen ausbauen konnte. Und in Futtermangelzeiten sollte sie Heu liefern und der Gemeinde überhaupt von den Steuerlasten abhelfen. So war der Eifel gedient. Dann würde bald nicht mehr geschrieen werden: »Arme Eifel!«

»Aber wir sind ja jar nit arm!« Leykuhlen schlug mit der Faust auf den Tisch, daß der Federhalter, der beim Tintenfaß lag, zu rollen anfing. Er ärgerte sich. »Wie könnt ihr dat nur immer nachsprechen! ›Arm, arm‹ – wer dat saat, kennt unsre Verhältniss’ jar nit. Weil wir nit mit allem eso voranjejangen sind, darum sagen sie ›arm‹! un wir wären rückständig!«

»Oho, nit mit voranjejangen? Rückständig?! Oho!« Nun wurde der Adams noch hitziger, und er war doch sonst ein [S. 29] ruhiger Mann. »Wer sät dann immer, oß Kinder solle net no’r Fabrick jonn?!«

»Hm!« Der Bürgermeister räusperte sich; er war über sich selber einen Augenblick im Zweifel. Richtig war’s, er hatte immer gegen das Fabrikenlaufen geredet, er war auch dem Landrat schroff begegnet, wenn dieser ihm von Wasserleitung und so weiter gesprochen hatte, er schätzte das Althergebrachte und hing an dem von Eltern und Voreltern Überkommenen wie nur einer. – Und doch – er warf den Kopf in den Nacken – nun wußte er wieder, woran er war. Er mußte gegen das eigene Herz sprechen: von »rückständig« mußte er sprechen. Denn es war eine Kurzsichtigkeit, offenbar eine Dummheit, sich gegen die Kolonisation da oben zu sperren. Erstens gehörte das Venn ja gar nicht der Gemeinde, sondern dem Fiskus, so war also überhaupt nichts anzufechten. Zweitens hatten die Gefangenen den Simon Bräuer über sich, einen Aufseher, der mehr in Banden hielt, als Schloß und Riegel; Mörder waren so wie so nicht unter ihnen. Drittens konnte es der Gemeinde nur von Vorteil sein, wenn kolonisiertes Land ihre Ländereien begrenzte. Ja, es mußte einem doch wohl einleuchten: hat man gutes Wiesenland neben sich, so ist die eigene Wiese auch besser, und hat man Ackerland neben sich, so weht einem der Wind keinen Unkrautsamen ins Korn. Es ging nicht anders, man mußte die Leute, die in harter Fron harte Arbeit taten, wohl dulden!

Aber er sprach vor tauben Ohren. Kaum konnte man sich erinnern, daß eine Gemeinderatssitzung je so stürmisch geendet hätte. Die Bauern schimpften. Ohne Handschlag ging der Bürgermeister von ihnen fort. Sie blieben noch stehen in einem Trüppchen vor der Schule und disputierten laut und heftig untereinander. Leykuhlen sah sich nicht mehr nach ihnen um, obgleich er wußte, daß sie ihn beredeten. Ja, wie [S. 30] sollte das hier noch einmal werden?! Oh, sie waren durchaus nicht dumm, sie hatten es auch gelernt, beim Viehhandel ihren Vorteil wahrzunehmen und sich durch den schlauen Käufer von auswärts nicht überlisten zu lassen. Aber war das wohl eine Klugheit, die nur das Naheliegende sieht und nicht auch weiter in die Zukunft?! Die Stirn gerunzelt ging er langsam heim.

»Mariechen!« rief er übers halb-offene Gadder in den Flur hinein.

Es war ein altes Haus, in das er trat. So war das schon zu Lebzeiten von Mariechens Eltern gewesen, und die Großeltern hatten auch so gewohnt, und deren Eltern schon; »1724« stand, aus hölzernen Buchstaben gefügt, über dem niedrigen Eingang, durch den vor nunmehr zwanzig Jahren auch sie eingegangen waren, ein junges, glückliches Paar. Er hatte nichts ändern mögen am alten Familienhaus der Endepohls. So wie einst reichte auch heute noch das Dach an der Seite fast bis zur Erde herab, nur daß man das dick-bemooste, grün-braun gewordene Stroh hatte entfernen müssen und statt seiner Schieferplatten gelegt hatte. Das war nun längst nicht mehr so schön wie früher, als die bunten Feldblumen, Weidenrose und Klatschmohn, Klee und die weißen Sterne der Wucherblume lustig auf dem alten Dach geblüht hatten, und nur ungern hatte sich Leykuhlen dazu entschlossen. Aber das Gadder war noch keiner modernen Haustür gewichen, es zeigte noch sein kräftiges Tiefgrün mit den weißen Schnörkelverzierungen und dem schweren eisernen Klopfer in der Mitte. Der Backofen bauchte sich noch aus der Wand heraus wie ein Bienenstock, Kapuzinerkresse und ein Centifolienstrauch klammerten sich im Sommer an ihn an und putzten die zartblaue Tünche mit feurigem Gelbrot und sanftem Rosa. Noch so wie einstmals waren die Balken der Länge und Quere nach braun gestrichen und karierten die Außenwände. Stall- und Scheuertüren [S. 31] leuchteten in freudigem Tiefblau. Farbenfroh lag das alte Haus hinter der mehrhundertjährigen Hecke. Diese war die schönste im Dorf, Leykuhlen hatte sie nicht niedergelegt, obgleich sie ihm das Licht nahm; sie war der Stolz der Vorfahren gewesen. So hielt auch er sie sorglich; fein gerade geschoren auf den Strich ragte sie wie eine Mauer, nur oben das Giebelfensterchen, Dachfirst und Schornstein ragten über sie weg.

»Mariechen!« Leykuhlen war aus dem dunklen Flur in die Küche getreten; auch hier war die Frau nicht. Einsam standen die silberblanken Melkeimer auf der weißgescheuerten Bank; der große, weitbauchige Milchkessel glänzte wie Gold daneben. Zerstreut sah er die vielen buntblumigen Teller an der Wand – »Zum Andenken« – »Sei glücklich« – »Aus Freundschaft« – »Aus Liebe« – wo war sie denn nur?! Wenn sie doch käme! Er sehnte sich nach ihr, heute mehr noch denn sonst. »Bärtes,« würde sie sprechen und ihm die Hand auf den Ärmel legen, »was ärgerst du dich? Hast du dich nicht schon oft über sie geärgert? Aber ruhig, sie kommen dir schon wieder, sie können ja garnichts machen ohne dich – oder ärgerst du dich am Ende über dich selber?« Ja, da hatte sie recht, wie immer, wie in allem! Das Herz wallte ihm plötzlich auf, wie einem ganz jungen und noch verliebten Ehemann. Er rief noch lauter, noch ungeduldiger: »Mariechen!«

Die Seitentür öffnete sich, die aus der Küche gleich in den Kuhstall führte, aber es war nur die Magd, die den schwarzhaarigen, glattgescheitelten Kopf hineinstreckte: »Se is nor Huesgens gangen. De Dores hat als widder de Krämp; dat Kathrinche kam se hollen!«

Also bei Huesgens war sie? Nun, da ging er ihr eben dorthin nach!

Es litt den Mann nicht mehr allein im Haus: was sollte er so einsam in der Stube sich Gedanken machen, die sie mit [S. 32] einem Wort vertreiben konnte?! Rascher, als er gekommen war, ging er wieder zum Haus hinaus. Eben als er in den Heckenausschnitt trat, rasselte ein Wagen übers holprige Pflaster vorüber; so rasch der auch fuhr, er erkannte doch den Landrat im Fond und trat unwillkürlich hinter seine Hecke zurück. Jetzt mochte er den nicht sprechen. Wo fuhr der hin? Zur Strafkolonie natürlich! Schon ein paar Briefe hatte er vom Landrat erhalten, worin der ihn aufforderte, doch einmal mit ihm dorthin zu fahren. Der interessierte sich sehr für die Kolonisation – wie eben für alles! Mit einem Seufzer, der mehr nach Unlust wie nach Befriedigung klang, trat Leykuhlen wieder hinter seiner Hecke hervor und sah dem Wagen nach. Nein, das war heute nicht die Hotelequipage vom Schwan, die der Landrat sonst immer zu seinen Ausfahrten benützte, es war der Krümperwagen oben vom Platz; sie hatten ihn wohl heruntergeschickt. Der Landrat fuhr zum Diner ins Offizierkasino. Richtig, die Pferde bogen links um, trabten nicht weiter die lange Dorfstraße hinunter.

Leykuhlen ging die Dorfstraße abwärts, die so lang ist, weil kein Haus dicht neben dem andern liegt, sondern jedes mit Weide und Gärtchen und Gemüseland ganz allein für sich hinter seiner bergenden Hecke. Er atmete auf: nun, der Landrat kam ihm heute nicht in die Quere! Aber, vielleicht, daß Mariechen Lust hatte, dann wollte er wohl einmal mit ihr zur Strafkolonie gehen und sehen, wie die Leute da voran kamen. Es war ja nicht weit, von Huesgens Haus nur eine halbe Stunde. Und das Wetter war heute lind, angenehmer als in all den letzten Wochen.

Schon schwollen die Knospen dick und braun und wie glänzend lackiert an den Hainbuchenhecken. Wo es ganz geschützt war, geduckt unter dem knorrigen Hauptstamm, wagte sich allerhand Kraut hervor. Noch schliefen die Farne, die im [S. 33] Sommer so üppig unter den Hecken emporschießen, zu braunen Schnecken zusammengerollt; es war nur Unkraut, was jetzt grünte, aber es hatte gelbe Blütchen, wie winzige goldene Sternchen, und jetzt kam ein Kind gelaufen, hatte die ganze Faust voll davon und streckte sie dem Manne entgegen: »Dag, Hähr Burjermeester!«

Er nahm die Blümchen aus der Kinderhand und sah die Kleine freundlich an; sie war sehr hübsch, hatte ein rundes Gesichtchen mit großen, sanften, tiefschwarzen Augen. Aber das runde Gesichtchen war blaß, und die Augen hatten keinen blanken Glanz. Es war etwas Ernstes in dieser Kindheit. Dieses Kind kriegte sicherlich Kartoffeln und Kaffee und wieder Kaffee und Kartoffeln und ein Stück Brot, und weiter nichts.

»Ah, du bis et, Kathrinchen,« sagte Leykuhlen, die Kleine jetzt erkennend. Es war die Elfjährige von Jörres Huesgen.

Er griff ihr unters Kinn und hob so das blasse Gesichtchen zu sich auf: »Sag ens, kocht din Motter ooch alle Dag wat?«

Kathrinchen nickte stumm.

»Wat dann?«

»Kaffee,« sagte sie leise.

»On Erdäppel?«

Sie nickte wieder.

Aha, gerade so, wie er sich’s gedacht hatte! »Nühst angersch?« Schade, dieses zarte Ding würde auch bald in die Fabrik laufen wie seine ältere Schwester, die Bäreb, und würde schmalbrüstig werden und den Husten kriegen beim Rennen durch Wetter und Wind. Schade! Der Huesgen Jörres, der seine Not hatte, eins satt zu kriegen, hatte ihrer acht – nein, neun lebendige Kinder, da war ja erst neulich wieder eins angekommen – und mancher wohlhabende Mann, der sein halbes Besitztum gern dafür hingegeben hätte, der hatte keins! Es [S. 34] zog eine schmerzliche Erinnerung über das kräftige Männergesicht. Wie in einen Traum verloren, sah Leykuhlen in das weiche Kinderantlitz.

Die Kleine stand starr da, das Gesichtchen durch seine Hand emporgehalten; sie wagte nicht, sich zu rühren. Da gab er sie endlich frei. Er holte tief Luft: »So is et!« Und dann, wie sich besinnend: »No, Kathrinchen, sag ens, wat kocht din Motter als noch?«

»Nühst!« Das Mädchen sah ihn ganz verwundert an: das war doch wohl gut, Kaffee und Kartoffeln und ein Stück Brot – wenn man nur immer genug davon hätte. »Mi Motter is immer krank,« sagte sie schüchtern und tief errötend. »On oß Bäreb jeht no’r Fabrick. Ich koche dat. Dat kann ich als!«

Leykuhlen strich ihr übers Haar. »Komm, Kathrinchen,« sagte er und nahm sie an die Hand. Er hielt sie so ganz fest; die kleinen kalten Finger erwarmten zwischen den seinen und fingen an zu schwitzen. Sie gingen miteinander immer weiter über die lange Straße, aber sie sprachen nicht mehr. Der Mann war in Gedanken und das Kathrinchen traute sich kein Wort. Es wäre gern davongesprungen, aber erst vor der halb eingefallenen Hecke, hinter der ganz niedrig, wie zusammengesunken, das Huesgensche Häuschen lag, wagte es, sein Händchen dem festen Griff zu entziehen. Hurtig und lautlos wie eine Maus huschte es in die dunkle Hütte und war verschwunden.

Sich tief bückend, um den Kopf nicht zu stoßen, folgte Leykuhlen dem Mädchen. Die Tür der Stube stand offen, er konnte aus dem Flur, der als Küche diente, gerade dort hineinsehen. Dunstig wie in einem Stall war die Atmosphäre, eine überwarme, dicke Luft in selten gelüftetem Raum. Er konnte sich nicht zu seiner ganzen Größe aufrichten, die schiefe Balkendecke [S. 35] hing ihm dicht überm Scheitel; er fühlte, wie ihm das Blut in die Stirn schoß – oder machte ihm das, was er sah, so seltsam heiß?!

Drinnen in der Stube neben dem Ehebett, auf dem die Huesgen lag, saß Mariechen auf dem Schemel. Sie hielt das Kleinste auf dem Schoß, ausgebündelt, ganz splitterfasernackt, als sei es eben geboren, und blickte darauf nieder mit einem Lächeln, wie er es nur einmal an ihr gesehen hatte.

»Mariechen!« wollte er rufen, aber er hielt an sich: nein, er wollte sie nicht stören, er durfte sie nicht stören. So war sie ganz in ihrem Element. Auf den Zehen ging er langsam rückwärts hinaus und sah dabei noch immer hin, obgleich er eigentlich gar nicht sehen wollte. Sie selber würde ja niemals mehr ein Kind bekommen, das hatte ihnen der berühmte Arzt in Aachen gesagt, sie hatten sich auch darein geschickt – aber – er seufzte – es war schwer! Zögernd nur entfernte er sich, ihr Lächeln bannte ihn. Und als er schon längst draußen war, sah er noch immer sein Mariechen vor sich mit diesem stillen, seligen und zugleich doch ein wenig schmerzlichen Lächeln.

Ohne daß er es wußte, hatte er den Weg höher hinauf zum Venn eingeschlagen. Er wurde dessen erst inne, als er die letzten Hecken und auch das Weideland, das ein dunkler Tannenbusch begrenzt, hinter sich hatte. Er sank plötzlich tief in weichen, schwarzen Moorboden. Jetzt war alles naß hier; die verdorrten Heidekrautbüschel ragten wie Schöpfe aus den Lachen, man mußte Obacht geben, wohin man trat. Das stöberte ihn aus seinen Sinnen auf, er sah um sich. So oft er auch hier oben gestanden hatte, hinter sich die unermeßliche Weite des Venns, vor sich die Hecken des friedlichen Dorfes, hinter denen die Häuser zu schlafen schienen, er empfand immer wieder die Wohltat dieser Unbegrenztheit, die Beruhigung dieser ungeheuren weltentrückten Stille. Daß er so lange [S. 36] nicht hier gewesen war! Wie sah es jetzt hier aus? Nun, viel war noch nicht zu sehen! Es war nicht viel anders als sonst; nur daß sie dort, wo der einsame Baum steht, der Galgenbaum, der wie ein dürrer Pfahl ragt und nur im Sommer einen kurzen, nach der Seite gewehten Schopf zeigt, jetzt rohe Balken aufeinandersetzten. Ein primitiver Bau! Hui, mußte der Wind durch die Lücken pfeifen! Er ging darauf los.

Ein harter Zuruf hielt ihn an: »Halt!«

Mit starken Schritten kam der Aufseher heran.

»Was wollen Sie?«

Das klang drohend, und selbst, als jetzt Simon Bräuer den Heckenbroicher Bürgermeister erkannte, wurde sein Gesicht nicht viel freundlicher. Der Landrat war so und so oft hier gewesen und hatte ihn aufgehalten mit seinen Vorschlägen und Verbesserungen, und nun kam der Bürgermeister auch noch angerannt! Widerwillig gab er Auskunft: nun ja, sie waren am Arbeiten, das mußte ja auch so sein, das koste den Staat eine Masse Geld hier oben und würde noch mehr kosten, noch viel mehr. Drainiert mußte der Boden zu allererst ordentlich werden – wo sollte sonst all die Nässe hin?! Aber dann, dann – ein freundlicher Strahl huschte jetzt über das finstere Gesicht – dann konnte es hier wohl was werden. Es mußte was werden!

Leykuhlen hörte die große Energie heraus in Wort und Ton. Bräuer war ihm nie sonderlich angenehm gewesen – ein verschlossener, unzugänglicher, finsterer Mensch – er erinnerte sich seiner noch als Junge, und daß er andere Jungen, die ihn auf der Weide täppisch neckten, mit Steinen blutig geworfen hatte; aber jetzt interessierte er ihn. Das war doch ein Kerl, mit dem etwas auszurichten war! Wie kam dieser arme Junge, der nie ein Bröckelchen Land zu eigen besessen hatte, der seine zwölf Jahre in den Kasematten von Köln verbracht [S. 37] und dann noch ein paar dazu als Aufseher hinter den Mauern von Siegburg, zu diesem lebhaften landwirtschaftlichen Interesse?!

»Wenn wir nach dem Drainieren den Boden umbrechen, schiffeln und kalken, dann sollen wir wohl wat eraus kriegen. Wo Vennheu wächst, ist am End auch Kleeheu zu kriegen, mer darf nur nit die Jeduld verlieren,« sagte Bräuer jetzt ganz von selber. Man merkte es ihm an, wie diese Idee ihn erfüllte. Mit einem scharfen Blick sah er sich um, hob seine Rechte und machte eine weit-umfassende Bewegung: »Wer hat dat je erlebt, Roggen und Hafer auf dem hohen Venn?!«

»Oha!« Leykuhlen lächelte: das waren denn doch noch weitaussehende Pläne!

Aber wie beleidigt fuhr der andere auf: »Da is nix zu lachen. Wenn Sie et nit jlauben, wat kommen Sie dann hierhin? Un ich sag Ihnen: hier wächst Hafer!« Er hob wiederum die Hand und zeigte wie ein Gebieter über die unwirtliche Fläche. »Un hier wächst Roggen! – – – Voran, ihr Kerls!« Unsanft fuhr er ein paar Gefangene an, die langsam, schlorrenden Schritts eine schwere Karre voll Steine zum Bau hinschafften.

Der eine hatte sich vorgespannt, der Strick schnürte ihm die Brust ein; er zerrte mit vorgestrecktem Halse, die Augen waren ihm herausgequollen, die Sehnen zum Reißen angespannt. Tief sank das Gefährt in den schlammigen Boden ein. Der andere stieß von hinten dagegen, den Kopf ganz tief zwischen die Schultern gezogen, wie ein Tier fast auf Vieren laufend. Man konnte sein Gesicht nicht sehen, man hörte nur sein Keuchen. Jetzt blieben sie stecken.

»Voran!« Simon Bräuer hob befehlend den Arm. »Voran, ihr Faulenzer!«

Da duckte sich der hintere, der für ein paar Augenblicke [S. 38] sein blasses, schweißbedecktes Gesicht emporgehoben hatte, wieder, und der vordere ruckte an, wie ein marodes Pferd zur letzten verzweifelten Anstrengung angepeitscht. Der Karren schob weiter.

»Schwere Arbeit hier,« sagte Leykuhlen. Dies hier war wahrhaftig Pferde-, aber keine Menschenarbeit! »Bräuer, werden Ihnen die Leut dann nit krank?«

Das unerbittliche Gesicht verzog sich zu einem verächtlichen Lächeln. »Fünf Schwachmatikusse hab ich als nach Aachen zurückjeschickt, hab andere Leut dafür jekriegt. Et sitzen ihrer ja jenug hinter Schloß un Riegel, die jern heraus wollen. Is hier doch immer noch besser in freier Luft, wat, Jacobs?« schrie er den jungen Menschen an, der den Karren geschoben hatte, und jetzt, am Bau angelangt, sich emporrichtete und die steifgewordenen Arme umeinanderschlug. »Is doch besser hier als im Kaschöttchen?«

Es kam keine verständliche Antwort, ein heiseres Husten erstickte sie. Aber der Sträfling nickte und machte sich daran, die Steine abzuladen.

Sah der Mensch elend aus! Und ein unangenehmes Gesicht, die richtige Verbrecherphysiognomie! »Wat hat de dann pekziert?« fragte Leykuhlen halblaut. Es überlief ihn plötzlich eine schaurige Empfindung: dem möchte man nichts Wehrloses in den Weg schicken auf einsamem Venn. Diese roten Haare, diese abstehenden Ohren, diese unsteten Augen in dem abgezehrten, sommerfleckigen Gesicht! So konnte sich ein ängstliches Gemüt wohl einen Mörder vorstellen. »Wat hat de dann verbrochen?«

»O – – – –!« Bräuer zuckte gleichgültig die Achseln. »Wird wohl nur wegen Wechselfälschung oder Mundraub oder [S. 39] vielleicht wegen Sittlichkeit seine paar Jährchen jekriegt haben – ich weiß nit. Wer kann dat all behalten! Aber wenn Sie et jern wissen wollen – Jacobs!« Er winkte.

»Nee, nee!« Leykuhlen legte ihm rasch die Hand auf den Arm. »Fragen Sie ihn selber nit! Nee, nit vor mir!«

»No, dann nit!« Der Aufseher lachte grimmig. »Daraus macht sich so ’ne Kerl doch nix. Der hat so oft sein Sünden anzuhören jekriegt, bis auf Herz un Nieren is de ausjezogen worden im offenen Jerichtssaal, dat et dem janz Wurscht is, wat ich ihn hier frag, oder Sie un ich. Dem is dat viel ärger, wenn Ihre Dorfmädchens ihn anjaffen wie en wild Tier und die Jungens hinter ihm dreinkreischen – Mädchens, mit denen er sonst poussieren würd, Bengels, mit denen zusammen er Kegel schieben würd. Dat is viel schlimmer für so einen, als wenn wir ihn fragen. Wir wissen doch auch, wat Versuchung is!«

»Sie haben recht!« Ganz betroffen sah Leykuhlen den Aufseher an: der Bräuer war doch nicht so roh, wie es den Anschein hatte! »Sie haben Verständnis für Ihre Leut!«

»No, wenn ich dat nit hätt! Ich bin doch drei Jahr in Siegburg jewesen. Beim Militär is et auch nit viel anders – pariert muß werden – nur die Montur is besser. Herr Burjermeister, wenn Sie sich aber interessieren, so schaffen Sie mir doch ein paar Bund Stroh!« Es kam etwas wie eine Bitte in die harte Stimme. »Die Kerls liegen hundsmiserabel. Un wenn ich wat alte Leinwand kriegen könnt! Die Halunken verschweinigeln sich die offenen Frostbeulen mit Absicht, sie denken, wenn sie humpeln, dann brauchen sie nit zu arbeiten – ja wohl, ich werd ihnen! Aufjepaßt!« brüllte er einen Sträfling an, der sich eben verstohlen bückte, um mit der hohlen Hand [S. 40] Wasser aus einer Lache zu schöpfen. »Hab ich nit verboten: jetrunken wird nit?!«

Erschrocken fuhr der Sträfling zurück. Er stammelte etwas von »Durst«; es klang wie ein Winseln.

»Wenn du Bauchschmerzen kriegst, scheuer ich dir noch die Huck,« schrie der Aufseher böse.

»Sie sind sehr streng,« sagte Leykuhlen vorwurfsvoll. Es stieß ihn plötzlich wieder etwas von dem Manne zurück.

Aber der Aufseher zuckte die Achseln: »Wenn ich nit streng wär, könnten wir nur einpacken hier. Entweder, sie jingen mir alle ein, oder sie schlügen mich tot. Adjüs!« Damit kehrte er sich kurz um und ließ den andern stehen.

Leykuhlen sah ihm nach, wie er mit starken Schritten auf die andere Seite des Bauplatzes ging und dort ein paar Sträflinge aufjagte, die sich in einem wärmenden Sonnenstrahl auf einem Balken niedergekauert hatten und ein wenig rasteten. Er sah sie auseinander fahren wie Hühner, zwischen die der Habicht stößt. Arme Teufel! Es war nun schon Ende April, aber es war doch noch recht kalt.

Ein Wind ging, der selbst den an Vennluft Gewöhnten durchschauerte; Leykuhlen knöpfte seinen Rock zu. Die in Leinenkittel Gekleideten ragten wie Vogelscheuchen, denen der Wind die Fetzen abzerren will, aus der baumlosen Fläche auf. So braun, so dürr noch das einsame Land!

Eine von ihm selbst nicht verstandene Traurigkeit senkte sich plötzlich auf Leykuhlens Seele. Der Himmel trüb, schwere Wolken hatten jetzt jedes Strählchen von sonnigem Licht verjagt; die Luft war wie Rauch, voll von beklemmendem Nebeldunst. Die Ferne so fern. Wo waren Städte und Menschen, fröhliche Menschen, und fruchtbare Felder?! Fern, sehr fern! Noch war kein Frühling im dunklen Moorland.


[S. 41]

III

Im Städtchen wurde auf jeder Kaffeevisite und abends am Stammtisch, von Männern und Frauen mit gleichem Interesse, die Strafkolonie bei Heckenbroich besprochen. Wie der Landrat tat, der alle paar Tage hinauffuhr und sich sogar Besuch dazu eingeladen hatte, Herren von der Regierung in Aachen, so machten es viele. Man spazierte zu Fuß hinauf oder nahm einen Wagen an; die Ausgabe lohnte sich schon, nun bekam man doch einmal einen wirklichen Einblick in das Verbrecherleben. Kerle, Kerle! Was die für Arme hatten, hager und sehnig! Und tätowiert waren sie alle über und über, die Arme, die Brust. Jetzt stach die Maiensonne um die Mittagszeit schon heiß oben auf der ungeschützten Höhe, wenn’s in den Nächten auch noch Eis fror, sie trugen die Leinenkittel offen; man konnte alles sehen. Welche von ihnen waren weiß und fett, andere mager und haarig wie die Wölfe. Die Damen erschauerten.

Simon Bräuer hatte zu tun, die Neugierigen abzuhalten. Bis in die innersten Winkel des Hauses, dessen Gebälk jetzt schon fertig gerichtet stand, hätten ihm die Frauenzimmer kommen mögen. Zwar stand ein Pfahl am Zaun mit einem Schild: »Eintritt verboten« – aber wer störte sich hieran? In hellen Kleidern, wie Sommerfalter, kamen die Weiber; sie machten den Mann kribblig. »Da schlag ’n Donnerwetter drein!«

Schon wieder kam heut ein Wagen langsam die Venn-Chaussee heraufgekrochen; eine Equipage. Am alten Torfschuppen mußte jedes Fuhrwerk halten; von da an mußte man zu Fuß das Venngestrüpp, die Ginsterbüsche und allerlei versteckte Löcher durchqueren.

»Dat sie doch all in’t nächste Torfloch plumpsten bis an [S. 42] den Hals! Verdammt!« Bräuer fluchte. Er sah, wie seine Kerls die Köpfe von ihrer Arbeit hoben und hinstierten mit ihren grassen, hungrigen Augen.

Ein hellgekleidetes Mädchen lief den anderen vorauf. Bräuer brummte in sich hinein: »Die macht ja Sprüng wie en jung Kalb!« Wieder Weiber! Die sollten ihm wohl vom Halse bleiben. Das Gewehr über die Schulter hängend, ging er den Kommenden entgegen.

»Papa,« sagte gerade Fräulein Schmölder, »hier steht es ja: ›Eintritt verboten‹!«

»Für uns nit!« Der Fabrikant wollte seine Damen vorangehen lassen – seine Frau war auch neugierig gewesen, die Kolonie zu sehen, und Hedwig brannte auf die Verbrecher – aber breit stellte sich jetzt der Aufseher vor den Zauneingang. Sein Blick war so zurückschreckend, daß Heinrich Schmölder unwillkürlich »Juten Tag!« sagte und an den Hut faßte. »Wir wollen uns dat hier mal ansehen!«

»Es ist nicht erlaubt.« Der Aufseher gab den Eintritt nicht frei.

»Ich bin der Fabrikant Schmölder. Sie kennen mich doch?« Dem reichen Mann stieg das Blut in die Stirn. Das war denn doch keine Art! Und dazu war Vetter Josef noch dabei, der sich so wie so schon über alles und jedes mokierte! »Wenn Sie uns nit hereinlassen, werde ich mich beschweren, beim Landrat, bei unserem Bürgermeister!«

»Dat können Sie tun. Dat jeht die Herren aber jar nix an. Ich hab nach meiner Instruktion zu handeln.«

»Nun, dann eben bei der zuständigen Behörde!« Heinrich Schmölder wurde heftig, er glaubte hinter sich das maliziöse Lächeln seines Vetters zu sehen.

Der Aufseher zuckte die Achseln. »Tun Sie dat. Wenn [S. 43] Sie ’ne Erlaubnisschein vorzeigen, können Sie jederzeit passieren. Sonst nicht!«

»Gib ihm was, gib ihm was,« wisperte Frau Schmölder hinter ihrem Gatten.

Heinrich Schmölder griff in die Tasche. »Na, Sie werden wohl mal ein Aug’ zudrücken.« Ein verständnisvoller Händedruck – das Dreimarkstück brannte Bräuer zwischen den Fingern. Das bessere Teil in ihm empörte sich, er hätte es fortschleudern mögen: »Herr, was unterstehen Sie sich, bestechen ist nicht« – und er nahm es doch. Der Eintritt war frei.

Mit finsterem Gesicht, an der Lippe nagend, schritt der Aufseher vor den Eindringlingen her. Er hätte sie umbringen mögen. Was das Fräulein schwatzte, lachte, dumm fragte!

»Sind Sie ganz allein hier?«

»Ja.«

»Wieviel Gefangene sind denn hier?«

»Vierzig.«

»Sind auch Mörder drunter?«

»Nein.«

»Haben Sie aber nicht doch Angst?«

»Nein.«

Zum Donnerwetter, das Frauenzimmer konnte einen verrückt fragen! Hätte er ihnen doch das Geld vor die Füße geworfen! Ein wütender Zorn gegen sich selber überkam den Mann: er hatte nicht widerstehen können, Trinkgeld genommen – Geld! Geld – er hatte es entbehren müssen die ganze Zeit seiner Jugend. Er hatte auch jetzt noch nicht viel, das Gehalt war nicht groß, und seine Familie wollte doch leben – drei Mark waren immerhin drei Mark. Aber nein, nein, pfui! Ihm ekelte vor sich selber.

»Sehen Sie sich um,« stieß er rauh heraus. Er konnte es nicht mehr ertragen. Ohne ein weiteres Wort sprang er über [S. 44] einen aufgeworfenen Graben und rannte, ein paar der Sträflinge, die gaffend dagestanden hatten, mit rauhen Worten vor sich hertreibend, immer weiter vom Bau ab ins Venn hinein.

»Ein greulicher Mensch! Ordentlich unheimlich!« Frau Schmölder raffte ihr Kleid hoch auf und setzte vorsichtig die Füße, sich immerfort ein wenig scheu umsehend. »Was ist denn nun eigentlich zu sehen, Heinrich? Ich sehe hier doch gar nichts Besonderes. Das war wirklich eine komische Idee von dir!«

»’ne Kater-Idee,« sagte Josef Schmölder.

»Wieso?« Der ohnehin schon Gereizte wurde noch gereizter: da war ja richtig das infame Gesicht, das Josef zuzeiten zu schneiden beliebte. »Hättest du weniger Kater-Ideen in deinem Leben jehabt wär et besser für dich jewesen un –«

»– und für uns,« ergänzte Josef. Er nahm’s heute humoristisch. Der Himmel blaute, das Wetter war herrlich, richtiges Frühlingswetter, und da – sieh da! Er hielt die Hand vor die Augen. Da schimmerte ein ganzes Stück Venn helleuchtend wie Gold. Das waren die gelben Narzissen, die blühten jetzt im üppigsten Flor.

»Ärgere dich nicht, Onkel Josef,« wisperte die Nichte und hing sich an seinen Arm. Sie mochte glauben, er lege die Hand vor die Augen, weil die Anzüglichkeit ihres Vaters ihn verletzt hatte.

»I wo, Hedde!« Er fing leise an zu pfeifen. »Sieh mal an, da, die Narzissen!« Und dann breitete er plötzlich die Arme aus: »Kind, das ist ein Meer von Gold, in dem ich wohl ertrinken möchte. Sonst pfeife ich aufs Gold – es macht hart, egoistisch, ungerecht – aber dieses Gold ist schön, es ist ein Trost fürs Auge, ein Labsal fürs Herz. Und daß diese armen Schlucker das immer so vor Augen haben, ordentlich darin waten können, das ist ein Ausgleich der barmherzigen Natur!«

[S. 45] »Wie poetisch!« spöttelte Heinrich.

Aber Frau Schmölder nickte. Sie war dem Vetter gut, und – lieber Gott, wo so viele aßen, konnte er auch noch mitessen! Ein bißchen verstiegen war er freilich zuweilen.

Josef sah und hörte nicht. »Komm, Hedde, wir wollen Narzissen pflücken! Einen goldenen Strauß!« Er riß die Nichte mit sich fort.

Leichtfüßig liefen die beiden durch das struppige Heidekraut; der Mann schien nicht minder jung, als die Siebzehnjährige, deren Zopf mit einer himmelblauen Schleife noch kindlich, lang auf den Rücken baumelte.

Heinrich Schmölder war sehr schlechter Laune, und er war doch so guter gewesen, als er heute aus dem Schwan zum Mittagessen nach Hause gekommen war und die Fahrt zur Strafkolonie vorgeschlagen hatte. Der Josef verdarb einem eben immer die Stimmung. »Verrückter Mensch!« sagte er zu seiner Fraun.

Sie suchte ihn abzulenken. »So, nun zeig mir doch auch mal was hier! Nun sei doch nicht so, nun bist du ihn ja los!«

»Auf wie lang?« Sie hatte nicht das Richtige getroffen, Heinrich Schmölders Stirn zog sich in immer ungeduldigere Falten. »Mit dem Menschen ist ja nicht zu leben. Er macht einen selber janz verdreht mit seiner fahrigen Art. Ein Mann wie ein Weib! Ein Mensch, der in seinem Leben nie an seinem Platz jewesen is. Nun jeht er auf et End der Vierzig los und hat noch nie wat vor sich jebracht! Aber wat soll man da machen!« Er seufzte. Ehe man den Jungen in der Welt herumflanieren ließ und Dummheiten machen auf den Namen Schmölder, eher wollte man sich denn doch die Pönitenz auferlegen und ihn bei sich behalten, so fatal es auch war, die Bummelei mit anzusehen.

[S. 46] »Gott, Heinrich,« sagte die Frau gutmütig, »er stört dich doch nicht!«

»So – er stört mich nicht? Wat du weißt!« Heinrich Schmölder konnte recht grob gegen seine Frau werden, wenn er es auch nicht immer so böse meinte. »Sie ist ihm zu beschränkt,« – so hatte die schöne Helene aus dem Schwan schon längst herumerzählt.

Frau Schmölder hatte eine gute Art, zu schweigen. Sie war bequem geworden mit den Jahren, behäbig und bequem. Auch hier war es ihr unbequem, noch mehr zu sehen, sie hatte schon genug. »Laß uns gehen,« sagte sie und zupfte ihren Mann am Ärmel.

Aber er brummte: »Drei Mark erausjeschmissen! Ich dacht, der Kerl würde uns was herumführen, einem die janze Idee der Anlage was erklären. Na, ich interessiere mich auch jar nit für die Jeschichte hier – is mir janz Wurst, was sie hier machen! Ja, wir jehen jetzt – ruf Hedde – Dummheit mit den Blumen – es is höchste Zeit!«

Frau Schmölder rief nach der Tochter. Aber erst als der Vater ganz energisch sein »Hedwig, kommt sofort!« ins Venn hinausbrüllte, wo ihr helles Kleid im Sonnenglanz schimmerte, bald im Kraut untertauchte, bald aufflatterte, kam sie angeflogen.

Ihre runden Wangen waren dunkelrot, ihre Augen glänzten. Sie war ganz atemlos. Einen großen Strauß hastig abgerissener, in dem Eifer des Pflückens schon halb zerdrückter Narzissen trug sie in der Hand. Und ein Sträußchen hatte sie im Gürtel. »Die hat mir Onkel Josef angesteckt,« sagte sie mit heimlichem Stolz. »Er sagt, das sähe hübsch aus.«

»Dummheit!« Der Vater riß ihr die Blumen aus dem Gürtel und warf sie fort. »Da, siehst du, lauter Flecke von den zerquetschten Stengeln.«

[S. 47] Die Tochter ließ den Mund hängen. Mit den Tränen kämpfend ging sie hinter den Eltern her, tupfte mit dem Taschentuch bald an dem hellen Bandgürtel herum, bald an ihren Augen.

»Wo ist denn eigentlich der Josef?« fragte die Mutter.

»Er sagte, wir sollten nur fortfahren, er käme zu Fuß nach Haus. Ach, es wäre viel netter, er wäre mitgefahren!«

Heinrich Schmölder drehte sich um nach seiner Tochter und warf einen raschen Blick in ihr Gesicht – na, das wäre! Sollte die sich etwa in den alten Sünder vergafft haben?! Einem überspannten Backfisch war alles zuzutrauen. Und der Josef hatte immer Glück bei Weibern gehabt, viel zu viel Glück. Hatte nicht selbst Lenchen neulich gesagt: »Bring doch mal deinen Vetter her, Schmölderchen!« Jawohl, er würde sich schwer hüten! Daß die Helene mit dem zu poussieren anfing und er den Sekt bezahlen mußte!

»Frag doch nit nach ihm,« sagte er jetzt ärgerlich zu seiner Frau. »Ich möcht wohl wissen, warum du dich so um ihn kümmerst? Laß ihn kommen oder nit kommen. Aber der Josef hat immer Eindruck auf dämliche Frauenzimmer jemacht. Aber es steckt nix hinter seinen irjendwo anjelesenen Redensarten; ›alles Mumpitz‹, wie der Berliner sagt!« Dabei beobachtete er scharf seine Tochter; aber aus dem ausdruckslosen jungen Mädchengesicht mit dem blühenden Rund war nichts herauszulesen. »Hier komm neben mich,« sagte er zu ihr, und behielt sie an seiner Seite, bis sie das Stück Venn durchstampft hatten und sicher in ihrer Equipage saßen – ohne Josef – die Tochter auf dem Rücksitz den Eltern gegenüber.

Josef Schmölder lag weit drinnen im Venn zwischen blühenden Narzissen. Eben war der Aufseher von ihm fortgegangen; sie hatten eine ganze Weile zusammen gesprochen. Der Aufseher war etwas aufgetaut, als Josef ihm auseinandergesetzt [S. 48] hatte, welch vorteilhaften Einfluß es auf die Gemütsverfassung der Sträflinge haben müsse, hier unter freiem Himmel arbeiten zu können. »Den freien Blick kann ihnen doch niemand nehmen, den Blick zum Himmelsblau, den Blick auf die Blumen und die Tannen, den Blick in die Weite, in unbegrenzte Weiten – die Natur ist die einzige Trösterin und Heilbringerin!«

»Oh ja, dat Venn is wohl schön,« sagte Simon Bräuer. »Man muß et nur kennen wie ich. Von klein auf!«

»Nun, sehen Sie, ich bin doch nicht hier in der Gegend geboren und finde es auch schön, unendlich stimmungsvoll! Ich bin hier bei meinen Verwandten, unten in der Stadt – Schmölders – die kennen Sie doch wohl?«

»Ich kenn Sie auch. Sie sind der Vetter, der nit jut getan hat!« Simon Bräuer lachte, ein etwas grimmiges Lachen, bei dem er die Oberlippe von den scharfen weißen Eckzähnen hob und den anderen, der faul im Heidekraut lag, mit seinen Falkenaugen anblitzte. »Wären Sie nit der vornehme Herr un hätten wat Besseres vor sich jesehen, wer weiß, Sie jingen vielleicht auch zwischen denen da!« Er nickte nach seinen Kerlen hinüber.

Der war recht geradezu! Josef Schmölder zog das elegante Etui aus rotem Juchten, das ihm Cousine Schmölder zum Namenstag verehrt hatte, aus der Brusttasche und bot dem Mann eine Zigarre an.

Aber da stierte ihm dieser mit einem fast wilden Blick ins Gesicht: »Nee, ich nehm nix mehr an!«

Er war davongerannt wie einer, der ein schlechtes Gewissen hat. –

Nun war Josef allein. Mit halbgeschlossenen Augen träumte er. Gleichsam durch einen Schleier sah er fernhin – Schafe, die da weiden, – die hellen Kittel auf der Fläche. [S. 49] Und ihr Hüter, der Hirt, stand dabei, so hochaufgerichtet, so lichtumflossen in der unbeschatteten Helligkeit des Venns, daß er größer erschien, als er war; alles überragend. Josef hatte immer das Entschlossene, das Energische bewundert – wie dieser Mann in diese Natur hier paßte! Verschlossen, herb wie sie. Und doch Größe in beiden. Wer doch auch so sein könnte!

Eine haltlose Traurigkeit überkam plötzlich den ins Venngras Hingelagerten. Ihm war es, als müsse er mit beiden Händen in dies karge, zähe Grün fassen und sich daran halten, sich anklammern: mach mich stark du, lehre mich zu sein wie du, Stürmen zu trotzen und standzuhalten! Er seufzte tief.

Solche Stunden hatte Josef Schmölder oft; sie kamen ihm mitten im Lachen. Dann machte er sich Vorwürfe über Vorwürfe: nein, er konnte nun und nimmer aus sich heraus, er blieb ein Halber, ein immer Wollender und nie Vollbringender! Hätte er nicht auch Weib und Kind haben können wie Vetter Heinrich, und ein gutes Renommee und viel Geld dazu? Es brauchte ja nicht gerade in Lumpen verdient zu sein. Wenn er jetzt Geld hätte, wie würde er andere glücklich machen! Diese armen Fabrikmädchen! Sie sollten nicht mehr auf den Lumpensäcken ihren Happen verzehren mit schmutzigen Fingern, die Kehle trocken vom gefährlichen Staub. Eine Küche würde er einrichten, sie daraus zu speisen – gutes, warmes, auskömmliches Essen – und einen Raum würde er ihnen bauen, groß und luftig und licht, darin sie sich erfrischen konnten und ausruhen. Wie gut hätten sie’s da! Und diese Schafe, die hier weideten, die sollten auch nicht irre gehen fürder mehr. Wie ein guter Herr wollte er sie um sich sammeln und sie nicht fragen: wo bist du gewesen, was hast du getan? Ah, wie vieles ließe sich schaffen, wie vieles gutmachen, [S. 50] was die Gesellschaft verbrochen hatte! Diese Gesellschaft, diese satten Philister, die hier heraufkamen, die armen Kerle anzuglotzen. War es etwa ihr Verdienst, daß sie da unten ehrlich in ihren Häusern saßen?!

Josef war aufgesprungen, die Faust schüttelte er in die Luft. So eng wie ihre Gassen waren sie, so verbaut in ihren Gefühlen wie ihre verschnörkelten Häuser; über ihren Bergrand sahen sie nicht weg. Da war Cousine Schmölder, eine herzensgute Frau, aber – nur ihr Haus, ihre Familie. Und das Mädel?! Nun, Hedde war allerliebst. Jugend, und sei sie noch so nach der Schablone, ist immer reizend. Aber sie würde ja nur allzubald den Sohn des Konkurrenten aus Aachen heiraten und genau so werden, wie ihre Mutter jetzt war – sie sah ihr jetzt schon zuweilen erschreckend ähnlich – oder vielleicht den Oberleutnant aus dem Lager, den Adjutanten von Scheffler, von dem sie ihm schon mehrmals mit tiefem Erröten erzählt hatte. Nun, was ging’s ihn an?!

Er mußte lachen, mitten aus seinem Ernst heraus. So ging es ihm immer, er konnte sich eben selber nicht ernst nehmen – und er, er wollte andere glossieren?! Das spöttische Lachen schwand rasch von seinem Gesicht. Er sah auf einmal wieder alt aus und müde und traurig, als er jetzt das Antlitz nach jener Seite kehrte, wo die Sonne groß und leuchtend überm Vennrand hing und das Kreuz auf der Marienley, dem einsamen Felsen mitten im Heidemeer, in einen Glorienschein hüllte.

Langsam, fast widerwillig das Auge losreißend, das doch die Fülle des Lichtes nicht ertragen konnte und zu tränen begann, schickte er sich zur Heimkehr an. Er mußte lange geträumt haben. Wie viel Uhr es wohl sein mochte? Nun, Feierabend noch nicht. Noch immer irrten die Schafe durchs Heidemeer, und der Hirt trieb sie vor sich her. So früh gabs [S. 51] keine Rast für die Arbeiter auf dem Venn. Halbgebückt standen sie – die einen hackten, die anderen gruben – oh weh, ihnen mußte ja der Rücken fast brechen!

Es war ein Feuer angezündet, langsam schwelend fraß die Flamme Wurzeln und Gestrüpp; ein schwerer Rauch kroch über den Moorboden und stieg an gegen die Sonne. Das war ein Kampf wie der Kampf der Finsternis gegen das Licht. Aber der schwarze Rauch war der Stärkere, er verschlang das Licht.

Pfui, wie der stank! Unangenehm berührt, rümpfte Josef Schmölder die Nase. Und dann schauerte er zusammen: hu: kalt war das mit einem Mal, nun die Sonne verschwunden war und die Nebel über dem Vennrücken lagerten! Nur um das Kreuz der Marienley war es noch hell, als habe sich alles Licht des scheidenden Tages darum versammelt. Schwarz hob sich die Kreuzesform vom Goldgrund ab. Ob die Blicke jener Elenden sich jetzt wohl auch dorthin richteten? Ob sie das Kreuz wie einen Trost, wie eine Verheißung sahen, oder ob es ihnen drohend erschien, grausig und blutig, eine Mahnung an das eigene Geschick?! Sie alle waren ans Kreuz geschlagen. Wer im Leben wäre das nicht?!

Mit einem Seufzer schickte sich Josef Schmölder nun zum Gehen an. Er stapfte durchs struppige Kraut der Chaussee zu. Was sollte er noch hier oben? Wenn er den armen Teufeln noch helfen könnte!

Dicht kam er an einem Paar vorüber. Er grüßte sie aus seiner leidvollen Stimmung heraus mit einem weichen: »Guten Abend!«

Die blassen, verschwitzten Gesichter starrten ihn einen Augenblick an. Dann wandten sich die Sträflinge wieder ihrer Arbeit zu; kein Gegengruß, kein Zug der stumpfen Gesichter verriet, daß sie das »Guten Abend« verstanden hatten.

[S. 52] Wie wenig Freundlichkeit mußten diese erfahren haben! Ein ungeheures Mitleid schwellte Josef die Seele. Da hörte er ein Lachen hinter sich; rasch blickte er sich um. Sie standen und gafften ihm nach. Zwei häßliche, rohe, gemeine Gesichter. Der Rothaarige, dem die Ohren so weit vom Kopfe abstanden, lachte hinter ihm drein. Es war nur ein kurzherausgestoßenes, sekundenlanges Auflachen, ein heiseres Keuchen, aber Josef fühlte wohl, dieses Lachen galt ihm. Sie lachten über den Herrn, der mit hellen Hosen, mit braunen Schuhen, mit steifem Hut hier oben herumspazierte. Er schämte sich plötzlich seiner Kleidung – die waren halbnackt, er ging wie ein Stutzer.

Mit hastigen Schritten lief er weiter. Nur rasch! Übrigens, denen hätte er nicht begegnen mögen ganz allein im stillen Wald oder noch weiter draußen auf dem Venn! Hätten sie da nicht ein gewisses Anrecht gehabt, zu sagen: »Her mit dem Rock, den Stiefeln, mit dem Hut?!« Nackt wie sie war auch er auf die Welt gekommen – alle gleich – das Schicksal hatte nur mit ihnen gespielt, hatte den einen besser angezogen, den anderen mit Lumpen behangen. Eigenes Zutun war verflucht wenig dabei!

Josef fühlte, wenn jetzt so einer gekommen wäre, er hätte sich ausgezogen bis aufs Hemd, ihm alles gegeben. Freiwillig. Aber es war doch gut, daß keiner kam. Gut auch, daß er jetzt die harte Straße, die, ohne Chausseebäume, ohne menschliche Behausung, als einzige Verkehrsader das Venn in zwei Teile scheidet, unter seinen Sohlen fühlte. Er lüftete den Hut und wischte den Schweiß von der Stirn. Ah, jetzt ging sich’s gemächlich bergab! Durch grüne Matten schlängelte das Flüßchen, dem Vennsumpf entsprungen, sein jetzt schon ganz klares Wasser und ließ die Forellen sehen, die silbern aufschnellten [S. 53] und im Abendstrahl nach Mücken schnappten. Vom alten Torfschuppen an war alles schon Heckenbroicher Weideland.

Friedlich klang die Abendglocke, und über die Hecken stiegen kerzengerade zarte Rauchsäulchen in den silbrigen Aether. Die harte Vennchaussee war zur gepflasterten Dorfstraße geworden. Hinter den Hecken brüllte das Vieh, und Melkeimer klapperten, und Stalltüren knarrten. Von Menschen nichts zu sehen, alles war wie ausgestorben, und doch belebt von einem heimlichen Leben, das sich hinter jenen Hecken abspielte, die wie Schutzwehren gegen alles Ungemach standen, wie Hüterinnen eines bescheidenen, weltfernen, friedvollen Glücks. Wer doch so wohnen könnte!

Vorhin, als sie in der Equipage durchgerasselt waren, hatte Josef den Zauber des stillen Dorfes nicht so empfunden wie jetzt. Leykuhlen war wahrhaftig ein beneidenswerter Mensch, daß er hier residieren konnte! Warum er ihn eigentlich noch nicht aufgesucht hatte?

Seit jenem lichten Vorfrühlingstag, an dem sie sich begegnet waren auf dem Fußpfad oberhalb der Fabrik, glaubte Josef schon alle Tage den Wunsch zu diesem Besuch gehabt zu haben, aber er war eben nie dazu gekommen. Es war noch nicht spät; wenn es auch nicht gerade Besuchszeit mehr war, er konnte wirklich einmal bei Leykuhlen vorsprechen. Aber wo lag dessen Haus? Rechts oder links hinein, oder geradeaus auf die Kirche zu? War niemand hier, den man fragen konnte? Er schaute sich um. Da hörte er Kinderstimmen.

Ein kleines Mädchen kam hinter einer schlecht gehaltenen Hecke hervor; die Füßchen der Kleinen traten leicht und lautlos, obgleich sie einen Jungen auf dem Arm schleppte, dessen dicker Kopf größer war als der ihre.

Der Junge greinte, als der Fremde auf sie zutrat. »Kinder, wo wohnt denn der Herr Bürgermeister?«

[S. 54] »Still, bis still, Doresche,« flüsterte die Kleine und drückte den dicken Kopf des Jungen mit der Zärtlichkeit einer Mutter an ihren Hals. Dann hob sie die Augen zu dem Herrn.

Josef war ganz überrascht von dem Blick dieser sanften schwarzen Augen. Wo hatte er solch ähnliche nur schon einmal gesehen? Er konnte sich nicht entsinnen. »Nun, Kleine?« sagte er freundlich und klopfte ihr das blasse Bäckchen.

Die Kleine wurde rot. »Bis still, Doresche, bis still!« Und dann sagte sie leise, wie zur Entschuldigung: »Der Bruder ist nicht an Fremde gewöhnt. Und er ist immer krank!« Sie mühte sich, hochdeutsch zu sprechen, jeden Konsonanten scharf betonend, besonders das »r«; fast fremdartig mutete dadurch ihre Sprache an, fremdartig wie ihre ganze Erscheinung.

Was für ein schönes Kind, feingliedrig und zart, nicht so, wie die Kinder aus anderen Dörfern! Josef betrachtete sie mit Interesse. Auch der Junge war nicht häßlich trotz seines dicken Kopfes; er wäre hübsch gewesen, wäre ihm nicht der Speichel über die hängende Unterlippe geflossen und hätten seine Augen nicht so glanz- und verständnislos geblickt. »Was fehlt denn deinem Brüderchen?« fragte er. Der Junge war wohl blöde? Schlaff hingen die welken Hände an der Schwester Hals; er mußte dem zarten Kinde eine fast unerträgliche Last sein. »Ich will dir den Jungen tragen. Wo willst du denn hin?«

Aber die Kleine schüttelte den Kopf. »Nee. Der Dores geht nicht bei fremde Leute. Ich will Euch zeigen, wo Ihr gehen müßt. Der Dores ist mir nicht zu schwer!« Sie schritt leichtfüßig vor ihm her, verstohlen den greinenden Bruder tröstend.

Josef hielt sich dicht hinter ihr. Unverzagt schritt sie aus; ihr Köpfchen mit dem hellen Kattuntüchelchen, unter dem [S. 55] sie das Haar verborgen trug, schmiegte sich bald links, bald rechts an den dicken Kopf. Wie eine Klette hing ihr der Junge am Halse; sie schleppte sich redlich. »Wie weit ist es denn noch?« fragte Josef ungeduldig; ihn dauerte die Kleine. »Sage mir nur, wo es ist, ich finde mich schon hin!«

»Ich gehe auch dorthin,« sagte sie verschämt, und ein leicht schelmisches Lächeln erhellte ihr ernsthaftes Gesichtchen.

Er war ganz entzückt. Wenn sie nur mehr plaudern wollte! Er machte sich an ihre Seite. Sie hatten wohl noch einen weiten Weg, das Dorf war ja endlos lang? Aber es gelang ihm nicht, viel aus ihr herauszubekommen; nur, daß der Dores, wie er noch ganz klein gewesen war, schon die Krämpfe bekommen hatte, und daß er nun schon sieben Jahre war, aber noch immer nicht in die Schule gehen konnte. Auch daß Vater schon einmal und die Mutter schon zweimal bitten gegangen waren nach Mariawald.

»Betest du auch für ihn?« fragte er.

»Ja!« Sie nickte wichtig. »Ich gehe alle Sonntag zur Maria im Stein nach der Ley. Aber –« sie seufzte auf, und ihr Hochdeutsch vergessend, sagte sie tief errötend: »Et notzt nühst!«

Er lachte auf; das klang so komisch. Komisch und rührend zugleich. Er wollte sie streicheln, aber sein Lachen hatte sie scheu gemacht; nun sprach sie auch nicht mehr. Eiliger als zuvor lief sie wieder vor ihm her, bis sie die hohe Hecke gegenüber der Kirche erreicht hatten, die schönste Hecke in ganz Heckenbroich. Da drehte sie sich um und nickte bedeutsam, und verschwand dann so rasch hinter der Hecke, daß er nicht einmal Zeit hatte, ihr die Groschen, die er ihr geben wollte, ins Händchen zu drücken.

Er stand vor Bürgermeister Leykuhlens Haustür. Das angelehnte Gadder aufstoßend, trat er in den Flur, der dunkel [S. 56] war wie in allen Häusern. Aber nun öffnete sich eine Tür im Hintergrund, im schmalen Lichtstreif stand eine schlankgewachsene Frau: »’n Abend!«

Er nahm den Hut ab: aha, das war wohl die Frau Bürgermeister, das Mariechen?! Er glaubte sie nie früher gesehen zu haben.

Sie aber kannte ihn. Freundlich reichte sie ihm die Hand: »Mein Mann is noch nit zurück. Aber die Sitzung muß jleich aus sein. Bitte, treten Sie so lang als ein, Herr Schmölder! Nehmen Sie so lang als Platz!«

Sie führte ihn in die Stube und bot ihm einen Sitz auf dem Ledertuchsofa an, über das sie zuvor rasch mit der Schürze wischte. Das wäre nicht nötig gewesen; es war so sauber in der Stube, trotz des Dämmerlichtes blinkten Stühle und Tisch und Schrank und Kommode wie neupoliert. Bunte Tassen und Väschen standen auf der Kommodendecke. Vor der kleinen Statue der Muttergottes über der Stubentür brannte hinter rotem Glas das ewige Lämpchen. Am Spiegel steckten geweihte Palmzweige. Beim Fensterplatz, wo der Nähtisch stand, hing ein porzellanenes Weihwasserkesselchen, und überm Sofa, breit eingerahmt, in schwarzer Seide und Perlen gestickt:

» Erkannt, gelobt, gebenedeit, geliebt, verehrt, verherrlicht

allzeit das göttliche Herz Jesu und das reinste

Herz Mariä! «

Der aus der freien Luft Gekommene sah sich um: so sauber, so wohlgeordnet, es roch nach frischem Wasser und ein wenig nach gutem Heu. Ein angenehmer Geruch, und doch beklemmte ihn etwas. Seine Augen hafteten auf dem gestickten Spruch über dem Sofa: warum hatten die Leute da nicht lieber ein schönes Bild hängen? Es gab so gute Reproduktionen. Es überkam ihn wie eine leichte Verlegenheit: was sollte er mit dieser Frau nun reden?

[S. 57] Da sagte sie schon: »Sie werden sich wundern, Herr Schmölder, dat ich Sie jleich jekannt hab. Der Bärtes hat mir auch neulich von Ihnen erzählt. So mußten Sie aussehen und nit anders. Wie jeht et Ihnen dann, jefällt et Ihnen jetzt besser unten? Ich hab als oft daran jedacht, wat Sie zum Bärtes von unsern Fabrickmädchens jesagt haben.«

Er sah sie verwundert an, da lächelte sie. »Wissen Sie, Herr Schmölder, in unsrer Still fällt so’n Wort wie ’ne Stein in den Brunnen. Man hört dat weit und noch lang hernach. Et is schön von Ihnen, Herr Schmölder, dat Sie Intress’ für unsre Leut haben!« Sie reichte ihm die Hand. »Sie würden sich ’ne Jotteslohn verdienen, wenn Sie Ihrem Vetter sagen täten, er soll den Mädchens mittags wat mehr Zeit jeben, dat sie in die Stadt ereinjehen könnten. Da haben doch ihrer viele Bekannte oder Verwandte, da könnten sie doch en warm Supp kriegen; wenigstens im Winter!«

Eine nette und ganz verständige Frau! Josef setzte an, ihr seine Pläne, die ihm jetzt auf einmal wieder so lebendig wurden, als hätte er sie erst gestern ausgeheckt, mitzuteilen, als ein Kraspeln draußen auf dem Flur hörbar wurde. Und jetzt ein Singen, zart und fein.

»Aha, dat Kathrinche mit ’m Doresche. Huesgens Kinder – arme Leut!« Die Frau sprang auf.

Draußen erklang noch zaghaft, aber doch schon ein wenig stärker:

»O Maria, sei gegrüßt,
Die du voller Gnade bist!
Sei gegrüßt, du schönste Zier,
Gott, der Herr, ist selbst mit dir.
Du bist hochgebenedeit – –«

Der Gesang verstummte jäh, Frau Leykuhlen hatte die Tür geöffnet. »He, wo steckt ihr dann?«

[S. 58] Das Kathrinchen war erschrocken in den dunkelsten Winkel entwichen. Es traute sich nicht vor, weil der fremde Herr es so anlachte. Erst auf ein zweites Geheiß kam es heran mit gesenktem Kopf, immer den Dores auf dem Arm, und hielt stumm der Frau Bürgermeister den blechernen Henkeltopf hin, darin es alle Mittag und Abend eine Suppe für die Mutter holte.

»Du singst ja so hübsch,« sagte Josef.

»Oh ja, dat Kathrinche kann schön singen,« sagte die Frau und strich der Kleinen eine dunkle Haarsträhne unters Kopftüchelchen. »Setz doch de schwere Jung hin, drag den nit ümmer, Köngd!« Und als die Kleine zögernd flüsterte: »Da kriescht he!« nahm sie kurz entschlossen den Jungen selber auf den Arm. »Bis still, Dores, laaß dat Kathrinche dem Hähr jet singe! Sing ens, Köngd, sing ens, Kathrinche, wat du Christdag jesongen hast in der Scholl!«

Das Kathrinchen stellte sich in Positur, es wagte nicht zu widerstreben. Es faltete die Hände, ergeben-demütig.

Ah, das wurde einmal eine, die ihr Kreuz trug ohne Murren! Eine Rührung überkam den Junggesellen.

Nun öffnete das Mädchen sein Mündchen; in die dunklen Augen unterm Kopftüchelchen kam ein hellerer Strahl, es schlug sie weit auf.

»O du liebes Jesukind,
Laß dich vielmals grüßen,
Alle Kinder, die hier sind,
Fallen dir zu Füßen.
All um deine Liebe bitten,
Die so viel für uns gelitten.
Schenk uns deine Liebe!«

Die kindliche Stimme stieg hell und klar in die Höhe. Josef nickte wohlgefällig: hübsch musikalisch, sicher und rein!

[S. 59] »Oh ja, die kann et jut,« sagte die Frau und dann hielt sie dem Dores den Mund zu: »Bis doch still, Jöngelche!« Der Dores wollte durchaus mitbrummen.

»O du liebes Jesukind,
In der Kripp’ im Stalle
Wehte gar so kalt der Wind,
Littst du für uns alle.
Aber jetzt sollst warm du liegen,
Jetzt soll unser Herz dich wiegen.
Komm in unsre Herzen!«

»Du brauchst dat janze Liedche nit zu singe,« sagte die Bürgermeisterin; sie konnte den Dores kaum bändigen, eigensinnig stieß er immer ihre Hand weg von seinem Mund und trat ihr mit den welken Beinen gegen den Leib. Schon fing er an, falsch in den Gesang hineinzukrähen.

Aber Kathrinchen, stärker und heller als zuvor, die Augen unverwandt emporgerichtet, sang die Schlußstrophe:

»O du süßes Jesukind,
Höre unser Flehen:
Laß die Kinder, die hier sind,
In den Himmel gehen,
Daß sie mit den Engeln droben
Dich und deine Mutter loben.
Jesum und Maria!«

Josef Schmölder sagte kein Wort, er hatte gelauscht mit geneigtem Kopf. »Laß die Kinder, die hier sind, in den Himmel gehen« – das hatte ihn tief gerührt. Er fühlte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen; unter einem Scherz suchte er seine Stimmung zu verbergen. Musikalisch, wie er war, pfiff er die Melodie des eben gehörten Liedes nach, und dann sagte er: »Ich denke, es gibt keinen Singvogel im Venn?! Da hätten [S. 60] wir ja doch einen!« Er versuchte, die zurückweichende Kleine in die Wange zu kneifen.

Aber die Bürgermeisterin blieb ernst. »Der heilige Schutzengel behüte dich!« sagte sie und legte dem Kind die Hand auf den Kopf. »So, Kathrinche, nu komm, nu kriegste de Zupp. Entschuldigen Sie ’ne Augeblick!«

Sie ging mit den Kindern in die Küche. Als sie nach kurzer Zeit wiederkam, fand sie ihren Gast zum Aufbruch gerüstet; er hatte den Hut aufgesetzt und den Spazierstock wieder zur Hand genommen.

»Wollen Sie nit auf meine Mann warten?«

»Nein, Frau Bürgermeister« – er warf einen raschen Blick durchs Fenster – »es wird mir sonst zu dunkel.«

»Aber ’n Jläsche Wein – nee, Sie müssen doch ’ne Schluck trinke!« Sie nötigte ihn; sie hatte eine Flasche unterm Arm mit hereingebracht und auf einem Tablett ein paar Gläser.

Aber er nahm nichts an, er wollte auch nicht länger mehr warten. »Ich komme wieder, ich komme bald wieder, grüßen Sie den Bärtes einstweilen vielmals!« Er drückte ihr die Hand.

Und nun war er draußen. Es war ihm auf einmal eng geworden in der dämmerigen Stube. Nun das kleine Mädchen mit den tiefdunklen Augen fort war, fehlte ihm der poetische Anreiz. Eine nette Frau, das Mariechen, nett, sauber, aber nüchtern wie ihre wohlgeordnete Stube mit dem vielen heiligen Krimskrams drin! Huesgen, – Huesgen, wo hatte er doch den Namen schon einmal gehört? Huesgen –? Er konnte sich nicht entsinnen.

Es war schon spät. Unten in der Stadt war es sicher schon ganz dunkel, wenn hier oben der Himmel auch noch einiges Licht spendete. Alles – die Viehweiden mit den vereinzelt [S. 61] ragenden Hainbuchen, die Dachgiebel, die Hecken, die gepflasterte Straße, die Kirche, die Schule, das Wirtshaus – war von silbrigem Grau umzittert. Nur ein Hauch noch von zartem Rosenrot war in diesem Silbergrau; bald würde alles Licht tot sein. Doch da – unwillkürlich hatte er sich nach der Richtung umgedreht, aus der er vorhin gekommen war – wie wunderbar! Da brannte es. In höchster Glut. Als sei das Venn ein Meer von Glanz und Farbe, das den Sonnenball in sich geschluckt hatte und nun selber eine Quelle des Lichts war. Der Horizont, der seinen Scheitel begrenzte, glühte tiefrot. Wie Flammen leckten feurige Zungen in den bleiernen Nachthimmel hinauf. Ein Glanz kam von dort her, eine Farbenpracht, daß jetzt die Dorfstraße mit ihrem Grau von Steinen und Staub zum rosigen Band wurde und die weiße Wand der kahlen Kirche wie ein Spiegel den Vennglanz auffing und widerstrahlte.

Vom Blut des Abends getränkt, erschien alles verklärt. Frommen Pilgern gleich zogen Männer und Frauen des Weges. Das waren die müden Arbeiter und Arbeiterinnen, die jetzt nach Hause kamen aus Schmölders Fabrik. Die Tür der Kirche stand weit geöffnet; von der Straße aus sah man die glimmende Lampe vorm Hochaltar. Die Männer zogen die Hüte; von den Weibern aber wäre keines vorübergegangen. An ihren Strümpfen unablässig strickend, waren sie bergan gestiegen, nun ruhten die rasselnden Nadeln, dafür wurden die Rosenkränze aus den Taschen gezogen. Die Kügelchen rollten. Müde, hungrige Gesichter neigten sich über gefaltete Hände. Es war schon spät, dunkel war’s auch schon in der Kirche, die Mägen knurrten, aber ein paar Ave oder ein Vaterunser mußten hier doch noch gebetet werden.

Des Huesgen-Jörres Bäreb war als Letzte in die Kirche getreten. Langsamer als die anderen war sie bergan gegangen; [S. 62] die Füße waren ihr dick; sie hatte die ganze Nacht zu waschen gehabt, beim ersten Sonnenstrahl schon hatte sie aufgehängt; und dann, ohne das Bett zu berühren, das sie mit dem Kathrinchen und dem zweijährigen Drückchen teilte, war sie zur Fabrik hinuntergegangen, als der Tau noch gefroren die Gräser bereifte und es sie eisig durchfröstelte nach durchwachter Nacht. Brennend hatten ihre Augen nach Schlaf verlangt den ganzen Tag. Während die andern Mittagszeit machten, ihr Brot verzehrten und von ihren Liebsten sich was erzählten, hatte sie sich zwischen den Lumpensäcken lang hingestreckt. Sie mochte nicht essen, und von einem Liebsten zu erzählen hatte sie auch nichts.

Die junge Bäreb hatte noch keinen Schatz. Was erzählten die andern nicht alles in diesen langen Stunden, die man zusammenhockte bei der Arbeit, zu der man nicht Herz und Gedanken, kaum Sinne brauchte, nur die Finger. Die Anna von der Lämmerheck, die war voller Jubel; der ihr Schatz kam jetzt bald frei vom Militär, dann wollten sie heiraten. Und die Angenieß, deren Bruder als Hausknecht unten im Schwan diente, – Jesus, was wußte die nicht alles zu erzählen! Erst leise kichernd und dann vor Lachen fast berstend, hörten die Mädchen zu, was die Angenieß von der Madam für Stückchen erzählte. »Ba!« stieß dann die Bäreb wohl heraus und wandte die Augen ab. Ein glühendes Rot der Scham und des Schrecks färbte ihr bleiches Gesicht: was, der Herr hier, der Herr Schmölder selber ging auch zu der Madam? Das war nicht fein! Und doch durchrieselte es sie von Kopf bis zu den Füßen mit einem seltsam heißen, unruhigen Fluten. Mit zitternden Händen mechanisch ihre Arbeit tuend, blickte sie starr auf diese, und ihre Lippen, die sie sich blutrot gebissen hatte, zuckten wie von verhaltenem Weinen. Gut, daß die Angenieß dann mit der Litanei anhub:

[S. 63] »Heiliges Herz, Mariä,
Herz Mariä, ohne Sünde empfangen –«

und sie dann alle murmelnd einzufallen hatten:

»Bitte für uns!«

Mit einem Seufzer sah Bäreb von ihrem Rosenkranz auf – die Kirche war leer. Nun war auch sie fertig. Den Rock herunterstreifend, den sie zum Knieen vorn aufgeschlagen hatte, tunkte sie die Finger in den Weihwasserkessel an der Tür, betupfte sich Stirn und Brust und trat dann hinaus.

Draußen war alles Rot erloschen; nur ein gelblicher Streifen über der purpurnen Finsternis des Venn-Rückens kündete, daß es noch nicht tiefe Nacht war. Sonst war es dunkel. Keine Laterne brannte die lange Dorfstraße auf und ab. Fast wäre die verspätete Beterin in ihrer Eile gegen eine Männergestalt gerannt, die auf den Kirchstufen stand, unbeweglich, den Kopf zum Venn hingewendet. Sie prallte zurück. »Hoppla!« hatte der Mann gesagt und eine Bewegung gemacht, als wolle er sie auffangen. Sie bekam einen großen Schreck.

Josef Schmölder war es. Er, der so rasch hatte heimgehen wollen, hatte sich erst überm Anblick des Sonnenuntergangs verzögert, und dann hatte er sich nicht losreißen mögen von den leisen Stimmen der Nacht, denen zu lauschen er hier auf den Stufen stehengeblieben war. Die Schwalben, die unterm Dach der Kirche Nest bei Nest angekleckst hatten und mit immerwährendem jauchzenden Abendschrei ihre Wohnstätten umsegelten, schwiegen jetzt; dafür ließen die Unken ihre Stimmen hören. Hier unter den großen Steinplatten vor der Kirchtür mußte die eine sitzen und drüben am Kirchhof die zweite. Sie antworteten sich unausgesetzt. Wie das leise Anschlagen eines silbernen Glöckchens hörte es sich an. Lieblich [S. 64] und doch in seiner Monotonie wehmütig. Warum klagten die Tierchen so?!

Josef war nicht minder erschrocken als das Mädchen, das gegen ihn anlief. Zwei schwarze Augen blickten ihn an – er sah sie ganz deutlich in einem plötzlichen Mondstrahl – und nun schob der Mond völlig das Nachtgewölk beiseite, das ihn bis jetzt verdeckt hatte, kalt und klar stand er mit einemmal über dem Kirchhof, die einzel-ragenden Bäume mit ihren wehenden Schöpfen kitzelten ihm das rundliche Gesicht.

Ei – Josef blickte in ein verlegenes, ihn scheu anlächelndes Mädchenantlitz – war das nicht das Mädchen, für dessen Mutter er damals den Doktor heraufgeholt hatte?!

Auch Bäreb erkannte den Herrn wieder, dessen sie so oft im Gebet gedacht hatte. Wie oft hatte sie danach verlangt, ihm sagen zu können: »Unser Herrjott jeb Uech der Lohn!« Ihre Schüchternheit überwindend, streckte sie ihm die Hand hin; sie schüttelte ihm die seine fast aus dem Gelenk. Und dann wurde sie rot über die eigene Kühnheit und wußte nicht mehr, wie loskommen. Sie hielt noch immer des Herrn Hand gepackt, ihre Augen, zutraulich und doch scheu, guckten auf zu ihm mit einer gewissen Andacht: ach, wäre der damals nicht hinuntergelaufen so geschwind und hätte den Doktor heraufgeschickt, wer weiß, die Mutter wäre damals sicher gestorben!

Josef lächelte; nun wußte er auf einmal, an wen des Kathrinchens Augen ihn erinnert hatten. »Du,« sagte er und hielt die arbeitsharte Hand fest, »sag mal, hast du eine Schwester, die Kathrinchen heißt?!«

»Ja, oß Kathrinche!« Das Mädchen lächelte, Grübchen vertieften sich in Wangen und Kinn.

»Und einen Bruder, den Dores?«

Da wurde das hübsche Mädchengesicht trüb.

Josef klopfte ihr die Wange: »Na, dann weiß ich Bescheid. [S. 65] Und deine Mutter ist noch immer schwach, der Dores ist auch noch immer nicht besser, und du und das Kathrinchen, ihr habt eure liebe Not!«

Fast entsetzt, mit offenem Mund, starrte Bäreb ihn an: woher wußte der Herr denn das alles? Wußte er am Ende auch, daß sie heimlich oft, oh, sehr oft, seiner gedacht hatte und immer gewünscht, sie möchte ihn noch einmal wiedersehen?! Sie stotterte, sie stammelte etwas Unverständliches. Dann aber riß sie ihre Hand aus der seinen mit einem hastigen: »Adjüs!« Jesus, Maria, was hielt der Mann sie wohl für dumm und ohne Manier?!

Mit hartem Geklapper ihrer Nägelschuh trabte sie davon. Ganz außer Atem und aufgeregt hemmte sie ihren Lauf erst, als sie schon ein weites Stück von der Kirche entfernt war. Nun wagte sie es, sich noch einmal umzudrehen. Aber sie sah ihn nicht mehr. Kahl und weiß schimmerten die leeren Kirchenstufen im kalten Mondlicht.


IV

» Et is ’ne Skandal,« sagte Bürgermeister Leykuhlen zu seiner Frau, als er auf dem Ledertuchsofa in der Stube den Sonntagsnachmittagskaffee trank.

Sie sagte nichts, sie strich ihm nur ein Stück Blatz, schenkte ihm noch einmal ein und setzte sich dann auf ihren Stuhl am Fenster. Da lag auf dem Nähtisch, sorgfältig in sauberes Leinen eingeschlagen, die Altardecke, die bald fertig sein mußte; an der sie stickte, oft halbe Nächte, damit die aufliegen konnte zu Pfingsten, wenn die Waller auszogen zu den Prozessionen nach Heimbach und Mariawald oder anderswohin zu heiligen Orten. Aber heute stickte sie nicht, so sehr es auch drängte; heute war Sonntag, heute hielt sie ein Andachtsbuch in den Händen.

[S. 66] »Et is ’ne Skandal, Marieche,« sagte Leykuhlen wieder, und dann, als sie noch nichts darauf erwiderte, zum dritten Male: »’ne Skandal, Marieche!«

Sie hob den Kopf und sah ihn einen Augenblick an: mit was war es denn ein Skandal? Sie wußte nicht genau, meinte er damit seinen jetzt ständigen Ärger mit dem Landrat, oder seinen Ärger mit den Gemeindeältesten, oder ärgerte ihn draußen das Wagenrollen und Hufegeklapper auf der früher stets so sonntäglich-stillen, nur zur Zeit des Hochamts- oder des Vesperläutens belebten Straße?!

Eben rasselte schon wieder ein Wagen vorüber, er streifte fast die Hecke.

»Dat Fraumensch!« Der Bürgermeister fuhr vom Sofa auf. »Zapperlot, sind se denn all jeck?«

Seit das Lager oben voller Militär lag, war dieses Vorbeirasseln des Bürgermeisters steter Ärger. Was ging es ihn an, wenn die Herren sich unten volltranken und ihre Taler ausgaben, als wären es Pfennige?! Aber das wurmte ihn, daß hier im Lande Eine sich finden ließ, die den Herren so gefällig war, daß die es sogar riskierten, sich die Hälse zu brechen, wenn sie toll und voll durch die Nacht heimritten oder -fuhren. Leykuhlen lachte zornig auf: das fehlte noch, daß sich noch mehrere fänden, die es der da unten nachmachten! Ach ja – er seufzte – es war leider nicht mehr so wie früher! Im Rücken die Sträflingskolonie – von der einen Seite das Lager – von der anderen die Helene – eine böse Umzingelung für Heckenbroich! Daß der Teufel alle miteinander hole!

»Du mußt nit eso auf dat Lenche kiefe, Bärtes,« sagte die Frau. »Janz allein is dat nit schuld. En lustige Flieg war die als in der Schul. Aber hätten wir dat Lager nit herjekriegt, so wär dat doch nit mit ihr jeworden. Dat Militär is dran Schuld. Unsren Mädcher kucken se auch als nach. Un die?! [S. 67] No, du sollst emal sehen, wat dat is, wenn die Soldaten hier langs kommen! Alles am Tor! Un die Kerls lachen und pfeifen und werfen Kußhändcher, un uns Mädcher machen ’ne Hals – eso lang! Du mußt et dem Herr Pastor sagen, dat de ens davon predigt. Wo Militär hinkommt, da is auch leicht Malheur!«

»No, Marieche! Hätten wir den Militärübungsplatz nit hier oben und nit dat viele Jeld für unser Land jekriegt, wir hätten auch unsre neue Kirch nit bauen können, unsre schöne neue Kirch. Dat war uns ja, wie ’ne Jnad von Jott, dat viele Jeld. Un da hat jeder jern jejeben für den heiligen Zweck – aus freien Stücken, aus Dankbarkeit. Un wat mein Vater sich immer jewünscht hat, un wat er immer zu mir jesagt hat, als ich noch ’ne dumme Jung war – ›En neue Kirch, et is en Schand, dat wir noch kein neue Kirch han!‹ – un wat dein Vater, unser alter Bürjermeister, anjestrebt hat zeit seines Lebens, dat hat sich nu realisieren lassen, dat haben wir jetzt!« Er war über dem Sprechen rot geworden in einer freudigen Erregung.

Ja, freilich, die Kirche war schön, die war ein Werk, auf das man stolz sein konnte. Weit hinein ins Land ragte sie, ein stolzer Dom, stattlicher als manche Stadt sie aufwies, aber – ein leichtes Sinnen ging über der Frau Gesicht – hatte man denn nicht auch in der alten und kleinen Kirche gut beten können? Sie stand auf und legte mit einem Lächeln ihrem Mann die Hand auf die Schulter: »Bärtes, wenn ich drüber nachdenk, die heilige Jungfrau, die Heiligen all haben uns auch in der alten Kirch gehört!«

Da sah er sie ganz bestürzt an: das sagte Mariechen?! Die kam ja bald mit dem Landrat überein, der ihm immer und immer zu hören gab, wieviel vernünftiger es gewesen wäre, lieber eine Wasserleitung zu bauen, eventuell ein Krankenhaus [S. 68] oder anderes Gemeinnütziges. Er lachte bitter auf: »Für das viele Geld!« sagte der Landrat! Gelangt hatte das Geld doch nicht, Schulden waren doch noch übrig geblieben vom Kirchenbau. Aber Strich darunter und gesehen, wie man die Schulden abgezahlt kriegte mit der Zeit! Er ärgerte sich heut fast zum ersten Mal über sein Mariechen: wie konnte sie so etwas Dummes sagen?!

Er verließ die Stube und ging eilenden Schritts über den Kirchplatz hinüber zum Pastorat. Beim Pastor, hinter der dicken Mauer, hörte man das verdammte Wagengerassel nicht so. –

Nicht nur zu Wagen und zu Pferd, auch zu Rad und zu Fuß kamen die Herren vom Platz die lange Dorfstraße herunter. Man mußte hinunter, auf jeden Fall, es war zum Blödsinnigwerden oben auf der Heide; rein stumpfsinnig wurde man bei dem steten Einerlei. So viel man auch schon vom Truppenübungsplatz hatte munkeln hören, so trostlos hatte man es sich doch da nicht vorgestellt. Das war ja ein Sibirien, eine Verbannung. Nichts als Venn, endloses Venn, Moor und Himmel. Und die Mädchen, die man ab und zu bei Ritten durch das Dorf vor Augen bekam, waren blöd und unzugänglich, stupide Kreaturen. Ein Glück nur, daß die lustige Witwe unten auf einen guten Keller hielt und auch auf die nötige Laune. Sie setzte zwar etwas reichlich an, mit der Zeit würde sie recht fett werden, auch konnte sie mitunter fast lästig sein in ihrer Liebenswürdigkeit, aber –! Wenn die Helene nicht wäre, weiß Gott, man hätte sich aufhängen können am krummen Ast. Ein Teufelsweib, so blond sie war, und so naiv sie auch tat! Achtung, sonst kam man ihr nicht wieder aus den Krällchen!

Egon von Scheffler gab dem kleinen Abeking einige Verhaltungsmaßregeln. Sie hatten sich zusammen mit einem Stabsarzt und mit einem Leutnant, dem Abkommandierten [S. 69] Schmidt von den Deutzer Kürassieren, das Break vom Wirt an der Bahn gemietet; sämtliche Krümperwagen waren längst voraus vergriffen gewesen. Der Wirt würde zwar wieder gehörig schinden – oh ja, es kam heute schon was zusammen mit der Rechnung bei Helenchen, aber – na, man mußte den Leuten doch was zu verdienen geben! Nicht nur Manieren, auch Geld brachte man in diesen entlegenen Erdenwinkel. ›Das Militär ist ein Hauptfaktor der Zivilisation!‹ Exzellenz hatte das neulich in seiner Rede beim Liebesmahl im Kasino sehr energisch betont.

Abeking hatte anfänglich ein wenig beklommen dagesessen, er hatte weder soviel Geld wie der reiche Schmidt, der Sohn eines Großindustriellen, noch war er so leichtlebig wie der Adjutant von Scheffler. Aber die Sonne schien hell, Sonntag wars, und man konnte sich doch nicht gut ausschließen, wenn die so viel älteren Kameraden aufforderten. Und dann – zwar hätte ers sich nicht einmal eingestanden – sein Herz klopfte, wenn er des schönen Weibes im Weißen Schwan gedachte. Es verdroß den jungen Leutnant immer, wenn er die anderen in so leichtem Ton von ihr sprechen hörte. Der Respekt verbot ihm, ihnen über den Mund zu fahren, aber, weiß Gott, kalten Blutes hätte er Scheffler zuweilen niederknallen können, respektloser konnte man ja von einer Viehmagd nicht reden! Wenn ihnen Helene nicht salonfähig erschien, warum rannten sie denn alle hin?! Mochten sie doch wo anders hingehen und ihm das Feld allein überlassen!

»Warum starren Sie denn so finster drein, Abeking?« fragte Scheffler und lachend sagte der Kürassier: »Er ist schon eifersüchtig!«

»Keine Spur!« Der junge Leutnant bemühte sich, das ganz ruhig zu sagen, aber er warf die Lippen auf wie ein schmollender Knabe. Die beiden Gewitzten lasen ihm die Gedanken [S. 70] vom Gesicht ab wie aus einem offenen Buch. Heiliges Kanonenrohr, Abeking war wirklich ernsthaft in die Helene verliebt. Wie finster er immer die Brauen zusammenschob, wenn von ihr die Rede war, und Blicke schoß er, die Dolchstößen gleichkamen!

Nun machten sie sich ein Vergnügen daraus, immer wieder und wieder von Helenchen zu reden. Alle die Liebhaber, die sie schon gehabt hatte, – Militär und Zivil, – wurden der Reihe nach aufgezählt. Der Stabsarzt hatte auch zu ihnen gehört; jedenfalls ließ er sich’s ruhig gefallen, als man in der langen Reihe auch seinen Namen nannte, und widersprach nicht. Hier oben war wenigstens das eine Gute: hier, fern aller Zivilisation, brauchte man sich nicht den gleichen Zwang auferlegen, wie anderswo.

»Abeking,« schrie Scheffler laut, um sich im Rasseln der Räder, die mit einem furchtbaren Lärm über die schlechtgepflasterte Dorfstraße rollten, verständlich zu machen, »nichts für ungut, einen famosen Geschmack haben Sie aber doch entwickelt! Beichten Sie mal, wie weit sind Sie denn mit ihr gekommen? Schreibt sie Ihnen auch schon Briefchen? Vorigen Sommer, der Radebruk, konnte ein paar Dutzend aufweisen!«

»Radebruk – Radebruk?!« stammelte der Eifersüchtige nach und sah wild um sich.

»Ja wohl, Radebruk, Hauptmann von Radebruk! Sie wissen doch, der bei den Saarlouiser!«

»Der –?« Abeking atmete erleichtert auf. »Der ist ja verheiratet!«

»Na, wenn schon!« Scheffler brach in ein Gelächter aus, und dann wechselte er mit den anderen beiden Herren Blicke: oh diese Unschuld! Aber sie sagten nichts mehr, kränken wollten sie den jüngeren Kameraden denn doch nicht.

Nun waren sie auf weicherem Boden, das Rädergerassel [S. 71] hatte aufgehört, das Dorf lag ihnen im Rücken; in großen Kehren schlängelte sich die Chaussee zwischen mächtigen Tannen und Mattengrün hinab zur Au. Noch verdeckten die Riesentannen den ragenden Schornstein der Schmölderschen Fabrik. Schroff, scheinbar noch von keinem Fuß betreten, reckten Felsklippen ihre grauen Fratzen vom Waldhang jenseits; silbern, in Sprüngen und Sprüngchen, plätschernd, murmelnd, glucksend hüpfte ein Forellenbach zu Tal. Die Landschaft war wild und doch lieblich, aber keiner der Herren im Wagen hatte heute ein Auge dafür.

Selbst Abeking nicht; wenn er auch nicht schlief, wie der Stabsarzt, und gelangweilt gähnte, wie Schmidt und Scheffler, die eine Zigarette nach der andern ansteckten. Er überlegte, wie er es anfangen sollte, mit der schönen Helene einmal allein zusammen zu sein. Ob er’s versuchte, die andern zu überdauern? Aber wie kam er dann wieder herauf, ins Lager zurück? Nun, so schlimm würde das nicht sein, zu Fuß einfach. Er verkrümelte sich eben ein bißchen, ließ sich nicht eher finden, als bis die anderen abgefahren waren – um Eins spätestens hatte Scheffler dem Wirt versprochen, ständen seine Gäule wieder im Stall – nun, und wenn sie dann alle glücklich weg waren, dann – dann –! Er hatte sie ja ewig nicht unter vier Augen gesprochen; seit dem Tode ihres Mannes überhaupt noch nicht. Er hatte ihr einen Kondolenzbrief geschrieben, ein schweres Stück Arbeit – kondolieren konnte man ihr ja eigentlich nicht, es war doch eine Erlösung für sie, daß sie den Säufer losgeworden war – aber sie hatte ihm nicht darauf geantwortet. Hatte er sie etwa beleidigt dadurch? Sie war doch sonst stets für Offenheit, eine ehrliche Natur, die sich gab, wie sie war, nicht besser, nicht schlechter. Das imponierte ihm ja gerade so.

Ein Husten Schefflers und ein Schimpfen von Schmidt [S. 72] schreckten ihn aus seinen Gedanken auf; auch der Stabsarzt fluchte. Sie waren in eine Wolke von Staub geraten; wie graues Mehl flog er, von Rädern und Hufen aufgewirbelt. Hier mußte die reine Völkerwanderung gewesen sein. Und nun kam auch noch ein Tuten den Berg herab. Wie ein Ungetüm sauste ein belgisches Automobil hinter ihnen drein, kaum daß der Bauernbursche auf dem Bock noch zur Seite lenken konnte. An den entsetzten Pferden flog es vorbei im Hui. Unwillkürlich waren die Herren im Wagen aufgesprungen: das fehlte auch noch, ein Auto! Und natürlich auch zur Helene – verdammt! Sie schimpften laut hinter dem Automobil drein, das längst nicht mehr zu sehen war, ihnen nur einen pestilenzialischen Benzingestank hinterlassen hatte.

»So fahren Sie doch, Kerl, fahren Sie zu in drei Teufels Namen!« brüllte der Adjutant den Kutscher an.

Der Wallone antwortete nicht, er tat, als verstände er kein Deutsch; ganz gemächlich setzte er sich wieder in Fahrt. Lange nach dem Automobilisten kamen sie im Städtchen an.

Im Weißen Schwan war es sehr lebhaft. Die tiefen Fenster des Speisesaals standen geöffnet, die Gardinen blähten sich im Zugwind; Tür und Fenster gegeneinander auf, denn es war drinnen voll und heiß. Es hatten schon welche zu Mittag gegessen und waren jetzt, zwischen Mokka und Maibowle, beim Skat; andere wollten noch dinieren, viele bestellten schon Abendbrot. Und zu trinken, alle zu trinken.

Ein Aushilfskellner im schmierigen schwarzen Jackett und der Hausknecht mit groben Fäusten rannten gehetzt hin und her. Jean, das Faktotum, das jeden Gast kannte, empfing mit vertraulichem Nicken die Wünsche der Kunden.

»Unverschämter Kerl!« murmelte Scheffler, als der Kellner die Achseln zuckte: »Bedaure sehr, Herr Oberleutnant, hier ist alles besetzt,« zugleich aber mit bedeutungsvollem Augenzwinkern [S. 73] auf ein verstecktes Türchen neben dem Büfett wies.

»Dreister Halunke!«

»Wie der Herr, so’s Gescherr,« sagte der Stabsarzt. Aber sie stapelten doch durch das versteckte Türchen in einen engen und dunklen Gang und durch diesen auf das heimliche Zimmer los.

Es war nicht leer, wie sie dies Privatgemach der schönen Helene zu finden erwartet hatten. Der kleine Sofatisch war in die Mitte gerückt, sechs Einjährige zwängten sich darum. Und zwischen ihnen, dicht Schulter an Schulter, die Ellenbogen auf den Tisch gestemmt, die schöne Helene. Eine Riesenbowle stand auf dem Tisch, der Sektkühler auf dem Boden – aha, die mußten es sich hier ja schon recht wohl haben sein lassen!

Vor dem musternden Blicke der Offiziere sprangen die sechs auf wie ein Mann. Hand an der Hosennaht, den Hals steif wie in Eisen, standen sie so stramm, wie sie nur konnten. Ihre vom Wein geröteten Gesichter wurden jetzt noch röter.

Der Adjutant winkte ab, aber er tat es mit geheimer Wut: grüne Jungens, wie konnten die sich unterstehen, sich hier so breit zu machen! Ein zorniger Blick streifte die Wirtin.

Helene saß auf ihrem Stuhl und lachte, lachte, daß sie sich schüttelte. Der Schreck von den armen Jungens! Haha, das war zum Totlachen, das war ein Spaß! »Hahahaha!« Sie konnte gar nicht aufhören mit Lachen. Keine Spur von Verlegenheit zeigte sie; Schefflers zornigen Blick mit einem ganz harmlosen erwidernd sprang sie jetzt auf und auf die Neugekommenen zu: »Tag zusammen, Tag, Tag!« Dann machte sie den Einjährigen einen Knix und zeigte ihnen lachend ihre weißen Zähne: »Adjüs, meine Herren!« Ihnen den Rücken kehrend und die Zungenspitze zwischen den Zähnen vorstreckend, sagte sie dann ziemlich laut: »Jott sei Dank, die Jüngeskens wurden mir als langweilig. No, Kinder, nu kommt!«

[S. 74] Die Tür mit dem Fuß aufstoßend und ihre Freunde vor sich hinausschiebend, schwatzte sie: »Laßt mir aber die armen Jüngeskens in Frieden, die wollten sich auch emal ’ne jute Tag machen. No, Herr von Scheffler, sind Sie bös mit mir, Sie kucken mich heut ja jar nit an?« Sie wollte sich an ihn heranmachen.

Er raunte verlegen und ärgerlich: »Ruhig doch! Du bist ja schon beschwipst!« Und laut sagte er: »Gehen wir lieber, meine Herren, hier ist ja kein Platz. Sehen wir zu, wo anders unterzukommen!«

Das wollte Helene nun um keinen Preis zugeben. Ehe sie ihre Herren gehen ließ, schmiß sie lieber die Einjährigen, die dummen Jungens, heraus, so leid es ihr auch um die tat, und so gut die auch verzehrt hatten. Ihre Herren Offiziere ließ sie nicht: »Nee, nee, nee!« Fast weinend verstellte sie ihnen den Weg.

Abeking fühlte den Ärger hinschmelzen, den er empfunden hatte, als er sie so intim mit den Einjährigen hatte sitzen sehen. Aber Scheffler und Schmidt blieben hart, bis der Stabsarzt einen Vergleich vorschlug: »Die Helene hat in unsere Stube Fremde reingelassen, Einjährige noch dazu, zur Strafe darf die Helene sich heut an keinen anderen mehr kehren, sie muß sich verpflichten dazu. Bei uns sitzen bleiben muß sie, ’nen Schwank aus ihrem Leben erzählen – was, Helenchen, das paßt Ihnen so? Und trinken soll sie mit uns, ’ne Pulle Sekt trinken, was?«

»Och, warum denn nit? Jern!« Die hübsche Frau lachte hell auf. Sie blitzte mit ihren kecken Augen ihren einstmaligen Verehrer zärtlich an: »Wahrhaftigens Jott, der dicke Stabsarzt is doch noch der allernettste, jar nich jleich so krabitzig wie jewisse andere Leut!« Sie machte ein Mäulchen.

Der junge Leutnant hätte ihr am liebsten einen Kuß darauf [S. 75] gedrückt – so lange hatte er keine weichen Lippen unter den seinen gefühlt. Nervös zwirbelte er an seinem schüchternen Schnurrbärtchen, sein hübsches Gesicht wurde knabenhaft rot.

Scheffler und Schmidt aber waren gewiegte Diplomaten, so leicht ließen sie sich nicht herumkriegen, da mußte die Helene erst noch ganz andere Seiten aufziehen.

Es war ein langes Parlamentieren auf dem engen, fensterlosen Gängelchen zwischen Privatgemach und Eßsaal. Keiner konnte den anderen recht sehen. Aber Abeking glaubte zu fühlen, daß Helene sich dichter an ihn drückte, als suche sie bei ihm den nötigen Beistand. Verstohlen legte er den Arm hinter sie und legte ihn leicht um ihre Taille; da trat sie ihm bedeutungsvoll auf den Fuß. Der ganze enge Gang war voll von ihrer Wärme, ihre Röcke raschelten, ihr gekraustes Haar kitzelte ihn unter der Nase.

»Na, denn man los,« sagte Scheffler und stieß die Tür nach dem Eßsaal auf. »Blödsinnige Luft hier in dem engen Loch!«

Abeking fand das gar nicht.

Aber wo sollten sie nun Platz nehmen? Helene schlug den Tisch draußen an der Haustür vor, der war noch frei, aber Scheffler sagte ziemlich unverblümt: »Verrückt! Ich werde mich doch nicht mit d..« das ›dir‹ unterdrückte er noch rechtzeitig, räusperte sich und verbesserte: »mit meinem Wein auf die offene Gasse setzen!«

Helene hatte wohl gemerkt, was er eigentlich hatte sagen wollen, sie bekam einen roten Kopf, aber sie zeigte keinerlei Empfindlichkeit. Sie rief den Hausknecht, und er mußte die großen Efeuwände herbeischleppen, die, in Ermangelung eines Gartens, mit ihrem verstaubten Grün die Wände eines winzigen dumpfen Höfchens maskierten. Jetzt wurden sie vor dem Tisch auf der Gasse ausgestellt, man saß dahinter wie in einer [S. 76] versteckten Laube. Und sogleich war die nötige Stimmung hergestellt.

Der übelgelaunte Scheffler ließ seine Mißstimmung fahren. Schmidt erzählte Anekdoten aus seiner Vaterstadt Köln, nicht gerade salonfähige, aber höchst scherzhafte. Der Stabsarzt, ein Pommer, blieb an Derbheit nicht zurück; es waren gepfefferte Geschichten. Der kleine Leutnant verwunderte sich eigentlich, daß Helene darüber so lachen konnte. Nun, sie war eben noch recht naiv, verstand er doch sogar die Pointen nicht einmal alle.

Um die hochgegiebelten alten Schieferdächer mit ihren vorgebauten Bodenluken, zu denen einst der überall auch jetzt noch vorhandene Krahnen die Warenballen aufgehißt hatte, fingen die Fledermäuse an zu flattern. Sie hatten hier Schlupfwinkel genug. Lauter schien der Fluß in seinem engen Bett, eingepreßt zwischen Fels und Häuserzeile, dahinzugrollen. Oben auf der Kirchhofsley lag noch Sonnenglanz, man sah die Kreuze der Gräber scharf-umrissen in den Aether ragen; hier unten in der Gasse vor der Wirtshaustür war es schon ganz dämmerig. Das helle Gesicht der Frau über dem schwarzen Trauerkleid schimmerte nur mehr wie ein weißer Fleck.

Den jungen Offizier fröstelte es plötzlich wie damals, als er hier zum Begräbnis gewesen war – sterben, ah, schrecklich! Ob denn keiner an den einstmaligen Wirt mehr dachte? Der lag nun dort oben, und seine Frau lachte hier unten. Noch nicht viel länger als ein Vierteljahr war’s her – wie rasch man vergessen wird! Er dehnte sich mit einem Seufzer, lehnte im Stuhl hintenüber und starrte in die Höhe, am hohen Giebel des Schwan, um den wie unruhige Gedanken im Zickzackflug fortwährend dunkle Fledermäuse flatterten, empor, und weiter hinauf in den dunstigen Abendhimmel. Der Abendstern zeigte [S. 77] sich im Gewölk, aber er rutschte fort, hinter das alte Burggemäuer. Kein Stern stand über diesem Haus.

»Sind Sie müd, Herr Leutnant?« Helene legte ihm die Hand auf den Arm.

Er war blaß geworden; nun erschrak er: »Ah, Pardon, was sagten Sie?«

»Ob Sie müd sind?« Ganz nah reckte die Frau ihr lächelndes Gesicht an das seine, aus nächster Nähe sah er ihre glitzernden, schimmernden Augen. Unterm Tisch fühlte sie nach seiner Hand. Er preßte die ihre mit heftigem Druck und behielt sie in der seinen.

Was fehlte ihm denn? War er schon betrunken oder war er plötzlich toll geworden? Die älteren Kameraden sahen nach ihm hin.

Abeking war aufgesprungen. Das Sektglas hochhebend, den Kopf hintenüber geworfen, rief er laut: »Ein Pereat den Toten! Wir leben und lieben – prost, schöne Frau, auf Ihr Spezielles!«

»Pröstchen, pröstchen!« Die Sektgläser klingelten.

»Sie sind ja en ganz höll’scher Kerl,« sagte der Pommer.

Helene fühlte sich sehr geschmeichelt, sie zeigte ihre weißen Zähne: das war mal ein netter Junge, den sie wohl leiden mochte!

Sie waren schon mit der zweiten Flasche zu Ende. Helene klatschte in die Hände, da erschien auch bereits die dritte, in Eis gekühlt.

»Wenn das so weiterjeht, sind wir all voll bis Mitternacht,« sagte der Kölner.

»Ich empfehle mich für ein halbes Stündchen, meine Herren!« Scheffler stand auf. »Ich muß noch einen Besuch machen. Ich habe es versprochen. Ich muß mich erkundigen, wie den Damen Schmölder ihr neulicher Besuch zur Besichtigung [S. 78] des Lagers bekommen ist!« Er grüßte leicht die Kameraden, drohte Helene mit dem Finger und ging dann davon, schneidig, eine elegante Offizierserscheinung. Seine schlanke Gestalt verschwand schnell im dunkelnden Gäßchen.

Der Stabsarzt und Schmidt spöttelten hinter ihm drein: der ging auf Freiersfüßen! Na, der Schwiegervater in spe würde auch keine besondere Freude haben, wenn er mit dem roten Kopf ankam! Und so spät war’s, acht Uhr fast! Aber freilich, hier brauchte man’s nicht so genau zu nehmen – Entfernung, Dienst, Überbürdung selbst am Sonntag – es ließen sich so viel Entschuldigungen finden. Die Leutchen freuten sich am Ende immer noch, wenn der schöne Adjutant von Scheffler erschien!

»No,« sagte Helene und warf die Lippen auf, »dat weiß ich doch noch nit so jenau. Der Heinrich Schmölder is lang nit so dumm, als wie ihr denkt. Helau!« sie legte den Daumen auf die Nase und spreizte die übrigen Finger der Hand. »Der weiß janz jenau, dat et auf sein Portemonnaie abjesehen is! Der Ladewig, der Ladewig –« sie fing plötzlich an zu singen – »de hat dat jrößte Portemonnaie!«

Keiner machte »sst!« Nun Scheffler fort war, nahmen sie gar keine Rücksicht mehr; die Helene hatte sowieso schon einen Spitz, und dann war sie am alleramüsantesten. Bald war die dritte Flasche Sekt geleert. Nun trank man Bowle.

Währenddes saß der Adjutant bei Schmölders. Die Familie hatte sich eben zum Abendbrot setzen wollen, er wurde eingeladen, mitzuspeisen. Es gab Rehbraten; Herr Schmölder hatte das Reh selber geschossen, er war ein großer Nimrod. Oben der Waldbestand um die Fangeuse war sein eigenes Revier, leider nur ein zu kleines; er hätte gern alles andre drum herum noch dazu gepachtet. Aber ein Teil des Forstes gehörte dem Fiskus, der andere der Gemeinde Heckenbroich, und mit [S. 79] den Kerls war ja nichts zu machen, die forderten ja jetzt eine Pacht – eine Pacht! Schmölder zitterte vor Ärger, als er dem Offizier von den habgierigen Bauern erzählte.

»Und da is der Leykuhlen dran schuld, niemand anders als der – für ein Butterbrot hat sie mein Vater früher jehabt – aber der, der möchte Jott weiß wieviel Jeld zusammenschrappen für seine Jemeinde! Nur um die Schulden zu bezahlen, die sie haben von dem verfl..... Kirchenbau her!«

»Aber Schmölder!« Ganz erschrocken starrte ihn seine Frau an; es war ihr schrecklich, daß ihr Mann so sprach.

»No ja, ja,« – er lenkte ein, als er das entsetzte Gesicht seiner Frau und die flehenden Blicke seiner Tochter sah – »na, was ich sagen wollte! No, ja, seit die Bauern oben die Riesenkirche jebaut und sich deswegen Schulden auf den Hals jeladen haben, soll ich der dumme Peter sein, der sich von ihnen über den Löffel barbieren läßt. Aber ich biet nit mit bei der Jagdversteigerung – sie werden ja sehen, wie sie sitzen bleiben!«

»Das ist aber doch schade, zu schade, um die famose Jagd!« Herr von Scheffler bedauerte lebhaft. Er hatte es sich schon so fein ausgedacht, mit dem Schwiegervater auf diesem großartigen Terrain zu jagen. Betroffen sah er auf seinen Teller nieder: das war entschieden eine Lockung weniger. Aber dann dankte er mit verbindlichem Lächeln der Frau des Hauses, die ihm noch einmal Rehbraten anbot: »Danke sehr, gnädigste Frau – o nein, ich esse gar nicht wenig, aber bei der Hetzerei oben gewöhnt man sich eben das Essen ein wenig ab. Man hat ja nie Zeit!«

»Haben Sie denn soviel zu tun, Herr Oberleutnant?« fragte errötend Hedwig. Sie errötete heute in einem fort. Ohne jeden Grund, wie Josef feststellte. Sonst mochte er die junge Nichte gern, sie hatte sich mit offener Zuneigung ihm angeschlossen, [S. 80] aber heute gefiel sie ihm nicht. Wie konnte ein Mädel wie Hedwig, das mal gewiß seine drei, vier Millionen kriegte und vor allem ein gutes, hübsches Kind war, gleich so den Kopf verlieren, wenn eine bunte Jacke mit aufgewichstem Schnurrbärtchen auf der Bildfläche erschien?! Das war doch zu dumm! Er nahm sich vor, ihr einmal ins Gewissen zu reden. Aber vorderhand war nichts zu machen.

Wenn auch beide Vettern Schmölder mit ziemlich verdrossenen Mienen die brillante Unterhaltung des Leutnants über sich ergehen ließen – er sprach von Bällen, von Ritten, von Vorgesetzten, von Kameraden, von Pferden, von Avancement – die Tochter errötete, lächelte und strahlte. Und auch die Mutter schien lebhaftes Wohlgefallen an dem hübschen Offizier zu finden: das war doch kein oberflächlicher grüner Junge mehr, das war ein ernsthafter, tüchtiger, liebenswürdiger Mensch, aus gutem Hause, und trotz seines Adels strebsam und solide gesinnt!

Scheffler empfahl sich bald nach dem Abendbrot. Er bedauerte unendlich, aber er mußte fort: morgen in aller Frühe schon Dienst, er hatte nur nicht versäumen wollen, in der ihm so knapp bemessenen Zeit den Damen wenigstens seine Aufwartung zu machen. Mutter und Tochter gaben ihm das Geleit bis zur Gartentür.

Der Vater war abgerufen worden; der Verwalter oben von der Fangeuse war da, er hatte den Herrn Schmölder dringend zu sprechen verlangt.

Josef war hinter den Damen hergeschlendert. Kein Mensch kümmerte sich um ihn; er kam sich überzählig vor.

Am Himmel, den man hier nur wie in einem Ausschnitt sah zwischen Tannen, Felsen und alten Giebeln, flimmerten jetzt die Sterne. Dies reich bestickte Tuch würde sonst sein Auge entzückt haben, heute sah er es nicht an. Der Garten, [S. 81] der im Schutze der Felswand, die jeden Mittagssonnenstrahl auffing, grünte und blühte und duftete in fast südlicher Fülle, war eine Oase mitten im herben Eifelland; aber heute steckte Josef seine Nase nicht in die üppigen Fliederbüsche. Den roten Piruszweig, der sich über den Weg streckte, stieß er unsanft beiseite. Er war verdrießlich, unangenehm von allem berührt; so tödlich gelangweilt vom Geschwätz am Abendtisch, daß er am liebsten auf und davon gelaufen wäre. Aber wohin? Kein Geld, keine Stellung, kein Platz, der sein eigen war – es war zum Verzweifeln. Und das Geschwätz ging an der Gartentür noch immer fort! Zornige Ungeduld übermannte ihn. Es war ein Aufbäumen in ihm gegen die Enge, gegen die Kleinlichkeit, und doch fühlte er’s mit heftiger Schmerzlichkeit: nie, nie kam er wieder hier heraus! Hier wurde er festgehalten durch eigene Schuld, hier war er begraben mit Haut und Haar, mit allem, was in ihm war an höherem Flug, und er selber hatte sich die Grube gegraben. Drin liegen bleiben mußte er nun, verrotten bei lebendigem Leibe. Dieses verdammte Geschwätz!

Des Leutnants Rede ergoß sich. Cousine Schmölder sagte nur zuweilen: »ah« und »oh« und »wie nett!«, und das kleine Mädchen lachte glückselig-verlegen dazu.

Josef drehte kurz um und ging ins Haus zurück. Lieber den Garten missen, als sich so die Laune verderben lassen! Pfeifend, die Hände in den Taschen seines braunen Sommerjacketts, schlenderte er ins Wohnzimmer.

Da saß Heinrich auf dem Sofa in seiner alten grünen Tuchjoppe, und der Mann von der Fangeuse stand vor ihm und drehte verlegen seinen Hut in den Händen.

»Also, kurz, warum kündigt Ihr mir?« sagte Schmölder knapp. »Macht nit so viel Worte – also warum?«

»Herr Schmölder, Ihr müßt entschuldigen, et wird mir [S. 82] schwer, Uech zu kündige, Herr Schmölder. Ich war ooch janz jern oben, ich hatt nühst zu klage. Äwer dat Settche will’t nu absolut nit mieh, et saat, et wär him zu afjeleje do. Un der Schollweg is zu wiet für ose Jung. Im Winter kann hä jo jar nit hinjonn. On zu Ostere kömmt oß Mädche ooch in Scholl. Drei Jahr hammer et do owen usgehaalde, länger als de vürige do is bliewe. Do is keen Dorf on keen Huhs, kee menschliche Seel! Bis Heckenbroich is et so wiet, un jut drei Stund hammer no ’r Kirch. Nit ens Erdäppel könne mer trecke, [6] de Säu wühlen alles up. On de Hirsch kömmt bis in ’ne Jart [7] – Herr Schmölder, Ihr wißt doch noch, dat Ihr selwer eine jeschosse habt aus oser Kammerfenster? Nix för unjut, Herr Schmölder, ich hätt Uech nit jekündigt, äwer dat Settche will absolut nit mieh bliewe. Et saat, wir sind zu wiet von Kirch on Scholl, dat jeht nit mieh, mit dene Köngd!«

»Zum Kuckuck, so laßt se doch nit nach Kirch un Schul jehen,« schrie Schmölder. Er fuhr den Mann an, als habe er was verbrochen. War das eine Art, ihm zu kündigen, einfach weil es dem dummen Weibsbild nicht mehr paßte? Nun ging die Sucherei wieder von neuem los! Einen Menschen mußte er doch da oben im Moorhaus haben, der Obacht gab, sonst fiel die Bude noch über Nacht mal zusammen. Und wenn er zur Jagd heraufkam, im Winter auf Sauen, im Sommer auf Böcke, im Herbst auf Hirsche, da wollte er doch sein Bett gemacht haben, geheizt und den Kaffee gekocht. Die Frau vom Jilles hatte das immer besorgt, auch die Rehleber, mit Tannennadeln gespickt, auf Weidmannsart zu braten verstanden! So genau Heinrich Schmölder sonst mit dem Gelde umging, hier wollte er etwas springen lassen.

[S. 83] »Ich will Euch wat sagen, Jilles,« lenkte er ein, »ich will Euch zulegen, pro Monat zehn Mark, macht auf’t Jahr hundertzwanzig – einhundertundzwanzig Mark! Mann, dat ’s en Wort! Und die Frau soll auf Christtag en anständig Präsent von mir kriegen, und Ihr und der Jung Buckskin zum Anzug. So, un nu is et jut!«

Er schien die Sache für abgemacht zu halten, aber der Mann von der Fangeuse räusperte sich und blieb noch stehen. In hülfloser Verlegenheit zerknüllte er seinen Sonntagshut. Über sein hartes Gesicht zuckten Begehren und Abneigung: einhundertundzwanzig Mark, das war ein Stück Geld! Er sah nieder an seinem ärmlichen Rock und gedachte einer Kuh, die er zu Heckenbroich in einem Stall gesehen hatte und die zum Verkauf stand.

»Herr Schmölder,« sagte er gedrückt, aber nach und nach wurde seine Stimme sicherer, »ich kann nit, wahrhaftigen Jott nit, et jeht nit. Dat Settche kriet dat arm Dier. [8] Nit Kirch, nit Laden, nit Straß, zweimal die Woch nur der Briefdräger, als dann on wann emal ’ne Camis’; [9] sonst keen Mensch! On kömmt ens einer, muß mer de Dür noch verschließe; wir sind eso nah an der Jrenz – en halw Stund bis Belligen – wer weiß, ob et nit einer von denen is!« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter und machte ein verächtliches und zugleich doch verängstetes Gesicht. »Von denen do! Seit die im Venn sin, könne wir nit mieh ruhig schlaafe. Kömmt letzt ’ne Kerl, stößt de Dür up on saat: ›Jude Morje!‹ On ob er en Flasch Bier krieje könnt! Modderselig allein war dat Settche zo Huhs, die kriet ’ne Schrecke. On, Herr Schmölder, [S. 84] de Kerl wollt nit jonn!« Er machte eine Pause und sah erwartungsvoll seinen Herrn an: was würde er nun sagen?!

»Nun – und?« Josef, der, am Büfett lehnend, alles mit angehört hatte, beugte sich interessiert vor. »Nun?!« War das wirklich so ein armer Teufel von Sträfling gewesen, hatte es einer riskiert, auszurücken, der Grenze zuzueilen durch dick und dünn?!

»Et war ’ne Torfstecher, ich kam drüber heem,« sagte der Mann. »Äwer et konnt doch jrad so jut einer von denen do sein, so ’ne Räuber und Mörder. Nee, nee, Herr Schmölder –« ganz energisch schüttelte er den Kopf und ließ all seine Schüchternheit fahren, – »sucht Uech ’ne angere. ’n Awend zosammen!« Er setzte seinen zerknüllten Hut auf und trabte rasch aus dem Zimmer.

Heinrich Schmölder öffnete schon den Mund, ihm noch einmal nachzuschreien, aber dann besann er sich: ein Schmölder bittet doch so einen dummen Kerl nicht?! Wenn der Esel nicht wollte, nahm er sich eben einen anderen Verwalter. Aber selbst für Geld und gute Worte ging keiner so leicht aufs Moor hinauf. »Da haben wir’t,« sagte er grimmig laut und schlug auf den Tisch, daß der Aschbecher stäubte, »mußt uns die verdammte Rejierung auch ihre Verbrecher so auf die Nas’ pflanzen – en Unverschämtheit! Natürlich, wegen der Nachbarschaft bleibt mir der Jilles nit! Un verdenken kann ich et ihm nit emal. Dem Landrat werd ich aber meine Meinung sagen, der soll mir noch kommen mit seiner Kolonisation! Wat fang ich nu an?«

»Heinrich, setz mich doch hin,« sagte Josef rasch. Es war über ihn gekommen wie eine Erleichterung.

»Dich –?!« Schmölder sah den Vetter an, als habe er gesprochen: ›Setz mich auf den Mond!‹ »Laß doch die Dummheiten,« sagte er unwirsch. »Ich mach jetzt nit Spaß, ich bin [S. 85] wirklich in Verlejenheit. Janz leer stehen kann ich die Bude nit lassen, un hin jeht mir so leicht keiner!«

»Heinrich, es ist mein Ernst!« Josef war näher herangetreten und legte ganz entschlossen und kräftig die Hand auf den Tisch. »Setz mich dahin, ich gehe mit Freuden!«

»Och, du bist ja verrückt!« Heinrich sah Josef an und lachte dann unbändig: »Wieder janz de Josef! Immer wat Neues, und dann kein Bestand! Nee, da laß du die Finger von. Die Fangeuse hat et an sich. Schon mein Alter hat seine Not jehabt, un jetzt werden die Leut ja mit Jewalt raffiniert jemacht – da will sich keiner bejraben. Schnee im Winter, zum Ausschaufeln hoch, ewige Stürme; dat braust von der belgischen See her, aus Nordwest, im Winter wie im Sommer fast immer egal. Und im Frühjahr Wasser im Venn fast bis an et Haus, du kannst kahnfahren!« Er lachte noch einmal amüsiert auf, fast vergaß er seinen Ärger darüber. »Du hast jar kein Ahnung, mein Sohn!« Mit einem geringschätzigen Blick maß er des Vetters schlanke, etwas schwächliche Gestalt. »Bist du überhaupt schon mal oben jewesen auf der Fangeuse? Nicht?!« Josef hatte verneint. »No, dann halt’s Maul jefälligst!«

Josef zuckte zusammen: wie grob der Heinrich wieder war! Er fühlte, wie der andere ihn mißachtete, und das tat ihm weh.

»Am liebsten schlüg ich die Barack los mit allem, wat drum und dran is, die janze Fangeuse! Viel wert is dat sumpfige Dreckloch doch nit. Wenn nur nit die Jagd da so jut wär! Und wer würd se mir auch abkaufen?!«

»Heinrich, ich sage dir noch einmal, ich ziehe hinauf,« sagte Josef bestimmt. Es war ihm plötzlich heilig ernst um seinen Entschluß, und je mehr der andere ihn höhnte, desto ernsthafter wurde es ihm darum. »Ich fühle mich hier höchst überflüssig. Und ob ich das Gnadenbrot nun da oder dort esse, [S. 86] kann dir doch gleich sein. Mir aber wird es nicht so – so –« er suchte nach einem Ausdruck – »nicht so drückend sein, wenn ich weiß, daß ich doch irgend etwas dafür leiste. So gut wie ein anderer kann ich auch aufpassen dort. Und ich fürchte mich nicht. Heinrich, laß mich doch!« Es war ihm, als hinge seine Seligkeit davon ab. Die Fangeuse – Fangeuse – die Sumpfige, wie geheimnisvoll das klang! Nein, ihm graute nicht vor Sumpf und Einsamkeit. Ihm würde es eine Erlösung sein, nur Moor und Tannen und segelnde Vennwolken um sich zu sehen – endlich einmal keine Menschen im Alltagskleid! Seine Stimme wurde immer dringender: »Ich bitte dich, versuche es doch mit mir! Ich bitte dich herzlich! Heinrich, du sollst sehen, da halte ich aus, das ist was für mich. Ah,« – er atmete tief auf – »endlich das Rechte! Ich liebe die Natur, ich verstehe die Natur, sie beruhigt mich, sie beglückt mich!« Er redete sich immer mehr in Begeisterung hinein, sein Gesicht rötete sich, die Augen leuchteten ihm. Wie er so im Lampenschein dastand, den Kopf frei gehoben, den Blick wie suchend in die Ferne gerichtet, erschienen seine Züge fein und edel und merkwürdig jung.

»Dat is all exaltierter Blödsinn,« sagte Heinrich Schmölder trocken, »daraus kann nix werden. Du mußt schon wo anders Beglückung und Beruhigung suchen!« Das plötzlich matt und blaß werdende Gesicht vor ihm ließ ihn seinen Spott aufgeben. Diesmal tat ihm der Josef ordentlich leid. »Alter Jung, red dich doch nit in so wat erein! Wenn du jern en bißchen eraus willst, kannst du ja mit der Sophie und der Hedwig diesen Sommer vierzehn Tage nach Ostende reisen. Sie wollen absolut hin, Toiletten sehen. Jeh meinetwegen mit, chaperonniere sie! Ich danke, ich bleibe lieber hier. Wat denkst du denn eigentlich, wer soll dir denn auf der Fangeuse haushalten? Du mußt doch essen und trinken. Un wer soll [S. 87] dir dat Bett machen und die Stub kehren? Dat kannst du doch nit? Und wenn ich komm zur Jagd, wer soll mir dat Bett machen und mir wat zu essen kochen, he? Dat kannst du doch auch nit!«

»Nein, das kann ich nicht.« Kleinlaut ließ Josef den Kopf hängen. »Selbstverständlich müßte ich eine Person haben, eine Magd, die das alles besorgt.«

»Such dir eine!« Heinrich Schmölder lachte schallend auf. »Und wenn du eine hast, dann komm wieder zu mir, dann kannst du auf die Fangeuse ziehen. Mir soll et recht sein!«

[6] ziehen.

[7] Garten.

[8] wird melancholisch.

[9] Grenzjäger.


V

Bartholomäus Leykuhlen war im Kampf mit seinen Bauern. Das war wieder einmal eine erregte Gemeinderatssitzung. Sie schrieen alle gegen ihn an. Es war, als seien diese ruhigen, gesetzten, nüchternen Leute plötzlich ein Schwarm von Hornissen geworden, die, durch einen Steinwurf aufgescheucht, den Stachel löcken, bereit, mit Summen und Brummen über den Feind herzufallen.

»Seid Ihr jeck?« sagte gerade der Adams vom Hof am grünen Klee und ließ allen Respekt vorm Herrn Bürgermeister beiseite, »solle mir oß Pötze [10] ongersüke [11] loße, oß jut Wasser?! Oß Äldere, oß Jrußäldere han’t drus jedronke, on nu soll et up eemol nit tauge? Ich loßen et mer net jefalle. Wenn de Kommissiun kömmt, schmissen ich se erus!«

»Dat werdet Ihr nit tun, Baltes,« sagte Leykuhlen ernst. »Dat wär ja noch schöner. Wenn die Kommission kömmt, von der Regierung jeschickt, werden wir sie höflich empfangen. So jehört sich dat!«

»Höflich, höflich?« Der reiche Bauer gab sich nicht drein. »Wat kömmt dann erus dobei? Nix als Kosten on Ärjer. [S. 88] Nit ene Penning jeb ich für minge Pötz us, de is noch lang jut!« Der Zorn und die Angst, vielleicht zu einer Reparatur des Brunnens gezwungen zu werden, raubten ihm seine sonst so kühle Überlegung. »Ihr mit Euren ›Höflichkeiten‹! Ihr solltet lieber nit mit dem Landrat unter einer Deck stecken, Ihr solltet mieh mit oß haalde! Dat han mir nu von Eurer Freundschaft mit dem von Mühlenbrink – nühst als Verdruß. Verdruß on Unkosten. Eso is et!«

Leykuhlen verlor die Fassung noch nicht. »Ihr seid unjerecht,« sprach er ganz ruhig. »Der Landrat is ja mein Freund jar nit – durchaus nit. Wenigstens ich bin nit der seine, ich hab ihn nie jesucht. Aber, ich muß Euch die Verordnung bekannt jeben, et is mein Pflicht. Wat ich dabei denk, tut nix zur Sach. Ich hab et Euch vorjelesen, dat bald nach nächstem Ersten en Kommission kommen wird, die dat Wasser sämtlicher Brunnen im Dorf, auf jedem Jrundstück, einer jenauen Inspektion unterzieht. Man befürchtet Typhus. Wir wohnen im Venn, et sind en Meng Truppen auf dem Platz, die Jefahr liegt nah. Aber sie werden sich ja bald davon überzeujen, dat unser Wasser rein Quellwasser is. Laßt se doch ruhig nachsehen, wat schad’t Euch dat?!«

»Nee, nee, nee!« Der Baltes schlug sich auf die Knie, daß der Staub aus dem dicken Buckskin flog. »Ich jeb et nit zo. Up mingen Hof kömmt mir keen Spürnas’! Dat se mir in mingem Mist erumstochere on noch saane, de Jauch löft in minge Pötz! Dat is immer eso jewäeß: de Brunnen on de Mist. En Meil kann doch nit dazwischen sin!«

»Dat schadt ooch jar nühst,« bekräftigte ein anderer. Es war der Nachbar des Balthasar Adams, der Bettes Zumstädtchen, auch ein vermöglicher Mann mit stattlicher Hecke. Es trennte den Baltes und den Bettes nur das erbärmliche Anwesen des Webers Huesgen.

[S. 89] Die beiden Nachbarn wechselten Blicke. »Wat maache mir dann, Herr Burjermeester,« sagte der Bettes schlau, »wenn se nu saane: dat Wasser doogt nit! Trinken muß doch der Mensch, he brucht doch dat Wasser!« Er zwinkerte den Adams auffordernd an, ihm zuzustimmen. »Da hätt ihr eben die Kirch nit baue solle, die jruß Kirch! Da hätte mir nu en Wasserleitung, wie de Hähr Landrat saat, on keen Typhusjefohr!«

Ein Murmeln der Zustimmung ließ sich vernehmen. Die zwölf Gemeindeältesten, die seinerzeit nichts anderes gewußt hatten, als eine Kirche zu bauen, die mit ihrem Bürgermeister so einverstanden gewesen waren wie eine Familie mit ihrem Haupt, waren nun anderer Meinung. Nun es an den eigenen Hals ging, machten sie Vorwürfe. Da war auch nicht einer, der seinem Brunnen ganz traute: die Mauerung war schon so alt, die Erde gelockert, wer weiß, ob nicht was durchsickerte!

»Ruhe!« donnerte Leykuhlen. Nun wurde er zornig. »Wart ihr selber dann nit für den Kirchenbau – ja oder nein?«

»Jo, dat ware mir wohl, Hähr Burjermeester, äwer Ihr hatt et doch vürgeschlaane, Ihr seid de Hauptschold dran. Oß ald Kirch wär noch net zo klein gewäß, äwer Ihr on de Hähr Pastur, de Kirchevorstand, Ihr hatt oß de jruß up de Hals jekallt. [12] Nu sitze mir drin, nu hammer Scholde, Jott weiß, wie viel!«

»Sie sind nit so jroß!« Leykuhlen biß sich auf die Lippen, er schaute vor sich nieder, das Herz schlug ihm hart. Ganz so unrecht hatten die Bauern nicht: wenn der Kirchenbau nicht gewesen wäre, die Gemeinde stände ohne Schulden da. Nun aber –?! Das Geld von dem Schießplatz hatte [S. 90] sie freilich noch, aber das war angelegt, auf Zinsen geliehen; es ging nicht so leicht an, das wieder flüssig zu machen.

»Ihr hatt vill zu jruß jebaut,« sagte Zumstädtchen vorwurfsvoll, und die anderen nickten Beifall. »Oß Jeld, oß schien Jeld, alles verpulvert!«

»Nit verpulvert, jut angelegt, am allerbesten!« Leykuhlen fuhr auf. Die Freude, die er damals empfunden hatte, eine hohe und heilige Freude, als ganz Heckenbroich geschmückt und bekränzt gewesen war, als Hunderte aus Dörfern und Höfen herbeigeströmt waren, um das Fest der Einweihung mitzufeiern, diese Freude ließ er sich auch heute noch nicht verkümmern. Die Geistlichen des Orts, die Geistlichen der Nachbargemeinden, der Bischof selber vor dem neuen Altar! Es war der stolzeste Tag von Heckenbroich gewesen. Mochten die Kurzsichtigen schwatzen, was sie wollten! War ihnen nicht das Geld, das viele Geld für den Schießplatz wie vom Himmel in den Schoß gefallen? Ödland war es meist gewesen, gar nichts wert, sie aber hatten Geld, schweres Geld dafür bekommen. War es nun nicht recht und billig, dem Himmel dafür einen Dank zu entrichten? Die Kollekte für den längst geplanten Kirchenbau war wieder einmal rundum gegangen, und siehe da, unerwartet, fast unbegreiflich groß waren die Spenden gewesen. Man hatte angefangen zu bauen in Gottes Namen, im Vertrauen auf seine weitere Hilfe. Und er würde auch von den Schulden abhelfen!

Leykuhlen richtete sich kräftig auf, in seiner ganzen stattlichen Mannhaftigkeit. Und jetzt sollten die Quengler und Quereler schweigen! Mit der ganzen Wucht seiner Stimme donnerte er in die Versammlung hinein, die niedrige Stube war zu eng für den starken Klang: »Wat jeschehen is, is jeschehen, et is nix dran zu ändern. Un et is jut so. Die Kirch steht, Jott sei Dank! Wenn unsere Leiber als lang zu [S. 91] Staub zerfallen sind, wird sie noch stehen. Die überdauert uns all. Die wird aber auch Zeugnis jeben, daß selbst in einer armen Eifeljemeinde hoch oben im Venn Menschen lebten, die ihre kleinlichen Sonder-Interessen unterzuordnen verstanden dem jroßen Wohl!«

Er ließ seine blauen Augen scharf blickend und feurig von Mann zu Mann blitzen. Mochten sie nun nach Hause gehen und sich das bedenken! »Für heut sind wir fertig. Ich erkläre die Sitzung für aufjehoben!« Er schlug den blauen Aktendeckel zu, darin er die Verordnung der Regierung verwahrt hatte, und ging zur Tür. »Adjüs zusammen!«

Ein undeutliches Brummen nur sagte ihm »Adieu«. Sie waren alle wie vor den Kopf geschlagen; teils verdutzt, teils empört. Er kehrte sich nicht daran. Im frohen Gefühl eines Sieges ging er über die Straße. Was scherte es ihn, daß sie brummten, sie würden schon wieder gut werden!

Über der Kirche stand ein goldener Stern, mit Wohlgefallen sah er hinüber. Es war schon spät Abend, der Stern leuchtete hell, mit sicherem Licht, wie eine Verheißung. Eine große Ruhe kam in des Mannes Seele, der ganze Ärger ließ ihn jetzt kühl. Was man für das beste erkannt und getan hat, muß man niemals bereuen. Wenn eine Wasserleitung wirklich so nötig täte, wie der Landrat behauptete und auch der Kreisphysikus, dann konnte die später immer noch gebaut werden, wenn die Gemeinde dazu in der Lage war; jetzt hieß es sparen, erst die Schulden abtragen! Schade, daß die Kirche noch keine Uhr hatte! Er sah wieder hin. Der Platz dafür war schon vorgesehen, aber traurig und häßlich, wie eine Augenhöhle ohne Auge, blickte jetzt die leere Rundung aufs Dorf herab.

Als Leykuhlen hinter seine Hecke trat, sah er noch [S. 92] Lampenschein drinnen in der Stube. War Mariechen noch auf, trotzdem es bald Mitternacht war?

Er wollte die Tür aufdrücken und war erstaunt, sie verschlossen zu finden. Warum das? Aha, seit die Sträflinge oben im Venn arbeiteten, war es Mode geworden im Dorf, die Türen zur Nacht zu verriegeln; selbst Mariechen tat das.

Er rappelte mit dem Klopfer. Da kam sie und machte ihm auf. Sie war völlig angekleidet, sie hatte noch bei der Arbeit gesessen. Um den Hals hing ihr die seidige Glanzgarnsträhne, ihre Augen waren leicht gerötet vom angestrengten Sehen; aber sie blickten doch nicht müde, ein Glanz war in ihnen.

»Als wieder an der Altardeck?« sagte er. Es lag kein Vorwurf in seiner Frage, im Gegenteil, eine heimliche Freude.

Sie war hastig und rot, die ruhig-kühle Frau von einer fast bräutlichen Wärme.

Was war ihr denn nur? Er hatte ihr einen derben Kuß auf beide Wangen gegeben.

»Du kömmst jo so spät?« sagte sie, und er glaubte zu fühlen, daß sie vor Ungeduld bebte.

»Ja, et hat lang jedauert, wir haben uns tüchtig erumjezankt!« Er lachte heiter. »Aber ich bin ihrer doch Meister jeworden!«

Zu anderer Zeit hätte sie ihn gefragt, was für einen Streit es denn in der Sitzung gegeben habe – Leykuhlen hatte sich durch Jahre daran gewöhnt, mit seiner Frau auch das zu besprechen, was eigentlich über den Weiberhorizont ging – aber heut zeigte sie kein Interesse für das, was verhandelt worden war im Gemeinderat.

»Bärtes,« sagte sie und drückte sich fester an ihn, »ich han dir jet zu verzähle!«

»So?« Er hatte noch keine Neugier.

[S. 93] »Komm in die Stub!« Sie zog ihn hinein, wo im Schein der beschirmten Lampe die Altardecke halb fertig auf dem Tische lag, weiß und rein wie Blütenschnee. Er setzte sich auf das Kanapee; sie nahm die Arbeit wieder auf und zog lange Fäden, aber nur für Minuten, dann sanken die Hände in den Schoß.

»Ich kann nit mieh,« flüsterte sie, »et läuft mer alles rund. Bärtes, wat sagste nu« – sie ergriff seine Hand und sah ihn an mit ein wenig unsicheren und doch strahlenden Blicken – »die Huesgen-Annelies hat ene Jeist jesehen!«

»Ene Jeist?« Was redete doch Mariechen für dummes Zeug!

»Ene Jeist is nit richtig,« verbesserte sie sich rasch, »et saat, et hat en Erscheinung jehatt. Och, ich muß et dir verzähle!« Sie war so aufgeregt, daß ihre Stimme zitterte; ein fliegendes Rot bedeckte ihre Wangen. Die Frau war heut eine andere schier.

Wenn es auch kaum zu glauben war und sie anfänglich auch ein wenig hatte lächeln wollen, als die Annelies gelaufen gekommen war – sie unterbrach sich – war das denn nicht schon wie ein Wunder, daß die schwache Frau, die heute schon bis zur Ley gewesen war, daß die leichten Fußes noch bis hierher hatte laufen können, den weiten Weg durchs ganze Dorf?! »Och, Bärtes!« Mariechen faltete die Hände, in einem heiligen Schauer bewegten sich ihre Lippen: »Et saat, et wär en Dam, eso fein, wie us ’m Himmel! Und so freundlich hat sie zum Annelies jesproche, wie dat nit weit von der Marienley – weißte, da, wo die Tannen so dick stehen – up enen Stein saß un am Weinen war. Et war so müd. Et wollt selber de Bittjang tun, ’ne Kranz aufhängen vor der Maria im Stein, den die Kinder jeflochten hatten aus lauter Maiblumen. Aber et konnt nit bis hin kommen, et war sterbensmüd. Da hat [S. 94] die Dam zu ihm jesaat, et soll nit eso krieschen, un wat et denn eijentlich drückt, et soll sich aussprechen. Dat Annelies saat, et hätt auf einmal reden jekonnt wie nie zuvor; un dat wär ihm jewesen wie en Erlösung. Du weißt et doch, Bärtes, die Leut klagen sonst nit!«

»Dat soll wohl sein!« Der Bürgermeister nickte.

Mit glänzenden Augen fuhr die Frau fort: »Et saat, un je mehr et der feinen Dam erzählt hätt, desto leichter wär ihm um’t Herz jeworden. Et hat ihr alles gesaat: wie arm sie sind, nur en einzig Kuh, die jetzt dazu noch so wenig Milch jibt, un eso vill Kinder, un alles is so düer, un bloß een Verdienst. Aber dat wär ja all so schlimm nit, wenn – dat Annelies saat, et hat sich dabei so recht satt jeweint – wenn et nur selber wieder zu Kräften kommen könnt, et wär eso schwach, och, so siehr schwach! Da hat die Dam gesaat: ›Betet Ihr auch recht andächtig?‹ Un hat ’ne Rosekranz aus der Tasch jezogen – ’ne einfache Rosekranz mit ’m Kreuzche dran – un en Bildche › Heiligste wundertätigste Mutter Gottes von Lourdes ‹ un hat der Annelies dat jeschenkt un jesaat: ›Betet mit Euren Kindern alle Abend den Rosenkranz zur heiligsten wundertätigsten Mutter Gottes von Lourdes, dann wird Euch geholfen!‹ Et Annelies saat, et hat jleich jefühlt, et war en Wunder. Et hat sich bekreuzt, un wie et dat Bildche jeküßt hat, da is et eso froh jeworde, eso froh, un hat auf einmal Kraft jespürt in allen Jliedern. Ich hab selber dat Bildche jesehen, Bärtes, klein war et nur, so für in ’t Jebetbuch zu legen, aber ich hab der Huesgen versprochen, ich will et ihr unter Jlas in en Rähmche machen lassen für über ihr Bett. Nit wahr, Bärtes?« Erregt stand sie vor ihm, vom raschen Erzählen ganz atemlos.

»Es wird eine gewesen sein, die auffordern wollt, für nach Lourdes zu pilgern,« sagte er. Aber seine Stimme klang [S. 95] nicht ganz sicher. »Um diese Zeit reisen sie durch et Land, überall herum, um Propaganda zu machen für die Wallfahrt dahin. Et wird unseren Pilgern sehr erleichtert dadurch, janze Züge stellt man zusammen.«

»Nee, och nee!« Sie schüttelte energisch verneinend den Kopf. »Wat redst du doch Bärtes, dat jlaubst du doch selber nit. So eine war dat doch nit!« Ihre Stimme wurde leiser, Sie raunte geheimnisvoll: »Nee, Bärtes, dat muß jemand janz anderes jewesen sein. Als sie vom Annelies nu fortjehen wollt, fiel der plötzlich ein: Jesus, oß Dores! Un sie krieht die Dam noch hinten am Kleid zu packen und schreit hinter ihr her: »Oß Doresche, och, oß Doresche! De hat eso vill de Krämp, de kann nit no’r Scholl jonn, de is wie en janz klein Könd, un dat is dat Schlimmste!« Da dreht sich die Dam noch einmal erum: freundlich gelächelt hätt se, saat de Annelies, un spricht: ›Warum geht Ihr denn nicht nach Echternach springen?‹ Un eh sich dat Annelies dat noch bedenkt, is se ooch schon fort un nit mieh zu sehen!« Mit einem tiefen Aufatmen schwieg Frau Leykuhlen.

»Hm!« Der Mann blickte ernsthaft; von Zweifel war nichts auf seinem Gesicht zu sehen, wohl aber von Rührung. Wer weiß, was die Huesgen sich zurechtphantasiert hatte – aber selig war das Weib doch in seinem Glauben. Das war gewiß! Er nickte seiner Frau zu.

Sie nickte ihm wieder zu, ein Glanz heiterer Freudigkeit verschönte ihr Gesicht. »Un denk ens an, Bärtes, als dat Annelies noch hier bei mir is, – et konnt sich ja jar nit jenug tun mit Erzählen – da kömmt de Herr Schmölder, de Josef. Er kömmt in die Dür erein un frägt nach dir: er wollt dich jet fragen, sagt er, er hätt doch sicher jehofft, dich diesen Abend anzutreffen. Ich bot ihm ’ne Stuhl an. Ich konnt nit jut anders – mer war doch zu voll dervon – ich erzählt [S. 96] ihm wat von dem Annelies seiner Jeschicht. Siehste, Bärtes,« – sie triumphierte laut lachend vor Glück – »un dat war nun schon die erste Hülf, die der Huesgen versprochen wurd. Kaum sieht er die an – se sieht ja noch sehr erbärmlich aus – da zieht er auch schon sein Portemonnaie aus der Tasch un schütt ihr alles, wat er drin hatt, in’ ne Schoß. Einen Taler, un Jroschens – ja, jewiß an die zehn Mark – un noch en Joldstück extra! Et Annelies traut seinen Augen nit, et war wie verstuert. [13] Er klopft him äwer auf de Schulder un saat: ›Nun, gehen Sie, liebe Frau, tun Sie sich und den Kindern was zu gut dafür!‹ Bärtes, ich jlaub, ich hab ihm auch kaum ›Danke‹ jesaat, ich war wie dat Annelies: janz verstuert. Och, dat is doch ’ne jute Mensch!«

»Ja, dat soll wohl sein,« sagte Leykuhlen, »’ne jute Mensch, sehr jut – aber –!« Er seufzte in einem gewissen Mitleid. »Äwer nu komm, Mariechen, laß uns jetzt nach oben jehn. Ich werd heut nacht jut schlafen.«

»Ich will auch beten für ihn,« sagte die Frau in ihrer Erkenntlichkeit.

Sie stiegen zur Giebelstube hinauf, in der die Betten unter dem Kruzifix an der Wand standen. Das Fensterchen war offen, die ganze Kammer war hell von blinkender Sauberkeit und von Mondenschein. Er konnte nicht widerstehen, ehe er das Fenster schloß, lehnte er sich hinaus und guckte noch hinüber zur Kirche.

Die ragte mit ihrem mächtigen Turm wie ein Wahrzeichen des Dorfes weit in die Gegend hinein. Wo man auch stand, ob auf der Höhe, ob im Grund, überall sah man sie.

Ein Gefühl der Glückseligkeit durchdrang den Mann. In Tagen, in Wochen, im ganzen Leben war oft soviel Ärger, [S. 97] oft soviel Verdruß, aber ein Abend wie dieser, der machte alles wieder gut! Er rief seine Frau neben sich und schaute Schulter an Schulter mit ihr hinauf in den hellen Himmel der Mainacht.

Mariechen konnte es doch nicht lassen, sie mußte noch einmal von dem Ereignis anfangen. »Wie et dem Annelies nu wohl zu Mut sein mag?«

»Haste ihr jesagt, se soll nit so vill dervon trätschen?«

»Nee, dat hab ich nit! Warum soll se denn nit dervon erzählen? Wer jut is, freut sich doch drüber. Laß die bösen Leut nur sagen, et is nit wahr – aber, Jott sei Dank, so haben wir ja kein hier im Dorf!«

Er nickte zustimmend: da hatte sie recht. Im Dorf würde man die Wundermär aufnehmen, so wie sie erzählt ward: mit frommer Andacht. Nur draußen gab’s Zweifler und Spötter.

»Die jeht nu sicher nach Echternach,« sagte leise Mariechen. Eine Sehnsucht durchzog ihr Herz. War sie nicht auch wallfahrten gewesen, damals, als sie noch hoffte? Da hatte sie Jahr um Jahr fast die Prozession mitgemacht, nach Heimbach und nach Mariawald, dem Trappistenkloster im Kermeter. Wie die anderen, jeder in seiner besonderen Angelegenheit, war auch sie gegangen durch den Staub der Pilgerstraße, hügelauf, hügelab, hatte laut im Chor und noch inbrünstiger heimlich bei sich gebetet. Ihre Bitte hatte nicht die Gewährung gefunden. Die Heiligen allein wußten, warum sie ihr Geschenk gleich wieder fortgenommen hatten. Aber Mariawald kam ja auch längst nicht an gegen Echternach. Was für Frankreich Lourdes, das war für die Deutschen Echternach. Aus hiesiger Gegend war schon manch einer dort gewesen und hatte die große Entfernung ins Luxemburgische nicht gescheut. Jetzt gingen auch Pilgerzüge dorthin, man brauchte den weiten [S. 98] Weg nicht mehr zu Fuß zu machen wie früher. Ach ja – die in die Mondnacht Hinausträumende seufzte auf einmal tief auf – die Mutter würde ihr Doreschen zu Echternach schon gesund kriegen! Das Kind, das ihr am meisten am Herzen lag, weil es ein unglückliches war.

Bürgermeister und Bürgermeisterin blieben stumm. Als ob er die Gedanken, die die Seele seiner Frau bewegten, heute wie damals in erster Ehezeit, geahnt hätte, legte er den Arm fest um ihre Schulter und zog sie näher zu sich heran.

Es war ein heiliges Schweigen in der Mondnacht. Stiller konnte kein Dorf sein und stiller auch keine Menschen. Traumhaft wob das Mondlicht um Hecken und Giebel; wo ein Stückchen weiße Hauswand hervorlugte, glänzte sie, und die breite Dorfstraße blinkte wie Schnee. Alle Fenster waren dunkel, alle Leute lagen und schliefen. Die Samstagnacht kündigte den Sonntag an. Ein Sabbatrot war auf Höhen und Tiefen, ein andächtiger Frieden über Häusern und Hecken. Wächtern gleich standen die Hainbuchen, heute nicht zerzaust und zerschüttelt und die schlanken Stämme gebeugt unterm sausenden Vennwind; es war eine windstille Nacht. Kein lauter Atem. Glatt, wie Säulen aus Marmor, ragten die schlanken Schäfte der Bäume, ihre Schöpfe hingen ruhig herab wie sanft geglättetes Haar. Um das große Missionskreuz, nah der Kirche, standen, weiß beschienen, friedlich die Kreuze und Kreuzchen des Kirchhofs; dort schliefen die Toten des Dorfes in ihren geweihten Gräbern ruhig dem jüngsten Gericht entgegen. Hier war der Tod wie ein Schlaf, der Kirchhof nur eine Beruhigung mehr im stillen Dorfe.

Plötzlich schreckten Mann und Frau zusammen: ein Lärmen kam die Straße herauf, ein Rasseln und Rollen, ein Poltern und Trappeln, das doppelt laut wirkte in der todstillen Nacht. Von der Chaussee her jagte ein Wagen. Nun [S. 99] kam’s übers Pflaster mit Geknall und Gejohle. Zwei auf dem Bock, die Kutsche gerappelt voll, so voll, daß noch je einer lag und die Beine zum Wagenschlag heraushängte.

So fest schliefen die Bauern von Heckenbroich denn doch nicht, daß sie das nicht gehört hätten. Überall, wo die Kutsche vorbeirasselte, fuhr rasch ein Kopf aus dem Fenster. Das waren die Offiziere! Von der Stadt herauf kamen sie.

Wie wachsame Augen brannten die Laternen rechts und links vom Bock des Wagens, die drinnen saßen, konnten ja selber nichts mehr sehen; auch der Soldat, der kutschierte, war nicht sicher mehr. Die Wirtin vom Weißen Schwan hatte ein Herz auch für Burschen; während die Herren im Speisesaal tranken, wurde der Kutscher in die Küche gelassen.

Leykuhlen schlug sein Fenster zu: so lange würde das noch gehen, bis sie einmal gehörig umschmissen oder sich festfuhren im Sumpf. Wenn sie doch wenigstens still wären, das war ja ein wüstes Gegröhle!

Lange noch hörte das lauschende Dorf die weinrauhen Stimmen und Gesang, Gelächter, Gejohle zwischen Rädergerappel und Hufegeklapper.


»Wat ich dir noch sagen wollt,« sprach die Bürgermeisterin am anderen Morgen zu ihrem Mann, als sie miteinander in der Küche den Kaffee tranken, »de Josef kam darum erauf, weil er dich fragen wollt, ob du nit en Magd für ihn wüßt? Ich bin et jestern janz verjessen. Er will en Magd haben, für auf die Fangeuse wohnen zu jehn, Bärtes!« Man merkte ihrem Ton an, daß sie dachte: welch ein Unsinn, auf der Fangeuse wohnen zu wollen!

Leykuhlen legte sein Butterbrot hin und fing laut an zu lachen: »Wat de für Ideen hat!«

[S. 100] »Mir scheint, de fühlt sich sehr unjlücklich unten bei seinem Vetter. Nu hat der Jilles oben im Moorhaus dem Schmölder jekündigt, un da hatt der Josef Lust jekriegt, anstatt dem Jilles nach oben zu ziehen. Aber er braucht doch en Magd – weißt du ein’, Bärtes?«

Leykuhlen schüttelte den Kopf: das würde schwer halten! Sämtliche Witwen und ältliche Frauenspersonen im Dorf ließ er an seinen Gedanken vorüberziehen. Da war die Witwe vom May aus der Tuchfabrik, der letztes Jahr an der Schwindsucht gestorben war, die war aber selber nicht fest auf der Brust, die hielt oben die Stürme und Nebel nicht aus. Da war zweitens die Witwe vom Johann Peter, der Anno siebzig als junger Kerl sein Bein verloren hatte, die war wohl noch rüstig und stark, aber die hatte zehn Kinder, die jüngsten davon mußten noch in die Schul – mit der war es auch nix. Da war die Hoefen, die war blind auf einem Auge geworden, und auf dem andern sah sie fast auch nichts mehr vom Weinen; der ihr Mann war vor zehn Jahren ausgezogen mit Karren und Gaul ins wallonische Venn, um Torf zu stechen, und war nicht mehr gesehen worden seit jenem Tag. Da war auch die alte Frau, die Lenzen Tring, aber die war fünfzehn Mal Großmutter schon, die hatte zu viele Enkel zu wiegen. Das Bertchen, die ledige Näherin, die nicht mehr in die Fabrik gehen konnte und jetzt nähte und flickte und Kinder das Stricken lehrte, die hatte zu feine Knochen für so was. Das Lieschen, das Bükelchen, das von der Gemeindewohltätigkeit lebte, die würd sich gewiß gern was verdienen – aber da hinauf, nein, da würde die auch nicht hinziehen!

Leykuhlen schüttelte den Kopf: »Ich weiß kein’!«

»Et müßt eijentlich en Junge un Kräftige sein,« sagte Mariechen nachdenklich.

[S. 101] »En Junge? Dat würd sich doch schlecht schicken. Dat leidt auch unser Pastor nun un nimmer, selbst wenn die Eltern et zujäben!«

»Och!« Sie lachte ihn hell aus ob dieses Bedenkens. »An so wat denkt doch de Josef nit mieh, da is de doch viel, viel zu ältlich für!«

»Zwei Jahr jünger als ich!« Leykuhlen lachte auch, streckte prüfend die kräftigen Arme aus und zog seine Frau plötzlich an sich. »Dat sag nit, Mariechen! Zwei Jahr jünger noch is de Josef als ich – mer soll nix verschwören!«

Errötend wie eine ganz Junge machte sich die Frau von ihm los und gab ihm einen Klaps. »Och, Bärtes! Ich bin doch dein Frau, dat is doch wat janz anderes! Un denn, du bist doch ’ne andere als de Josef!« Sich mit beiden Händen den Scheitel wieder glatt streichend, den er ihr verwirrt hatte, musterte sie mit Stolz und Liebe im Blick ihres Mannes Kraftgestalt. »Wat bist du für ’ne Kerl – un wat is de für eine! Recht erbärmlich – eso schwach – janz jries is sein Haar als!«

»Meins is ja auch als jrau,« sagte er neckend.

»Och, deins!« Sie fuhr ihm mit beiden Händen auf den ein wenig strubbligen Kopf. »Du bist ja noch akkurat so, als ob du noch schwarz wärst!« – – – – – – – –

Es war ein heller Morgen. Kein Morgen freilich, wie er am ersten Juni in anderen Dörfern zu sein pflegt. Hier schoß noch keine Saat in die Halme und neigte und wiegte sich in einem Wind, der schon Sommerwärme in sich hatte. In der Rheinebene hatten die Obstalleen längst abgeblüht, zwischen dem dunkelnden Sommerlaub kündeten schon kleine Früchtchen die künftige Ernte; aber zu Heckenbroich waren eben erst die Hecken grün geworden. Die Hecke vor Huesgens armseligem Haus zeigte sogar noch viel braunes und dürres [S. 102] Winterlaub; nur wo die Sonne so recht ankommen konnte, grünten schwächliche Sprießer.

Heute brauchte Weber Huesgen nicht in die Fabrik zu gehen. Gestern abend war er mit dem letzten Arbeiterzug von Aachen gekommen, staubig, verwahrlost und verdrossen dazu. Das war doch ein schweres Leben! Nun, da er anfing, seine Jahre zu fühlen, wurde ihm die Woche oft sauer. Immer arbeiten, und kein Familienleben dazu; mit den ledigen Kerlen in der Herberge umherliegen. Und wenn man einmal die Woche nach Hause kam, dann zu allem noch eine kranke Frau! Nun hatte er auch gar kein Pläsier mehr.

Spät am Abend noch hatte sich Huesgen scheren lassen – die blaugrauen Stoppeln überwucherten ihm das Gesicht wie ein Gestrüpp – dann hatte Kathrinchen den Zober herbeigeschleppt, ihm die Füße zu waschen, und Bäreb hatte sich gleich an des Vaters Sachen gemacht, um sie zu flicken. Die Frau aber saß bei ihrem Ehemann auf dem Bettrand, den schlafenden Säugling an der Brust, und hielt seine schwielige Hand in der ihren. Sie hatte ihm ja so viel, so viel zu erzählen.

Unter ihrem Wunderglauben hatte sich sein gesunkener Mut aufgerichtet wie ein schnell-wachsender Baum. Er ließ Müdigkeit und Verdrossenheit fahren und wurde so vergnügt, als hätte er einen Schoppen getrunken. Oh, und die Frau war ja soviel besser als letzten Samstag! Ordentlich Rot hatte sie auf den Backen, sie war wie verjüngt. Er hatte kräftig geschmaust. Sie hatte ihm Eier mit Speck gebraten, und sie, die vorher nichts hatte essen mögen, teilte heut mit ihm; die Kinder, die großäugig zusahen, bekamen vom Vater auch eins nach dem andern einen Happen Brot, in Fett getunkt, in den Mund gesteckt, der gierig zuschnappte. Weber Huesgen lachte darüber und klopfte ihnen die Köpfe: hübsche [S. 103] Kinder doch alle, staatse Kinder! Und mit dem Dores würde sich das ja nun auch bald bessern! Väterlich betrachtete er auch den schlummernden Säugling; die Frau mußte den auswickeln und ihm zeigen, wie stark er gebaut war. Nein, es waren der Kinder nicht zu viele, die waren ein Geschenk von Gott im Himmel!

Draußen zog der Mond friedlich seine Bahn. Hier am Ende des Dorfes kam kein Lärm vorüber; still, ganz still war’s und traulich. Es ward eine glückliche Nacht unter dem armen Dach. –

Nun aber läuteten die Glocken. Weber Huesgen ging mit seiner Frau zum ersten Mal zum Hochamt. Jetzt traute sie sich das schon.

In einer ununterbrochenen Reihe, zu zweien und zu dreien strebten die Dörfler zur Kirche hin. Viele hatten einen weiten Weg, denn oft, wo man’s gar nicht mehr vermutete, lag noch ein Häuschen hinter seiner hohen Hecke versteckt.

Auch die vom Venn waren heute gekommen, sie wurden heruntergetrieben zu zweien und zweien. Simon Bräuer hatte sie gut im Zug. Los und ledig gingen sie, wie andere Leute auch; aber wenn sie auch nicht gebunden waren, sie gingen doch wie gefesselt, die Köpfe gesenkt, die Blicke zu Boden geschlagen. Trapp, trapp. Harte Tritte hatten sie in grobgenagelten Schuhen. Sie waren heute im Sonntagsstaat, in reingewaschenen Kitteln und dunklen Mützen; ganz ordentlich sahen sie aus. Aber mißbilligende Blicke streiften dennoch die Kolonne; es blieb ein großer Abstand zwischen ihr und der übrigen Schar der Kirchgänger. Die Frauen guckten scheu; sie eilten sich noch mehr, daß sie in die Kirche kamen.

Wie ein Beet von bunten Tulipanen prangten dicht gefüllt die Bänke der Weiber. Sie hatten alle ihre besten Kopftücher um – rot und gelb, grün und violett, blau und [S. 104] orangefarben – Wolle mit Seide durchschossen in großblumigen Mustern.

Von ihrem Platz sah die Frau Bürgermeisterin nach jenen Bänken hin. Sieh da, mitten zwischen frischeren und gesünderen Gesichtern das blasse der Huesgen! Ah, das war recht, daß die heut nicht fehlte, die hatte ja zwiefach Grund, hier zu knieen! –

» In nomine patris et filii et spiritus sancti!

Amen!«

In tiefer Andacht neigte sich die Gemeinde. Der Pastor, trotz seiner Siebenzig noch im Amt, hielt das Staffelgebet. Und Confiteor und Introitus folgten. Die hohe Wölbung verschluckte die lateinischen Worte; die hohle Stimme des greisen Priesters am Altar und die näselnde des ihm antwortenden Dieners vom Chor gaben ein immerwährendes Echo. Man konnte nicht viel verstehen. Aber der Weihrauch duftete, die Chorknaben knieten, die ewige Lampe ergoß blutrot dämmernden Schein auf den Leib des Erlösers, der lebensgroß, in natürlichen Farben angemalt, der Gottesmutter im Schoße ruhte.

Das Sonnenlicht war draußen geblieben; durch die bunten Scheiben brach nur ein einziger Strahl herein. Wie eine goldene Leiter, auf der Millionen von flimmernden Sternchen auf und nieder tanzten, leitete er hin zur Monstranz, die auf dem weißgedeckten Altar erstrahlte.

» Gloria in excelsis Deo! «

Kein Räuspern war mehr hörbar, kein Scharren mit den Füßen. Alles lag auf den Knieen. Das war wie ein reifes Ährenfeld, das lautlos fällt in dichten Schwaden.

Trotz der kellerigen Kühle des hohen Gewölbes ward es schwül. Hunderte schwitzten in emsiger Andacht; Männer und Weiber und Kinder dazu. Das ganze Dorf war hier [S. 105] versammelt; nur die Gichtbrüchigen fehlten, und die Uralten, die nicht mehr vom Bette auf konnten, die Wöchnerinnen und die ganz kleinen Kinder. Es roch nach Seife, nach der Pomade der glattgestrählten Köpfe, nach den Sonntagskleidern, die man nur einmal vorholte in acht Tagen aus dem alten wurmstichigen, nie gelüfteten Schrank, der das Beste verwahrte; nach der Tünche der Wände, deren neuer Bewurf noch nicht völlig getrocknet war in diesem Frühjahr. Die Luft wurde dick, die Gesichter wurden rot, die Füße eiskalt. Ein heiliges Schauern zog durch die Seelen, ein Frösteln durch Mark und Bein.

» Dominus vobiscum! «

Der Greis am Altar kehrte sich gegen seine Gemeinde, er breitete die Hände aus und schloß sie wieder.

War Gott nahe?!

Ein Seufzer ertönte aus den Bänken der Frauen. Trotz der Andacht drehten alle die bunt-verhangenen Häupter sich um. Wer seufzte da? Fast klang’s wie ein Stöhnen. Unwillige Blicke bohrten sich in das noch blasser werdende Gesicht der Huesgen-Annelies. War’s nicht besser, sie ging aus der Kirche, ehe sie schwach wurde? Flüsternd neigte sich die Nachbarin zu ihr, aber Annelies schüttelte den Kopf: nein, ihr war nur auf einmal so kalt geworden, ihr war schon wieder wohl! Sich einen Augenblick hinsetzend, um sich zu erholen, und dann doch gleich wieder niederknieend auf das schmale Bänkchen, betete sie eifrig im Oremus.

Die Epistel ging vorüber, nun das Credo; jetzt kam bald die Opferung. Die Huesgen hatte heute noch nichts genossen. Brot und Wein waren ja da auf dem Tische des Herrn. Nun opferte der Priester die Hostie, nun vermischte er Wein und Wasser, nun wendete er sich zu allen und doch zu jedem einzelnen:

[S. 106] » Sursum corda! «

Und die Gemeinde antwortete murmelnd:

» Habemus ad dominum! «

Unruhig blickte die Huesgen um sich; vor ihren Augen schwankte das Schiff der Kirche: war es noch nicht bald aus? Noch nicht? Der Schweiß fing ihr an zu rinnen. Noch nicht bald?! Sie hörte kaum etwas mehr. Endlich ein Klingeln. Dreimal anschlagend. Ah, die Wandlung! Der Priester erhebt die heilige Hostie und dann den Kelch; tief anbetend schlägt alles die Brust. Wieder das silberne Glöcklein und wieder.

Die Huesgen riß weit die Augen auf, vor ihren Ohren ward das zarte Klingeln zum gewaltigen Läuten. Es erschütterte die Leere ihres Leibes; es schwieg nicht, es betäubte sie schier. Es läutete immerfort in feierlich rhythmischem Dröhnen. Vor ihren Augen erstand ein Flimmern – so wie jetzt im goldenen Strahl, so hatte die Mutter Gottes gestern vor ihr gestanden! Jesus, Maria, Josef! Jetzt erst fühlte sie einen tödlichen Schreck. Sie schloß aufseufzend die Lider.

Man hatte die Huesgen aus der Kirche führen müssen, sie fast tragen. Das Hochamt war doch noch zu anstrengend für sie gewesen; sie war in Ohnmacht gefallen. Jetzt lag sie daheim auf dem Bett; der Mann saß ganz betreten bei ihr. Er war verlegen und unglücklich und kam sich schuldig vor: das hatte er doch nicht gedacht, daß sie noch so schwach wäre! Und – er warf einen schweren Blick auf den Dores, der beschmutzt und greinend auf dem Estrich herumkroch und dem Kathrinchen, das ihn aufheben wollte, sich ungebärdig widersetzte – nun würde es auch mit dem Dores nicht anders werden! Wie sollte die Frau auch nach Echternach springen gehen?!

Das übermannte ihn schier. Er ging hinaus von der [S. 107] Frau aus der Stube, und da er nicht wußte wohin, um seinen Kummer zu verbergen – was sollten die Kinder wohl denken, wenn sie ihren Vater weinen sahen? – ging er zur Kuh in den Stall.

Die stand trächtig. Ihr großer, runder Leib füllte fast den ganzen winzigen Stall aus. Er klopfte sie seufzend; er konnte sie nicht recht sehen im dumpfen, lichtlosen Raum, aber sie war doch eine Hoffnung. Wenn die Kuh ein Kalb bekam, dann war das ein großer Segen. Man konnte es aufziehen oder man konnte es auch bald verkaufen, je nachdem.

Die Kuh stand unruhig, sie machte einen Satz.

»He, Maiblum!« Liebkosend legte der Mann seinen Kopf an die breite Stirn des schnaufenden Tiefes und stand so, gebückt, ein Weilchen. Das gab ihm Ruhe. Morgen früh, ehe die Sonne noch aufgegangen war, mußte er wieder fort nach Aachen, die ganze Woche wegbleiben – aber saß denn nicht noch die heilige Dreifaltigkeit oben im Himmel?!

Bäreb, die Älteste, hatte den Vater in den Stall gehen sehen. Nun kam sie ihm nach. Auch sie mußte sich bücken, sie war noch gewachsen in letzter Zeit.

»Wat willste?« Er richtete sein hageres, schlecht rasiertes Gesicht von der Stirn der Kuh auf und sah sie erschrocken an: »Is et schlechter mit der Motter?«

»Nee!« Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte noch nicht das Sonntagskleid austun können, aber sie hatte es hochgeschlagen; und nun, im Schmutz des Stalles, in dem es nur wenig Streu gab, zog sie ihre Röcke zwischen die Beine hoch und klemmte sie so fest. Sie war ein reinliches Mädchen. »Ich muß Uech ens spreche,« sagte sie und errötete tief.

Warum wurde sie denn so rot? Der Vater bekam einen plötzlichen Schreck: die Bäreb war jung, auch hübsch – sollte [S. 108] noch neues Unheil zum anderen dazu kommen?! »Nu sag et als rasch,« sagte er müde und matt.

»Ich will no’r Echternach jonn – über vierzehn Tag – springen!« Sie hatte sich Mut gefaßt: warum sollte der Vater denn auch dawider sein? Und sie hatte sich schon fleißig umgehört, jeder im Dorfe wußte davon zu erzählen, sie war ganz genau unterrichtet. Teuer war’s nicht sehr bis nach Echternach, die Eisenbahnfahrt war ermäßigt, es kostete vierter Klasse nicht viel. Und viele würden wallfahrten, sie war nicht allein, sie fand Anschluß genug. Ihr brauchte nicht zu grauen. Und zu Haus mußten sie sich eben ein paar Tage behelfen ohne sie, das Kathrinchen war ja auch schon so verständig; und wenn sie den Dores gar mitnehmen würde zum heiligen Willibrord – ja, das war das beste, dann sah der das Kind gleich selber – dann war ohnehin die größte Last aus dem Haus.

»Ich jonn,« sagte sie entschlossen. »Ich denk, Ihr werdt nühst derje’n han, Vatter, ich wollt et Uech bloß saone. Die Motter hält de Bittjang doch nit uhs. Ich bin die nächste derzu – hui, on ich kann springe!« Die Lust dazu flammte in ihr auf, ihre Augen blinkten.

Der Alte sagte nicht viel, er nickte nur: »Wenn de meinst!«

Da sagte sie, aussprechend, was ihr nun schon den ganzen Tag, seit die Mutter wieder so elend dalag, im Kopfe herumging: »Ich will ooch janz jenau so springen, wie et vorjeschriewen is, ich machen et mir nit kommod. Ich bin so jung, ich kann dat jut uhshaalde. Fünnef Schritt vor und vier zorück! On den Dores, wenn den nit mieh laufe kann, dann will ich him drage. Heiliger Willibrord, bitt für uns!« Sie bekreuzte sich, und dann lachte sie, heiter und zuversichtlich: [S. 109] »Dann hilft de oß Motter, on oß Doresche ooch. Dat is janz sicher!«

Der Weber nickte. Er hatte sonst gegen den Plan der Tochter nichts einzuwenden, aber Arbeitstage würde sie versäumen – den Mittwoch sicherlich, wenn nur nicht auch noch den Donnerstag!

Bäreb rechnete an ihren Fingern ab: Sonntag und Montag waren Feiertage, da hatte sie übrig Zeit, hinzukommen, konnte schon Montag mittag an Ort und Stelle sein. Am dritten Feiertag, am Dienstag, war die Prozession. Da konnte sie abends noch ein Stück wieder zurückkommen, und Mittwoch abend war sie dann zu Hause; nur ein Arbeitstag brauchte also versäumt zu sein. Donnerstag war sie schon wieder in der Fabrik, als wäre nichts gewesen. Ihre ganze Kraft, ihr ganzer Jugendmut lag in dieser Rechnung. Wie konnte sie müde werden, was brauchte sie auszuruhen?!

Die Kuh muhte dumpf, ihr Leib zitterte, als empfände sie Schmerzen.

»Maiblum, no?« Das Mädchen sah besorgt nach ihr hin, dann gab es ihr einen Schlag mit der flachen Hand, kräftig-liebkosend: »Maiblum, ich saon der, wart, bis ich wieder daheem bin, maach keen Saachen!«

Der Weber schmunzelte. In aller Not hatte er doch noch Glück, ein großes Glück: brave Kinder hatte ihm der Herrgott gegeben!

Im dumpfen Stall, wo sie beide gebückt stehen mußten, so niedrig war er, legte der Vater der Tochter die Hand auf. Eine gewisse Würde war in dem Ton, mit dem er sprach: »Da jeh denn in Jottes Namen!«

[10] Brunnen.

[11] untersuchen.

[12] kallen = schwatzen.

[13] Verstört.


[S. 110]

VI

Die lang-angedrohte Kommission war ins Dorf gekommen, hinter jede Hecke schnüffelte sie. Der Kreisphysikus war bei den Herren, er geleitete den Wasserbauinspektor und einen Brunnenmeister. Da hatte der Adams vom grünen Klee, der in der letzten Gemeinderatssitzung so ein großes Maul gehabt hatte, doch nicht das Herz, der Kommission den Zutritt auf seinen Hof zu verwehren. Und sein Kamerad, der Zumstädtchen, sagte auch kein Wort mehr. Freilich, eines sehr guten Empfanges konnten sich die Herren überall nicht rühmen. Freundlich die Mütze lüftend stand keiner der Bauern am Heckeneingang, keiner machte selber den Führer zum Ziehbrunnen hinters Haus, auf dem schmalen Pfädchen die Stallwand entlang, wo kaum zu treten war vor Brennesseln und Jauchepfützen. Die Frauen mußten heran, die waren wortreicher, die versicherten wiederholt, wie gut das Wasser sei, immer kühl und gesund seit Menschengedenken. Die Herren verstanden nichts vom Schwatzen der Weiber, einzig der Kreisphysikus kannte sich aus: wo die Weiber so arg viel redeten, da lag der Brunnen gewiß dicht bei der Jauchegrube.

»Es ist eine Schande,« sagte der Wasserbauinspektor zum Kreisphysikus, »daß die Leute hier keine Wasserleitung anlegen – doch so ein großes Dorf und eine ganz wohlhabende Gemeinde!«

»Sie haben erst kürzlich die Kirche gebaut!« Der Kreisphysikus zuckte die Achseln.

»Alles in Ehren,« sagte der andere wieder, »die Kirche – hm – aber eine Wasserleitung hätte nötiger getan. Acht Brunnen haben wir nun schon als verdächtig geschlossen; ein [S. 111] Brunnen genügte schon, die ganze Gegend zu verseuchen. Ich würde hier kein Wasser trinken; nicht ’nen Tropfen!«

»Ich auch nicht!« Die Herren hatten sich in ihrem Wagen das Frühstück mitgebracht, er hielt beim Wirtshaus. Sie gingen dorthin zurück, aber das dünne Bier, das die Bauern am Sonntag trinken, mundete ihnen nicht – konnte das nicht auch mit Wasser versetzt sein? Sie beschlossen, beim Bürgermeister anzuklopfen, der sicher einen trinkbaren Tropfen im Keller hatte.

Leykuhlen schien sie erwartet zu haben, die Frau kam schon mit Gläsern.

Den ganzen Morgen war der Bürgermeister im Hause hin und her geschritten, er hatte nicht hinaus mögen; zwar hatte er keine Angst – das Wasser war ja gut – aber doch trieb ihn eine heimliche Unrast um. »Nun?« fragte er jetzt gespannt.

»Schon so viele!« Der Kreisphysikus hielt acht Finger in die Höhe.

»Wie?!« Leykuhlen wurde rot. »Haben Sie denn da schlechtes Wasser jefunden?«

»Genaues läßt sich natürlich jetzt noch nicht feststellen, das wird erst die Untersuchung ergeben. Aber verdächtig, immerhin sehr verdächtig – nicht wahr, Herr Wasserbauinspektor?«

Der Wasserbauinspektor machte ein ernstes Gesicht. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, Herr Bürgermeister, daß Ihre Gemeinde in einer ernstlichen Gefahr schwebt. Der Herr Kreisphysikus hat mir mitgeteilt, daß Sie hier im vergangenen Herbst zwei Typhusfälle hatten, das Jahr vorher sogar drei. Hier sind ganz unzulässige, gesundheitswidrige Einrichtungen. Beim Bauer Adams am grünen Klee – soll [S. 112] ja sogar ’n reicher Kerl sein – läuft entschieden von den Abflüssen der Ställe in den Brunnen. Das ist ja da alles so dicht beisammen, und die Erde ist durchlässig, es ist gar nicht anders möglich. Bei dem Nachbar ist’s auch nicht geheuer. Und so in vielen Fällen. Sagen Sie mal, Herr Bürgermeister, was würden Sie denn machen, wenn wir Ihnen nun hier sämtliche Brunnen schlössen?«

»Wir würden aus unsern Bächen Wasser schöpfen,« sagte Leykuhlen gelassen. Ihm war plötzlich eine Verachtung dieser Besserwisser gekommen. »Menschenweisheit und Menschenhand können doch nicht allem vorbeugen!«

»Na,« der Kreisphysikus lachte hell auf, »das muß mich aber doch von Ihnen wundern, Leykuhlen, daß Sie so was sagen. Natürlich, wenn so ein dummer Bauer das sagt!«

»Ich bin auch ’ne Bauer, Herr Kreisphysikus! Wir haben seit Jahren und Jahren aus unseren Brunnen jetrunken und sind leidlich jesund geblieben – ein Krankheitsfall kommt eben überall mal vor – warum sollten wir nit auch aus unseren Bächen trinken, wenn’t sein müßt? Ich weiß wohl, ich weiß wohl, wat Sie sagen wollen,« fuhr er fort, ohne sich unterbrechen zu lassen, »Vennwasser is Vennwasser, – ich warne ja auch davor – aber im jeheimsten Winkel meines Herzens denk ich: wer jesund bleiben soll, bleibt doch jesund. Wir stehen all in Jottes Hand!«

Die Herren wechselten einen Blick: der war in der Tat ein Bauer, kein Jota aufgeklärter!

Leykuhlen sah und verstand den Blick, aber er ärgerte sich nicht darüber. In ihm war eine große Ruhe: mochten sie reden, was sie wollten! Er stieß mit den Herren an: »Auf jute Jesundheit!«

In diesem Augenblick rasselte draußen jenseits der Hecke ein Wagen und hielt an. Frau Mariechen, die jedes geleerte [S. 113] Glas sofort wieder füllte, sich sonst aber ganz stumm in der Stube zu schaffen gemacht hatte – ihr war, als dürfe sie ihren Mann heute nicht verlassen – ging hinaus und kam gleich wieder mit einem roten Kopf. Sie flüsterte ihrem Mann etwas zu.

Leykuhlen stand langsam auf: »Der Landrat!«

Mühlenbrink hatte es sich nicht versagen können, selber nachzusehen, es war ihm denn doch zu wichtig, was die Herren konstatierten. Nun triumphierte er: aha, wer hatte nun recht gehabt?! Hatte er’s nicht hier dem verehrten Freund schon mehr als ein Dutzend Mal gesagt: eine Wasserleitung muß gebaut werden?! Das war wirklich ein Glück, daß er sich so dahinter gesetzt hatte. Angenehm war freilich die Mission, Besserung der Verhältnisse und höhere Kultur zu schaffen, nicht; man erntete selber nie Dank! Er sagte das nicht ohne Bitterkeit; der allzu Rührige hatte schon seine Erfahrungen gemacht.

»Ein schöner Kreis, ein interessanter Kreis! Aber wie vieles noch im argen!« Er seufzte. »Den Typhus werden wir hierzulande nie ganz los, die Verdummung der Leute geht eben über die Hutschnur. Als ich aus meinem früheren Kreis, aus Ostpreußen, hierherkam, war ich ganz paff. Ich bin doch auch ein gläubiger Christ, aber so etwas wie hier ist mir denn doch noch nicht vorgekommen. Das ist schon verbohrt!«

»Und wir werden doch nit die Wasserleitung bauen, und wenn uns die Rejierung sojar die Hälft dazu jäb,« sagte Leykuhlen plötzlich energisch und reckte sich unwillkürlich. Alles, was in ihm war, empörte sich. Dieser junge Mann, dieser Hans in allen Gassen, dieser nannte sich einen rechtgläubigen Christen und wagte es doch, so zu sprechen?! »Ich will Ihnen wat sagen, Herr Landrat,« sprach er geradezu, und der Trotz, der sich in ihm rührte, gab seinem Ton Härte und Schärfe. [S. 114] »Herr Landrat, Sie haben ja jar kein Ahnung, wat unser Bauer bedarf und wat er nit bedarf. Dat muß ich besser wissen. Sein Jlaube macht ihn jlücklich und zufrieden – Ihre Wasserleitung kann ihn weder jlücklich noch zufrieden machen. Ich pfeif auf Ihre Wasserleitung und auf all dat, wat drum und dran hängt!«

Das war stark! Ein saugrober Eifler! Die Herren sahen sich einen Moment ganz verdutzt an.

Der Landrat wurde blutrot, aber dann faßte er sich gewandt: nur es nicht mit dem Mann verderben, der war doch zu wichtig! Einlenkend legte er dem Erregten die Hand auf den Ärmel: »Lieber Herr Bürgermeister, Sie scheinen zu glauben, daß mir das Wohl und Wehe des Bauern hierzulande nicht ebenso am Herzen liegt, wie Ihnen? Da sind Sie sehr im Irrtum. Ich denke Tag und Nacht darüber nach, wie man glückliche Wandlungen schaffen könnte. Es ist nötig, glauben Sie’s nur! Sie selbst sind doch von einer viel zu hohen Intelligenz, um nicht einzusehen, daß der Eifler nicht so fortwirtschaften kann wie vor dreißig Jahren. Um Gottes willen, nur keine Mißverständnisse, lieber Leykuhlen!« Er nahm sein Glas und führte es an das Glas des anderen. »Wir alle sind hier ja Pioniere, Apostel, wie Sie’s nennen wollen, wir alle wollen das Beste bringen. Das öde Venn, es wandle sich in fruchtbarere Gefilde! Prosit! Auf unser Vennland!«

Der Bürgermeister konnte nicht anders, er mußte anstoßen, aber er tat es mit einem so starken Stoß, daß er Wein verschüttete. Die Frau kam rasch mit einem Tuch, das Naß von der Decke zu wischen, er wies sie zurück: »Laß nur, Mariechen!«

Er war blaß geworden; man sah es trotz des gesunden Braunrots, das sein Gesicht so gleichmäßig überzog. Er biß sich auf die Lippen. »Herr Landrat,« sagte er dann ruhiger, [S. 115] aber man spürte in seinem Ton noch den Groll, »Sie sind redejewandter als ich, Sie wissen Ihre Worte zu setzen. Herr Landrat, aber janz herausreden können Sie sich doch nit. Jewiß, Sie mögen et jut meinen, ich verkenn dat jar nit; Sie denken darüber nach, wat besser sein könnte hier – vieles, dat sag ich auch. Aber wir hängen nu mal am Herjebrachten; dat hängt auch viel zu sehr mit dem zusammen, wat unser Teuerstes ausmacht, als daß sich dat herausreißen ließ ohne Schaden. Sie sagen, Sie lieben unser Land – jut, Herr Landrat, Sie lieben es, aber mit dem Verstand. Sie wollen schaffen, erneuern, sich betätigen, ausjestalten, Ihre Ideen ins Werk setzen. Ich, Herr Landrat,« – er schlug sich auf die Brust mit Heftigkeit – »ich aber lieb es mit der Seele. Und dadrin liegt der Unterschied. Und darum versteh ich Sie manchmal nit und Sie mich nit. Nühst für unjut, Herr Landrat!« Ein Beben war in seine starke Stimme gekommen; er streckte, sich selber überwindend, dem soviel jüngeren Manne die Hand hin.

Mühlenbrink schlug ein und lächelte, wenn auch mit einer gewissen Bittersüße. Sie schüttelten sich die Hände.

Die Debatte war geschlossen, aber eine angenehme Unterhaltung wollte doch nicht in Fluß kommen. Die Herren tranken aus und empfahlen sich; sie hatten heute noch viel zu tun, in einem Tage war’s ohnehin kaum zu schaffen. Der Landrat begleitete sie, er forderte auch den Bürgermeister auf, mitzukommen. Dieser lehnte ab; aber als sie eine halbe Stunde fort waren und er am Fenster gestanden hatte und auf das Glas getrommelt, ging er ihnen doch nach. – – –

Es wurden mehr Brunnen im Dorfe geschlossen, als man anfänglich vermutet hatte; gut die Hälfte der vorhandenen. Die Heckenbroicher waren außer sich: nun mußten sie, Gott weiß wie weit laufen und die schweren Eimer Wasser schleppen, während sie es sonst so bequem gehabt hatten, gleich hinter dem [S. 116] Stall. Und das war noch weniger angenehm, immer beim Nachbar drum ansprechen zu müssen – jeder für sich – man mochte bei aller getreuen Nachbarschaft es auch nicht gern, wenn einem immer einer hinter die Hecke gelaufen kam.

Die Höfen, die halbblinde Witwe, fiel den Bürgermeister förmlich an, als er eines Tages an ihrem Hause vorbeiging und sie, gerade vom Nachbar kommend, einen Eimer Wasser hinter ihre Hecke schleppte. Da hatte der Gendarm ihr gestern einen Brief ins Haus gebracht – »Maria Jusep! So ’n Onjlöck, so ’n Onjlöck!« Nun sollte sie ihren Brunnen ausschachten lassen und ummauern, sonst blieb er für immer geschlossen und sie durfte nie, nie mehr daraus trinken. Ihr Brunnen! Ihr Josef selig hatte das Wasser immer so gerühmt, er hatte sich noch daran gelabt, ehe er mit dem Gaul ins Venn gefahren war. Ihre Mutter selig hatte daraus getrunken – ihr Sohn, ihre Tochter, die an der Krankheit gestorben war – die Lieben alle, die sie auf dem Kirchhof liegen hatte, und der Lennerd auch, der jetzt in Amerika war, und ihre Bill, die nach Köln weggeheiratet hatte. Und nun sollte sie nicht mehr daraus trinken?! Aus ihren erblindenden Augen flossen Tränen.

Es erbarmte Leykuhlen. Aber was sollte er machen? Überall der gleiche Verdruß. Aus diesem Haus und aus jenem gingen ihn die Besitzer an, er sollte doch machen, daß die Sperre aufgehoben würde. Man brauchte das Wasser, jetzt, da Pfingsten so nahe war, doppelt; man wollte waschen und scheuern und Brotteig einmachen, man hatte zu tun und konnte das Wasser nicht so von weither schleppen.

Aber der Landrat blieb fest: »Mein lieber Bürgermeister, dabei kann ich gar nichts machen, so gern ich Ihnen auch gefällig sein möchte.«

»Und daran sind Sie schuld,« grollte Leykuhlen. Er war [S. 117] sehr verstimmt; er hatte sogar Stunden, in denen er sich Vorwürfe machte, doch nicht lieber die Wasserleitung statt der Kirche gebaut zu haben. Aber wenn er sie dann aus dem Giebelfenster seines Hauses wieder ansah, war es ihm, als habe er in seinen Gedanken ein Unrecht begangen. Das Geläut der Glocken dröhnte ihm wie eine Mahnung – zu bezahlen waren sie ja noch, aber wenn man die Gemeindejagd gut verpachtete, trug man die Schuld schon ab. Sie läuteten ihm Friede und Freude ins Herz.

Sie läuteten das heilige Pfingstfest ein. Überall war geschmückt mit Maien. Am Kircheneingang standen zwei ganze Bäume, ihre silbrigen Stämme und das zarte Blattgrün zierten wunderschön das dunkle Portal.

Birken gabs genug auf den Ödländereien von Heckenbroich, auf hungrigem Boden, wo kein anderer Baum mehr fortkommen wollte. Nach dem Schießplatz zu waren ganze Trupps zu finden, die ihre langen Haare im streichenden Winde wehen ließen.

Etwas erhöht, auf einer Erdwelle stand eine besonders große Birke, ganz einsam, weit hinragend, hoch wie eine Stange. Den einzigen starken Ast, der sich vom Wipfel abkrümmte wie ein gebogener Arm, streckte sie weit von sich. Hier war immer der Platz des Kommandierenden, wenn auf der weiten Heidefläche sich die Parade entwickelte, und die verschiedenen Truppenkörper in ihren verschiedenen Uniformen die endlose Monotonie belebten. Hier standen auch die Offiziere, um die Wirkung der neu zu erprobenden Geschütze zu konstatieren. Und hier, ›am krummen Ast‹, stand auch oft Hans Abeking, am Abend des großen Schießens, wenn seine Leute das Gelände nach verlorenen Geschossen und auf Blindgänger absuchten.

Er starrte träumerisch in den sinkenden Sonnenball. Von [S. 118] hier aus gesehen war die Heide ein Meer mit Wellen und Wellchen, und die Sonne tauchte unter wie ins große Wasser, die ganze Flut rotfärbend mit ihrer Glut. Die Augen gingen ihm über. Heut dachte er an seine Mutter und an seine Schwester, die mit einem ebenso jungen Leutnant, wie er einer war, verlobt war, und er ärgerte sich, daß er unten bei Helene so viel Geld ausgab, sich gänzlich verausgabte und doch noch Schulden hatte bei seinem Freund Scheffler und sogar bei dem dicken Stabsarzt. Das war scheußlich! Die Mutter knappte sich die Zulage ab; er wußte das, wenn sie’s ihm auch nie sagte. Er machte sich die größten Vorwürfe: wahrhaftig, er war es wert, an diesem krummen Ast aufgehängt zu werden! Mit verschleierten Blicken maß er den einsamen Baum.

Aber dann sah er hinüber zum Lager, dessen Wellblech-Baracken jetzt im sinkenden Licht all ihre Nüchternheit verloren hatten. Die platten Dächer sprühten nicht mehr Funken wie unterm erbarmungslosen Mittagsstrahl, sie erglänzten jetzt gleich mattem Silber, und freundlich aus den paar Tannen heraus blinkte das weiße Kasino. Bei aller Knappheit war es doch famos, Offizier zu sein!

Abeking seufzte auf: nein, er hätte sich doch in keinen anderen Beruf hineindenken können. Sein verstorbener Vater war Militär gewesen, Großpapa auch – warum sollte nicht auch er Karriere machen, wie die beiden sie bei verhältnismäßig jungen Jahren doch schon gemacht hatten?! Und Schulden würden sie auch gehabt haben – überhaupt, was machte das, so ein paar kleine Schulden? Es ging gar nicht anders.

Sein Blick strahlte auf: morgen, Pfingstsonntag, fuhren sie wieder hinunter. Es waren jetzt immer noch ein paar Kameraden mit von der Gesellschaft, in Helenens Zimmer wurde zuweilen ein Spielchen gemacht, ein höchst harmloses; aber man konnte doch höllisch dabei verlieren. Helene gewann [S. 119] immer; sie setzte oft da und dort, geschwind hineinguckend und sich für ein paar Augenblicke über die Schulter dieses und jenes Herren beugend. Aber an seiner Schulter hatte sie doch am längsten gelehnt! Noch glaubte er den Schlag ihres warmen Herzens zu fühlen; sie hatte sich vor Freude über den Einsatz den er für sie getan, dicht, ganz dicht über ihn geneigt und mit lachenden Augen den Fall der Karten beobachtet. Sie war so ganz beim Spiel, sie hatte gar nicht acht, daß sie ihn fast zerdrückte mit ihrer weichen Fülle – aber – ah, es war sehr schön so gewesen!

Der junge Mann seufzte wieder: nein, morgen würde er doch nicht mittun! Und wenn es nur zehn Mark waren, die man verlieren konnte. Die Feiertage würden ohnehin viel verschlingen. Lieber Gott, man konnte doch das Fest nicht hier in der Heide vertrauern! Es war ja nicht immer die Stunde des Sonnenuntergangs, die alles verklärte, und in dieser Öde, in der sie alle seufzten und in der man gewaltsam Zerstreuung suchen mußte, um nicht melancholisch zu werden, Bilder zeigte, so reizvoll-lockend, wie den Wandrern der Wüste die Fata Morgana.

Röter und röter erglühte die Heide. Ihr Braun ward jetzt tiefpurpurn, von einer solchen Kraft des Leuchtens, daß der Himmel blaß und farblos dagegen erschien. Von dem Sonnenball war nichts mehr zu sehen, er war gesunken; aber röter, noch immer röter flammte das Heidekraut, und alle Lachen im Venn flammten mit. Wie in einem gewaltigen Brand lohte das ganze Moorland. Und nun stieg auch Dampf auf; schier ein Rauch wie bei einem Brande. Er wurde dicht und dichter, schnell und schneller sich aus kriechender Stellung zu Mannshöhe erhebend.

Der Leutnant gab das Zeichen zum Aufbruch. Jetzt war die geeignetste Stunde, sich das Fieber zu holen, die Kerls [S. 120] sahen ja ohnehin nichts mehr. Teufel, wie schneidend kalt es auf einmal war!

Fröstelnd, unwillkürlich in einen starken Trab verfallend, trottete die Kolonne in die Baracken zurück.


Es war Nacht. Eine Nacht, so bitterkalt, daß man kaum glauben konnte, im Juni zu sein. Als könnte es frieren, so hell-weiß schimmerte der Mondenschein und machte die dunklen Lachen zu blitzblanken Schilden, mit denen das Moorland die Pfeile des Himmels auffing. Wie grausame Augen, unbarmherzig, spähten die Sterne herab auf den Hahnheister Busch und auf das Haus, das, toteinsam und gemieden wie ein Pesthaus zu mittelalterlicher Zeit, vor den struppigen Kusseln des Buschrandes liegt.

Das Venn fror es nicht, und weder das saure Gras noch seine Blumen, die gelbe Narzisse, die weiße Maiglocke, die rote Orchis mit den schwarzen Flecken und die zarten rosa und weißen Glöckchen der Venn-Erika froren. All das blühte hier zusammen, nicht so streng geschieden nach Sippe und Blütezeit wie anderswo; es war froh, überhaupt erblühen zu können, und hart gewohnt.

Nur die Menschen fror es unter dem Ziegeldach des einsamen Hauses. Das heißt, Simon Bräuer fror es nicht, der war ins Dorf gegangen, der kalte, harte Mann heut heiß vor Freude. Sein Weib war heute im Wirtshaus von Heckenbroich abgestiegen. Nun ging er, sie zu küssen. Sie war gekommen für die paar Feiertage; es gab dann weniger Arbeit für ihn, ein Hilfsaufseher konnte ihn dann wohl einmal vertreten, und im übrigen schloß er seine Vierzig ein.

In langen, ungeduldigen Sätzen sprang der frohe Mann [S. 121] in der gradesten Richtung durchs eiskalt betaute Kraut. Und wenn er es auch sonst nicht so zeigte, er liebte sie doch. Und gerade weil er sie so lange hatte entbehren müssen, liebte er sie doppelt; viel mehr denn je. Er glaubte es jetzt kaum länger ertragen zu können, von ihr getrennt zu sein. Es half nichts, sie mußte her, und wenn sie auch anfänglich nicht wollte! Bei der Höfen war Platz zu finden, die blinde Witwe brauchte nur ein Stübchen vom Haus, da konnte die Therese gut unterkommen mit den Kindern. Ach ja, die Kinder! Ein weiches Gefühl faßte den Dahinstürmenden: wie lange hatten sie den Vater entbehrt! Den Vater, der sie zwar streng hielt und oftmals prügelte, und dem sie doch teurer waren als sein Herzblut. Ob das Johannchen auch brav lesen und schreiben lernte in der Schul’? Ob der Anna Zöpfchen schon ein Stück länger gewachsen war? Ob das Peterchen schon die ersten Hosen anhatte? Und ob das Kleine, das ganz Kleine, etwa schon »Pappa« sagen konnte?!

Im einsamen Venn, in der eiskalten Nacht, glaubte der Vater ein lallendes Stimmchen zu hören.

Hätten die Sträflinge jetzt Simon Bräuers Gesicht gesehen, sie hätten sich nicht mehr geduckt in hündischer Furcht – jetzt war er einer, dessen Mund lächelte. – – – – – –

Im Schlafsaal, dem langgestreckten Schuppen-Anbau, wälzten sich die Vierzig unterm tiefhängenden Dach. Seine Ziegel schlossen nicht fest aufeinander, sie ließen Hitze und Kälte gleich ungehindert durch. Die Vierzig konnten nicht Ruhe finden, obgleich sie todmüde waren. Der Aufseher hatte heut mehr denn je kommandiert. Sie hatten das neue Haus scheuern müssen vom obersten Dachsparren herab bis zur untersten Stufe des Eingangs, er hatte mit scharfen Augen jedes Stäubchen gesehen, jedes Fleckchen. Die einen hatten Wasser geschleppt, weither aus dem Tümpel, darinnen die Frösche [S. 122] sprangen und heute quarrten, als wär’s eine Sommernacht; andere hatten gefegt mit den Birkenbesen, die sie selber gebunden hatten, wieder andere mußten Maien schneiden und mit ihnen das Haus rund umstecken. So sah es viel weniger kahl und unfreundlich aus.

Sie hatten alle weidlich geschafft. Einen Kalender hatten sie nicht, aber an der verdoppelten Arbeit hatten sie gemerkt, daß morgen Pfingsten war. Den besseren Weg, den sie begonnen hatten, hatten sie noch vollends geschwind abstechen müssen und ausschaufeln und festtreten vom Haus bis nach der Chaussee hin. Eine Pferdearbeit war das gewesen im beschleunigten Tempo; am Mittag hatte die Sonne auf den Buckel geprickelt wie mit Nadeln, morgens und abends hatten die steifen Finger kaum Spaten und Hacke regieren können.

Und all das für das Fraumensch, das er erwartete! Sie hatten wohl gehört, was der eilfertige Bote, der Hütejunge, gestammelt hatte: »Se is nu do! Se läßt Uech jrüße!« Sie hatten das glühende Rot gesehen, das über sein Bronzegesicht schoß. In den Schlafsaal hatte er sie früher denn je getrieben, sie da eingesperrt ganz ohne Licht; nur der Mond, der durch die Ziegel fiel und durch die Ritzen zwischen den rohbehauenen Steinen, gab ein wenig Helle. Er selber war davongerannt. Wie grinsende Affen hinter Käfigstäben hatten sie am Gitter des Fensterchens ihm nachgeglotzt. Wie er rannte, wie er rannte! Er konnte es nicht abwarten, bis er bei seinem Frauensmensch war!

Mit höhnischem Lachen drehte Jacobs, der Rotfuchs, sich vom Fenster ab und hüstelte heiser. Er war hier oben immer erkältet, die Vennluft tat ihm nicht gut und auch nicht die Landarbeit. Er war seines Zeichens Kunsttischler. Drei Jahre hatte er gekriegt – viel, viel zu viel! Was hatte er denn der Trine groß getan, die er antraf, als er die Landstraße [S. 123] auf Köln zutippelte? Sie war am Rübenausziehen im Feld. Warum war sie denn so allein und nicht mit Vater oder Bruder? Verwünschtes Weibsbild! In den Graben hatte er sie geworfen. Erst hatte sie sich gar nicht gemuckt, dann aber hatte sie geschrieen, ganz mörderlich. Es war ihm blutrot vor den Augen geworden. Er hatte gefühlt, wie es in seinen Händen zuckte, wie es ihn hinriß gegen seinen Willen – ha, zupacken, zudrücken, die kalten, zitternden Hände um die weiße Kehle klammern! Fest – noch fester – warum schrie die Trine auch so?! So –! Sie würde das verdammte Schreien jetzt wohl sein lassen! – – – Aber er hatte sie ja gar nicht gewürgt. Leute waren hinzugekommen, er hatte sich auf die Flucht gemacht, aber laufen konnte er nicht so rasch wie die Verfolger, der Atem war ihm ausgegangen. Sie griffen ihn. Und er hatte seine drei Jahr gekriegt. Es wären nicht drei geworden, wäre ihm nicht eine ähnliche Geschichte schon einmal früher passiert. Daß der Teufel all das Weiberpack hole! Hier oben, Gott sei Dank, hier gab’s keine Weiberröcke! Weit war das Dorf, hier war er sicher vor Weibervolk. Wahrhaftig, und wenn’s auch entsetzlich hier oben war, man war doch sicher – bis jetzt!

Er erzitterte. Ein Gedanke war ihm plötzlich gekommen, der ihn packte und schüttelte und ihn nicht locker ließ – – – wie der rannte, rannte! Er stellte sich alles vor, er dachte sich alles aus. Wie er sie umhalste! Wie das Frauenzimmer ihm in die Arme fiel! – – – Wenn das Fraumensch nur nicht bis ganz dicht hierher kam!

Ein Grausen schüttelte ihn. Wie die Meute den Eber, den sie hetzt und stellt und von allen Seiten umkläfft, so fielen ihn gierige Gedanken an. Da half kein Wehren.

Der bleiche Mensch, der auf der harten Eisenbettstatt lag, stöhnte auf; ihn fror trotz der härenen Decke, er zog sie sich [S. 124] zitternd höher an den Hals. Sie war sehr dünn, und doch fing er jetzt an zu glühen und mächtig zu schwitzen. Mit feuchten Händen strich er sich über Stirn und Augen – Teufel, könnte er doch aufwachen wie aus einem bösen Traum! In seinen Schläfen stach und hämmerte es, vor seinen Augen tanzte es rot im Dunkeln. Er fühlte sich sterbenselend, rasend über sich selber und doch rasend vor Verlangen. Wieder stöhnte er auf.

Der ›Torfdrücker‹ [14] , der im Bett dicht über ihm lag, schob vorsichtig seinen Kopf über den Bettrand und blinzelte zu ihm herunter. Auch der ›Süßchenbäcker‹, [15] der rechts im Nebenbett lag, und der ›Betnoster‹ [16] zur Linken wurden aufmerksam. Sie flüsterten. Sie waren so an das Flüstern gewöhnt, daß sie selbst heute, wo sie den Aufseher fort wußten, wo nichts um sie war als die Nacht und das Venn, daß sie selbst jetzt kein lautes Wort wagten. »Was ist los?«

»Nix,« sagte Jacobs heiser und unterdrückte sein Stöhnen.

Der Rotfuchs war immer unfreundlich und borstig wie seine Haare, sie mochten ihn alle nicht; da waren der Süßchenbäcker und selbst der Torfdrücker – pfui, ein Gannef, ein Dieb ist was Verächtliches, – doch noch besser zu leiden. Aber die Kameradschaft regte sich jetzt doch in ihnen. Der Rotfuchs sah immer elend aus, war der am Ende krank geworden?

»Was haste für’n Schlamassel?« fragte leise der Dieb von oben herunter.

»Kümmer dich um deine eignen Masematten,« war die verbissene Antwort.

Aber der alte Landstreicher, der Betnoster, wie sie ihn nannten, weil er morgens und abends und mittags sich bekreuzte [S. 125] und betete, fragte treuherzig: »Haste Hunger, mingeSohn?« Ihm schmeckten Suppe und schwarzes Brot immer so köstlich, er hatte sonst niemals so satt gekriegt. »Da!« Er zog aus seinem Strohsack einen Kanten Brot hervor und langte ihn dem anderen herüber. »Iß, dann kriegste neue Kurasch!«

Der Rote nahm die Gabe nicht: pah, Hunger war nichts gegen das, was ihn quälte! Er dankte nicht einmal. Was wollte der ›Achelpeter‹? [17] Ohne Laut stierte er geradeaus, die Kniee hochgezogen im Bett sitzend, die Ellenbogen aufgestemmt, den Kopf zwischen die Fäuste gequetscht wie zwischen eiserne Schrauben. In der falben Helle, die ein Mondstrahl warf, schimmerte sein Gesicht totenbleich. Er knirschte mit den Zähnen.

Der Torfdrücker und der Süßchenbäcker gaben das Fragen auf: wenn der nicht reden wollte, sollte er’s bleiben lassen, ihnen war es egal! Aber sie waren nun einmal in eine Art von Unterhaltung gekommen; am Tag draußen bei der Arbeit redeten sie kein Wort, jetzt konnte man sich ja ein bißchen besprechen.

Von Bett zu Bett fing ein Tuscheln an, ein Raunen und Lispeln. Auch andere nahmen bald teil daran, erst die zunächst Liegenden, dann auch die Ferneren.

Im bleichen Mond saßen sie aufrecht in ihren Betten, mit struppigen Haaren und verdunsenen Gesichtern; die Mücken des Venns, die erbarmungslosen Quälgeister, hatten sie schon weidlich zerstochen. Hier huschte ein Mondenstrahl und dort einer – bläulich schimmerten tätowierte Brüste – es tauchte für Augenblicke wieder ein neues verquollenes Gesicht auf mit struppigen Haaren und stieren Augen.

[S. 126] Sonst waren sie stumm, die heutige Nacht hatte sie beredt gemacht. Sie dachten alle an den Aufseher, der nun bei seiner Frau war. Und sie beneideten ihn, die Ledigen sowohl wie die Verheirateten. Der Roßschlächter, der Süßchenbäcker, sagte roh: »Der Teufel soll ihm en Bein stellen, wenn er zu seiner Keife geht! So ’n Hannes, so ’n Blechseppel! Ich hab auch en Frau zu Haus. Mer sollt den Kerl abstechen wie en Sau!«

»Der hat schon mal einen totgeschlagen,« flüsterte es aus der entferntesten Ecke, ganz leise. Aber der Roßschlächter hatte es doch gehört, er brüllte: »Jickesjackes, totjeschlagen! Redt keinen Stuß. Anjetippt hab ich ihn nur in der Besoffenheit, da war er jleich Mus. Wat kann ich dafor? Wenn dat wat Schlimmes jewesen wär, hätt mich der Zwicker [18] schon um ’ne Kopp kürzer gemacht. Et hat noch emal jut jegangen!« Er lachte auf. »Bald bin ich eraus. Wie lang habt ihr dann noch?«

Sie sagten alle ihre Strafzeitdauer.

Der Landstreicher rieb sich schmunzelnd die Hände; er wollte gar nicht fort, es gefiel ihm ja so gut hier. Wenn man auch arbeiten mußte, man hatte doch immer satt, und Sattessen war das Beste!

»’ne komische Kauz,« sagte lachend einer, der nicht weit von ihm lag. Aber dann fuhr er wild auf: »Lieber acht Tag hungern, als in’t Kittchen – nur nit in’t Kittchen!« Er wollte die Fäuste recken: frei sein, nur frei! Aber unsanft stieß er gegen das obere Bett, das, wie in einer Schiffskoje, dicht über dem seinen war. Mit einem Fluch legte er sich wieder hin.

»He,« sagte der Roßschlächter, »wie heißt du?«

»Ohligs!«

[S. 127] »Von welcher Sort?«

»Schuster!«

»Äh, du Pechhengst, so mein ich dat ja nit! Aber du sagst, ›nur frei sein‹ – komm, lasse mir zwei Schibes machen!« [19]

»Süßchenbäcker, biste meschugge?« sagte irgendwoher eine Stimme, »dat is nit so leicht!«

Aber der Süßchenbäcker nahm den Mund voll, er prahlte gewaltig: »Ich bin stark, stärker wie’n Peerd, zehnmal stärker als der Bräuer; den schmeiß ich um. Un dann käpernicken wir auf und dervon. Zwei Kochemer [20] wie wir, dufte Jungens, kommen überall durch. In ’ner Stund oder zwei sind wir über der Jrenz, wir drehen den Blauen en lange Nas’, wir sind frei, frei!« Er dehnte den gewaltigen Körper.

»Dann kannste nie mehr nach Haus,« sagte eintönig der Landstreicher. »Tu dat nit, ich rat dir!«

»Ach wat, armer Pracher! Du Schnorrer, halt deine Brotlad!« [21] Die beiden Kerls lachten roh.

»Wandern, immer wandern, dat is en schlecht Jeschäft!« Der Landstreicher schüttelte traurig den Kopf. »Ich kann en Lied dervon singen. Hätt ich dazumal en Stück Brot jehabt, da hätt ich beim Bauer die Eier nit aus dem Stall zu holen jebraucht und wär nit trinken jegangen an die Kuh. Ich war nachher als noch öfter da, oh ja. Den ganzen Sommer hab ich nahbei im Feld jeschlafen, en Höhl hatt ich da. Aber hätt ich dat Jlück nit jehabt, dat der Grüne mich jekriegt hätt, ich hätt doch wieder Land auf, Land ab streichen müssen, wenn der Winter kam un meine Höhl zujefroren war im Feld. Nee, Jungens, nee, frei sein is nur schön, wenn mer auch wat zu [S. 128] acheln hat un nit immer zu tippeln braucht, zu tippeln von Städtchen zu Städtchen, von Dorf zu Dorf!«

»Du Schlemihl, du Schaute!« Sie lachten ihn aus; aber sie sprachen nicht mehr vom Freisein. Die Unterhaltung, die lauter geworden war im Eifer, verstummte wieder; nun flüsterten sie nur noch, scheu-ängstlich. Wie Windesgelispel und wie Geseufz ging’s durch den wüsten Raum unterm nackten Sparrengebälk.

Selbst der Süßchenbäcker hatte sein lautes Prahlen gelassen, er hatte sich zu dem Schuster auf den Bettrand gesetzt; die Köpfe zusammensteckend, tuschelten sie ganz heimlich miteinander.

Der Landstreicher neigte sich zu Jacobs hinüber: »Rotfuchs,« sagte er, »warum bist du hier?«

»Darum!« sagte der patzig.

Aber der Alte ließ nicht locker. »Nu sag doch, sag ens! Haste jetippelt wie ich? Haste Schlamassel gehabt in der Besoffenheit – haste einen jestoch?«

Als Antwort kam nur ein dumpfes Knurren.

»Sag ens! Et sind’r auch welche hier, dat sind Linker und Freischupper. Der Ohligs is wegen Meineid hier. Der hat noch Jlück jehabt – fahrlässigen Meineid – sonst säß de im Zuchthaus. Un einer is hier, de hat Wechsel gefälscht, de is janz vornehm. Jung, sag et doch, warum bist du dann hier? Mir kannste et ruhig sagen!« Der alte Kunde war sehr neugierig, um so neugieriger, je hartnäckiger der andere schwieg. »Ich bin soviel erumjekommen auf der Walze, oh, ich weiß Bescheid!«

»Paragraph hundertsiebenundsiebzig,« murmelte der Blasse zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er wußte selbst nicht, warum er es nun doch sagte; er hatte es nicht sagen [S. 129] wollen, aber der alte Kerl reizte ihn ja dazu. Was würde der zudringliche Pracher nun wohl für ein Gesicht schneiden?!

»Ah so!« Der Vagabond hatte keine Ahnung von Paragraph hundertsiebenundsiebzig, aber die Blöße wollte er sich doch nicht geben, das einzugestehen. »Ah, so,« machte er noch einmal, ganz befriedigt.

Der andere verwunderte sich. Wie, es graute dem Alten nicht? Und ihm graute es doch vor sich selber. Nicht immer, aber heute, heute in dieser Mondscheinnacht, in der von weit her das Quarren der Frösche kam in leidenschaftlichem Chor; in dieser Nacht, in der die Gedanken wanderten, immer hinter dem Manne her, der jetzt wohl längst schon bei dem Weibe war. Das Weibsbild – das Weibsbild!

Der Rotfuchs hätte aufschreien mögen in Wut und Qual, er warf sich mit einem Ruck auf die andere Seite herum und unterdrückte ein Wimmern. Aber es wurde doch hörbar in der totstillen Nacht.

»Halt dein Bonum,« schrie einer, der jetzt schlafen wollte, »ich schmeiß dir sonst meine Holzklumpen druf!« Es polterten ein paar Holzschuhe nieder.

»Bet dich, bet dich, meine Jung,« flüsterte der alte Landstreicher, »dann kannste jut schlafen!« Er selber bekreuzte sich und legte sich dann zurecht, die Hände auf der Brust gefaltet. »Morjen is Feiertag, da krieje wer Wurst oder Speck bei die Linsensupp, un nachmittags Schmalz auf et Brot – un vielleicht ’ne Kaffee!«

Das letzte hatte er schon undeutlich gemurmelt wie in einem glücklichen Traum; nun schlief er bereits, halb im Sprechen noch, schon fest wie ein Kind.

Aber der Rotfuchs konnte den Schlaf nicht finden; bei allen anderen war der, nur nicht bei ihm. Zitternd, frierend [S. 130] und doch glühend, sich schüttelnd in Fieberschauern kauerte der Sträfling unter seiner Decke.

Der Mond war weiter gegangen hinter den dunklen Rand des Hahnheister Busches; nun war es stockfinster im Schlafsaal, aber der Schlaf kam und kam nicht zu Jacobs. Es packte ihn wie Verzweiflung: schlafen, schlafen, nicht mehr den Mann sehen, der über das Venn rannte! Nicht mehr das Weib sehen, das dem Mann am Halse hing! Im Schlaf Ruhe finden, vergessen, was sich gar nicht mehr vergessen ließ!

Aber der Schlaf kam nicht. Sollte er beten, wie der alte Paternapgacker es ihm angeraten hatte? Pah, das half ja doch nicht! Und fluchen, sich mit den Fäusten gegen die Stirn schlagen, gegen die Brust, sich mit scharfen Zähnen in die emporgestreckten Arme beißen, sich verbeißen darin wie ein wildes Tier, das half auch nicht.

Bittere Tränen fing der Ruhelose an zu weinen. Wie weh ihm die Brust tat! Kein Atemholen ohne Stich. Der trockene Husten hatte die anderen schon manche Nacht gestört, heute kam ein ganz besonders starker Hustenreiz. Mit fliegender Brust, hoher Röte auf den Backenknochen kauerte der Sträfling halbaufgerichtet. Wenn doch der Morgen käme! Wurde es denn nie, niemals mehr Tag?!

Er erwartete das Licht mit sehnsüchtiger Gier.

[14] Dieb.

[15] Pferdeschlächter.

[16] Betbruder.

[17] Fresser.

[18] Henker.

[19] auskneifen.

[20] Schlaue.

[21] Mund.


VII

Gegen die Stunde des Sonnenaufgangs ist es kalt auf dem hohen Venn, mag der Tag auch noch so warm werden. In einer bleichen Kühle, vom Tau genäßt, lagen Strafkolonie und Heiderücken, Weide und Dorf und die ragenden Hainbuchen. Hinter den Hecken hervor tönte das Muhen der eben aus dem Schlaf erwachten Kühe, ein Ochse brüllte, ein Hahn krähte, ein Kalb blökte.

[S. 131] Beim Bauer Adams am grünen Klee war die ganze Nacht Licht gewesen, und auch jetzt, da das ganze übrige Dorf noch schlief, war man dort schon auf den Beinen. Man erwartete den Tierarzt, der Knecht war schon vor Morgengrauen hinuntergefahren, den Dreiborn zu holen. Der Hausherr selber war im Stall aufgeblieben, aber noch zeigte sich kein Absehen der Qual. Sollte die Braune, das schönste Stück Vieh, eingehen? Ihr schmerzliches Muhen ging den Menschen durch Mark und Bein.

Bis hinüber zu Huesgens war es gut zu hören, trotzdem die Stalltür geschlossen blieb und die Hecke, die der stolze Bauer als Trennungsschranke auch an der Nebenseite seines Hofes aufrechthielt, hoch und stark und dicht war. In die schmalen Lücken ihres knorrigen Astgefüges hatten sich die kleinen Huesgens eingezwängt; ihre schmalen Körper schlüpften überall durch. Sie waren früh vom Strohsack geklettert und lauschten nun mit ängstlich-neugierigen Augen. Ihre Kuh, die liebe Maiblum, die sollte auch bald kalben, wenn es der nur nicht auch so schlecht erging wie der großen braunen beim Bauer Adams!

»Du,« sagte das Kathrinchen zum Bruder Tönnes und zum Drückchen und tupfte den kleineren Geschwistern einem nach dem anderen auf den Kopf: »Du, bet dich für oß Maiblum! Wie dat arm Dier sich quäle moß!«

Nebenan ging das dumpfe Brüllen und Angstgestöhn immer weiter und erfüllte die Herzen der lauschenden Kinder mit banger Furcht. Mitunter kam eine Pause, aber dann setzte das Angstgebrüll um so stärker wieder ein.

»De Mathes is der Doktor holle,« sagte der Tönnes. »Mir ha ke Jeld, für der Dokter zu holle!«

Kathrinchen nickte bekümmert: freilich, die Mutter hatte schon so viel gekostet! Sie konnten nichts weiter tun als beten. [S. 132] Unter dem dünnen Schürzchen, das sich im Morgenwind blähte, faltete die Kleine die Hände: ach ja, das würde sie der Bäreb recht ans Herz legen, wenn die heut nach Echternach springen ging für die Mutter und den Dores, daß sie auch mitbetete für die liebe Maiblum! Wie von einem glücklichen Gedanken freudig erregt, ließ das Kathrinchen die Geschwister an der Hecke zurück und lief hinein ins Haus zu Mutter und Schwester.

Drinnen bei Huesgens war rege Bewegung. Auch hier hatte fast die ganze Nacht das Lämpchen gebrannt. Bäreb hatte noch, als sie aus der Fabrik heimgekommen war, die Kirche besucht und dann die halbe Nacht in der Küche aufgesessen, geflickt, genäht und sich gerüstet. Wenn sie auch keinen großen Staat machen konnte mit ihrem Anzug, sauber und ganz mußte der Rock wenigstens sein – wie sollte sie sonst wohl bestehen vorm heiligen Willibrord?! Auch auf die Hosen des Dores, die er immer durchscheuerte bei seinem Rutschen, hatte sie einen neuen Flick aufgesetzt und die Flecken verwaschen und gebürstet, so gut es anging. Kaum eine Stunde hatte sie bei den Geschwistern gelegen, beim Morgenrot weckte sie schon wieder das Brüllen der Kuh von nebenan. Bange Sorge erfüllte ihr Herz: auch die Maiblum war die letzten Tage so unruhig, brüllte so viel und fraß nicht wie sonst! Jesus Maria, es würde doch nicht schlimm werden mit der Kuh?! Es war ihr recht, daß die Geschwister hinausliefen, um an der Hecke zu lauschen. Der Tönnes war schlau, der würde schon dahinter kommen, wie’s mit der Kuh vonstatten ging!

Bäreb vergaß fast ihre Reise darüber und was sie alles vorhatte am heutigen Tag. Mit der Bahn mußte sie heute noch bis Ettelbrück kommen, da hatte die Mutter eine Base wohnen, bei der kam sie wohl unter mit dem Dores für eine Nacht. Und morgen würde sie aufbrechen nach Echternach, so früh, daß sie dort eintraf zu rechter Zeit, schon zur Vorfeier in [S. 133] der Pfarrkirche, die oben an der steilen Treppe liegt, die man Pfingstdienstag hinaufspringen muß. Oh, sie wußte so genau Bescheid zu Echternach, als wäre sie zehnmal schon dort gewesen! Mit großer Sorgfalt kleidete Bäreb sich heute an, wusch und kämmte sich dreimal so tüchtig als sonst. Aber der Dores wollte sich durchaus nicht waschen lassen, sein Geschrei weckte die Mutter.

Frau Huesgen kam angeschlichen im Unterrock; man sah es, wie schwach sie war, sie hielt sich kaum auf den Füßen. Sie weinte, als sie den Dores sich wie ein Tier gebärden sah; er wälzte sich auf dem Estrich und stopfte sich brüllend Sand in den Mund, und was er sonst fand an Unrat. Jesus, barmherziger Heiland, würde es denn nie besser werden mit ihm? Niemals?! Sie jammerte laut.

»Motter,« sagte die Tochter vorwurfsvoll, »ich jonn jo springe!«

Aber Frau Huesgen war heute kleinmütig. Die Kraft, die die wundersame Begegnung ihr verliehen hatte, hielt nicht immer vor; wenn es auch besser, viel besser mit ihr geworden war, heute fühlte sie doch wieder die Schwäche. Das schreckliche Brüllen der Kuh nebenan verstörte sie ganz. Wenn’s mit der Maiblum nun ebenso ging, Jesus Maria! Die war ihr einziges Hab und Gut.

Das Kathrinchen kam herein, hinter ihr her stürmte der Tönnes.

»De Doktor ös do,« kreischte er atemlos, »nu jeht er in der Stall. Ich moß kicke!« Wie der Wind fegte er wieder hinweg, um draußen an der Hecke abermals zu lauschen.

Kathrinchen aber faßte die große Schwester um den Hals und flüsterte ihr eifrig etwas ins Ohr, und Bäreb horchte und nickte verständnisinnig und lächelte dann. Sie lächelten beide. Dann lauschten sie alle; selbst der Dores, als ob er die ängstliche [S. 134] Spannung, die Erwartung, verstünde, ließ jetzt sein Schreien. – – –

Der Bauer Adams kraute sich in Verzweiflung den Kopf: das Kalb lag verkehrt herum, drum kam’s nicht heraus. Es hatte sich mit den Beinen verfangen, es verletzte die Kuh.

Frau Adams hielt sich die Schürze vor und weinte wie bei einer Leiche. »Eso ’n fing Kuh, oß fingste Kuh! Jesesmarijusep!«

Ihr Gejammer machte den Tierarzt nervös. »Schmeißt Euer Frau eraus!« sagte er grob zu dem Bauer.

Das tat der nicht mehr wie gern. Hatte er ihr nicht schon zehnmal gesagt, sie sollte in die Stube gehen?! Er selber war auch kaum fähig, andere Hilfe zu leisten, als daß er im dunklen Stall die Laterne hielt und dabei stand mit leis sich bewegenden Lippen, während der Doktor und der Knecht an der stöhnenden Kuh hantierten.

Der Dreiborn war ein geschickter Mann, geschickter als mancher Menschendoktor. Aber während er fast blindlings sein Geschäft verrichtete, denn zu sehen war kaum etwas bei dem erbärmlichen Lichtgefunzel, räsonierte er laut: längst hätten sie ihn holen müssen, aber immer erst kamen sie, wenn’s zu spät war! Diese Bauern, diese verdammten Dickschädel, nichts weiter konnten sie als beten und plärren! »Halt dat Licht ruhig,« brüllte er den Adams an, »wenn Ihr so dermit wackelt, komm ich nit zu Stand. Wat hatt Ihr dann mit der Kuh jemacht? Dat Kalb stirbt ab, dat krieg ich nu un nimmer lebendig eraus. Dämliches Bauernpack!«

Der kleine Mann pustete vor Wut; er war komisch anzusehen, aber heute hatte der große Bauer doch Respekt vor ihm. »Mir han nühst jemaat , mir han nur jebet,« sagte er ganz kleinlaut.

»Äh wat, jebet – nur jebet, dat is et ja jrad!« Dreiborn [S. 135] pustete immer zorniger; er war ein aufgeklärter Mann, ›ein Mann der Wissenschaft‹, wie er sich selber nannte. »Leben wir im neunzehnten Jahrhundert oder im Zeitalter des dunkelsten Aberglaubens? Fast möchte man dat Letztere meinen. Aber so seid Ihr, alles wird bebetet, un dann seid Ihr ruhig: so, da sorgt nu der liebe Jott für! Der hätt viel zu tun, wenn der Euer Jeplärr immer hören wollt. Heut betet Ihr um Regen und morgen wollt Ihr schon wieder Sonnenschein, oder umjekehrt, – akkurat wie Ihr’t braucht. Dat wär ja ne nette Jeschicht, wenn Euer Beten immer jehört werden würd! Paßt auf, lernt wat, nützt die Zeit und stellt Euch auf Euch selber – dat andere all is Unsinn!«

Der Knecht riß das Maul auf und grinste dumm: das war was ganz Neues, was er da zu hören kriegte! Der Bauer kniff die Lippen zusammen, am liebsten hätte er dem Dreiborn eins auf den Mund gegeben: sich so was anhören zu müssen, noch dazu im eigenen Stall! Aber seine kostbare Kuh stöhnte so kläglich; er konnte nur schweigen und still die Heiligen bitten, ihm das Anhören dieser Gottlosigkeiten nicht als Sünde anzurechnen. – – –

Es war um die zehnte Stunde, als Dreiborn den Hof am grünen Klee verließ. Das Kalb hatte er nicht mehr retten können, die Kuh hoffte er jedoch durchzubringen; aber das arme Tier war gewaltig matt. »So’n Unverstand, so’n Unverstand,« brummte er vor sich hin, als er aus der Hecke trat, und brummte noch immer weiter, als er sie schon längst hinter sich hatte.

Schon geriet er in den Strom der Kirchgänger, und das besserte seine üble Laune nicht. Mit seinen scharfen Augen musterte er die einzelnen Gestalten. Da, der zitternde Alte, der am Stecken schlorrte, täte auch besser, sich daheim ins Bett zu legen! Und da die Frau, die alle Augenblicke niederkommen [S. 136] konnte, gehörte auch nicht mehr in die überfüllte Kirche! Und hier die Kinder, Dreikäsehochs, die sollte man lieber draußen herumspringen lassen beim schönen Sonnenschein, als ihnen mit unverständlichem Singen, mit barem Unsinn den klaren Kinderverstand zu verwirren!

Den Kopf vorgestreckt, die Augen herausgedrückt, hochrot im Gesicht, rannte der Cholerische weiter.

Die Leute grüßten ihn, sie kannten alle den Doktor Dreiborn. Schon manches Stück Vieh hatte er ihnen gerettet, aber sonst war er ein komischer Herr! Sie tippten auf die Stirn und warfen sich bedeutsame Blicke zu, als er vor ihnen herlief mit seinen dicken Beinchen, die Hände, die den Hut hielten, auf den Rücken gelegt, nur durch ein kurzes Nicken die Grüße erwidernd, die ihm zuteil wurden. Nach jedem scharfen Blick, den er um sich warf, räsonierte er aufs neue halblaut vor sich hin.

Der unterbrochene Strom der Kirchgänger, aus dem es ihm nicht gelang, herauszukommen, versetzte ihn in immer größere Erregung. Dieses verdammte Gerenne! Konnten sie nicht ruhig daheim bleiben und ihre Wirtschaft beschicken? Aber das Vieh konnte brüllen, die Kinder weinen, der Vater bettlägerig sein, die Mutter im Sterben liegen, wenn die Glocken zu läuten anfingen, mußte gelaufen werden!

Der Bürgermeister kam ihm gerade zu paß. Leykuhlen war eilig, Mariechen war schon voraufgegangen, aber nun hielt der Tierarzt ihn am Rockknopf fest. Es gab kein Loskommen.

Leykuhlen kannte den Mann seit Jahren schon und schätzte ihn als tüchtig in seinem Beruf, nun aber wurde er ungeduldig. Ins feierliche Getön der Glocken hinein, in die Lautlosigkeit der andächtigen Waller, die wie Wellen dem Felsen der Kirche zuströmten, sprudelte der ihm seine ganze törichte [S. 137] Lebensauffassung ins Gesicht! Er aber wollte sich nicht den heiligen Pfingsttag verkümmern lassen. »Ich muß jehen, ich komm sonst zu spät,« sagte er und suchte sich freizumachen.

Aber der andere hielt ihn fest: »Ich sag Ihnen, Bürjermeister, Sie sind auch so en Art Doktor: für die geistigen Schäden unserer Gemeinde sind Sie verantwortlich wie ein Arzt für die Gebrechen des Körpers. Sie müssen ran! Sie haben doch auch an der Wissenschaft Brüsten jesogen, nu immer ran un die Leut aufjeklärt, damit wir kein Heer von Idioten züchten, sondern von denkenden Wesen!«

»Da fangen Sie nun erst mal bei Ihren Patienten mit an, Herr Tierarzt,« sagte Leykuhlen. Jetzt nahm er den kleinen Viehdoktor nur noch komisch: nein, über den konnte man sich wirklich nicht ärgern! Er legte ihm freundschaftlich den Arm um die Schulter und patschte ihn scherzhaft: »Un ich sag Ihnen, Dreiborn, behalten Sie Ihre Weisheit für sich oder tragen Sie die Ihren Ochsen un Kühen vor – wir sind hier kein Rindvieh!« – – – – –

Derweilen saß die Bäreb im Eisenbahnzug und fuhr durch Gegenden, die sie längst nicht mehr kannte. Das war wohl noch Venn, aber nicht mehr so, wie es sich um Heckenbroich dehnte. Die Ginstersträucher, die jetzt um die Ley und am Truppen-Übungsplatz überall wie goldene Flammen leuchteten, standen hier schwarz, so weit das Auge sehen konnte. Hatte man sie angebrannt, um sie dann umzugraben, mit ihrer Asche den Weideboden zu düngen? Nein, auch die vielen kleinen Schonungen waren angekohlt, die Nadeln, sofern noch welche an den Tännchen hafteten, dürr und rostbraun. Über dem Strich Venn, den ein Waldbrand abgerast hatte, flimmerte ein Sonnenglast, der ihn noch viel trauriger machte.

Bäreb seufzte: es war doch viel schöner um Heckenbroich. Hier gab es ja gar kein Weideland mehr!

[S. 138] Langsam keuchend und bimmelnd kroch der Zug immer bergan, immer noch weiter so hinauf bis St. Vith. Da hieß es ein paar Stunden warten. Bäreb hatte nichts davon gewußt, daß sie umsteigen mußte; alle Mitfahrenden in der vierten Klasse waren ausgestiegen, sie aber saß noch immer geduldig am einen Ende der Bank, ihr Bündel zu Füßen, den Dores auf dem Schoß. Es war ein Glück, daß der Schaffner noch einmal in den Wagen sah.

»Echternach?« hatte sie schüchtern gefragt. Sie war des Fahrens schon herzlich satt. War es noch weit bis dahin? War man nun bald da?

Der Mann hatte sie ganz empört angeschrieen: »Aussteigen,« und hatte sie am Arm gegriffen, sie gerade noch herausgerissen, sie und das Kind und das Bündel, ehe der Zug abfuhr, der sie mit davongeführt hätte, weiß Gott, wohin in die fremde Welt.

In den Wartesaal traute sich Bäreb nicht, da mußte man was verzehren; auch schrie der Dores, den das »Aussteigen!« des Schaffners erschreckt hatte, so mörderlich, daß sich das Mädchen gar nicht in Menschennähe wagte. So ging sie den Bahnsteig zu Ende bis zum Güterschuppen, setzte sich da auf eine der umherliegenden Kisten, lehnte den Rücken gegen die beschienene Schuppenwand und sonnte sich.

Allmählich beruhigte sich der Dores; sie gab ihm zu essen aus ihrem Bündel, und er beschmierte sich ganz und gar, aber er war doch wenigstens zufrieden. Unbekümmert um das Fremde, was um ihn war, kroch er zu ihren Füßen im Kies des Bahnsteigs, steckte von den weißen Steinchen, die in der Sonne blinkerten, in den Mund, probierte, ob das ein Zückerchen sei, spuckte den Stein dann wieder aus, um ihn wiederum ins Händchen zu nehmen und zur Schwester emporzuhalten: »Pä, [S. 139] pä!« Das war sein gewöhnlicher Ausdruck für alles, was ihn verwunderte oder erfreute; mehr sagte er nicht.

Bäreb wurde sehr müde; nun spürte sie doch die durchwachte Nacht. Sie liebkoste den Bruder und versuchte, mit ihm zu spielen, aber der Schlaf war stärker als der gute Wille. Wie im Traum hörte sie plötzlich die Mutter sprechen, die Maiblum brüllen, die Geschwister schreien – vor ihr lag das Haus hinter der Hecke – ein Gefühl der Wohligkeit durchrieselte sie, die Augen fielen ihr zu. – – –

Als sie erwachte, lag der Dores vor ihr im Kies und schlief. Die Sonne war fort, aber auch ihr Zug.

»Nach Echternach, nach Echternach?!« Der Mann mit der roten Mütze, gegen den sie verzweifelnd anrannte, zuckte die Achseln: ja, da hätte sie eben besser aufpassen müssen, der Zug dahin war schon eine Weile fort!

»Jesus Maria!« Sie brach in heiße Tränen aus: was nun?! Ach, sollte sie nicht lieber umkehren? Es ging doch gewiß noch ein Zug zurück nach Heckenbroich. Aber dann schämte sie sich und nahm sich zusammen: sie mußte ja springen gehen, sie hatte so vieles zu erbitten, sie durfte nicht umkehren. Ganz vernünftig erkundigte sie sich, ob’s denn nicht noch einen weiteren Zug nach Ettelbrück gäbe? Ei gewiß, auf den Abend noch. Da ward sie wohlgemut. Ach, wenn sie nur hinkam, wenn sie nur hinkam! Keinen Gedanken mehr schickte sie zurück in die verlassene Heimat, all ihr Sinnen, ihr Herz und ihren Verstand richtete sie voran.

Sie hatte ein Büchlein bei sich, das »St. Willibrordus Büchlein«, enthaltend das Leben des Heiligen, die Gebete zu seiner Verehrung und zur Wallfahrt nach Echternach. Das hatte die Frau Bürgermeister der Mutter für sie gegeben. Nun las sie darin. Sie las vom heiligen Willibrord, dem Vorbild der Demut, dem Muster des Gehorsams; vom Glaubenseifer [S. 140] des heiligen Willibrord, von seiner Liebe zu Gott und seiner Nächstenliebe, von seinem Gebetseifer, von seinem Bußgeist, von seiner Sanftmut und endlich von der reinen Absicht des heiligen Willibrord bei allen seinen Werken. Mußte das ein guter Heiliger sein! Sie las mit leuchtenden Blicken, las sich immer mehr und mehr in die feste Überzeugung hinein, daß er allen half, die zu ihm kamen nach Echternach. ›Heiliger Willibrord, bitt für uns‹ – das schwebte ihr immerfort auf den Lippen.

Sie hatte ihren alten Platz auf der Kiste wieder eingenommen und las eifrig, halblaut jedes Gebet, das sie herausbuchstabierte, leise mitmurmelnd. Erst als ihr die Sonnenstrahlen nicht mehr aufs Büchlein fielen, merkte sie, daß es Abend ward.

Es war kühl hier auf dem Bahnsteig der höchstgelegenen Station; von allen Seiten konnte der Wind ankommen, hohe Zäune aus Latten mußten die Schienenstränge schützen gegen die Schneewehen des Winters. Es tat nicht gut mehr, auf der Kiste zu sitzen. Nun Bäreb nicht mehr vom heiligen Willibrordus las, fühlte sie sich auf einmal allein und verlassen; der Dores war doch so gut wie niemand.

»Pä, pä,« sagte er jetzt und riß sie am Kleide. Sie gab ihm eine Semmel, dann hob sie ihn auf aus dem Kies und ging langsam mit ihm zum Bahnhofsgebäude. Es half nichts, nun mußte sie doch in den Wartesaal hinein, es war für das Kind zu kalt und zugig draußen. Ein Glück, daß der Dores heute so lieb war; er hatte sich noch nicht seine Hosen beschmutzt, er spielte mit ein paar Steinchen ganz stillvergnügt und schrie nicht.

Den Bruder an sich pressend betrat sie den Wartesaal. Sie konnte nichts sehen vor Qualm und Tabaksrauch; mit [S. 141] niedergeschlagenen Blicken tappte sie zum entlegensten Plätzchen.

Mit großen Augen starrte der Dores drein. »Pä pä,« sagte er wiederholt und riß die Schwester am Ohrzipfel. Ein Soldat hatte ihm vom Nebentisch mit einem Bierglas gewinkt. Er strebte hin, er wollte einmal trinken: »Pä, pä, pä!«

Die Soldaten, die um den Tisch saßen, lachten laut. Es waren vier muntere stramme Kerle, die Urlaub hatten über die Pfingstfeiertage und die sich nun freuten, nach Hause zu kommen. »Komm, komm her,« sagte der eine und winkte dem Kind mit dem Finger.

»Pä, pä, pä!«

Bäreb konnte den Jungen kaum halten, er wollte von ihrem Schoß, und als sie ihm wehrte, biß er sie.

»Fräulein, lassen Sie doch das Kind,« sagte der Soldat. Und als sie den strampelnden Jungen doch nicht losließ, war der hübsche Soldat mit zwei Schritten bei ihr im Winkel zwischen Ofen und Wand und nahm ihr eins, zwei, drei, das Kind vom Schoß und ließ es an seinem Bierglas trinken. Ei, wie der Bengel schmatzte! Die Vier wollten sich ausschütten vor Lachen.

Bäreb wurde blutrot. Aber böse konnte sie doch nicht sein: die waren ja so freundlich! Verstohlene Blicke ließ sie zu dem Tisch hinübergleiten.

»Fräulein, wohin reisen Sie dann?« fragte wieder einer.

Sie wollte erst nicht antworten, aber dann besann sie sich: das wäre doch zu grob, die hatten ihr ja nichts getan. So antwortete sie verschämt-leise: »No Echternach!«

»So, Sie wollen wohl springen da?«

Sie nickte.

Die Soldaten zwinkerten sich zu; drei von ihnen hatten [S. 142] Lust, zu lachen, aber der vierte, der allerhübscheste, sagte ernsthaft: »Aber, Fräulein, da kommen Sie heut abend ja jar nit mehr hin!«

Ja, das wußte sie wohl! Sie erzählte von ihrem Malheur mit dem Zug. Ach, es tat ihr so gut, mit einem freundlichen Menschen zu sprechen! Sie genierte sich gar nicht mehr; das waren ja welche, die ihre Heimat kannten. Sie waren vom Platz.

Es dauerte nicht lange, so saß Bäreb bei den Soldaten am Tisch. ›Kommen Sie nur eraus, aus Ihrem Loch da,‹ hatte der hübscheste gesagt. Einer so freundlichen Aufforderung hatte sie nicht widerstehen können. Und Durst hatte sie auch. Sie ließen sie alle einmal trinken. Der Dores wanderte von Schoß zu Schoß. Ei, es war doch ganz schön, auf Reisen zu gehen! Das Bunt der Uniformen, das Rot der Kragen, die blanken Knöpfe zogen Bärebs Blicke unwiderstehlich an. So nah hatte sie noch nie einen Soldaten gesehen. Und als der allerhübscheste sagte, nun wäre er ganz zufrieden, den ersten Zug, der aus der Lausegegend hier fortfuhr, wo man nachts frieren und mittags braten müßte, versäumt zu haben, lächelte sie glücklich und litt es, daß er den Arm auf ihre Stuhllehne legte und ihr näher rückte.

Schade, daß sie nicht einen Weg zusammen hatten! Nur eine Strecke konnten sie noch zusammen fahren.

Bäreb fühlte eine lebhafte Freude: Gott sei Dank, nun brauchte sie nicht so ganz allein in die Dunkelheit hinein! Die Lustigkeit der Vier steckte sie an; solch eine Fröhlichkeit hatte sie noch nie kennen gelernt in ihrem Leben. Die berauschte sie ganz. Zu Haus war man so anders, da hatte man immer zu sorgen und zu bedenken, man war still und ernsthaft. Als habe sie nicht vor sechs Stunden noch das Kreuz der Marienley über die Tannen ragen sehen, so war ihr jetzt zumute. Das [S. 143] lag jetzt alles so weit, so weit. Sie hörte nicht mehr die Mutter sprechen, die Maiblum brüllen, die Geschwister spektakeln – der Arm des Burschen, der bis jetzt auf ihrer Stuhllehne geruht hatte, legte sich nun um ihre Schultern. Sie trank aus seinem Glase und lachte aufgeregt. Sie wurde so hübsch in ihrer strahlenden Freude, daß alle Vier ihr zutranken: »Prost, Schätzchen,« und sich darum rissen, aus wessen Glas sie trinken sollte. Sie machten ihr Komplimente, die feinsten waren es nicht; aber sie nahm’s nicht so genau damit. Wer sie unterm Tisch auf den Fuß trat, den trat sie wieder, und wenn einer zu ihr sagte: »Du, Mädchen, ’ne Kuß krieg ich aber von dir,« antwortete sie frischweg: »Morjen öm dies Zitt,« und zeigte lachend ihre gesunden Zähne.

Hätte das ein Mensch von der Kleinen gedacht, daß die so fidel sein könnte! Erst hatte sie kein Auge aufgeschlagen, nun ging sie auf jeden Spaß ein. Sie fragten neckend: »Fräulein, dat is doch Ihre Jung?« und sie antwortete blitzgeschwind, gar nicht um die Antwort verlegen: »Dafür bin ich noch vill zu jung. De Dores es als sibbe un ich achzehn, ich hatt jrad minge Namensdag!«

Wer hätte gedacht, daß hinter den Hecken von Heckenbroich so was stecken könnte! Die Vier, die lange mit keinem Mädchen poussiert hatten, zeigten sich heftig entflammt; besonders der hübscheste, Lohgerber seines Zeichens, machte ihr Augen, daß es Bäreb überrieselte in einem Schauer von Glück.

›Heiliger Willibrord, bitt für uns,‹ betete sie heimlich. Wenn der es zu allem noch vermochte, daß sie einen hübschen und braven Schatz von der Wallfahrt mitbrachte?! –

Das war eine Fahrt durch die dämmerig und mild werdende Höhenlandschaft zwischen Venn und Ardennen! Der Dores schlief auf der Bank, und Bäreb bekam soviel Schönes [S. 144] und Liebes zu hören, daß ihr die Ohren summten und der Kopf schwirbelig wurde. Aber es war ein seliger Schwirbel. Sie erwachte auch noch nicht aus ihm, als die Vier in Ulflingen ausstiegen, um ihre Straße zu ziehen. Die Hände im Schoß gefaltet, das Gesicht mit den geschlossenen Augen, wie in die Ferne lauschend, gehoben, saß sie ganz still. Noch immer fühlte sie die verliebten Küsse, die sie ihr aufgedrückt hatten, noch immer hörte sie das schmeichelnde Flüstern: ›Lieb Mädchen‹, ›Schön Schätzchen‹, ›Allerschönst Bärbchen auf der Welt‹! Sie saß kerzengerade auf der Bank. Jesus, sie hörte in süßem Schrecken das alles noch – und dazwischen: ›Heiliger Willibrord, bitt für uns – heiliger Willibrord – heiliger Willibrord!‹

Nein, das war keine Täuschung mehr! Längs des Bahnstrangs hin, auf dem der Zug jetzt langsamer fuhr, rannte es mit eiligem Beten. Sie fuhren in einen Bahnhof ein, die Türen der vierten Klasse wurden aufgerissen, herein stürzte sich in Hast ein Menschenschwall. Man trat sie auf die Füße, man stupste den kreischenden Dores von der Bank; alle fanden nicht Platz, man drängte sich, man stand fast aufeinander, es war schon spät Abend, man mußte bis Ettelbrück, um morgen beizeiten in Echternach zu sein.

Bäreb erschrak: das waren ja so viele, so viele Menschen, es war ja fast gar kein Platz mehr für sie da! Man bedrängte sie hart. Auf einem Knie hielt sie den Dores, auf dem andern saß ihr ein dicker Mann. Eine Frau mit riesigem Kropf ihr gegenüber stieß mit dem großen Henkelkorb, den sie auf dem Schoß hatte, immerfort gegen sie an. Selbst im Rücken spürte die Eingeklemmte das Gedränge. Man lehnte sich von hinten fest gegen sie, man drängte sie so fast vom Sitze herab. Sie klebte nur mehr noch am Bankrand. Und so ungebärdig war der Dores noch nie gewesen. Er strampfte der Frau mit [S. 145] dem Kropf mit seinen Füßen gegen den Henkelkorb, und diese fing an, sich empört zu beklagen.

»Haald Eier Könd doch bei Euch, Framensch! Es dat en Manier, fremde Leit zu troten, ei’m de Saachen zu runjenieren, dat Sonndagsklaad?! Esu’n Biwak, esu’n frech Könd!«

Bäreb verstand die Frau nicht recht, die sprach anders, als man daheim zu sprechen pflegte, aber sie merkte doch, daß die Frau mit dem Kropf ihrem Doreschen böse war. »Bis still, Doresche, bis still,« flüsterte sie dem Bruder ins Ohr und hielt seine strampelnden Beinchen mit ängstlicher Hand fest. Der Traum war verflogen. Sie hätte weinen mögen, fassungslos, hilflos; aber der heilige Willibrord machte ihr wieder Mut. Sie hörte ringsum seinen Namen. Alle Mitreisenden sprachen von ihm. Es waren einige darunter, die waren schon voriges Jahr oder vor Jahren bei ihm gewesen, und sie belehrten jetzt die Neulinge, die zum ersten Mal zu ihm gingen. Oh, der Wunder, die da geschahen, waren unzählig viele!

Der dicke Mann auf Bärebs Knie, der schwerer war wie ein Sack von zwei Zentnern Gewicht, wußte was zu erzählen: nach einer Krankheit war er so dünn geworden, so dürr wie eine Hopfenstange. Das Fleisch war ihm von den Knochen gefallen, kein Essen schmeckte ihm, so schwach war er geworden, daß er nicht mehr allein gehen konnte. Selber springen hatte er nicht können, aber seine Frau war hingefahren nach Echternach und war für ihn gesprungen, und als sie wieder heimkehrte von der Pilgerfahrt, da hatte er ihr schon entgegengehen können bis vor das Haus, und Fleisch hatte er auch wieder ein paar Pfündchen gekriegt, so daß er doch nicht war wie lauter Knochen. Das nächste Jahr hatte er wieder springen lassen – das heißt, seine Frau war nicht hingefahren, [S. 146] die war gestorben derweil – aber er hatte jemanden dort gedungen, zwei Mark kostete das. Geholfen hatte das auch wieder sehr!

Bäreb schielte ihn von der Seite an: ja, der war gut bei Leibe!

»On eweil,« fuhr der dicke Mann ganz glücklich fort, »eweil sein eich kerngesund, eich sein stark on dick. Eweil giehn eich zum Dank sälwer springen!« Er pustete und rang nach Luft, die hastige Erzählung hatte ihm gänzlich den Atem genommen, förmlich blaurot wurde sein glänzendes Fett; er wischte sich immer wieder den Schweiß ab.

Pah, das war noch gar nichts! Die Erzählung des Dicken schien den Hörern noch gar nicht so wunderbar, die wußten noch ganz anderes zu berichten. Es war einmal eine gewesen, die war lahm und krumm und litt grausige Schmerzen, die ließ sich tragen an des Heiligen Grab und betete daselbst fünfzigmal die Litanei zum heiligen Willibrord, und da konnte sie auf einmal ihre Glieder wieder bewegen und sprang sogar mit in der Prozession im nächsten Jahr. Und ein Jüngling aus Steinheim, der mit allen Gliedern geschlenkert hatte, den Kopf nicht hatte in die Höhe halten können, sondern ihn baumeln lassen mußte bald rechts und bald links, der war voriges Jahr auf der Stelle, als er nur das braune Bußkleid des Heiligen, das hinter Glas beim Altar der Pfarrkirche hängt, angesehen hatte im stummen Gebet, geheilt worden. Den würde man sicher auch dieses Jahr wieder zu sehen kriegen, aber kerzengrad aufrecht und ohne Schlenkern.

Bäreb riß Augen und Ohren auf. Den Mund konnte sie kaum mehr zubringen, ein Ruf wollte sich ihm entringen, ein Schrei der Entzückung und der inbrünstigen Bitte: ›Heiliger Willibrord, bitt auch für uns!‹ Den Dores drückte sie fest, ganz fest an ihr heftig pochendes Herz: ach, die garstigen [S. 147] Krämpfe, die er zuzeiten so oft gehabt hatte, und die auch jetzt noch zuweilen wiederkehrten, diese Krämpfe, die ihm alle Glieder durcheinander warfen, in denen er die Daumen einkniff, die Augen verdrehte, die Zähne aufeinanderbiß, diese Krämpfe würden ihn nun bald nicht mehr plagen! Er würde bald nicht mehr so blöde dreinschauen, ein gesunder Junge würde er sein, wie die Brüder auch. Auch der geschwächten Mutter wurde wieder neue Kraft gegeben – ach, und alles, alles wurde gut! –

Bäreb hatte die hübschen Soldaten, ihre zärtlichen Worte und das Glück, das sie dabei empfunden, jetzt gänzlich vergessen. Ihre schwarzen Augen ließ sie rundum gehen in dem dunklen, verqualmten, nur von einer erbärmlichen Deckenflamme notdürftig beleuchteten Waggon. So viele, so viele, und allen sollte der Heilige helfen oder hatte ihnen schon geholfen! Sie spähte in jedes Gesicht: wenn sie doch weiter erzählen möchten! Sie hörte so gern zu.

Die Frau mit dem Kropf und dem Henkelkorb riß den Mund weit auf: das war alles noch nichts gegen das, was sie wußte! Sie kam von Roth, in ihrem Dorf waren reiche Leut – ein großer Bauer und seine Frau – zwanzig Kühe hatten sie auf der Weide, vier Pferde im Stall, eine richtige Ackerwirtschaft – und denen ihre Tochter war blind. Aber sie waren mit der nach Echternach gefahren und hatten ihr mit dem Wasser des St. Willibrordusbrunnens die Augen gewaschen, hatten auch ein Dutzend Flaschen am Brunnen gefüllt und mit heimgebracht und sich darangehalten, dem Mädchen alle Morgen und Abend die Augen damit zu waschen. Am dritten Morgen schon sprach das Kind: ›Ich sehe was glimmern‹ – das war die Sonne, die sah es wie hinter grauen und dichten Wolken. Am dritten Abend aber sprach es: ›Ich sehe was flimmern‹ – das war die Sonne, die goldig-rot [S. 148] unterging. Am vierten Morgen sprach es: ›Es tut mir weh in den Augen, was sticht da so?‹ – das war die Sonne, die vom Himmel strahlte. Am fünften Morgen sprach es: ›Ich sehe es flammen, was brennt da so?‹ Am sechsten Morgen sprach es: ›Ich sehe was leuchten – ah, wie ist das so schön!‹ Aber am siebenten Morgen schrie es laut: ›Ich sehe, ich sehe – da steht sie, die Sonne!‹

›Seit dat sich zujedraon hat in unsem Dorf, giehn mir ahl nao Echternach,‹ schloß die Frau. ›On eweil giehn eich aach für zo springe. Kucktelhei!‹ Sie band das Tuch ab, das sie um den Hals trug, und entblößte ihren ganzen schrecklichen Kropf: ›Dän gänn eich eweil quitt! Bitt für uns, heiliger Willibrord!‹

Irgend eine Stimme hob mit der Litanei des heiligen Willibrord an, und bald vereinten sich alle Stimmen im Wagen:

»Heiliger Willibrord, bitt für uns!
Heiliger Willibrord, ein Lehrer der Wahrheit,
Heiliger Willibrord, ein Zertrümmerer der Götzen,
Heiliger Willibrord, eine Zierde der römischen Kirche –«

und immer noch weiter:

»Heiliger Willibrord, eine Blume der Demut,
Heiliger Willibrord, ein Spiegel der Reinigkeit,
Heiliger Willibrord, eine Lilie der Keuschheit,
Heiliger Willibrord, ein Muster der Geduld,
Heiliger Willibrord, ein Heil der Kranken,
Heiliger Willibrord, ein Vater der Armen,
Bitte für uns, heiliger Willibrord!«

Bäreb wunderte sich im stillen, wie die Leute das alles so auswendig wußten. Ja, so mußte man’s können! Wenn nur ein wenig mehr Licht im Wagen gewesen wäre, sie hätte [S. 149] gern ihr Büchlein hervorgeholt und daraus die Litanei mitgebetet, so aber mußte sie sich darauf beschränken, nachzumurmeln, was die anderen vorbeteten.

»Heiliger Willibrord, ein Schild deiner aufrichtigen Verehrer,
Heiliger Willibrord, ein mächtiger Fürsprecher im Himmel,
Bitte für uns, heiliger Willibrord!«

In demütigem Glauben, in Liebe und Hoffnung wendete Bäreb ihr Herz dem Heiligen zu.

Die Fahrt wurde ihr gar nicht lang. Als ob das gemeinsame Gebet sie alle miteinander bekannt gemacht hätte und freundlicher und verträglicher gesinnt, so wurden die vorhin Rücksichtslosen teilnehmender. Der dicke Mann sagte: »Exkusört, eich drücken Euch wohl,« und rutschte zur Seite, und die Frau mit dem Kropf stellte ihren Henkelkorb zu Boden und zog dafür die Beine des Dores, der gern schlafen wollte, sich auf den Schoß: »Lägt dat schwer Könd noren unscheniert heihin – esu – der Läng lang, dat dat arm Könd eweil ebbes Schlaof kriet!«

Die Sterne standen am Himmel. Je weiter sie abkamen von den Eifelhöhen, desto weicher wurde die Luft. Es fuhr sich schön mit dem Bummelzug in die Sternennacht hinein. Der Dores schlief, der Bäreb Kopf war dem Dicken nebenan auf die Schulter gesunken; er ließ sie ruhig da liegen.

»Ob dat dat Könd von dem Mädche lao is?« fragte eine Neugierige und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf den Dores hin.

»Ihr seid wohl geckig?« Der dicke Mann wurde ordentlich grob. Sah sie denn nicht, was für ein junges Blut das noch war, die konnte doch nicht so einen Jungen schon haben? Er taxierte ganz richtig: das war ihr Brüderchen, das brachte sie hin zum heiligen Willibrord, man sah’s ja gleich auf [S. 150] den ersten Blick: der Junge war krank, er hatte seinen richtigen Verstand nicht.

Alle setzten die Augen ein. Viel neugierige Blicke hefteten sich auf das schlafende Geschwisterpaar. Bäreb mit ihrem hübschen Gesicht, das noch schmaler erschien in der Müdigkeit, mit den schwarzen Wimpern, die wie Schatten auf den Wangen lagen, fand Gnade vor den Augen der Männer. Den Frauen gefiel der Dores besser, trotz seines dicken Kopfes und der hängenden Unterlippe. Sie bedauerten ihn: warum war seine Mutter nicht bei ihm? So eine ledige junge Person weiß ja gar nicht mit einem Kind umzugehen. Wie ungeschickt sie es hielt – da – beinahe hätte sie’s fallen lassen! Bäreb hatte von den hübschen Soldaten geträumt, unwillkürlich hatte sie die Arme geöffnet, der Dores wäre ihr vom Schoße gerutscht, hätten nicht barmherzige Hände zugegriffen. Und so lange wurde nun am Dores gezupft und gezogen, zurechtgerückt und gestreichelt, bis er die müden Augen aufriß, die fremden Gesichter entsetzt anstarrte und in ein lautes Gekreisch ausbrach. Das wollte nicht enden, trotz allen Zuredens. Die freundlich Besorgten wurden zuletzt unwillig, und die arme Bäreb wußte nicht, wo hinsehen vor Verlegenheit. Sie fühlte, wie der Junge sie durchnäßte in seiner Angst – ach, wären sie nur erst an Ort und Stelle!

Da – der Zug verlangsamte jetzt seinen Lauf, er pfiff und verschnaufte sich – Ettelbrück! Der Schaffner riß die Wagentüren auf. Gottlob, Ettelbrück, Ettelbrück! Aber Echternach noch so weit! – – –

Es war einmal vorgekommen, daß Leute, die gelobt hatten, zu springen vorm heiligen Willibrord, ihr Gelübde nicht hielten. Da wurden ihre Kinder und ihr Vieh im Stall von einer Krankheit befallen, in der sie die Köpfe warfen und mit den Gliedern schlenkerten, unfreiwillig alle die Sprünge [S. 151] und Bewegungen machen mußten, alle Gebärden der Springer zu Echternach.

Aber wenn Bäreb auch diese Erzählung nie gehört hätte, sie wäre doch ihrem Gelübde nicht untreu geworden; sie wäre nicht umgekehrt und wäre es ihr noch viel schlechter ergangen als heute nacht. Es war viel zu spät gewesen, die Base der Mutter aufzusuchen, alle Häuser von Ettelbrück lagen dunkel in der Ferne, man sah nirgend ein Licht mehr glänzen. Wie die meisten der Wallfahrer war auch sie auf dem Bahnhof geblieben; in eine Herberge zu gehen, kostete zu viel, und wo wäre denn auch eine gewesen? Sich der Frau mit dem Kropf anzuschließen, die noch in den Ort hineinging, traute sie sich nicht, sie hielt sich lieber an den Dicken, der war so gutmütig; er kaufte ihr sogar am Morgen, als sie fröstelnd und übernächtig recht erbärmlich dasaß, am Büfett einen tüchtigen Kornschnaps. Sie wollte ihn erst nicht annehmen, sie hatte noch nie Schnaps getrunken; aber nun trank sie doch, und er tat ihr gut. Wenigstens glaubte sie so; denn daß ihr der Kopf schwer wurde, das kam nicht vom Schnaps. Das kam von all dem Ungewohnten, von dem schlechten Schlafen auf der Bahn, von der Hitze und Fülle im Wartesaal. Selbst auf den Boden hatten sich welche hingestreckt, das Bündel unter dem Kopf.

Wenn Bäreb geglaubt hatte, das seien schon viele Menschen, die sich im Wartesaal versammelt hatten, so wurde sie jetzt noch eines anderen belehrt. Draußen auf dem Perron: Menschen, Menschen, Menschen. Hier kam wohl die ganze Welt zusammen?!

Seit es Morgen war, rasselten immer wieder neue Züge auf dem Bahngeleise vor. In den Wartesaal war nicht mehr hineinzukommen, draußen auf dem Bahnsteig stand es Kopf [S. 152] an Kopf. Mit Fahnen, mit Kreuzen, mit ihren Musikchören und ihren Geistlichen standen da ganze Dorfgemeinden.

»Heiliger Willibrord, eine Flamme der göttlichen Liebe,
Heiliger Willibrord, ein besonderer Schützer hiesiger Gegend!«

Heiliger Willibrord, heiliger Willibrord, wohin man sah, wohin man hörte. Nur ein Gedanke belebte all diese Köpfe, all diese müden Gesichter, all diese Seelen: Echternach.

Bäreb sah auch manchen Kranken, vor dessen Anblick ihr grauste. Es kamen Blöde und Taube, Stumme und Lahme, Blinde und mit Geschwüren Behaftete; und solche, die äußerlich nicht so ihre Krankheit zeigten, zeigten ihr Leid doch in blassen, abgezehrten, verhärmten Gesichtern. Bäreb ging abseits, um all das nicht zu sehen. Oh, so schlimm war es mit ihrem Dores doch noch nicht! Sie küßte ihn, und er patschte sie mit den welken Händen ins Gesicht; je näher sie Echternach kamen, desto lieber wurde er.

Besonders eine war in der Menge, vor der es Bäreb graute; sie wußte nicht recht, warum, aber es gruselte sie. Und doch glitten ihre Blicke immer wieder hin in ängstlicher Neugier. Was fehlte der nur?! Die sah ja so gesund aus, stark und dick; sie mochte im gleichen Alter mit ihr stehen, aber sie hatte mehr Fleisch an sich. Auf einer Seite wurde sie von ihrer Mutter geführt, einer behäbigen Bäuerin, auf der anderen von einer ältlichen Frau, wohl auch einer Anverwandten.

Mit unruhig-flackernden Augen sah das Mädchen um sich, es drängte immer voran, die Frauen konnten es kaum zurückhalten. Und in Absätzen schrie es ganz laut: »Heiliger Willibrord, heiliger Willibrord!« Beinahe wäre es unter die Räder gekommen; vor den nun einlaufenden Zug drängte es sich hin, es wollte durchaus zuerst hinein, vor allen anderen. Es konnte es gar nicht abwarten.

[S. 153] In einem Tumult, der etwas Beängstigendes hatte, stürmten die Wallfahrer die Coupés. Es war ein Durcheinanderschreien, ein Trappeln, ein Stoßen, ein Stürmen, ein Drängen, ein Drohen, ein Brüllen, ein Schelten und ein Sich-beklagen, daß Bäreb selber nicht wußte, wie sie eigentlich auch in einen Wagen gekommen war. Zu ihrem Schrecken sah sie das Mädchen sich gegenüber. Es hatte starke hellblonde Zöpfe um den Kopf liegen und war gut gekleidet – ei, war die blaue Taille fein mit dem Sammetbesatz, und der Rock mit den Volants! Das Mädchen war eigentlich sehr hübsch. Es lächelte Bäreb an, aber diese traute sich nicht, wieder zu lächeln: Jesus Maria, das blonde Mädchen lächelte wohl freundlich, aber seine Augen blieben so leer dabei, als wären die Gedanken weit weg.

Mit großer Gesprächigkeit fing die Mutter, die behäbige Bauerfrau, eine Unterhaltung an. Sie fragte Bäreb, ob sie auch springen wolle zu Echternach? Sie und ihre Angela und die Base Piette wollten auch springen; sie kamen aus dem Luxemburgischen, der Knecht hatte sie gefahren bis zur Bahnstation, sie hatten Wagen und Pferd. Die Angela war krank. Von Kind an war sie anders gewesen als andere Mädchen, selbst bei den lieben Nönnchen, wohin man sie zwei Jahre in »Penßjohn« getan hatte, war es nicht besser geworden mit ihr. Einen teueren Arzt in der Stadt hatte man auch zu Rat gezogen, der hatte die Krankheit mit einem gelehrten Namen benannt.

»Aber dat is all nit wahr, uns Anschela« – die Frau dämpfte die Stimme und raunte der lauschenden Bäreb ganz geheimnisvoll ins Ohr: »der is wat angedahn!«

Bäreb riß ihre dunklen Augen weit auf und hielt sich unwillkürlich zurück, daß der Atem der Blonden sie nicht streifte. Sie hatte wohl schon gehört, daß, wenn die Kühe keine Milch [S. 154] gaben, man sagte, denen sei was angetan. Aber bei Menschen, o nein, das hatte sie noch nicht gewußt! Scheu richtete sie ihre Augen auf das Mädchen.

Das war aber sehr vergnügt; es schwatzte in einem fort und preßte mit beiden Händen seine blaue Taille herunter, damit sie straff und glatt über der vollen Brust saß. Ab und zu betete es auch ein Sätzchen. Aber dann wurde sein rundes, blühendes Gesicht jedesmal ein ganz anderes. Zwischen den Brauen grub sich eine tiefe Falte ein, die vollen Lippen wurden schmäler und erschienen blässer, die flackernden Augen hoben sich empor und starrten unbeweglich auf einen Punkt:

»Herr, erbarme dich unser,

Christe, erbarme dich unser!«

Die Blonde stöhnte laut, ihre Züge verzerrten sich wie bei einem heftigen Schmerz; sie schlug sich an die Brust, unruhig scharrten ihre Füße.

»Heiliger Willibrord, bitte für uns!« –

Leiernd fielen Mutter und Base ein: »Wir bitten dich, heiliger Willibrord, erhöre uns!«

Unwillkürlich fing auch Bäreb mit an; wenn alle beteten, sollte sie da nicht mitbeten? Der ganze Wagen, alle Leute, die darin saßen, nahmen Teil.

Wie eine Vorbeterin, mit erhöhtem Ton, begann das Mädchen aufs neue. Es hatte etwas Heißes, etwas gewaltsam mit sich Fortreißendes, Bäreb konnte nicht widerstehen. Mit Mühe nur hielt sie an sich; wenn sie sah, wie das Mädchen an allen Gliedern zuckte, wie es sich bäumte in seinem Gebet, konnte auch sie kaum ruhig bleiben. Aufspringen hätte sie mögen von der Bank, wie jetzt das Mädchen tat, hineinschreien in das Rasseln und Schnauben des Zuges, es überbieten mit der Stimme:

[S. 155] »Heiliger Michael,
Heiliger Gabriel,
Heiliger Raphael,
Heiliger Josef,
Heiliger Petrus,
Heiliger Paulus,
Heiliger Thomas,
Heiliger Philippus,
Heiliger Bartholomäus,
Heiliger Matthäus,
Heiliger Markus,
Heiliger Stephanus,
Heiliger Laurentius, Vincenzius, Fabian und Sebastian,
Alle heiligen Chöre seliger Geister, bittet für uns!«

Die blonde Angela schrie alle Engel und Erzengel, alle Jünger des Herrn, alle Propheten und Märtyrer, alle heiligen Bischöfe und Beichtiger, Priester und Leviten, Mönche und Einsiedler in unendlicher Reihe auf sich herab.

Es schwindelte Bäreb. Wie war es möglich, die ganze Litanei zu allen Heiligen im Kopf zu behalten?! Sie fing an, das Mädchen zu bestaunen. Auch die anderen Waller hefteten bewundernde Blicke auf die Beterin. Wahrhaftig, das war keine Kranke, das war eine besonders Begnadete!

Die Mutter, die erst verlegen dareingeschaut und versucht hatte, durch ein Zupfen am Ärmel die Tochter zu leiserem Beten zu bestimmen, verzog nun den Mund in geschmeicheltem Stolz. Ja, das war wahr, ihre Angela war ein sehr frommes Kind, die sollte auch ins Kloster gehen, sowie sie gesund war. Und wenn’s auch ihre einzige Tochter war, die gelobte sie Gott. Jetzt ermunterte sie die Tochter zu weiterem Beten noch.

[S. 156] Wo die nur all diese Worte her hatte?! Das war ein Schwall, ein Erguß, ein Strömen, ein Fließen von heiligen Worten, daß es schier betäubte. Bäreb, der schon am Morgen der Kopf schwer gewesen war, fühlte ihn immer schwerer werden. Sie war wie im Rausch, wie am Tage vorher, da die hübschen Soldaten ihr soviel Verliebtes ins Ohr geflüstert hatten. Gestern so wie heut – heut so wie gestern! Sie konnte gar nicht mehr klar denken.


Wo war der Tag geblieben? Die Stunden waren so rasch verronnen wie ein Traum. War das Echternach? Ja, das war Echternach.

Willenlos, gedankenlos war Bäreb der führenden Menge ins Städtchen hineingefolgt. Sie sah nicht, wie lieblich das lag zwischen Gärten, in denen Apfel- und Birnbäume eben abgeblüht hatten und Kirschbäume schon sich rötende Früchte zeigten, die daheim nie reiften.

An die Spitze der einziehenden Wallfahrer hatte sich ein Musikkorps gestellt, dahinter reihten sich die Gemeinden; die geistlichen Hirten ordneten ihre Herden. Viele, viele gläubige Schäflein aus vielen Ortschaften, aus Nähe und Ferne; Staub auf den Kleidern, aber im Herzen Seligkeit. Nun war es erreicht, zu Fuß und zu Wagen, mit Not und Ermüdung, mit Anstrengung und Kosten. Hier war gelobtes Land, hier war man endlich in Echternach!

Das vorderste Musikkorps spielte, andere Musikkorps wollten nicht zurückbleiben – jede Gemeinde hatte ihren Ehrgeiz – sie spielten zum Einzug das Willibrorduslied, und tausend Kehlen stimmten jubelnd an:

»Schau, heiliger Apostel, o Willibrord,
Herab auf die Scharen der Beter,
[S. 157] O sei uns des Landes mächtiger Hort,
Beschirme den Glauben der Väter.
O heil’ger Patron, komm, hilf uns in Not,
In Ängsten, Gefahren und Leiden,
Und stehe uns schützend bei in dem Tod,
Daß siegreich von hinnen wir scheiden!«

Die abgespannten Gesichter wurden erwartungsvoll rot: hah, da ragte vom höchsten Punkt der Stadt die Pfarrkirche, darinnen unterm Hauptaltar der wundertätige Heilige begraben liegt! Glocken läuteten. Aus allen Giebeln wehende Fahnen, um alle Mauern grüne Girlanden; in allen Fenstern der heilige Willibrord, als Bild, als Statue, als Photographie, und sei’s nur auf Postkarten. Die Echternacher empfangen die Waller, die ihnen Ruhm und Gewinn und Verdienst und Getriebe ins sonst so weltabgelegene Städtchen bringen.

»Heiliger Willibrord, bitt für uns!«
»»Bitte für uns, heiliger Willibrord!««

Das ist der Gruß, mit dem Städter und Waller sich begrüßen. Von Gasse zu Gasse pflanzt sich das Gemurmel fort. Nun ist man am Marktplatz: Schaubude, Würfelbude, Schießbude, Schaukel, Karussell, Glücksrad, Pfefferkuchenstand, Menagerie, Wahrsagerin. Ei, was gibt’s da alles zu sehen, zu kaufen, zu naschen, zu belachen! Und dazwischen Kinder, Knaben und Mädchen, und auch viele erwachsene Leute, die sich an den Fremden heranmachen, ihn förmlich bedrängen:

»Wellt’ er mech dangen,
Fir met ze sprangen?«

Unsanft fühlte sich Bäreb vom Bruder an der Nase gerissen, sonst hätte sie noch lange gestanden und mit verwirrten Augen in das Marktgewimmel gestarrt. So etwas hatte sie noch nie gesehen, so etwas gab’s nicht in Heckenbroich, nicht [S. 158] einmal in der Kreisstadt. Eine neue Welt war das. Noch konnte sie sich nicht hineinfinden.

Die Herrlichkeiten des Marktes waren es weniger, die ihren Sinn verwirrten, als das Läuten der Glocken, die geschmückten Straßen, die Fahnen, die Kränze, die brennenden Lichter um Heiligenbilder. Und dann die Melodie, diese unruhig hüpfende Melodie, die, von Querpfeifen gepfiffen, von Trompeten geblasen, von Leierkasten gedudelt, überall zu vernehmen war.

Ein Trupp spielender Kinder kam jetzt gezogen; ein Kleiner voran, den Mund beschmiert mit Kirmeskuchen, schlug den Takt, und die Kameraden pfiffen und parpten, schlugen mit Deckeln und sangen dazu:

»Adam hatte sieben Söhn’,
Sieben Söhn’ hatt’ Adam,
Sieben Töchter muß er han,
Eh er sie bestaden kann!«

Aus einem geöffneten Fenster drang in rauschender Reihenfolge von Tönen, auf die Tasten getrommelt, die gleiche Weise an Bärebs Ohr. Und wenn das Stück zu Ende war, fing es wieder von vorne an; immer von neuem, immer von neuem, und immer dasselbe.

Bäreb hätte sich die Ohren zuhalten mögen. Nun fiedelte irgendwo noch eine Violine. Ein Quinkelieren ohne Ende, ein Hämmern, ein Tuten, ein Dudeln, ein Kratzen; man wurde taub davon. Was war das?! Man konnte nicht sagen, woher es kam – Bäreb drehte sich wie ein Kreisel, bald hierhin, bald dorthin – ganz Echternach war voll der Melodie. Von den schwarzgrauen Dächern kam sie nieder, aus dem zerstampften Pflaster stieg sie auf, um alle Ecken zog sie, aus allen Fenstern flog sie, die Luft war dick von ihr.

»Pä, pä!« Dores hob lauschend das Fingerchen; er [S. 159] mochte Musik gern leiden, er fing an zu hüpfen auf der Schwester Arm.

Was war das, was war das?! Bäreb riß die erschrockenen Augen noch größer auf; in ihren Schläfen stach es, in ihren Ohren surrte es, ihr Kopf dröhnte, als schlüge darin einer mit Hämmern auf Eisen, und in ihren Füßen zuckte es. Jesus Maria, was war das denn? Das quälte ja so!

Sie wollte entfliehen und war doch froh, daß sie gegen den dicken Mann anrannte, den sie kannte. »Wat es dat? Hört doch!« sagte sie und drängte sich an ihn.

Er lachte froh: »Dat is der Springprozessionsmarsch, Mädche, da springen mir all morjen nach! Adam hatte sieben Söhn,« fing er an zu trällern und probierte mit seinen dicken Beinen einen flotten Hüpfschritt.

War der nicht recht bei Trost oder hatte er sich betrunken? Ganz scheu guckte Bäreb ihn an.

Er aber strich ihr freundlich die Wange: »No, Mädche, du kuckst ja ganz verdattert? Wo giehste eweil hin mit ’m Brüderche? Komm noren, eich will dech traktieren!«

Gutmütig führte er die Willenlose mit sich fort. Ja, essen wollte sie gern etwas, und sie war auch sehr müde. Er führte sie in ein Bierhaus am Markt. Da gab’s den ganzen Tag warme Würste, und dem Dores, der schon alles mit den Augen verschlang, ließ er eine Suppe bringen und ein großes Stück Kirmeskuchen. Bäreb aß und trank, trank mehr als sie aß; Hunger hatte sie eigentlich doch nicht, sie hatte Brot genug gehabt, aber Durst quälte sie, ein furchtbarer Durst, der ihre Kehle ganz austrocknete. All der Staub, den sie hatte schlucken müssen, saß ihr noch darin. Auch der Dicke hatte einen gewaltigen Durst, und so alle, die um sie her saßen.

Wie durch einen Schleier sah Bäreb die roten Gesichter. Und dann sah sie an den Wänden Gestalten sich drehen, Frauen [S. 160] mit Hauben, Ritter mit Schwertern, langzopfige Mädchen von jungen Burschen umschlungen –

Adam hatte sieben Söhn’,
Sieben Söhn’ hatt’ Adam –

die tanzten alle im Marsch der Springprozession, und St. Willibrordus, die Fahne im Arm, die Bischofsmütze auf dem Kopfe, hob zwei Finger seiner Rechten und segnete sie. So war es an die Wände gemalt, aber Bäreb sah es, als wäre es wirklich.

Mechanisch führte sie die Hand ans Glas, mechanisch hob sie das Glas an den Mund, mechanisch dankte sie dem Dicken, mechanisch nickte sie, als er ihr anempfahl, sich nach einer Herberge umzusehen. Die Stadt war voll, an Dreißig- bis Vierzigtausend kamen hier zusammen, wo wollte sie nächtigen, wenn sie nicht Verwandte am Ort hatte, oder gute Bekannte?

Stumpf trottete sie von dannen. Sie irrte durch die Straßen; der Dores schlief schon, schwer lastete er auf ihrer Schulter. Unwillkürlich suchte sie einsame Wege. Sie war das nicht gewohnt hinter ihren Hecken; das Lärmen, die Musik waren zuviel für sie. Ganz betäubt wankte sie einem grünen Dickicht zu, das sie sah am Ufer der Sauer.

Sie trat durch ein Gatter, verschlossen war es nicht; ein alter Park mit Bäumen, die höher waren als die Tannen im Venn, umrauschte sie. Ah, hier war’s gut sein! Sie fragte nicht: ist’s erlaubt? Sie sah sich nicht weiter um – gepriesen sei der Schutzengel, der sie hierher geführt! Das Lärmen war verstummt, sie legte den Bruder ins Gras und sich dicht daneben; bald schlief sie fest.

In dem einsamen Park, der abends verschlossen wird, weil die Liebespaare sich sonst drein verkriechen und die Landstreicher, alle, die das heimliche Dunkel lieben, schliefen die müden Geschwister. Um sie flatterten Schmetterlinge, gaukelten [S. 161] im Liebesspiel und setzten sich ermattet auf die wilden Blumen im Schatten. Jasminbüsche dufteten berauschend, wie weiße gewölbte Glocken standen sie mit der Blütenlast ihrer hängenden Zweige im dunkelnden Laubgewirr. Hier war eine Wildnis. Faune mit abgeschlagenen Nasen grinsten aus dichtverwachsenen Bosketts, Nymphen mit ausgestreckten Armen fingen mit dem Marmorweiß ihrer nackten Leiber verstohlene Sonnenstrahlen auf. Verschlafen rauschte die Sauer vorüber am verfallenen Pavillon; dessen Stuck war abgefallen, seine Malereien entblättert, aber noch schützte das Dach, und noch sah man innen im Kuppelgewölbe die Amoretten sich tummeln um die schaumgeborene Göttin der Liebe.

Fern war das Treiben des Marktes, fern waren die vielen Füße. In der Stille der schützenden Bäume schlief Bäreb tief, aber nicht sanft. Es verfolgte sie etwas in ihrem Traum, das saß ihr im Ohr; das quälte sie selbst im Schlafen. Sie warf sich unruhig, atmete laut und zog die Stirn kraus. War es der Jasminduft, der sie belästigte, oder eine Erinnerung? Mit einem Schrei wachte sie auf. Grau-dämmerig war’s im Blättergewirr – wo war sie? Mit beiden Händen faßte sie sich an den Kopf. Ein Läuten hub an, das sie erschreckte. Sie riß den noch schlafenden Dores auf: zur Vesper, zur Vesper! Es läutete schon!

Die Maximiliansglocke läutete mit feierlichem Dröhnen das Fest des heiligen Willibrord ein; sie lud die Pilger zur Abendandacht an seinem Grabe. Von allen Seiten kam das gelaufen, was schon in der Stadt versammelt war; Scharen, Scharen, Scharen. Bäreb sah viele, die sie schon gestern und am Morgen gesehen hatte, aber noch hundert und aberhundert neue Gesichter dazu.

»Heiliger Willibrord, bitt für uns, –
Bitte für uns, heiliger Willibrord!«

[S. 162] Da war es wieder, das gewohnte Gemurmel. Mit ausgeruhter Stimme fiel Bäreb ein. Dabei glitten ihre Augen rastlos umher: es gab so viel, zu viel zu sehen beim heiligen Willibrord.

Da waren Buden am Fuß der großen Treppe, Buden über Buden mit Rosenkränzen – solche aus weißen Perlen, solche aus blauen Perlen und duftende braune aus Rosenholz – und Weihwasserkesselchen gab es da, und Betbücher, und Heiligenlegenden mit bunten Bildern, und Willibrord-Statuen aus Porzellan und Stuck; und noch viel mehr der heiligen Andenken an Echternach.

Sie raffte sich gewaltsam aus ihrer Zerstreuung auf. In die Pfarrkirche sich drängend zwischen allem Volk, kniete sie nieder, wo es gerade war, schlug ihr Büchlein auf und begrüßte den Heiligen demütig:

»Sei mir gegrüßt, großer Freund Gottes, heiliger Willibrord, der du von den Gläubigen in dieser Kirche besonders verehrt und angerufen wirst. Dir zu Ehren bin ich hierher gewallt und hoffe zuversichtlich, ich werde durch deine Fürsprache von Gott Gnade und Erlösung erlangen.«

Rote und blaue zuckende Lichter fielen durch die bunten Kirchenfenster auf das St. Willibrordus Büchlein. Geblendet stierte Bäreb hinein, sie konnte nicht weiterlesen. Ach, das war keine Andacht, die war ja hier nicht möglich! Mit Scharren und Trappeln, mit Murmeln und Seufzern zogen tausend bei ihr vorüber. In endloser Prozession zu zweien und dreien; Väter und Mütter mit ihren Kindern, Greise und Greisinnen wankend am Stabe, Arme und Kranke, Junge und Alte, Aufrechte und Verkrüppelte, alle zogen sie hintereinander durchs Kirchenschiff zum Grab des heiligen Willibrord.

Bäreb stellte den Dores auf die Beine: hin, hin! Er [S. 163] stolperte eilig auf seinen wackligen Füßchen, er kam sich selber nicht rasch genug voran. »Pä, pä!« Er riß sie vorwärts mit ungeduldigem Straucheln.

Da lag St. Willibrordus auf seinem vergoldeten Sarg, aus Holz geschnitzt, wie ein Bischof angetan, ein wenig aufgerichtet, gerade so, als wäre er lebend. Im Schauer der Ehrfurcht neigte sich jedermann.

»Heiliger Willibrord, bitt für uns,
Bitte für uns, heiliger Willibrord!«

Das Schiff der Kirche war erfüllt vom steigenden Murmeln, hundertfach, tausendfach; die Wölbung, gegen die es anstieß, hallte es noch dreifach zurück. Um das Grab herum, hinter dem Altar her, immer:

»Heiliger Willibrord, heiliger Willibrord!«

Bäreb hätte noch gern länger am Grabe verweilt. Ach, wenn der Dores nur das äußerste Eckchen des Sarges anrühren könnte! Aber die Menge stieß sie weiter, um das Grab herum, hinter dem Altar her, und hinein in die Sakristei.

Da saßen am Tische die Priester, feierlich ernst, ohne Wort und ganz vertieft in ihr Geschäft. Hunderte, tausende von Händen streckten sich – eine Hand nach der anderen legte die Opferspende dem heiligen Willibrord fromm auf den Tisch.

»Wir bitten dich, heiliger Willibrord, erhöre uns!«

Zur einen Tür herein, zur anderen Tür heraus; es entstand kein Gedränge. Alles ging still vor sich, nur das Geld klapperte und klingelte auf dem Tisch.

Auch Bäreb nahte dem Tische. Nah vor ihr war die Frau mit dem Kropf, sie konnte gut sehen, was die opferte: einen harten Taler! Und andere gaben nicht weniger. Da, die Frau mit dem blonden Mädchen legte ein blinkendes Goldstück [S. 164] hin, und dort ein Herr gab gar ein paar solcher goldenen Dinger! Bäreb erschrak bis ins innerste Herz: soviel hatte sie nicht. Was sollte sie tun?! Aber am Ende besann sie sich: wer nicht viel hat, kann nicht viel geben, auch geringere Scherflein nahm der heilige Willibrord.

»Heiliger Willibrord, bitte für uns!«

Mit Mut und Entschlossenheit fuhr sie in die Tasche – da hatte sie die Mark, ihre einzige Mark, die ihr noch übrig geblieben war, erfaßt. Mit der Linken ihr Brüderchen an sich ziehend, trat sie vor und legte mit der zitternden Rechten ihre Mark auf den Opfertisch. Die klimperte nicht hell wie ein größeres Silberstück. Bäreb wurde rot und dann blaß; ihr war es, als habe der geistliche Herr sie einen Augenblick streng angesehen. Hatte sie denn nichts, gar nichts mehr, hatte sie denn auch alles, alles geopfert? Heiliger Willibrord! Noch einmal fuhr sie mit Hast in die Tasche – da, noch ein Fünfzigpfennigstück! Sie gab auch dieses.

Zur einen Tür herein, zur anderen Tür heraus; alles ging wohl geordnet, ohne Gedränge. Bäreb stand draußen, sie wußte selber nicht, wie rasch. Innen verhallten die Klänge; die Vesper zu Ehren des heiligen Willibrord war zu Ende. Sie faltete die Hände beim Bimmeln des Betglöckleins, das von unten aus dem Kloster ›Zum guten Kinde Jesu‹ zur mächtigeren Schwesterglocke heraufrief. Und noch andere Glöckchen fielen ein; es waren soviel geistliche Stifte zu Echternach.

Bäreb fühlte jetzt auf einmal ihre ganze Verlassenheit. Der Bruder weinte vor Müdigkeit, auch ihr kamen beinahe die Tränen. Wo sollte sie hin?! Der Abend brach herein, um das alte Gemäuer der Pfarrkirche wischten die Fledermäuse. Und Menschen, Menschen, Menschen eilten in Scharen mit lautem Geschwatz, in hastiger Eilfertigkeit die [S. 165] steile Treppe zur Stadt hinab. Das waren Tausende, und alle wollten sie unterkommen.

Jetzt beschleunigte auch Bäreb ihre Schritte; wie aus einer Erstarrung erwacht, eilte sie flüchtigen Fußes die Treppe hinab. Sie hatte das Kind wieder auf den Arm genommen, sie durchirrte mit ihm die Gassen. War es denn so schwül, so unerträglich schwül in der Enge zwischen den grauen Häusern, oder trieb nur der rasche Lauf ihr den Schweiß auf die Stirn – oder die Angst? Überall Herbergen; fast jedes Haus hatte seine Tür geöffnet, die Fenster waren erleuchtet, Stimmengewirr schallte heraus, alles war voll, voll bis unters Dach. Auf dem Markte Gedudel, da ging es laut her. Das Karussel drehte sich mit seinen Flittern und glitzernden Glasbehängen bei Drehorgelmusik, am Schießstand zerkrachten die Tonpfeifen, und der große Löwe, das Hauptziel der Schützen, sperrte brüllend den Rachen auf. Auf der Rampe der Schaubude schwang ein wilder Mann mit Geheul seine Keule – er fraß Feuer – und eine dicke Frau, die Arme und Beine ganz nackend hatte, die nichts, gar nichts an hatte als ein rotes Atlasmieder und ein kurzes Sammetröckchen, zeigte sich der Menge.

Junge Burschen hatten sich untergefaßt und versperrten in breiter Reihe die Straße; ängstlich wich Bäreb den Halbtrunkenen aus und quetschte sich dicht an den Häusern vorbei. Wo es ihr nicht so überfüllt erschien, fragte sie schüchtern um Nachtquartier an. Sie hatte kein Glück; die einen achteten ihrer gar nicht, hörten kaum ihre Frage, die anderen zuckten die Achseln: längst alles besetzt. Endlich, todmüde und ganz verzagt, fand sie eine Alte in einem winzigen Kramlädchen, die ihr wohl Unterkunft geben wollte für die Nacht: sie könnte auf dem Stuhl vorn im Laden sitzen, wenn zugemacht war, [S. 166] und das Kind unter den Ladentisch legen, aber eine Mark kostete das, und im voraus.

Schon fuhr Bäreb in die Tasche: ja, ja, nur unterkommen, nur ein Dach über sich haben, was es auch kostete! Da fiel ihr plötzlich ein: sie hatte ja kein Geld mehr! Entsetzt starrte sie drein, das Herz stand ihr still. O weh, wenn sie nicht schon die Eisenbahnkarte zur Rückfahrt gehabt hätte, sie wäre nicht einmal mehr nach Haus gekommen! Plötzlich hörte sie die Maiblum brüllen, die Mutter sprechen, die Geschwister spektakeln, und eine heiße Sehnsucht fiel sie an nach der Stille der Heimat, nach dem Geborgensein hinter der Hecke.

Sie stolperte fort übers Pflaster, blind vor rinnenden Tränen. Ach, wenn ihr doch nur ein Mensch begegnen würde, den sie kannte! Wo war der gutmütige dicke Mann, der sie heute mittag so freundlich gespeist hatte?! Er war nicht zu finden. Aber ein Tuten kam jetzt vom Marktplatz her, das sie entsetzte. Die dunkle Gasse ward plötzlich hell. Brannte es wo? Das war ja Feuerschein! Um die Ecke bog’s ihr entgegen – johlende Jungen vorauf, johlende Jungen hinterdrein – der wilde Mann, jetzt ohne Keule, aber lodernde Fackeln hochschwingend, daß die Funken flogen, fletschte grinsend die Zähne, und das dicke Weibsbild im kurzen Sammetröckchen verzog das traurige Gesicht zu einem Lächeln, winkte mit den Augen und warf Kußhände. Auf dem Markt war die Bude geschlossen, sie luden ein verehrliches Publikum zur Vorstellung im Freien am Platz vor der Brücke ein: gleich würden sie dort beginnen.

Auch Bäreb folgte, willenlos, getrieben von der Menge. Aber sie sah nichts von dem, was der Mann verschlang – nicht bloß Feuer, nein, auch Glas und Eisen hatte er versprochen zu fressen, rostige Nägel und zerbrochene Fensterscheiben [S. 167] – sie sah kaum das Seil, das weit über mannshoch von der Erde zwischen zwei Pfählen gespannt war, auf dem die berühmteste Seiltänzerin der Welt, die dicke Frau, ihre Kunst jetzt zeigen wollte. Ein Trupp junger Burschen hatte Bäreb aufgespürt und umkreiste sie beständig. Sie ließen ihr keine Ruhe, sie neckten sie unablässig. Und sie, so zag heute abend in ihrer Obdachlosigkeit, floh.

Jesus Maria, nur ein Mensch, ein Mensch, bei dem sie sich sicher fühlte! Es brauchte ja gar nicht einmal ein Bekannter zu sein.

An den Ufern der Sauer hinab und hinauf nächtigten viele. Wie Schatten bewegten sich Gestalten um lodernde Feuerchen; ganze Familien kampierten da. Sie kochten Kaffee; in Hotten und Kärrchen und Bündeln hatte man das Nötigste mitgebracht. Weit, weit kamen sie her zu Fuß, sie hatten nicht Geld gehabt, um zu fahren. Ein Geruch der Armut durchwehte die Sommernacht, ein Geruch, der stärker war, als der weiche Duft des Jasmins und der Lindenblüte, ein Geruch des Elends, ein Geruch der bittersten Leibes- und Seelennot.

Heiliger Willibrord, bitt für uns, bitte für uns, heiliger Willibrord!

Da waren manche, die kein Dach über sich hatten diese Nacht. Bäreb fühlte schon etwas wie Trost: ei, so konnten sie ja auch draußen schlafen. Vertrauend näherte sie sich einem Feuerchen. Doch sie wurde aufs neue gescheucht; ein verwildert aussehender Mann schrie sie grob an, und ein Weib kreischte in höchsten Tönen: »Hei, dat is unsen Plaatz! Wat will dat Frechmensch hei?!« Auch hier war ihres Bleibens nicht.

Verwirrt, verstört, von überall verjagt, rannte Bäreb sinnlos weiter. Wohin, wohin?! Schon glaubte sie wieder [S. 168] die Quälgeister von vorher hinter sich zu vernehmen – ›Hetz, hetz, hussa, fangt sie, die Katz, kß kß‹ – sie rannte davon, atemlos, rannte, daß sie keuchte, rannte vom Ufer hinauf, wieder den Straßen zu. Menschenleer lagen sie jetzt, still, wie ausgestorben, alle Läden geschlossen. Blindlings rannte sie gegen die Ecke einer Mauer an, prallte zurück und rannte dann – einem Mann in die Arme.


VIII

Die Sauer rauschte sanft gegen die Ufer, die Sterne schienen nieder auf die Stadt des heiligen Willibrord. Flußauf, flußab tiefes Schweigen. Erschöpft, ermüdet von Wanderung, Gebet und Marktgetriebe schliefen die Pilger.

Auch Bäreb schlief, den Dores im Arm; sie schlief sanft und wohlbehütet. Die dunklen Wimpern schienen noch feucht von den Tränen, die sie in ihrer Verlassenheit geweint hatte, aber ihr Mund lächelte. Sie hatte es ja so gut getroffen, St. Willibrord hatte sie in seiner Stadt doch nicht zu Schanden werden lassen. Nun hatte sie einen Beschützer gefunden, einen, der jung war wie sie selber, einen, der gekommen war, gläubig wie sie: warum sollte der heilige Willibrord nicht auch dazu verhelfen können, daß man nicht zu dienen brauchte beim Militär? Es hatte zwar noch keiner gehört, daß St. Willibrord sich auch ums Nicht-Soldat-werden-müssen verdient gemacht hätte, aber wer Wunder vollbringt, so große Wunder, kann auch dieses vollbringen.

Treuherzig, offen und der Mitteilung froh, hatte der Jüngling das dem Mädchen erzählt. Er war auch ganz fremd in der Stadt, hatte keine Bekannte; und sehr viel mehr Geld als Bäreb hatte auch er nicht in der Tasche. Flüsternd [S. 169] tauschten die beiden jungen Menschen ihre Geschichten aus. Sie war aus der Eifel, er war aus der Eifel, wenn Bäreb auch niemals früher den Namen seiner Ortschaft gehört hatte; auch jetzt hörte sie den kaum, er war nur ein Schall, an ihrem Ohr vorübergleitend. Aber den Namen des jungen Burschen behielt sie: Niklas. So hießen auch viele in Heckenbroich – Klos. Man war gleich gut bekannt miteinander. Niklas hatte ihr den Dores abgenommen, und der ließ sich auch willig von ihm tragen, als ob er’s gefühlt hätte in seiner Schlaftrunkenheit, wie gut der Klos war. Und Bäreb selber hatte der freundliche Bursche an die Hand genommen und gesprochen: »So, eweil komm, Bärbche, eweil suche mir uns en Platz für zo schlaofen. Brauchst keen Angst mieh zu han, ech schützen dech!«

Er war noch so jung, nicht viel älter als achtzehn; er fühlte sich stolz, eines Mädchens Beschützer zu sein. Sie teilte ihm von dem Brot mit, das sie noch in ihrem Bündel verwahrte; er hatte noch ein Stück Wurst. Mit ihren jungen Zähnen bissen sie in das vertrocknete Brot und in die Wurst, die im Rauchfang so lange gedörrt hatte, bis sie hart genug geworden war, um den ganzen Sommer zu halten. So gut hatte es Bäreb heute mittag in dem großen Wirtshaus am Markt lange nicht gemundet; sie fühlte sich jetzt so sicher. Schulter an Schulter saßen sie platt auf der Erde, hinter sich die schlafende Stadt, vor sich den im Sonnenlicht leise gleitenden Fluß. Er hatte sie ein wenig abseits geführt, noch weiter den Fluß hinauf dem Parke zu, aus dessen umfriedetem Dickicht in langen Trillern die Nachtigall schlug. Zu trinken hatten sie nichts, aber mit geblähten Nasenflügeln, den Mund in eifrigem Kauen halb geöffnet, sogen sie zu Brot und Wurst den feuchten, laulichen Wasserdunst ein und den Tauduft des Grüns und den süßen Geruch des Jasmins. Unablässige [S. 170] Duftwellen strömten vom Parke her, der die Schatten seiner uralten Bäume schwer und schwarz über den Fluß hin legte. Wie Glühwürmer glimmten die Feuerchen der Pilger hüben und drüben, an den beiden Ufern der Sauer; mählich verlöschten sie. Eine Turmuhr in der Stadt schlug dumpfschnarrend Zwölf.

»Schlaof eweil, schlaof,« hatte Niklas gesagt. »Leg dich der Läng lang, dat de de Glidder ruhst, morje müsse mir springen!«

Sie seufzte auf; sie litt es in wohligem Behagen, daß er eine Flauschjoppe, die er bei sich führte, über sie und den Dores breitete und sich dann selber dicht neben sie streckte. Sein Atem bestrich sie. Jedes von ihnen hatte seinen Kopf auf seinem Bündel; das Gesicht zu den Sternen gekehrt, lagen sie ganz gut. Sehr gut, dachte Bäreb.

Plötzlich fiel’s ihr ein: »Ich han mich noch nit jebet!«

»Bet doch, bet doch,« flüsterte er.

Sie bekreuzte sich:

»O heiliger Schutzengel mein,
Laß mich dir stets empfohlen sein,
In allen Nöten steh mir bei
Und halte mich von Sünden frei.
In dieser Nacht, ich bitte dich,
Bewahre, schütze, führe mich!«

Der Bursche kannte das Abendgebet, er hatte es halblaut mit ihr gebetet. Nun bekreuzten sie sich noch einmal.

»Aomen. Schlaof wohl, Bärbche!«

»Aomen. Du ooch, Klos!«

Und sie hatten die Gesichter von den Sternen abgewendet und sie, lächelnd im Dunkeln, einander zugekehrt. – – –

Noch war die Sonne nicht lange aufgegangen, als der Bursche erwachte. Er war das Frühaufstehen gewohnt, er [S. 171] arbeitete als Knecht, sein Vater und seine Mutter waren arme Leute – wenn er zum Militär müßte, müßten sie hungern!

»Bitt für uns, heiliger Willibrord!«

Schon hörte man wieder das alte Gemurmel, die Eintönigkeit des gleichen, des immerwährenden Anrufs. An den Ufern der Sauer war schon Bewegung; die dort gelagert hatten, wuschen und kämmten sich und packten ihre Habseligkeiten zusammen.

Die grüne Höh, drüben auf der preußischen Seite der Sauer, vergoldete sich, die weißen Häuser von Echternacherbrück wurden eben rosig bestrahlt, als auch schon wieder Prozessionen eintrafen. Die waren die Nacht durch gewandert von ihren Ortschaften her; nun begrüßten sie das St. Willibrorduskreuz, unweit des schwarzweißen Grenzpfahls, wo die Kanzel errichtet ist und der Priester die Gläubigen segnet zu Beginn der Springprozession. Sie begrüßten Kreuz und Kanzel mit frommem Gesang:

»Zu deiner Ehr, Gott, wallen wir,
Kyrie eleison,
All unsre Not wir klagen dir,
Alleluja, alluja,
Bitt Gott für uns, Sankt Willibrord!«

Der Niklas hatte sich auf den Ellenbogen gestützt und betrachtete im goldhellen Morgenlicht das Gesicht des schlafenden Mädchens neben sich. Gestern hatte er ihr Gesicht nicht mehr gut erkennen können, er hatte nur die junge zitternde Stimme gehört und das dankbare Schmiegen an seine Seite gefühlt, heute sah er erst, wie hübsch Bäreb war. Er betrachtete sie lange und mit Wohlgefallen: das war ein liebes Mädchen, ein arg hübsches Mädchen, eines, wie er daheim noch keins gesehen hatte!

[S. 172] »Bärbche!« Flüsternd sprach er ihren Namen aus; aber sie schlief noch fest, sie rührte sich nicht. Was sie für schöne Bäckchen hatte, zartgelblich und ein Rot drauf in einem Flaum, wie die Frucht ihn hat, wenn sie reifen will. Und lange Wimpern hatte sie wie schwarze Seide; schwarze Augen mußte sie haben. Die mochte er gern. Er konnte nicht erwarten, daß sie sie aufschlug. Vorsichtig nahm er die wärmende Joppe von ihr und dem Knaben und sprach leise: »Bärbche, stieh up, et is eweil höchste Zeit!« Er wagte es, ihr mit seiner Hand die Wange zu streicheln.

Da schauerte sie zusammen, seufzte, schlug die Augen auf und sah ihn an. Ihre schwarzen Augen erglänzten: oh ja, sie wußte gleich, wo sie war, da war ja der Klos! Sie lachte ihn an, sie war so froh, ihn zu sehen: nun war sie nicht mehr allein in aller Christenheit, sie waren zu zweien.

»Jute Morje, Klos!«

»Gude Morge, Bärbche!«

Dann bekreuzte sich Bäreb und sprach ein Morgengebet, und der Bursche bekreuzte sich auch und sprach mit, sie froh betrachtend:

»Es segne mich die Jungfrau rein
Mit ihrem lieben Kindelein!
Amen!«

Er half ihr, den Dores wach machen. Der Knabe sah blaß aus und schlief wie ein Toter; unter seinen geschlossenen Äugelchen lagerten die Schatten schwarzblau, und sein Mund war schmerzlich verzogen.

»Wenn et eso ’ne heiße Dag wierd, dann es hen immer nit eso jot,« seufzte Bäreb. Aber dann lächelte sie: ob heiß oder kalt, bald würde er ja keinen Unterschied mehr empfinden, bald war er gesund! Sie machte das Zeichen des Kreuzes über dem Brüderchen: »Bitt für ihn, heiliger Willibrord! [S. 173] Wir bitten dich, heiliger Willibrord, erlöse ihn!« Dann wusch sie ihn mit dem Wasser des Flusses und wusch sich auch selbst Gesicht und Hände.

Ohne Scheu vor dem gaffenden Burschen löste sie ihr langes Haar und strählte es mit dem Kamm aus ihrem Bündel. Puh, wurde es aber mächtig heiß! Sie lüftete sich das Kleid am Halse. O weh, schon stach die Sonne, als wollte es ein Gewitter geben!

Hinter der Berglinie starrten Wolken wie Spitzen. Das Sauertal war voll von glimmerigem Duft.

Als die Maximiliansglocke ihr Dröhnen anhub, und man aus der Stadt das Veni Creator der Geistlichkeit schallen hörte, die von der Kirche zur Brücke hinabzog, war es noch zeitig am Morgen, aber schon trockneten sich viele den Schweiß ab, und man sah große Regenschirme aufgespannt zum Schutz gegen den Sonnenbrand. Doch der Gendarm befahl, sie zuzumachen.

»Paaß up, dat de mich nit verlierst,« flüsterte Niklas noch rasch Bäreb zu im wilden Gedränge. »Nach der Prozession, unner de Trepp am St. Willibrordus-Brunnen, lao stiehn ech!«

Sie nickte nur, sie wagte nicht mehr zu sprechen.

Das war etwas Gewaltiges, etwas Herrliches, etwas nie Geahntes!

Voran mit blitzenden Pieken drei Männer in langen, leuchtend-roten Gewändern, ein Trupp von Chorknaben hinter ihnen mit Kreuz und Fahne. Und dann singend und betend viel tausend Männer:

»Heiliger Willibrord, ein Lehrer der Wahrheit,
Heiliger Willibrord, ein eifriger Ausleger der Lehre Christi,
Heiliger Willibrord, ein sanfter Wegweiser der Irrenden,
Heiliger Willibrord, eine wahre Stimme Gottes,
[S. 174] Heiliger Willibrord, ein unermüdlicher Arbeiter im Weinberg des Herrn,
Heiliger Willibrord, hell glänzender Stern unsres Landes, eine unerschütterliche Grundsäule des wahren Glaubens,
Heiliger Willibrord, bitte für uns!«

»Erhöre uns, heiliger Willibrord, erhöre uns!« Hohe Weiberstimmen mischen sich zeternd ein, gellende Kinderstimmen kreischen im höchsten Diskant.

»Heiliger Willibrord, heiliger Willibrord!«

Mächtiger schwellen die Stimmen der Psalmodierer, ein Strom von Anrufungen wälzt sich vor den Geistlichen her; mit der Fahne des heiligen Willibrord, mit der prächtig strahlenden, folgt die den Sängern.

Geistliche Herren, und immer wieder geistliche Herren, ihr Zug nimmt kein Ende. Große und kleine, dünne und dicke, schwarze und blonde, alte und junge; von weit her, von nah her, aus Klöstern, aus Kirchen, aus Städten, aus Dörfern, aus Deutschland, aus Frankreich, aus Belgien, aus England, aus Holland, aus Italien, aus aller Herren Ländern, aus aller Welt. Lauter Brüder in Christo, Söhne der Kirche, verstreut über die ganze Erde, heut sich zusammenfindend unter dem Banner des heiligen Willibrord.

»Heiliger Willibrord! Heiliger Willibrord!«

Von den Bergen hallt es im Echo, alle Glocken der Stadt rufen es dröhnend, durch die heiße Luft zittert es in stetem Vibrieren, im Auf- und Abschwellen, bald hoch und bald tief, bald laut und bald leise, bald jauchzend, bald klagend, bald freudig, bald schmerzvoll; hundert- und tausend- und abertausendfach, und zum hundertsten und tausendsten und abertausendsten Male: »Heiliger Willibrord, bitt für uns!«

[S. 175] Die Stadtmusik hebt den Springprozessionsmarsch an:

›Adam hatte sieben Söhn’
Sieben Söhn’ hatt Adam‹ –

Wer könnte da stille stehn?!

Bäreb fühlte sich mit fortgerissen im hüpfenden Wirbel. Fünf Schritte vor, wieder drei Schritt zurück – so sprangen alle.

In langen Reihen hüpften die Schulkinder, die Waisenkinder, die Zöglinge aus all den Klöstern; die Knaben in Hemdärmeln, wie zum Spaß, wie Bachstelzen zierlich die Mädchen. Ihnen wird es leicht, noch zieht die Bürde von Leib und Seele sie nicht zu Boden.

›Sieben Töchter muß er han,
Eh er sie bestaden kann!‹

Das ist eine Musik! Sie dreht einem die Seele im Leibe herum, sie lockert alle Gelenke, die Füße heben sich wie von selber im Takt; es geht gar nicht anders, man muß mit, muß hüpfen, springen, da hilft kein Widerstand. Alte werden zu Jungen, Gichtgeplagte zu munteren Böcklein. Fünf Schritte vor und drei zurück – man kommt nicht aus der Stelle und springt doch so hoch, springt, springt, springt – fünf vor und drei zurück. »Heiliger Willibrord, bitt für uns! Bitte für uns, heiliger Willibrord!«

»Heiliger Willibrord!« Hinter Bäreb schrie eine gellend laut. Das war die Blonde! Bäreb erkannte die Stimme gleich; sie mußte sich wenden, sie verfehlte dadurch einen Sprung, sie kam aus der Reihe – nun war sie nahe der Schreienden. Widerwillig guckte sie hin und war doch gezwungen, unverwandt hinzusehen. Was schrie die so laut, was sprang die so hoch?!

Über das rote Gesicht der Blonden lief stromweis der Schweiß, den Hut hatte sie verloren. Alle die großen Haarnadeln [S. 176] spießten ihr aus dem Haar; jetzt fielen die mächtigen Zöpfe herunter, bei jedem Sprung patschten sie auf den Rücken. Die Eifrige hatte keine Zeit, sie wieder aufzustecken; sie hatte sich mit Mutter und Tante angefaßt, aber nicht an den Händen, sie hielten je ein leinenes Handtuch zwischen sich.

Und Bäreb sah, daß es viele so machten; die Schuljungen hielten die Kittelchen zwischen sich, die Mädchen Taschentücher, viele Männer benutzten ihre Röcke dazu, die Weiber ihre Schürzen; was sie gerade hatten, nur mußte es stark sein, daß es nicht riß beim gewaltigen Zupfen und Zerren. Wie in einer Schaukel ging’s auf und nieder. Bald schwuppte die Welle der Springer zur Linken und bald zur Rechten. Straff wurden die Tücher gespannt, wo einer strauchelte, riß man ihn daran wieder in die Höhe.

Bäreb sprang ganz allein; sie hatte sich mit niemandem angefaßt, sie hatte ja auch gar keine Hand frei gehabt, der Dores hing ihr am Halse. Schon wurde ihr der rechte Arm, auf dem er saß, schwach, sie mußte die linke Hand noch stützend unterhalten. Fünf Schritt vor und drei zurück. Sie machte gewissenhaft den vorgeschriebenen Sprung – ach, daß sie nur besser dabei beten könnte! »Heiliger Willibrord, bitt für uns! Wir bitten dich, heiliger Willibrord, erhöre uns!« Ihre Lippen bewegten sich; sie murmelte, wie alle unausgesetzt murmelten, aber ihre Gedanken fuhren umher. Sie hatte den Heiligen so inbrünstig bitten wollen, dem Dores zu helfen, der Mutter zu helfen, – nun dachte sie gar nicht daran. Die Schreie der Blonden gellten ihr im Ohr.

War die denn nicht recht bei Trost, daß sie so hopste?! Von Mutter und Tante hatte sie sich losgerissen, Sprünge machte sie eine halbe Elle hoch; den Mund hielt sie offen, die Augen drückte sie heraus, wie Schaum trat der Speichel ihr auf die Lippen. Die Zöpfe waren ihr jetzt ganz aufgegangen, [S. 177] die losen Haarsträhnen züngelten wie Schlangen bei jedem Sprung. Oh, das war gräßlich anzusehen!

»Heiliger Willibrord, bitt für uns!
Bitte für uns, heiliger Willibrord!«

Ah, sieh da, die ganz alte Frau mit dem uralten Mann! Bäreb blieb vor Staunen der Mund offen. Ein altes Pärchen überholte sie. Sie mit schlohweißem Haar, und er mit schlohweißem Haar; sie hielten sich an den Händen, sie sprangen so sicher im gleichen Takt, sie brauchten keinen anderen verbindenden Halt. Ordentlich schön sah sich das an; die alten Gesichter unterm weißen Haar stachen so freundlich ab gegen die glühenden, verschwitzten rund um sie her. Ei, die konnten es gut, die sprangen gewiß schon zum hundertsten Mal!

Bäreb fühlte sich lahm werden. So jung sie war, sie war doch müde, der Dores war schwerer, als sie gedacht hatte. »Heiliger Willibrord!« Sie tat einen Stoßseufzer. Das blonde Mädchen war ihr schon aus dem Gesicht, auch der Greis und die Greisin; andere Gesichter tauchten auf und tauchten unter um sie her, andere Gestalten.

Mit Schnedderengdeng spielte die Musik den Springprozessionsmarsch. Die Gemeinden hielten sich zusammen, vorn ein Musikkorps, hinten ein Musikkorps, keines stimmte zum andern; wenn das eine den Anfang blies, fiedelte das andere gerade den Schlußsatz. Aber im Wirrwarr der Töne, im Durcheinander der Instrumente – Pfeife und Geige, Trompete und Flöte, Trommel und Harmonika, Pauke und Cymbel – rang doch die Melodie sich siegreich durch, sprangen doch die tausend und abertausend Füße gemeinsam:

›Adam hatte sieben Söhn’,
Sieben Söhn’ hatt’ Adam!‹

An den Fenstern der Häuser drängten sich Zuschauer; sie hingen zu den Fenstern hinaus, förmlich übereinander. Bäreb [S. 178] sah nicht hinauf zu ihnen, sah nicht, daß viele nach ihr hingafften. Es blieb ein wenig Platz hinter ihr und ein wenig vor ihr, sie sprang so ganz für sich allein; das willenlose Haupt des Knaben baumelte ihr über die Schulter, in einem schmerzlichen Erstaunen waren ihre Augen weit aufgetan. Sie bemerkte es gar nicht, daß sich blitzgeschwind mehr als ein Kodak auf sie richtete. Man photographierte einzelne Gruppen der Springprozession, man photographierte auch sie.

»Heiliger Willibrord, bitt für uns!« Mit starkem Anruf stürmten neue Springer heran.

Ein Brummen von Tönen, ein Summen von Gebeten umschwirrte Bäreb. Sie sah bekannte Gesichter: da war die Frau mit dem Kropf! Da der dicke Mann! Die Frau mit dem Kropf sprang an der linken Flanke einer Reihe von Weibern, ihren Henkelkorb hatte sie noch am Arm, mit der freien Hand hielt sie sich an der Nachbarin; sie jappte und ächzte, ihr dicker Kropf schütterte bei jedem Sprung, er baumelte ihr am Hals wie ein schweres Säckchen. Ah, und der Dicke! Josef Maria, wie sah der denn aus?! Bäreb fühlte ein heftiges Mitleid; sie hätte ihm gern ihren Arm zur Stütze geboten, aber sie konnte ja nicht, sie hatte genug am Dores zu schleppen.

Sie kam dem Dicken jetzt vor, aber sie wendete den Kopf noch ein paar Mal nach ihm. Ach, der freundliche Mann, der sie mit Bier und Wurst traktiert hatte, jetzt sah er gar nicht mehr freundlich aus! Den Kragen riß er sich vom Hals, als würge ihn der, den Rock riß er voneinander, als quetsche der ihm den Leib ein. ›Heili – ger – Willi – brord!‹ Sie hörte ihn stöhnend beten. Er stammelte immer nur eine Silbe zwischen zwei schnappenden Atemzügen. Er trocknete sich nicht einmal das Gesicht ab; das rotgelbe Sacktuch hielt er wohl in der Hand, aber gebrauchen tat er’s nicht mehr, er ließ das [S. 179] rinnen, was wie ein Bächlein von ihm ablief an Angstschweiß. Auch Bäreb schwitzte.

Wer sollte heute nicht schwitzen? Wie Feuer fällt es vom Himmel, hinter den Wolken sticht die Sonne herab und sengt durch die Kleider. In einen undurchdringlichen Dunst von Staub und Schweiß gehüllt, hüpfen die Springer. In den engen, überfüllten Gassen, die die Prozession durchwogt, fächelt kein Lufthauch. Bleischwer die Luft, bleischwer die Glieder, dumpfer das Beten.

»Heiliger Willibrord, bitt für uns,
Erlöse uns, heiliger Willibrord!«

Schon versagen ein paar. Eine junge Frau schwankt, schwach werdend, aus der Reihe; man lehnt sie gegen ein Haus, man labt sie, man setzt ihr einen Stuhl vor die Haustür, aber sie nimmt ihn nicht an, sie rafft sich auf. Schon springt sie wieder, sie schließt sich einer neuen Reihe von Weibern an.

Fester umklammern die verschwitzten Hände die verbindende Brücke, zu Stricken sind Röcke und Tücher zusammengedreht; die gesteiften Hemdärmel der Männer sind schlapp geworden, die Hüte der Frauen sind ins Genick gerutscht, das Haar hängt in Strähnen. Erschöpfung, Ermüdung auf allen Gesichtern, aber –

›Adam hatte sieben Söhn’,
Sieben Söhn’ hatt’ Adam –‹

fünf Schritte vor, drei Schritt zurück. Wer den Sprung nicht gewissenhaft tut, findet keine Erhörung. Und noch sind so viele Sprünge zu springen, ehe man vom Vulpert her durch die Schulergasse den Willibrordusbrunnen erreicht hat und die Treppe zur Pfarrkirche, die der steilen Stufen dreiundsechzig zählt. Ein Weg, zwölfhundertundfünfzig Meter lang, dreifach, nein, fünffach zu machen!

[S. 180] Wenn die Musikanten Luft schöpfen, den Speichel aus ihren Trompeten schütteln, wenn das sinnverwirrende Chaos von Tönen ein paar Augenblicke schweigt, dann verschnaufen sich die Springer. Sie ringen nach Luft, sie stöhnen beim Atmen, sie zittern, sie ächzen: »Heiliger Willibrord!« Wasser und Wein in Krügen und Eimern, Limonade in Kübeln wird gereicht aus den Häusern; die Bürger von Echternach laben die Springer. Mit Gier reißt man dem Spender den Krug aus der Hand, man schluckt, man schüttet das Naß in sich hinab, man säuft wie ein Tier, das am Verschmachten ist, ohne Besinnen; man gießt sich das Wasser schier über den Kopf. Volle Eimer sind in Augenblicken geleert, nichts ist kühlend genug, nichts ist durstlöschend. Feuer vom Himmel, Feuer in der Kehle, Feuer im ganzen Gebein; aber auch Feuer im Herzen.

›Adam hatte sieben Söhn’ –‹

Kaum daß die Melodie sich wieder erhebt, so tritt man auch schon wieder zum Tanze an; man ist entbrannt, zu springen, man ist entflammt zum heiligen Willibrord.

Lauter erheben sich die Gebete. Je matter die Füße werden, desto inbrünstiger die Litaneien. Die Sonne gibt keinen Schein mehr, unter dem bleiernem Himmel gellen die Anrufe: »Heiliger Willibrord, höre uns! Heiliger Willibrord, erhöre uns! Heiliger Willibrord, erlöse uns!«

Die Röte der Gesichter ist verblichen; heiß sind sie noch, aber blaß sind sie geworden, sehr blaß. Hier wankt einer halb ohnmächtig, vom Nebenmann rechts und vom Nebenmann links unterm Arme gehalten; er hat die Augen geschlossen, er sieht nicht mehr, er hört nicht mehr, aber er springt – er springt.

Dort hat ein Epileptiker seine Zuckungen wieder, er rollt mit den Augen, seine Glieder schlenkern, noch springt er im [S. 181] Takt. »Heiliger Willibrord!« Mit schäumendem Mund stürzt er jäh hin aufs Pflaster. Man läßt ihn liegen, es rasen die Waller an ihm vorbei, sie treten ihn fast unter die Füße.

›Sieben Söhn’ hatt’ Adam –‹

Man muß springen, springen. Weiter, immer weiter im Takt – fünf Schritte vor, drei wieder zurück – heiliger Willibrord, heiliger Willibrord!

Bäreb fühlte ihr Herz klopfen, als hämmere ein Hammer darin. »Heiliger Willibrord!« Sie schrie es laut vor Angst. Kam denn noch immer der Brunnen nicht? Und dann die Treppe? Wie lange sollte das Springen noch währen? Sie konnte nicht mehr. Wie Blei drückte der Bruder auf ihrer rechten Schulter, sie warf ihn auf ihre linke herum. Heiliger Willibrord, hilf! So ging’s wieder ein Weilchen. Wie Schwalben im eiligen Flug den Gewitterhimmel durchqueren, so durchschossen Gedanken ihr betäubtes Hirn: warum sprangen denn alle die Leute hier wie die Tollen? Tat’s denn nicht ein Wallen zum Gnadenbild auch, oder ein frommes Gebet zu Gott oben im Himmel? Nein, nein – fünf vor und drei zurück – heiliger Willibrord, heiliger Willibrord – Adam hatte sieben Söhn’, sieben Söhn’ hatt’ Adam – wer nicht sprang bis zuletzt, die Treppe hinauf, zur Kirche hinein, durchs linke Schiff bis zum Chore hin, bis zum Grabe des Heiligen und um dieses herum, und weiter, immer weiter, durchs rechte Schiff der Kirche wieder hinaus, und unter die Kastanien und Linden, die draußen stehen, und dreimal ums große Missionskreuz herum, der hatte seine Wallfahrt nicht wohlgetan!

Bäreb nahm all ihre Kräfte zusammen; jetzt zog nichts, weder rechts noch links, weder vor noch hinter ihr, ihre Gedanken mehr ab.

[S. 182] An ihrem Hals greinte der Bruder. Sie preßte ihn krampfhaft mit beiden Armen fest. So wollte sie ihn emporheben, so dem Heiligen hinhalten, daß der ihn auch sah!

»Heiliger Willibrord, heiliger Willibrord!« Der Schrei steckte an; sie schrie wie die anderen. Wie Rasende stürmten die Weiber dahin, sie wollte die Letzte nicht sein. Voran, zum heiligen Willibrord, wer sich ihm naht, den erlöst er! Einer Trunkenen gleich stolperte sie sinnlos weiter; sie waren alle im Rausch. Die schwirbelnde Tanzmusik hatte alle erfaßt, die riß auch die zum Tod Matten mit weiter. Da – einen Augenblick stockte der tanzende Marsch.

Ein Mann lag am Boden; er lag wie gefällt, blaurot im Gesicht. Oh, der Dicke! Von einem flüchtigen Bedauern durchzuckt, erkannte ihn Bäreb. Aber –

›Adam hatte sieben Söhn –‹

schon hüpfte sie weiter; sie dachte seiner nicht mehr.

Sie konnte nichts denken, sie konnte nichts fühlen, sie konnte nur springen. Keine Ermattung empfand sie mehr, und nicht mehr die Last des Dores, federleicht dünkte der Knabe sie schier, sie sprang wie ein Fohlen.

Heiliger Willibrord, heiliger Willibrord! Jetzt war sie ihm nahe! Abgetreten schleppte ihr Kleidersaum, ihre Schuhbänder schleiften. So wie die Blonde mußte man’s machen! Jetzt sah Bäreb wieder. Aber was sie vordem entsetzt hatte, das bestaunte sie nun. Oh, so wie die, die rief den Heiligen gewaltig auf sich herab!

Wie eine Mänade flog das blonde Geschöpf. Es hatte sich die Taille aufgerissen, die Brüste quollen über den Leibchenrand, das rosige volle Fleisch glühte in zuckender Brunst. Mutter und Tante beteten laut, es beteten alle rund um sie her, sie übertönte alle: »Heiliger Willibrord, heiliger Willibrord!« Ihre Augen glühten in irrsinniger Lust. Ein [S. 183] Satz, und sie war am Brunnen vorbei – ein Satz, und sie flog die Stufen hinan. Hoch sprang sie, höher als alle, bis ans Knie schwuppten ihr die Röcke hinauf, als Mähne flatterte das gelöste Haar um sie her. Jetzt ein gellender Schrei, fast klang’s wie ein Brüllen: »Heiliger Willibrord!« Sie streckte die Hände aus – jetzt war sie fast oben – da – ein Gurgeln, ein Bäumen – Mutter und Tante packten noch gerade zu: da lag sie in Krämpfen.

›Heiliger Willibrord, bitte für uns,
Erlöse uns, heiliger Willibrord!‹

Um acht Uhr am Morgen hatten die Springer zu springen angefangen, jetzt war es zwei Uhr Nachmittagszeit; die Prozession war zu Ende, die unruhig hüpfende, antreibende, anfeuernde, beschwörende, betörende Melodie verstummt. Zwanzigtausend und mehr waren gesprungen. Nun sprangen sie nicht mehr, aber der Rausch war noch nicht verflogen.

In den Wirtschaften am Markt drängte es sich; solche, die sonst kaum einen Groschen hatten fürs Allernotdürftigste, heute hatten sie Geld. Sie aßen, sie tranken, sie ließen sich’s wohl sein, St. Willibrordus, der Wunder tut, der hatte auch sie erhört an seinem Feste. Wo war alles Leid? Es war vergangen.

Am St. Willibrordusbrunnen stand Bäreb und kühlte mit dem Wasser ihr erhitztes Gesicht und schlürfte mit brennenden Lippen. Auch dem weinenden Dores gab sie zu trinken, und er ward still. Vor ihr hatte ein Vater geschöpft und seinem Kinde den häßlichen Grind am Brunnen gewaschen; ihr ekelte nicht. Köstliches Wasser, heiliges Wasser! Es heilte alle Gebrechen. Feuerwehrleute schleppten einen Körper herbei, sie trugen ihn vorüber ins Kloster zum Guten Kind Jesu. Ach, der Dicke! Bäreb erkannte plötzlich den, den sie trugen. [S. 184] Und sie schöpfte rasch mit der hohlen Hand und rannte der Leiche nach und besprengte sie mit dem erlösenden Wasser.

Und dann dachte sie an den Klas. Er war noch nicht am Brunnen. Stundenlang hatte sie nicht seiner gedacht, nun aber; und noch in demselben Rausch wie vordem bebten ihre entflammten Sinne. Wenn er doch käme! Es verlangte sie heiß nach ihm. Sie mußte sich mitteilen, ihr Herz war zu übervoll. Heiliger Willibrord – Klas, Klas – wo blieb er denn?! Ah, da stand er ja! Sie stürzte auf ihn zu.

Er hatte schon lange hier gestanden und auf sie geharrt, sie hatten sich nur nicht gesehen in der strömenden Menschheit. Sie preßten sich jetzt die Hände, froh, sich wiedergefunden zu haben. Er war heiß und erregt und froh wie sie. Er hatte ja gut gesprungen, er war so gewiß, daß der Heilige ihn gehört hatte. Im Schatten der Kirche, in einem Winkelchen, zog er sie an sich. Sie ließ sich gern streicheln – heiliger Willibrord! Der segnete sie heut.

Sie flüsterten, sie tuschelten, die Wangen nah zu einander geneigt. »Biste müd?« fragte er zärtlich.

Sie verneinte lachend. Oh nein, müde war sie nicht, nur ein Beben in den Knieen war ihr geblieben, ein Rieseln durch den ganzen Leib.

Er trug ihr den Dores, sie hatte sich in seinen anderen Arm eingehenkt. Ihr Herz war so leicht, so voll seliger Lust: nun war es vorüber, es war geschafft! Aber noch einmal hätte sie springen können, so frisch war sie jetzt. Sie schwatzte in aufgeregter Heiterkeit; auf ihren Wangen flammten zwei Rosen. Soviel hatte sie sonst nicht in Wochen gesprochen, die Worte sprudelten ihr vom Mund, sie war eine andere. Fromme Gedanken und Gedanken der Lust rüttelten ihr die Sinne. Zum Markt, zum Markt!

Er wollte ihr etwas kaufen. Glückstrahlend nahm sie [S. 185] von ihm ein Pfefferkuchenherz; sie aß die Hälfte, er aß die Hälfte, nun waren sie wie verlobte Leute, nichts konnte sie trennen. Aber weiter wollte sie nichts von ihm annehmen, er hatte ja auch nicht viel, sie mußten doch heute noch leben. Heute, nur heute noch; an das Morgen dachte keines von ihnen beiden. Heut war der große Tag, der größte ihres Lebens vielleicht – was ging sie das Morgen an?

Auch an Heimat oder Heimkehr dachte jetzt Bäreb nicht; die Stunden flogen, es ging auf den Abend schon. Aber keine Kühlung war zu finden in der Stadt des heiligen Willibrord; noch dunsteten die Gassen, die Pflastersteine sprühten die Hitze aus. Bier um Bier schüttete sie hinab, es löschte den Brand nicht. Er hatte sie auf dem Karussell fahren lassen, hoch vom sich bäumenden Schimmel lachte sie herunter zu ihm und dem Dores, der auch hinauf wollte und die Ärmchen ausstreckte: »Pä, pä!« Zuletzt, damit der Kleine nicht gar zu sehr weinte, gingen sie fort mit ihm; ihr war ohnehin schwindelig.

Wie von geheimer Beängstigung getrieben, lenkten sie ihre Schritte in entlegenere Gäßchen; zwischen dunkelnden Mauern küßten sie sich. Und dann gingen sie weiter und weiter dem Parke zu. Noch war er nicht geschlossen. Ah, hier war Kühlung! Lechzend vor Glut, die Nasenflügel gebläht, mit offenen Lippen traten sie ein.

Aber hier unterm dichten Laubdach war’s doch auch stickig – oder war ihnen, nur ihnen allein so verbrennend heiß?!

Der Dores wollte schlafen, er verdrehte die Äugelchen schon und sagte kein ›Pä‹ mehr. Sie mußten ein Plätzchen suchen; und wenn sie auch hier eingeschlossen wurden, was schadete das? Waren sie nicht zu zweien? Klas war noch nicht hier gewesen, sie zeigte ihm die weißen Frauen im Gebüsch, [S. 186] die nackten Leiber der Nymphen, und er verwunderte sich. Was taten die hier? Ah, hier war’s mal schön!

Von der Stille und der Einsamkeit kühn gemacht, umschlang er sie heftig. Den Dores legten sie in das Gras. Fern grollte ein Donner, sie hörten ihn nicht. Die Bäume waren so hoch, das Dickicht stand so dicht, die Stimmen des Himmels durchdrangen nicht das grüne Gewirr des Gartens.

Und rings erhob sich ein Schlagen der Nachtigallen in den dunkelnden Büschen, ein Locken und Schmettern, ein triumphierendes Lied, das alles andere verdeckte. Es versetzte sie in Entzücken. Sie hatten beide bisher nie solchen Vogel gehört; in der Eifel gibt’s keine Nachtigallen. Sie lauschten, im Grase sitzend, unweit des schlafenden Kindes, die Arme sich um die Schultern legend; beide bleich im wachsenden Dämmerlicht, und in der immer und immer wachsenden inneren Benommenheit. Achtzehn Jahr, und soviel gebetet, und so weit hergekommen, und soviel gesprungen, und nun endlich die erste selige Rast!

Betäubend rochen Jasmin und Flieder, die schwüle Nacht hatte alle Blüten erschlossen; von dem Lindenbaum kam es wie Fluten von Duft, aus der Erde stieg es wie Opferrauch.

Sie taumelten auf – heiliger Willibrord! Ah, sie hatten schon geträumt. Sie wehrten sich gegen eine erschlaffende Mattigkeit, sie taumelten weiter. Da war der Pavillon. Schwül ward es um sie, immer schwüler. Da drinnen mochte es besser sein! Ferne Blitze leuchteten ihnen und die hunderte von Glühwürmchen im verlassenen Park.

Horch, jetzt ein Donnerschlag! »Heiliger Willibrord!« Erschrocken barg Bäreb ihren Kopf an des Beschützers Brust.

Aber sie flohen doch nicht. Süß lächelte über ihnen, aus der zerfallenen Kuppel herab, die Göttin der Liebe.

Die kannten sie noch nicht. – – –


[S. 187]

IX

Dem ›Weißen Schwan‹ hatten die Pfingsttage keinen geringen Trubel gebracht. Seit die Automobile aufgekommen waren, schien es bei den Belgiern Mode geworden, von Verviers über die Baraque in sausendem Tempo über Heckenbroich bis hinunter zur Kreisstadt zu fahren. Gegen diese Geschwindigkeit konnten selbst die Herren Offiziere in ihrem Krümperwagen nicht an, und wenn die Burschen noch so auf die Pferde peitschten.

Leykuhlen hatte während des Festes viel Ärger gehabt. Nicht nur, daß tagsüber das Gerassel in einem fort abwärts ging, auch nachts fand er vorm Rollen der Räder, vorm Rumoren der Heimkehrenden, vorm Hallo der Angeheiterten, vor ihrem lauten Sprechen und Durcheinanderschreien und vor dem huschenden Laternenschein nicht Ruhe. Oder quälte ihn etwas anderes so, daß er nicht schlafen konnte? Wenn er die Kirche ansah, ärgerte er sich erst recht. Noch war kein endgültiges Ergebnis der Wasseruntersuchung eingetroffen – nun, sie würden ja auch nichts finden, das Heckenbroicher Wasser war gut!

Er verschloß seine Ohren, wenn er hörte, daß nachts an den Brunnen hantiert wurde; die Eimer rappelten, die Kette, die sie heraufzog, klirrte, die verrosteten Angeln der Tür quietschten. Wer konnte es den Leuten verdenken, daß sie sich heimlich ein paar Eimer voll ins Haus holten, um nicht am Festtag das Wasser so weither schleppen zu müssen?! Zudem war es sehr warm; es drohte ein heißer Sommer zu werden, und ein heißer Sommer heißt ein trockener fürs Vennland.

Es waren selten klare und warme Pfingsten. Sonst hatte man immer noch den ganzen Tag heizen müssen, diesmal bedurfte es nur am Morgen eines leichten Feuerchens. Die [S. 188] Mittage waren auch hier oben schon heiß, doppelt heiß erst unten im Städtchen.

Der Kellner und der Aushilfskellner, der Hausknecht und die Magd im Schwan konnten nicht genug Getränke herzuschleppen. Wer Selters verlangte, dem machte die schöne Wirtin ein unfreundliches Gesicht, selbst Bier schenkte sie nicht gern aus. Wein: Moselwein, Rheinwein, Bowle und Sekt; so war sie’s von ihren Stammgästen, den Herren Offizieren, gewohnt. Einen kleinen Chartreuse, einen echten Cognac oder Benediktiner hinten nach, das ließ sie auch gelten. Es waren Erdbeeren aus Metz zur Bowle gekommen und französische Treibhauspfirsiche, in Watte verpackt. O, die kostbaren Früchte wurde sie schon alle los, darum war ihr nicht bange! Sie hatte sich zum Pfingstfest in Aachen ein neues Kleid machen lassen, bei einer guten Schneiderin mit Brüssler Geschmack; sie konnte doch hier nicht in dem Nest schneidern lassen, wenn der Heinrich Schmölder auch die Geschmacklosigkeit besaß, seine Tochter solche Kleider anziehen zu lassen. Wie er die Kleine verschimpfierte! Und die sollte nun bald die Braut des eleganten von Scheffler sein?!

»Hihi!« Die schöne Helene lachte hinter Schmölder her, der, wie fast täglich, beim Frühschoppen bei ihr gesessen und ihr sein Herz ausgeschüttet hatte. Der Scheffler, der würde das Geld schon unter die Leute bringen! Sie wußte nicht recht, warum sie das dem Heinrich eigentlich gönnte. Er war doch ihr ältester Freund, er hatte ihr schon die Backen gekniffen, als sie noch in die Schule ging. Sie zuckte die Schultern, die unter dem neuen schwarzen Kleid, das dünn wie ein Flor war, glatt und weiß in ihrer appetitlichen Fülle durchschimmerten. Ihr Rock, auf Seide gearbeitet, rauschte und raschelte; sie lehnte die Arme auf das rote Kissen im geöffneten Speisesaalfenster und gaffte ihrem langjährigen Verehrer nach. Hm, der [S. 189] Heinrich wurde alt! Wie vorsichtig er zutrat, die Jagd machte ihn steif in den Beinen. Den Hut trug er in der Hand, es war ihm heiß, obgleich die Haare dünn waren. »Hihi!« Sie kicherte wieder. Warum saß er denn nicht in der Kirche bei seiner Frau und der Hedwig, da war’s ja hübsch kühl. Einen Bauch kriegte er auch, bah! Sie hielt eine grausame Musterung. Dabei zog sie die kurze Oberlippe noch kürzer herauf, daß man hinter dem feuchten Rot die spitzigen Zähne sah. Wenn der sich einbildete, daß sie ihn leiden möchte! So ein Alter! Immer hatte er etwas zu grämeln. Auf den Scheffler schimpfte er: »Ein Windhund!« Ja, ein Windhund war der, da mußte sie ihm recht geben, aber ein hübscher. Ein famoser!

Frau Helene nahm’s dem schönen Adjutanten weiter nicht übel, daß er von ihr abgeschwenkt war zu dem kleinen Goldfisch – so was wurde man mit der Zeit gewohnt – im Gegenteil, sie behielt immer eine gewisse Fürsorge für ihren früheren Verehrer. Warum wollte der Heinrich dem schneidigen Menschen denn eigentlich seine Tochter nicht geben? Na warte, sie würde die Sache mal in die Hand nehmen, sie würde es schon fertig bringen! Das hatte sie auch dem Scheffler versprochen.

»Warum willst du denn nicht?« hatte sie vorhin zu ihrem ältesten Freund gesagt und ihn mit ganz bösen Augen angeblitzt. »Bist du denn kein Windhund? Deine Frau redste wat vor, janz notwendig haste immer wat zu tun. Nach Ostende jehste auch nit mit, deine Jesundheit verträgt die See nit – haha – nu denn sitzte bei mir! Och du!« Sie zupfte ihn am Ohrläppchen. »Mach du dich nit mausig, lieber Mann!«

Er hatte auffahren wollen, aber eins, zwei, drei saß sie ihm auf den Knieen.

Sie waren allein im großen Speisesaal, in dem die Tische noch mit saucenbefleckten Tüchern vom vorhergehenden Abend [S. 190] gedeckt waren, und ganze Massen von Tellern und ungewaschenen Gläsern umherstanden. Es war noch nicht aufgeräumt. Wer sollte auch sonst wohl so früh kommen?

Heinrich Schmölder, der zu Hause jede kleinste Abweichung von der gewohnten Ordnung streng rügte, sah hier nichts von Unordnung. Er schmunzelte, als die flinken Finger der molligen Frau ihm auf dem Schädel herumkrabbelten. »Du kriegst en Jlatz!« sagte sie, spitzbübisch lachend.

Er wurde verlegen. »Laß, Lenchen, laß! Laß die Dummheiten!« Aber dabei hielt er sie doch fest; es kostete ihr Mühe, sich ihm zu entwinden. Ihr neues Kleid, das sich so prall über den Busen spannte, zog seine Blicke unwiderstehlich an; und auch seine Finger. Er war rot und heiß. Sie hatten in aller Frühe schon einer schweren alten Flasche Rheinwein den Hals gebrochen und einen Cognac vorabgeschickt.

»Wat sagste dann, wenn du nu nach Haus kömmst, woher du so heiß bist?« fragte sie boshaft und schlug ihm auf die Finger. Sie gab sich dann selber die Antwort, indem sie ihm nachäffte, wobei sie das Kinn und die Mundwinkel herabsinken ließ und die Stirn krauste: »Jeschäfte. Selbst am Sonntag hat man keinen freien Moment!«

Er wußte nicht, sollte er lachen oder böse werden. Lachen war das Gescheitere, so lachte er denn: in der Tat, so pflegte er zu seiner Frau zu sagen! Heinrich Schmölder war nicht ohne Humor; den hatten die Schmölders alle, dafür waren sie aus dem Rheinland gebürtig. »Frech Dingen,« sagte er schmunzelnd. Er betrachtete sie mit Wohlgefallen. Ja, das Lenchen! Wenn er daran dachte, daß er einmal seinen Frühschoppen ohne sie trinken müßte, konnte ihm jede Lust dazu vergehen; das ganze Nest war leer und öde ohne diesen lustigen Vogel. O, und Verstand hatte sie auch! Sie traf den Nagel auf den Kopf.

[S. 191] Die schöne Helene hatte nicht geflunkert, wenn sie behauptete, Heinrich Schmölder bespräche alles mit ihr. In der Tat war es so; sie gab an, was für Anordnungen in der Fabrik getroffen wurden – was für Bestimmungen im Hause getroffen wurden – ob Hedwig in Pension kommen sollte oder nicht in Pension – ob Frau Schmölder ins Bad reisen sollte oder nicht ins Bad – ob sie ein neues seidenes Kleid bekommen sollte oder keins – ob andere Kutschpferde gekauft werden sollten oder nicht – und jetzt endlich, ob Hedwig Frau Oberleutnant von Scheffler werden sollte oder nicht.

»No, nu mal ernsthaft, Lenchen, wat rätst du mir?« hatte Schmölder besorgt gefragt. »Man will doch nit seine einzige Tochter so wegjeben, sie nur jeheiratet sehen des Jeldes wegen! Man will sie doch jeliebt wissen, wirklich jeliebt!«

»Jeses, er liebt sie ja!« Sie schrie es lachend. »Du altes Schaf, er liebt sie ja, siehste dat dann nit?«

Nein, das hatte er nicht gesehen. Galant war Scheffler gegen die Hedde, aber das war doch noch keine Liebe!

»Lehr du mich die Liebe kennen!« schrie sie ganz erbost und lachte sich doch gleich darauf eins. Ja, dumm war der Heinrich noch lange nicht, er hatte es im Gefühl, daß es seinem Beutel galt. Aber wart, sie wollte ihn schon dumm machen! Beide Grübchenellenbogen, die der kurze Ärmel frei ließ, auf den Tisch stemmend, das Gesicht in die Hände stützend, so sich nahe, ganz nahe zu ihm hinüberneigend und ihm einen Blick zuwerfend, unter dem es ihm heiß wurde, sagte sie weich, fast träumerisch: »O, ich weiß, wat Liebe is! Und ich sag dir, der Scheffler liebt sie. Er hat sie janz schrecklich jern. Hier –« sie zeigte auf irgend einen Stuhl – »hier hat er jesessen, abends, als sie alle fortwaren, janz allein –«

»So – janz allein?« Er unterbrach sie eifersüchtig. »Und wo warst du?«

[S. 192] »Jott im Himmel, laß mich doch ausreden! Hier –« sie verfiel wieder in den vorigen pathetischen Ton – »hier hat er jesessen, janz allein, und hat jeseufzt, dat sich mir dat Herz im Leib erumjedreht hat. Wir waren müd, wir wollten jern zumachen. ›Herr von Scheffler,‹ sag ich zu ihm – er hört nit. ›Herr Oberleutnant,‹ sag ich zu ihm – er hört nit. Ich wurd schon kribbelig. ›Herr Adjutant‹ – er hört wieder nit. ›Herr Hauptmann‹ – da hört er endlich. ›Haben Sie Zahnping?‹ ›Nein!‹ Er wird janz rot. ›Herzping?‹ Ich hab ihn jenau beobachtet, ich wußt doch von dir die Jeschicht mit der Hedwig. Ich sag dir, man sah et ihm an, wie schlecht dat et ihm zu Mut war! ›Herzweh!‹ – er nickt. ›Ach, werte Frau, was bin ich so unglücklich!‹ Und dann legte er los, er hat mal ordentlich sein Herz ausjeschüttet. Nee, die Hedwig wär so reizend, so süß, und er möcht sich so schrecklich jern mit ihr verloben, et wär ihm so, als könnt jede Stund ’ne andere kommen, der sie ihm wegschnappt. Und sie wär ihm auch so jut, dat wüßt er wohl. Weißte dat dann, Heinrich?« – sie beobachtete den verdutzten Vater unter halb zusinkenden, blinzelnden Lidern – »wenn er sie ansieht, schlägt sie die Augen nieder, wenn er ihr die Hand drückt, drückt sie wieder, wenn er sie auf den Fuß tritt, tritt sie –«

»Dat is nit wahr,« brüllte Schmölder und schlug auf den Tisch, daß die Gläser zu klirren anfingen. »Dat tut meine Tochter nit! Dat denkst du dir aus – dat tust du bloß!«

»No, denn – –!« Sie zuckte die Achseln; sie sah ein, sie hatte da etwas Dummes gemacht und zog geschwind wieder zurück. »Wat du dir auch jleich denkst,« schmollte sie, »wenn du mich nit ausreden läßt! Ich sag dir, er sprach so, als ob sie ’ne Engel vom Himmel wär! ›So jut, so rein, so unschuldig – riesig wohlerzogen‹ – ich sag dir, zum Heulen schön! Aber du, du wärst immer so jarstig zu ihm, so abwesend, so mißtrauisch, [S. 193] als wollt er dich bestehlen – und dann hat er jeweint!«

»Och, Dummheit! ’ne Mann, der weint, den mag ich nit,« sagte Heinrich Schmölder trocken. »Tränen – ich pfeif drauf! Da steckt nix hinter als die Angst: wie krieg ich meine Schulden bezahlt?!«

»Dat is aber jemein von dir!« Nun wurde sie wirklich böse: sollte all ihre Mühe an dem Dickkopf hier so verschwendet sein?! Wütend stieß sie gegen den Tisch, daß die geleerte Flasche herunterpolterte und auf der Diele zerklirrte. »Dann jeh wo anders hin, wenn du mir nit mehr jlauben willst – ich bin beleidigt.« Sie warf die Lippen auf und den Kopf in den Nacken. Ihr Kleid raschelte der Saaltür zu.

»Wat fällt dir denn ein, wat tu ich dir denn? Lenchen!« Er schrie hinter ihr her, sprang auf und wollte sie halten, aber sie war geschwinder. Fort war sie.

Erst als Schmölder gegangen war, unwirsch, unzufrieden mit sich selber und verstimmt über diesen unangenehmen Abschluß seines gewohnten Frühschoppens, war sie wieder zum Vorschein gekommen. Sie machte eine lange Nase hinter ihm drein: was der jetzt lief! Er wollte gewiß noch vor seiner Frau zu Haus sein! Sie lachte in sich hinein: als ob das was machte, wenn die es merkte, daß er hier bei ihr gesessen hatte! Freilich, zuerst hatte die sie geschnitten, den Kopf weggedreht, wenn der Weg sie am Schwan vorüberführte, aber nun –!

Die Glocken fingen an zu läuten, das Hochamt war aus. Helene blieb im Fenster liegen und ließ die Kirchgänger bei sich vorüber passieren. Alles mußte hier vorüber, das breite Eckhaus des Weißen Schwans beherrschte zwei Straßen, die beiden Hauptstraßen der Stadt; außer diesen gab’s nur noch ein paar winzige Gäßchen, durch die niemand ging. Die Wirtin vom Schwan bekam viele Grüße; da war nicht einer unter [S. 194] den Herren, der nicht den Hut gezogen hätte.

Auch der Landrat grüßte, ein wenig steif, ein wenig förmlich; wie immer korrekt. Sie errötete leicht – oh, sie konnte auch grüßen wie eine Dame, nicht nur nicken! Aber dabei stieß es sie inwendig vor Lachen: den hatte sie auch schon anders gesehen, nicht immer war er so unnahbar! Ein schöner Mann, ein feiner Mann. Wenn kein Militär oben lag, den langen Winter durch, war er die einzige Erholung!

Jetzt kam Frau Heinrich Schmölder vorüber. Aha, sie rauschte in Seide! Puh, wie nobel, aber doch kleinstädtisch! Die Blicke der beiden Frauen trafen sich. Jede zögerte einen Augenblick: wer mußte nun zuerst grüßen? Dann nickte die Besitzerin des Schwans und Frau Heinrich Schmölder nickte wieder, ganz gleichgültig – nein, nicht gleichgültig, recht freundlich, so daß Helene sich gedrungen fühlte, zu rufen: »Anjenehme Feiertage, Frau Schmölder!«

»Danke sehr, gleichfalls!«

Hedwig war nicht bei der Mama. Sie kam erst ein ganzes Weilchen später, sie war noch beim Konditor gewesen, um an die Rahmtorte für heute mittag zu erinnern. Ach, wer weiß, vielleicht machte ›Er‹ heute am Feiertage einen Besuch! Papa konnte ihn dann doch unmöglich hinauswerfen, Mama würde ihn sicherlich auffordern, zum Essen dazubleiben. Hedwigs rundes Kindergesicht war ein bißchen schmäler geworden; wenn sie sich in dem Spiegel sah, seufzte sie immer. Ach, er war doch so nett – warum Papa nur eigentlich durchaus nicht wollte? Onkel Josef war auch so eklig. Früher hatte sie ihn schrecklich gern leiden mögen, förmlich für ihn geschwärmt – er war doch so besonders, ganz anders wie Papa – aber nein, nun mochte sie ihn gar nicht mehr. Er hatte neulich zu Papa gesagt, als der so loswetterte über den unvermuteten Abendbesuch des Herrn von Scheffler: ›Du hast ganz recht, Heinrich. [S. 195] Diesmal bin ich deiner Meinung!‹ Wie scheußlich von Onkel Josef, ganz greulich, daß er nun auch noch gegen sie Partei nahm. Ach, lieben heißt leiden. Ach ja, alles war gegen ihre Liebe! Sie hatte schon so viele Tränen darum vergießen müssen.

Hedwig Schmölder glaubte oft, sehr unglücklich zu sein. Und dazu kam noch die Ungewißheitsqual: liebte er sie denn wirklich? Papa war so gräßlich verletzend, er sagte: ›Ach was, Liebe! Dein – will sagen, mein Geld hat er im Auge!‹ Und Onkel Josef sagte Ähnliches, wenn auch nicht ganz so grob; aber es schmerzte darum nicht weniger. Die Siebzehnjährige seufzte im strahlenden Pfingstsonnenschein, als sie niedergeschlagenen Blickes über das spitzige Pflaster der uralten Gasse schritt, im blaßblauen Kleid zarter erscheinend als sonst, zart wie die blaue Blume des Flachses im goldenen Korn, und blütenjung.

»Nanu, Hedchen?«

»Guten Tag!« Hedwig errötete. Eigentlich mochte sie die da, die aus dem Fenster so lustig auf sie herunterlachte, gar nicht leiden; aus verschiedenen Gründen nicht. Erstens war die immer so dreist – Onkel Josef hatte sie mal mit einem schrecklichen Wort benannt – zweitens war es eine Unverschämtheit, immer noch ›Hedchen‹ zu sagen, und drittens hatte Scheffler einmal gesagt: ›die schöne Frau im Weißen Schwan!‹ Schön, schön, die war doch nicht schön?! Und viertens – nun, viertens mochte sie sie überhaupt ganz und gar nicht leiden. Warum eigentlich nicht? Darüber wurde sich Hedwig nicht ganz klar, aber es stieß sie immer etwas zurück von der blonden Frau, die von aller Welt gekannt und eigentlich von aller Welt gut gelitten war. Aber heute konnte sie nicht mit knappem Gruß vorüber. Die Frau sah sie mit einer so bedeutungsvollen Miene an, als habe sie ihr etwas zu sagen. Wie bezwungen [S. 196] trat Hedwig dem Fenster näher, erwartungsvoll hob sie ihr junges Gesicht.

Helene lehnte sich weiter hinaus, das volle Weiß des Busens quoll fast zum Ausschnitt des Kleides heraus. »No, Hedchen, so traurig heut?«

Hedwig wurde rot, sie fühlte es und ärgerte sich über sich selber; unwiderstehlich schossen ihr Tränen in die Augen.

»No, no,« tröstete die andere, »man macht doch kein so ’n trübseliges Jesicht, wenn die Sonn so hell scheint! Hat der Papa als emal wieder jeschimpft? Laß doch den Alten reden – wat de will!« Sie schlug ein Schnippchen. »Jegen die Lieb is nix zu machen, die setzt doch ihren Kopf durch!«

»Meinen Sie?« Unsicher sah das junge Mädchen zu der Frau empor.

Jetzt lachte Helene spöttisch hell auf: war die noch dumm! Aber dann kam ihr die Gutmütigkeit: wahrhaftig, ein lieb Dingelchen, mit der würde der Scheffler grad machen können, was er wollte! Sie streckte ihre weiße Hand aus, an der die zwei Eheringe breit-golden glänzten, und streichelte das erwartungsvoll zu ihr aufgehobene Gesichtchen. »Besuch mich doch mal, Hedchen – pardon, besuchen Sie mich doch mal!« Sie lachte neckend: »Ich muß doch nu ›Sie‹ sagen, wenn eine bald Braut wird, nit wahr?«

»Ich – ich bin ja gar nicht bald Braut,« stammelte die Verwirrte.

Die lachende Frau gab ihr einen freundschaftlichen Nasenstüber: »Tu dich nit so, mir macht ihr kein X für ’n U. Ich weiß Bescheid. Ich kenn doch den Scheffler als lang jenug – de brennt lichterloh!«

Hedwig stockte der Atem: war das wahr, wirklich wahr, liebte er sie wirklich so sehr? Ein freudiger Schreck durchrieselte sie. Sie fragte nicht, woher die blonde Frau das [S. 197] wußte, es fiel ihr auch gar nicht ein, sich darüber zu wundern. Glückselig, von einem Rosenschimmer überstrahlt, der ihr unbedeutendes Gesichtchen verschönte, sagte sie leise: »Ist das auch wirklich wahr?«

»Auf Ehre!« Die warme, mollige Frauenhand drückte kräftig die ganz kalt gewordenen Mädchenfinger. »Ich jratuliere, Kind! Der Scheffler ist reizend, so jibt’s jar keinen zweiten mehr!«

»Aber Papa will doch nicht!« Schon wieder senkte die Kleine betrübt den Kopf. »Er schilt immer so, wenn Egon Besuch macht. Ach, wann soll sich Egon denn erklären?«

»Och, der!« Die schöne Witwe schlug eine helle Lache auf. »Der findt schon en Jelejenheit!« Und dann flüsterte sie vertraulich: »Heut kommt er her – janz bestimmt – um zwei Uhr hat er Diner bestellt – kannste nit mal vorkommen, so janz wie von unjefähr?«

Er kam, er kam! Selig strahlte Hedwig. Aber hier herkommen?! Nein, das tat sie nicht.

Helene zuckte die Achseln: »Jott nee, so etepetete?! Aber wat tut man nit für verliebte Leut! Der Scheffler is ja ’ne alte Freund von mir, und – weißte wat, Hedchen?« Flüsternd neigte sie ihr hübsches Gesicht auf das des jungen Mädchens herunter, daß dieses den ganzen warmen Duft, den ganzen süßlichen Parfümgeruch einatmete, der die schöne Frau immer umwogte. »Weißte wat, sei heut nachmittag, so um fünf erum, in eurem Jarten – mach die Jattertür auf, dat er nit zu schellen braucht – ich schick ihn hin – dann könnt ihr euch jut aussprechen. Wenn ihr erst emal einig seid, muß der Alte auch ja sagen. Haste mich verstanden? Um fünf, nach dem Diner – dat is heut sehr fein, Sekt trinkt er auch – ich schick ihn – –«

Sie fuhren auseinander. Es kamen gerade Bekannte die [S. 198] Straße entlang, und der erste Wagen mit Gästen fuhr beim Schwan vor. Hedwig hatte nur noch gerade Zeit, bedeutungsvoll ›Ja‹ zu nicken. Jetzt gab’s keine Bedenken mehr. –

Eine Stunde später strömten die Gäste schon. Wagen auf Wagen, und die verhaßten Automobile. Wie Ungetüme saßen die Automobilisten darauf, um sich dann zu entpuppen als elegante Kavaliere aus Belgien, die mit ihren schicken Damen hier das Pfingstfest zu feiern gedachten.

»Hören Sie mal, Donnerwetter, Helene, so hören Sie doch mal!«

Die Herren vom Lager fühlten sich heute etwas hintenangesetzt: es waren zu viel Fremde da, die auch gut dinierten und Sektpropfen springen ließen. Die schöne Frau Wirtin wußte nicht, wem sie zuerst ihr Lächeln schenken sollte.

»Die Frau muß ’nen Docht haben, ’nen höllschen Docht!« Der Stabsarzt konnte nicht umhin, dies bewundernd anzuerkennen. Nun ging es schon auf fünf Uhr, und sie war noch auf keinen Sitz gekommen. Bald hierhin, bald dorthin; bald wurde da was gewünscht, bald da. Der ganze Saal rappelvoll, Tisch eng an Tisch gerückt; kaum zum Durchwinden, und dabei eine Hitze, ein Lärm, ein Geklapper! Und sie immer mitten dazwischen, immer lächelnd, immer fidel, nicht ein bißchen müde, appetitlich, zum Anbeißen nett in dem klaren Kleid, das unter seinem dünnen schwarzen Flor den Busenansatz und die weiße Atlashaut schimmern ließ.

Wo’s not tat, griff Frau Helene, sie, die sonst so träge war, selber mit an; heute galt’s. Das war eine Ernte, nicht nur an Geld, nein, auch an bewundernden Blicken. Mit ihren schönen Armen hob sie eine Schüssel, reichte sie über Tische und Stuhllehnen und trug sie, ein wenig erhoben, trotz ihrer Schwere. Sie fühlte es, daß sie sich so gut machte, und das [S. 199] gab ihr die Lust, selber mit einzugreifen. Ihre Blicke jagten die Kellner.

Wie eine Königin, dachte Abeking. Nein, wie ein Bild! Er stieß den Stabsarzt an: »Sieht sie nicht aus wie Tizians Tochter?«

»Nanu!« Der gemütliche Stabsarzt lachte sich eins. »Die Dicke, in der Tat, die haben beide gemeinsam!«

»Von wem reden Sie denn eigentlich?« Scheffler wußte nichts von Tizians Tochter; er war im Kadettenkorps erzogen, er hatte nicht Zeit gehabt, Galerien zu besuchen.

»So so, ganz recht,« sagte er zerstreut, als Abeking, empört über den Stabsarzt, der von ›Dicke‹ sprach, den Streitfall vorlegte. »Sehr nett, ja ja!«

Was kümmerte es ihn, ob Helenchen dick oder dünn war? Er legte sich in Gedanken eine Liebeserklärung zurecht. ›Um fünf,‹ hatte ihm Helene vorhin zugeflüstert, ›um fünf is Hedwig Schmölder janz allein im Jarten. Dat Tor steht offen. Ran, immer ran an die Jewehre! Die Kleine is verliebt bis über die Ohren. Na, nu macht schon voran, ihr zwei!‹ Ja, in der Tat, Helene hatte ganz recht, es war Zeit! Wie lange noch, und das Kommando auf dem Platz hatte ein Ende, er kam in die Garnison zurück; und wenn er auch wohl nächstes Jahr wiederkam, dann schwamm der kleine Goldfisch vielleicht schon in eines anderen Teich. Verdammt! Er zerknickte einen Zahnstocher in winzige Stückchen und grübelte vor sich hin. Es war doch schwer, schwerer als er sich’s gedacht hatte, sich so hinterrücks der Tochter zu versichern, wenn man weiß, daß einem der Vater nicht grün ist. Es vertrug sich nicht so recht mit dem Begriff der Ehre. Aber was half’s, machten’s andere Kameraden nicht auch so? Wie sollte man sonst zu einer reichen Frau kommen? Und die mußte er haben!

[S. 200] Energisch den Stuhl zurückstoßend, stand der Offizier auf. Er zog die Uniform stramm herunter, preßte die Brust heraus und zwängte die Handschuhe an. »Ich komme nachher wieder,« murmelte er gepreßt zwischen den Zähnen. »Es ist mir zu heiß hier – unerträglich! Adieu, auf Wiedersehen – nein, Kaffee will ich nicht, nachher Bowle!« Er schlug die Hacken zusammen, er hatte nicht den Mut, die Kameraden anzusehen.

Leutnant Schmidt machte einen seiner Witze hinter ihm drein. Der Stabsarzt lächelte ein wenig malitiös. Sie wußten schon, wohin Scheffler stapelte.

Der kleine Abeking blieb ganz ernsthaft: das war doch immerhin eine Sache, sich so für’s Leben zu binden, ein großer Schritt, ein gewagter Schritt! Auch er hatte einstmals von Verloben geträumt, mit einem jungen Mädchen im weißen Kleid. Er hatte sich das immer entzückend gedacht, jetzt langweilte ihn das zum Sterben. Er gähnte und trommelte auf den Tisch: wie konnte Scheffler nur?! Sein Blick suchte Helene. Ob sie denn nun nicht bald Zeit fand, hierher an den Tisch zu kommen? Er winkte ihr mit den Augen – sie sah gerade her zu ihm und lachte – eine stürmische Bitte sprach aus seinem hübschen Gesicht. War er denn dazu hier heruntergekommen, gab er denn dazu soviel Geld aus, noch dazu Geld, das nicht einmal das seine war, um sie mit so vielen zu teilen?! Die Röte des Zorns und der Eifersucht schlug ihm zu Kopf; er hatte auch hastig getrunken, bei der Hitze wirkte alles doppelt. Er hätte alle diese hier, die sie mit den Blicken verfolgten, niederknallen mögen, und sie dann in seine Arme reißen und küssen – ha, küssen! Seine Blicke verschlangen sie.

Schelmisch abwehrend schüttelte die schöne Frau den Kopf. Dabei spitzte sie aber doch den Mund wie zum Kusse. Ihre Lippen bewegten sich jetzt leise, er glaubte ein ›Nachher‹ oder ›Später‹ von ihnen abzulesen. Unruhig rutschte er auf [S. 201] seinem Stuhl. Es war unsagbar öde; die Anekdoten von Schmidt kannte er schon alle, oder wenn er sie noch nicht kannte, wußte er doch, worauf sie hinausliefen – wie konnte der Stabsarzt nur so darüber lachen?! Zu blöd! Seine Gedanken folgten wieder Scheffler: der verlobte sich nun – auch gräßlich – wie konnte sich ein Mann, ein Offizier, mit solch einer törichten, kleinen Person verloben, die noch von nichts eine Ahnung hatte, die kalt war wie eine Blüte im Schnee, ohne Glanz, ohne Duft?!

Sein Blick suchte wieder die schöne Frau. Jetzt sah er sie an einem Tisch stehen und mit ein paar Belgiern scherzen. Unerhört, unerträglich! Er hielt es nicht mehr aus. Wie Scheffler vorhin, so stieß auch er jetzt seinen Stuhl zurück und hörte nicht darauf, daß die Kameraden sagten, er solle doch noch sitzen bleiben, sie kämen nachher auch mit an die Luft. Er rannte aus dem Saal.

Ah, diese Qualen! Er glaubte nie ähnliche empfunden zu haben. Er hätte weinen mögen. Und doch konnte er ihr nicht böse sein, ihr nichts vorwerfen, es lag ja in ihrem Geschäft, mit jedem freundlich sein zu müssen. Ach, daß sie dazu verdammt war, Wirtin im Weißen Schwan zu sein! Würde sie denn nicht auch wo anders hin passen? Nein, nein – ja natürlich – ja, ja, ganz entschieden! Wer sagte da: nein?! Wie ein Wilder sah er sich um. Auch in anderer Lebenslage, in jeder Situation würde Helene am Platze sein. Besser als hier; für hier war sie viel zu schade! – –

Wenn sie nun herauskäme aus dieser Sphäre?! Ein Gedanke, so groß und ungeheuerlich schoß ihm plötzlich durch den brausenden Kopf, daß er vor sich selber davonrannte.

Er rannte die Gasse zu Ende, über Treppen und Treppchen, den steilen, schmutzigen, zwischen zerbröckelnden Mauern verborgenen Engpaß hinan, der zur Burgruine hinaufführte. [S. 202] Dort war er ganz einsam. Aus dem Städtchen herauf kam ein Sumsen, aber es wirkte hier oben nicht anders wie Bienengesumm.

Den Kopf in die Hand gestützt, saß der Leutnant auf einem Mauerrest und blickte starren Auges hinab in die Enge der Gäßchen, die unter ihm lagen. Auf das hochgegiebelte Schieferdach des Weißen Schwans – die Wetterfahne, ein sich ringelndes Weib mit dem Fischschwanz, stand gerade auf ihn gerichtet – hätte er spucken können. Er stierte auf den im Nachmittagssonnenlichte glitzernden und glimmenden alten Schiefer. Da unten wohnte sie – ah, eine Nymphe, eine Nixe, von den Drachen bewacht, die an den Ecken der Dachrinnen auf die Straße spieen! Er seufzte und starrte, bis ihm die Augen übergingen. Wenn er nun den Abschied nähme, ihr zuliebe –?!

Das war ein abenteuerlicher Gedanke, ein ganz verrückter Gedanke, der nirgendwo anders entspringen konnte, als auf dem Moorgrund des öden Schießplatzes, als hier in der Enge der versunkenen Stadt. Er hatte ihn behext, das fühlte er wohl. Er wurde ihn nicht los. Und ihm war, als hätte er erzählen hören, der schönen Helene wegen hätten sich schon einmal zwei Offiziere duelliert. Warum auch nicht? Sie konnte schon junges Blut dazu bringen. Man war doch kein Fisch, wenn man auch hier kaltgestellt war – ah, so kalt! Mit einem Laut des Unmuts reckte sich der junge Offizier und heftete dann seinen Blick auf seine blanken Stiefelspitzen; er konnte nicht mehr dahinabsehen, es zog ihn sonst hinunter mit Allgewalt.

Es war doch schon manches Mal vorgekommen, daß Offiziere einer Heirat wegen den Abschied nehmen mußten! Erst kürzlich war ein Bekannter von ihm zu Krupp gegangen – es ging ihm da sehr gut – sie lebten sehr glücklich. Warum sollte nicht auch er bei Krupp ankommen?!

[S. 203] Wahrheit und Dichtung vermischten sich in des jungen Mannes Kopf; dabei war er benommen vom hastig getrunkenen Wein, seine Augen sahen nicht klar mehr, der blinkernde Schein, der auf dem besonnten Schieferdach lag, machte ihn ganz verdreht. Er schloß die Augen, um nicht mehr hinsehen zu müssen. Er schlief ein, aber in seinen Träumen spukte die schöne Helene, viel schöner, viel hübscher noch, als sie in Wirklichkeit war. Mit einem lauten Ruf fuhr er auf und streckte die Arme aus – ah, eben war sie ihm an die Brust gesunken!


Es war nicht möglich, noch länger auf Scheffler zu warten. Abeking war zwar dafür gewesen, noch eine Stunde sitzen zu bleiben. Er war so unbefriedigt, so unglückselig – sollte er wirklich so gehen?! Helene hatte noch immer nicht Zeit gefunden, sich zu ihnen zu setzen; nur einen zärtlichen Blick hatte sie ihm dann und wann zuwerfen können, und es war ihm gelungen, ihr hinter dem hohen Büfett, das gegen die Blicke aus dem Saal schützte, einen flüchtigen Kuß zu rauben. Er hätte bis zum Morgengrauen geharrt.

Aber die beiden anderen, die übergenug hatten, fanden es rücksichtslos von Scheffler, so unpünktlich zu sein. Sie bestanden darauf, anspannen zu lassen; Schwiegervater würde Egonchen schon in der Equipage nach Hause schicken.

Wie ein Träumender bestieg Abeking den Wagen: Helene hatte ihm eben noch ein Zeichen gegeben, ein Zeichen! Was meinte sie damit? Als sie aufgebrochen waren, an den Kellner gezahlt und mit Geklirr und Gerassel das Lokal verlassen hatten, war sie ihnen gefolgt in den Hausflur. Dort brannte nur eine einzige Lampe; es war viel zu wenig Beleuchtung für den tiefen und hohen, wie in einem Kloster gewölbten Gang. Aber ihm war’s heut gerade recht so. Während der Stabsarzt und Schmidt scheltend nach ihren Mänteln suchten, [S. 204] hatte sich Helene dicht an ihn geschmiegt, er fühlte ihre weiche Hand an seiner Wange. Sie war heiß und erregt, er roch den Weindunst ihres Atems, aber das, was ihn bei einer anderen zurückgestoßen haben würde, fiel ihm bei ihr nicht auf, oder es störte ihn doch nicht. Arme Frau – sie hatte so vielen zutrinken müssen! Er fühlte sich plötzlich wie ihr Erretter, ihr Ritter.

Und sie hatte heute nichts von der Schnippischkeit, von dem neckend-überlegenen Ton, mit dem sie sonst die jungen Leutnants abzufertigen pflegte. Der kleine Abeking mit den treuherzigen Augen gefiel ihr gut: so jung, so jung, ah, so ein ganz junger war doch tausendmal netter, als so ein alter ›Knopp‹ wie Schmölder zum Beispiel! Netter auch als der Stabsarzt seligen Angedenkens, netter selbst als der schöne Egon, netter als viele, viele andere. Er war schüchtern, er traute sich nicht so wie die anderen, das gefiel ihr am allerbesten an ihm. Ein Gesicht hatte er fast wie ein Mädchen, fein und zart, trotzdem er schon braun gebrannt war wie eine Haselnuß. Und was er für ein niedliches Schnurrbärtchen hatte! Sonst, wenn er daran herumzwirbelte, während seine Blicke an ihr hingen, hätte sie immer sein hübsches Gesichtchen zwischen beide Hände nehmen mögen: ›Da haste en Bützken, lieber Jung!‹ – aber heute kam er ihr männlicher vor, unternehmender. Als er ihr heute hinter dem hohen Büfett einen heftigen Kuß aufdrückte, hatte sie etwas von einer Leidenschaft gefühlt, die auch ihr immer bereites Herz gleich mit in Flammen setzte. Als sie sich jetzt im dunkelnden Flur an ihn drückte, mit weichen Fingern seine Wange streichelte, war Verliebtheit in ihrem Tun: wahrhaftig, das war kein dummer Junge mehr, mit dem man ein bißchen liebäugelte, den man hinhielt von einem Mal zum andern, das war ein Mann, ein richtiger Mann! »Komm wieder,« flüsterte sie und streifte mit ihren [S. 205] Lippen sein Ohr.

Weiter hatte sie nichts sagen können. Die Kameraden rissen ihn mit fort: »Kommen Sie, kommen Sie, Abeking, wollen in die Klappe!«

Nun fuhren sie alle drei schweigsam zum Lager hinauf. Solange sie noch übers Pflaster des Städtchens holperten, hatten sie von Scheffler gesprochen – der übte sich ja nun in Bräutigamsgefühlen – aber als der Wagen ruhiger und langsamer die steigende Chaussee hinanrollte, verstummte die Unterhaltung. Die beiden gähnten und wickelten sich in ihre Mäntel. Abeking, ihnen gegenüber, machte einen langen Hals und spähte ihnen ins Gesicht: aha, sie schliefen schon! Wenn er nun aus dem Wagen spränge, das Endchen zurückliefe? Eine halbe Stunde kaum, und er wäre bei ihr! Nein, es war noch zu früh, längst noch nicht Mitternacht, der Schwan war noch voller Lärm und Lichter. Schade! Eine glühende Sehnsucht packte ihn, die schöne Frau zu umarmen. ›Komm wieder,‹ hatte sie in sein Ohr geflüstert – was meinte sie damit? Morgen? Übermorgen? Oder – heute noch?!

Während die Kameraden schon fest schliefen, fand er keinen Schlaf, obgleich die Augen ihm fast zufielen und der Kopf ihm verworren war. Sie hatten ihm so oft eingeschenkt; sie hatten’s gut damit gemeint, aber er konnte nicht viel davon vertragen. Nun hörte er in einem fort, wie aus weiter Ferne und doch nah, ganz nah, das ›Komm wieder!‹ Verdammt noch mal, wie sollte er das denn machen?! Er schätzte den Sprung, vom Wagen herab auf die Straße. Merken würden die beiden es jetzt nicht, aber nachher, wenn sie ausstiegen; nachher. Nein, jetzt ging es nicht!

Mit einem Seufzer der Ungeduld zwirbelte der junge Mann sein Bärtchen. Er atmete zitternd-beklommen, in seinen Adern floß es wie Feuer, er hatte kaum die Beherrschung, [S. 206] ruhig sitzen zu bleiben. Mit brennenden Augen stierte er über den Wagenrand. Aber er sah nichts von dem Zauber der schönen Nacht, er sah nur gespenstische Umrisse. Daß da links vom sich windenden Band der Straße tief unten im Tälchen der silberne Bach glänzte, und goldene Sterne sich in ihm spiegelten, sah er nicht. Er sah nur immer die begehrlichen Augen der schönen Frau. In dem Murmeln und Plätschern, das der über Steine herabfallende Bach zu ihm heraufsandte, hörte er nur die flüsternde Stimme: ›Komm wieder!‹

In dieser Nacht brauchte es keiner Nachtigallen-Lockung. – – ›Komm wieder!‹ – –

Der junge Mensch fieberte. Es klopften ihm alle Pulse. Er mußte zu ihr – ›Komm wieder!‹ – er mußte, es litt keinen Aufschub! Wenn er nun mit den Kameraden hinaufführe bis vors Lager, wenn er dann, während sie schlaftrunken davonwankten, dem Kutscher ein Zeichen machte, ihm einen Taler in die Hand drückte, sich einen Gaul beim Zügel langte, sich hurtig aufschwang und noch einmal hinuntergaloppierte ins Städtchen? Zu ihr!

Und hurre hurre, hopp hopp hopp,
Ging’s fort in sausendem Galopp,
Daß Roß und Reiter schnoben
Und Kies und Funken stoben.

Dies Gedicht fiel ihm immerwährend ein, er konnte den Rhythmus gar nicht loswerden: hurre hurre, hopp hopp hopp. Drunten war’s still, die Lichter waren alle erloschen, an den Laden schlug er, klirrend stieg er ab – trapp trapp trapp – des Rosses Hufe dröhnten – sie würde ihn hören. Sie wartete ja schon auf ihn. Hurre hurre, hopp hopp hopp – haha, das war eine Idee, ein toller Streich! Ein toller Ritt, aber – – wenn die Sonne aufging, war er wieder oben im Lager. Niemand merkte etwas, das Pferd stand im Stall, er selber lag in [S. 207] seinem Bette; nur zum Schein, was braucht es der Rast, wenn man beim Liebchen gewesen ist?!

»Und hurre hurre, hopp hopp hopp!« Er murmelte es in das dumpfe Rollen des Wagens, in das gleichmäßige Schnarchen der Kameraden hinein.

Die Pferde schnauften; der müde Kutscher trieb sie nicht mehr an, aber sie trabten von selber, sie witterten den Stall. Der Mond fing an zu scheinen. Jedes Hälmchen am Wege zitterte tau-beperlt. Die großen Tannen am Chausseerand, die, riesenhaft, vom Bachtal bis hier heraufragen, schimmerten silberig und fingen den Mondglanz mit ihren Ästen auf.

Weitoffenen Auges fuhr der Trunkene in den huschenden Glanz hinein, aber er sah nicht. Wie Leichensteine, weiß und gespenstisch, ragten die Meilensteine am Rand der steil-abstürzenden Böschung. Sein Gesicht schimmerte geisterbleich; er lächelte in sich hinein.


X

Egon von Scheffler war glücklicher Bräutigam. Es hatte schwere Mühe gekostet, den Alten herumzukriegen; vieler Tränen des Töchterchens hatte es bedurft, und vieler Versicherungen des Offiziers. Aber die Helene hatte das höchst schlau eingefädelt – was sollte der Vater jetzt noch machen?!

Es war eine unangenehme Überraschung für Heinrich Schmölder gewesen, als am hellen Pfingstnachmittag seine Hedwig plötzlich zu ihm in die Stube stürmte, wo er auf dem Sofa lag und rauchte, hastig, mit glühenden Wangen und glänzenden Augen sich auf ihn stürzte, die Arme um seinen Nacken schlang und ihr Gesicht an das seine preßte: »Ach, Papa, Papachen, ich bin ja so glücklich!« Was hatte sie sich [S. 208] denn so? Er wußte nicht, wie ihm geschah. Aber als er, sich ein wenig vom Sofa aufrichtend, Herrn von Scheffler in der Tür stehen sah, etwas verlegen lächelnd, aber doch mit einer gewissen Siegermiene, da wußte er alles. Zum Donnerwetter, wie war der denn hereingekommen? Er hatte es doch gar nicht klingeln hören!

Auch Frau Schmölder war, trotzdem ihr der Offizier so wohl gefiel, von der Plötzlichkeit der Sache nicht sehr erbaut: Hedwig war doch noch so jung, man hätte doch noch erst überlegen sollen! Sie sah ihre Tochter so böse an, wie sie nur konnte: fragt man nicht erst seine Mutter um Rat? Und Heinrich sah wiederum seine Frau böse an: sie war an allem schuld, sie hatte die Sache protegiert! Aber Hedwig schien so glückselig, und sie war das einzige Kind. Schulden hatte übrigens Scheffler nicht. Er hatte sofort, nachdem ihn Schmölder zu einer Unterredung in sein Privatkontor gebeten hatte, seine Verhältnisse unumwunden klargelegt: Vermögen hatte er keins, nur eine Zulage gehabt, aber ein gutes Avancement hatte er vor sich, und er war auch niemandem etwas schuldig. Dies gab den Ausschlag.

Mit umwölkter Stirn sagte der Fabrikant ja. Er hätte lieber jeden anderen zum Schwiegersohn gehabt, als einen Offizier; aber wenn er gerecht sein wollte, mußte er sich eingestehen, daß der, an dem er so gern etwas zu tadeln finden wollte, untadelig aus seinem Verhör hervorgegangen war. Die beiden Männer reichten sich die Hände.

»Machen Sie meine Hedwig jlücklich,« sagte der Vater. Es lag eine Bitte in dem sonst so trockenen Ton Heinrich Schmölders, und zugleich ein leis-bange Frage, die der Bräutigam wohl heraushörte.

Er verbeugte sich gehalten: »Ich werde alles tun, was in [S. 209] meinen Kräften steht, Ihr Fräulein Tochter glücklich zu machen. Mein Ehrenwort!«

Ein paar Stunden später nannte man sich schon ›Egon‹ und ›Schwiegerpapa‹, wenn auch vorerst das ›Sie‹ noch beibehalten wurde. Heinrich Schmölder hatte einen feinen Wein heraufbringen lassen; es wurde ein ganz fröhliches Abendbrot. Die Eltern sahen immer wieder ihr Kind an, und das Kind den Bräutigam.

Scheffler selbst war in einer strahlenden Laune. Es war alles so glatt gegangen, es hatte gar nicht vieler Worte bedurft in dem blühenden, lauschigen Garten zwischen den Felsen, und das kleine Mädchen war ihm an die Brust gesunken, errötend, zitternd, und er hatte ihr einen zarten Kuß aufgedrückt. Nun hielt er die Hand der Braut beständig in der seinen. Er sah wohl den immer wiederkehrenden ängstlich-forschenden Blick des Vaters, der ihn über den Tisch weg fast durchbohrte, aber er lächelte zuversichtlich: ja, er hatte dies kleine Mädchen wirklich lieb, herzlich lieb, viel lieber, als er eigentlich gedacht hatte. Es würde schon ganz gut mit ihr gehen!

Es wurde spät, bis der Bräutigam sich verabschiedete, und als ihm dann die Braut das Geleit bis zur Gartentür gab, und er sie da noch einmal küßte, seine Lippen auf die warmen jungen Lippen drückte, mischte sich in diesen Kuß ein aufflackerndes Begehren: wahrhaftig, das hatte er sich doch nicht so reizend gedacht, so ein junges Ding die Liebe zu lehren!

Der Schwiegervater hatte ihn mit der Equipage heraufgeschickt. In der bequemen, weichgepolsterten Ecke lehnte träumerisch der Offizier; er dachte daran, daß der Alte doch eigentlich ein famoser Kauz sei, der, der Tochter zuliebe, auch dem Schwiegersohn so leicht nicht etwas abschlagen würde. Oh, wie klug hatte er doch daran getan, der kleinen Hedwig [S. 210] Schmölder, die die anderen Kameraden etwas unbedeutend fanden, den Hof zu machen! Zufrieden lächelte er in sich hinein. Nun würden sie ihn beneiden! Er strich sich den schönen Schnurrbart. Gedanken, angenehme Gedanken strömten ihm in Menge zu; er war ganz darein vertieft.

Da merkte er doch plötzlich auf. Wie ein Schatten flog etwas an ihm vorüber, ein beschlagener Huf sprühte Funken, ein Pferdeatem, heiß und keuchend, schnob am Wagen vorbei. Was war das?! Er wollte sich erheben, sich umsehen – da – da war auch schon alles verschwunden. Ein Traum, eine Halluzination, eine Täuschung der Sinne. –

*     *

*

Am folgenden Morgen pochte der Bursche vergebens an Abekings Tür. Der Herr Leutnant hatte mal einen festen Schlaf, aber wenn auch noch Festtag war, er mußte doch Appell abhalten! Der Bursche räusperte und scharrte mit den Füßen, zuletzt donnerte er mit der Faust gegen die Tür. Diese war nicht verschlossen; als er sich endlich ohne ›Herein‹ hineintraute, war sein Leutnant nicht da, das Bett gar nicht berührt.

Er stieß unwillkürlich einen Laut des Erstaunens aus, der die ganze Enge der Offiziersbaracke durchhallte.

Adjutant von Scheffler steckte den Kopf mit der Schnurrbartbinde und den mit Creme gesalbten Wangen zu seiner Tür heraus, aus einer anderen fuhr der Stabsarzt; Leutnant Schmidt und noch mehrere zeigten sich im Negligé. Was war denn los? Was brüllte der Kerl denn so und glotzte wie ein abgestochenes Kalb?! –

Wenige Stunden später erschienen verschiedene der Herren in Heckenbroich. Die Leute, die in Hemdsärmeln in ihrem Heckenausschnitt standen, den zweiten Pfingsttag anrauchten und sich des warmen Wetters freuten, wurden ausgefragt: [S. 211] hatten sie heute nicht etwa einen Herrn vom Lager gesehen, einen Unterleutnant von der Artillerie? So und so sah er aus! Man gab ein genaues Signalement. Aber keiner der Bauern wollte ihn gesehen haben.

Kopfschüttelnd kehrten die Herren wieder ins Lager zurück. Donnerwetter, wo steckte der Abeking denn? Vom Platz konnte man sich doch nicht mir nichts dir nichts entfernen. Heute gegen Mitternacht war er mit Schmidt und dem Stabsarzt heimgekommen, sie hatten sich alle schlafen gelegt, und nun war er auf einmal nicht mehr da, und kein Posten hatte ihn sich entfernen gesehen! Es ging nicht anders, man mußte Meldung machen.

Scheffler übernahm diese heikle Mission. Er entledigte sich ihrer mit der ihm eigenen Gewandtheit und Delikatesse, aber er entging doch nicht dem Donnerwetter der Ungnade. Man liebte es so wie so nicht, daß die Herren soviel umherstreiften und in der Nacht erst nach Hause kamen – der Offizier hat ein Vorbild zu sein, sowohl was Pünktlichkeit anbelangt als Solidität – und nun diese Geschichte! Erst als es Scheffler gelang, die vertrauliche Mitteilung seiner Verlobung beim Höchst-Vorgesetzten anzubringen, wurde dieser gnädiger. Er gratulierte seinem Adjutanten in schmeichelhaften Worten: war wirklich nett, sehr nett, diese Verlobung. Schmölders sehr nette Leute, alt-eingesessenes Patriziergeschlecht. Wenn nur alle Kameraden immer so das Richtige träfen!

»Aufrichtigen Glückwunsch, lieber Scheffler. Nun, wenn Sie Hauptmann sind, wird wohl geheiratet, was?«

»Zu Befehl, Herr Oberst!«

Der kleine Abeking war wieder in den Hintergrund gerückt. Die Verlobung von Scheffler wurde allgemein besprochen. Aber als es Mittag wurde und Nachmittag, und der [S. 212] Leutnant noch immer nicht da war, fingen die Kameraden wieder an, und zwar besorgter, auf ihn zu harren. Es war ihm doch wohl nichts passiert?!

Eine glühende Sonne, viel heißer noch als die gestrige, brannte dörrend aufs Lager herab. Die Wellblechbaracken sprühten. Die meisten der Offiziere lagen bei verhängten Fensterchen auf ihren Betten und druselten, einige gähnten im Kasino. Alle hatten sie noch einen gewissen Katzenjammer von gestern, es war das beste, man schlief erst einmal ordentlich aus; zu morgen war ohnedies Felddienstübung anberaumt. Keinem Menschen war es behaglich. – –

Es war schon spät, als es an Bürgermeister Leykuhlens Tür klopfte. Ein paar erhitzte Radfahrer standen draußen.

Bis zum Dunkelwerden hatte man im Lager noch geduldig auf Leutnant Abeking gewartet, aber nun es Nacht zu werden anfing, zudem ein Gewitter drohte – fernes Wetterleuchten durchzuckte ab und zu den sternenlosen Himmel – hatte man plötzlich Angst bekommen. Es mußte Abeking irgend etwas passiert sein, nicht anders war sein unerklärliches Verschwinden möglich. Sämtliche Leute wurden ausgefragt, Unteroffiziere wie Gemeine, Infanterie wie Kavallerie und Artillerie; sie kannten ihn längst nicht alle, aber wenn sie ihn auch nicht gekannt hatten, jetzt kannten sie ihn, bis aufs Tüpfelchen wurde er ihnen beschrieben. Das ganze Lager war aufgestöbert.

War das eine Geschichte! Es surrte wie ein Bienenschwarm. Diese gottverfluchte Gegend, diese verdammte Ödenei! Was einem hier alles passieren konnte! Wie in Südwestafrika; schlimmer war’s in den Wüsten und bei den Hottentotten auch nicht, als hier in der Heide und im Moor. Vielleicht daß der Leutnant nicht hatte schlafen können vor Hitze – ’s war ja auch in den Käfterchen unter dem Wellblech [S. 213] zum Ersticken – er mochte wieder aufgestanden und ungesehen hinauspassiert sein, um sich draußen Erquickung zu holen. Diese verdammten Venn-Löcher, die zugewachsen waren mit Wollgras, die man nicht eher merkte, als bis man drin steckte! Er mochte eingebrochen sein im Halbdunkel, der arme Kerl, in ein tiefes Loch, vielleicht bis an den Hals. Er hatte sich nicht mehr herausarbeiten können. Oder ob ihn einer überfallen hatte, Geld bei dem Offizier vermutend? Vielleicht lag er irgendwo erschlagen hinter einem Busch, war ins Dickicht einer Tannenschonung verschleppt worden! Die Kolonie der Verbrecher, zwischen Lager und Dorf, war nicht weit. Was hat so ein Kerl denn noch zu verlieren?! Wenn er entdeckt wurde, Kopf ab; das war auch nicht viel schlimmer, als da oben zu hacken und zu roden!

Die abenteuerlichsten Gerüchte schwirrten durchs Lager. Wer zuerst solch grausige Befürchtung ausgesprochen hatte, wußte man nicht. Aber wo Zwei, Drei zusammenstanden, sprach man davon. Jetzt war die Befürchtung fast zur Gewißheit geworden: krank war Leutnant Abeking ja nicht gewesen, nein, ganz normal bei Kräften und bei Sinnen! Gesund und munter war er gestern mit Schmidt und Scheffler und dem Stabsarzt zum Diner in den Schwan gefahren, mit Schmidt und dem Stabsarzt auch wieder gesund und munter heraufgekommen. Nicht mit dem Krümperwagen waren sie gefahren, mit dem Break vom Bahnhofswirt. Ob der vielleicht etwas wüßte? Man mußte doch einmal hören. Einige eilten dorthin.

Aber der Bahnhofswirt zuckte die Achseln: er wußte nichts. Dienstbeflissen wollte er aber gleich einmal seinen Knecht fragen, den Kutscher, der die Herren gefahren hatte. Vielleicht daß der eine Ahnung hatte! Die Herren tranken [S. 214] derweil am Büfett einen Cognac, der Wirt ging in den Stall zum Knecht.

Er blieb lange aus, endlich kam er mit einem ganz eigentümlichen Gesicht wieder. Er war blaß, und heftige Erregung zitterte in seiner Stimme: da wäre ihm ja bald sein Pferd ruiniert worden, sein bestes Pferd! Eben hatte der Wallone es eingestanden, als er das Tier zerschunden und blutrünstig im Stall stehen fand, ganz lahm und abgetrieben. Bei den Ohren hatte er den Burschen gepackt, es aus ihm herausgeschüttelt: was war mit dem Gaul passiert? Da hatte der Junge geheult: der Herr Leutnant, den er gestern abend bis vors Lager gefahren hatte, der war noch einmal umgekehrt, gerade als er die Pferde in den Stall führen wollte, hatte ihm, ehe er sich dessen versah, den einen Gaul aus der Hand gerissen, selber Decke aufgeschnallt, Halfter angelegt, sich aufgeschwungen – heidi, auf und davon. Vergebens war er ihm nachgelaufen, vergebens hatte er ›Halt‹ geschrieen. Die ganze Nacht hatte er nicht schlafen können deswegen: was geschah mit dem Pferd? Aber am Morgen, eine Stunde nach Sonnenaufgang, zur ersten Futterzeit, da hatte der Gaul sich wieder vorm Stall eingefunden – und so sah er aus! Er hatte dem Tier schon die geschrammten Stellen gekühlt.

Nun verlangte der Wirt sehr energisch eine Entschädigung: das ging denn doch nicht an, daß ihm die Herren Offiziere die Pferde so kujonierten und zurichteten! Schwer genug mußte man sich’s hier werden lassen, alles anschaffen für die Bedürfnisse der Herren, und wenn sie dann zuletzt abzogen, blieb man mit dem übrigen sitzen, und doch wurde immer und immer noch geredet über ›hohe Preise‹ und ›Geldschneiderei‹!

Die Herren vom Lager bekamen einige sehr unangenehme Wahrheiten zu hören. Der Bahnhofswirt wurde ausfallend; [S. 215] daß man ihm sein Pferd so mir nichts dir nichts entführt hatte, das brachte ihn aus der Fassung.

Die Herren straften ihn mit der gebührenden Verachtung; aber sie schrieben ihren Ärger Abeking aufs Konto: wie konnte der Mensch solch unglaubliche Geschichten machen! Sie waren geradezu wütend: erst betrank sich der Junge und benahm sich dann wie ein Toller! Wahrscheinlich lag er nun irgendwo und schlief seinen Rausch aus.

Fast hätte man Lust gehabt, das Suchen aufzugeben. Patrouillen waren ja schon längst ausgeschickt worden, ein paar Trupps suchten den Schießplatz ab und das ganze anstoßende Gelände; zwanzig Mann waren ins Venn hinaufmarschiert mit der Order, jede Schonung zu durchstöbern, jeden Tümpel zu durchforschen, besonders in der Nähe der Strafkolonie. Aber es war nichts gefunden worden.

Scheffler mußte jetzt zu seiner Braut, der Krümperwagen wartete schon. Aber der Stabsarzt wollte sich doch noch nicht zufrieden geben: man hatte so oft mit dem jungen Kameraden fröhlich zusammengesessen, sollte man ihn nun in irgend einer Patsche stecken lassen?! Er war ein guter Radfahrer, Leutnant Schmidt auch. Die beiden befuhren nun jede Strecke, die nur irgendwie zu befahren war; rechts vom Lager, links vom Lager, und in weitem Bogen um dasselbe herum. Sie riefen, sie schrieen: »Abeking! A–a–beki–i–ing!«

Das Echo am Krummen Ast spottete ihnen nach; auch aus den Tannen äffte es sie. Es wurde dunkel, sie konnten nicht überall fahren, sie mußten absteigen und schieben; sie fluchten und schwitzten. Wie verflogene Glühwürmer irrten ihre Laternen durch die totstille Einsamkeit. – –

Auch sie hatten ihn nicht gefunden. Nun waren sie noch einmal nach Heckenbroich gekommen.

[S. 216] »Meine Herren, waren Sie dann als nach der Stadt erunter?« fragte Leykuhlen, als sie jetzt erhitzt, die dampfenden Stirnen sich wischend, in einer gewissen Nervosität vor ihm standen.

Nach der Stadt?! Sie belächelten fast die Frage. Da war der Kamerad ja gerade hergekommen! Und überdies hätte man von dort längst Nachricht erhalten; Abekings Verschwinden war jedenfalls dort ebenso bekannt geworden wie hier.

Der Bürgermeister schüttelte den Kopf: die Herren irrten, hier im Dorf erregte das auch weiter kein großes Aufsehen, die Leute saßen hinter ihren Hecken. Aber wenn es den Herren darum zu tun war, wollte er wohl noch einmal mit ihnen suchen gehen.

Er rief nach seiner Frau: »Bring mir en Latern, Mariechen!«

Und dann gingen sie, die Offiziere ihre Räder führend, er ihnen vorab mit starkem Schritt. Er schlug die Richtung nach der Stadt ein.

Die Nacht war sternenlos, das zuckende Leuchten am Himmel kam näher und näher. War es so schwül, daß ihnen immer wieder und wieder der Schweiß von den Stirnen rann, oder machte eine seltsame Unruhe, die wohl durch das lange Umherirren hervorgerufen worden war, ihnen so unangenehm heiß? Die beiden Offiziere sprachen flüsternd zusammen.

»Fangen Sie auch an, was unruhig zu werden, Doktor?« fragte leise Schmidt.

»Na, und ob!« Der Dicke wischte sich den Schweiß ab. Dann sagte er lauter: »Herr Bürgermeister, wirklich sehr freundlich von Ihnen, daß Sie mit uns gehen!« Und der andere setzte hinzu: »Ja, ganz famos!«

[S. 217] Der Bürgermeister gab keine Antwort. Er hatte von dem Verschwinden des jungen Offiziers heute vormittag schon gehört, nun war es Nacht, derselbe noch nicht wieder da – sollte wirklich ein ernstlicher Unfall ihm zugestoßen sein? Oder steckte da irgend eine Weibergeschichte dahinter? Seine Mundwinkel zogen sich herab in einem leis-geringschätzigen Lächeln: kein Mädchen von Heckenbroich würde sich zu so etwas hergeben. Aber es gab ja noch andere Frauenzimmer?! Es durchzuckte ihn plötzlich, er schlug sich vor die Stirn: die Helene?! Fast hätte er’s laut herausgeschrieen: zu der mußte man gehen, die einmal ordentlich ins Verhör nehmen! Aber er biß sich auf die Lippen: still, was ging’s ihn an, mochten sie selber ihre Klugheit erweisen, die Herren vom Lager, er hatte sie nur zu führen. Jetzt war es nicht an der Zeit, harte Worte zu sprechen – warum mußten sie immer herunterfahren und erst zurückkommen bei Nacht und Nebel und den Frieden des Dorfes stören mit Rädergerassel und Hallo? – Nein, jetzt nichts davon! Jetzt galt es, einen Menschen zu suchen, der sich verloren hatte, der – er stockte in seinen Gedanken – war der Leutnant am Ende doch verunglückt?! Ein toller Ritt bei der Nacht auf ungesatteltem Pferd! Er schüttelte nachdenklich den Kopf.

Sie waren jetzt bei der ersten scharfen Biegung der zu Tal führenden Straße angelangt. Heut schimmerte das sich windende Band der Chaussee nicht so weiß wie gestern im Mondenschein. Unsicher ging man durchs Dunkel, die Laternen warfen nur einen kleinen Lichtkreis; fratzenhaft tauchte für Momente irgend ein abgehauener Strunk darin auf oder ein Meilenstein am jäh abstürzenden Rande. Unten rauschte das Wildwasser, heute lauter denn sonst, weil kein Windhauch die Tannenwipfel rührte. Regungslos standen sie, Urwaldbäume, gewaltige Riesen, die Dunkelheit noch verdunkelnd [S. 218] durch ihre schwarz ragende Wand.

»Glauben Sie, daß ihm etwas Ernstliches zugestoßen sein könnte, Herr Bürgermeister?« fragte plötzlich der Stabsarzt. Beklommenheit war in der Frage. Und gleich darauf erhob er seine Stimme: »Abeking! A–a–beki–i–ing!«

»Schreien Sie doch nicht so! Warum schreien Sie denn so wie ein Kind im Dunkeln!« wollte Schmidt spötteln. Aber der Spott kam nicht heraus; in seinen Ton mischte sich etwas anderes. War es Angst?

Ein Huhuhen ging durch die Tannen. Jetzt ein schriller Pfiff. Man sah nichts, aber man hörte etwas. Allerlei Nachtgevögel, durch den Ruf aufgeschreckt, ließ sich vernehmen.

»A–a–beki–i–ing!«

»Doktor, was fällt Ihnen de – –«

»Halt!« sagte plötzlich Leykuhlen. Seine Hand legte sich mit eisernem Griff dem Offizier auf den Arm. Er hatte seine Laterne gehoben und dann wieder gesenkt; ihr Strahl fiel auf den weißen Meilenstein, der gespenstisch ragte wie ein Grabmal, auf das der Mond scheint. Er leuchtete rundum und bückte sich dann nieder. Die schmale Grasnarbe, die noch zwischen Straße und Absturz läuft – hier an der schärfsten Biegung wie ein Vorsprung über der Bergschlucht hängt – war aufgewühlt. Hier hatte ein Pferd gescharrt – gescheut! Man sah noch den Schlag des Hufes wider den Meilenstein.

Alle drei Männer sahen es und schwiegen. Es durchfröstelte die Offiziere. Das Wildwasser rauschte herauf durch die Dunkelheit.

Jetzt ein Brechen, ein Knacken von Zweigen. Leykuhlen fing an, von der Chaussee die senkrechte Böschung abwärts zu klettern. Die anderen folgten ihm.

»Hören Sie nichts?« Leykuhlen drehte den Kopf nach den ihm Folgenden.

[S. 219] Nein, sie hörten nichts! Aber der Ton ihres Führers machte sie stutzen. Ihre Räder hatten sie am Chausseerand hingeworfen, die Laternen waren erloschen; des Bürgermeisters Laterne allein leuchtete ihnen notdürftig durch Gestrüpp und Dornengerank und Strünke und Schiefergeröll. Immer steil abwärts ging es, ein böser Absturz. Sie rutschten und kletterten. Hätte man sich nicht an den tiefhängenden Ästen der Tannen anhalten können, man wäre unbarmherzig gestürzt.

»Donnerwetter!« ächzte der Stabsarzt. Aber dann wurde sein Ton plötzlich noch besorgter, er stieß hastig heraus: »Hier scheint schon mal einer vor uns heruntergerutscht zu sein – Achtung! A–a–be–king!«

»Rufen Sie, rufen wir noch emal,« befahl Leykuhlen. »All zusammen!«

Sie schrien jetzt alle drei: »A–a–be–ki–i–ng! A–a–be–ki–i–ng!« Langgezogen und fragend erklang es. Langgezogen und klagend hallte die jenseitige Steilwand der Talschlucht ihre Rufe zurück. Nachtvögel fuhren um sie auf, hinter ihnen prasselten dumpf die Steine und schossen dann nieder, bis sie aufklatschten unten im Bach.

Aber jetzt vernahmen die Offiziere noch etwas anderes; es klang wie ein schwacher Ruf. Ein Stöhnen hintennach. Ihr Kamerad, war er das?!

»Abeking, sind Sie da? Wo? Geben Sie Antwort! Wo?«

In rücksichtsloser Eile stürzten sie abwärts, die Mützen wurden ihnen durch die Zweige von den Köpfen gerissen, an ihren Uniformknöpfen zerrten die Dornranken. Eine fieberhafte Aufregung hatte sich ihrer bemächtigt: war’s Abeking? Er gab jetzt keine Antwort mehr. Wo, wo?

»Hier,« sagte jetzt Leykuhlen und kniete rasch nieder.

[S. 220] Seine Laterne beleuchtete den Gestürzten – das Gesicht war totenbleich, die Augen geschlossen, das blonde Haar klebte an der Stirn. Als Leykuhlen den Kopf des Leutnants ein wenig hob und ihn sich in den Schoß bettete, rann es ihm feucht über die Finger.

Und jetzt kam das Gewitter herauf, das schon lange gedroht hatte. Aber es war doch wie eine Erlösung, die Beklemmung wich, es brachte Licht.

Der Schein der Blitze leuchtete ihnen, als sie den Besinnungslosen ein Stück weiter bach-abwärts trugen, um ihn dann hinauf zu schaffen zur Chaussee an einer weniger steilen Stelle. Sie brachten ihn zu den Rädern; diese wurden mit Taschentüchern zusammengebunden, der regungslose Körper quer über die Sättel gelegt. Die Riesenkraft Leykuhlens hielt ihn da fest; der eine Kamerad führte, der andere schob.

»’ne traurige Fuhre,« murmelte der Stabsarzt. Lebte der Junge? Ja, er lebte. Aber, ob er sich nicht so ernstlich verletzt hatte, daß er sein Leben lang daran zu tragen hatte, das war in der Eile, bei der nur flüchtigen Untersuchung unter unsicherer Beleuchtung, nicht festzustellen. Eine niederdrückende Bestürzung lag über den Kameraden und eine quälende Ungeklärtheit: wie war das nur zugegangen?! Abeking war doch ein so guter Reiter! Aber freilich, bei Nacht und auf einem fremden Gaul ohne Sattel – Herr des Himmels, wie war der Junge überhaupt auf die Idee zu einem solchen Ritt gekommen?! Warum?!

Leykuhlen sagte kein Wort. Er fühlte ein Mitleid, das er sich selber nicht eingestehen mochte. Dies hier war ja noch schlimmer, am Ende viel schlimmer noch, als die beiden, die sich jetzt mit Fragen bestürmten, ahnten! Wer weiß, ob es nicht besser wäre, der Mund des jungen Offiziers, der jetzt so stumm [S. 221] war, bliebe für immer geschlossen? Was würde man zu hören bekommen? Nicht viel Gutes!

O du Frauenzimmer! Der Bürgermeister ballte die Faust im Sack. Aber neben seinem geheimen Zorn regten sich auch Stolz und Scham in ihm: nein, nichts von diesen Vermutungen sagen, Fremde brauchten es nicht zu erfahren, was die da unten für ein Schandfleck war im Land!

Stumm und langsam rückten die Männer mit dem Gestürzten die Chaussee hinan. Die Offiziere sprachen jetzt auch nicht mehr; die Lust zum Reden war ihnen vergangen. – –

Als Adjutant von Scheffler um Mitternacht mit dem Krümperwagen von seiner Braut zurückkehrte, rief ihn auf der Dorfstraße jemand an. Hinter seiner Hecke kam der Bürgermeister hervor – er mußte da gewartet haben – und trat an den Schlag.

»Steigen Sie aus, Herr Oberleutnant, wir haben als auf Sie jelauert. Sie können ihn mitnehmen, er liegt da drin!« Er nickte nach seinem Hause hin.

»Was – wer – Abeking?!« Hastig sprang Scheffler aus dem Wagen; er war bleich und nervös. Als er jetzt in die Stube trat, wo auf dem Kanapee, den Kopf mit nassen Kompressen belegt, die von Frau Leykuhlen unablässig erneuert wurden, der junge Leutnant lag, zuckte er zusammen. Am Tisch saßen der Stabsarzt und Schmidt, die Köpfe gesenkt; sie sagten kein Wort. Scheffler nickte ihnen zu, und dann trat er näher zum Kanapee und betrachtete das scheinbar leblose, entstellte Gesicht mit seltsamen Blicken unter halb-geschlossenen Lidern. »Bös, bös!« Er runzelte die Brauen. Und dann winkte er dem Stabsarzt: »Einen Augenblick, Doktor, wenn ich bitten darf!«

Sie gingen hinaus vor die Hecke und wandelten dann, außer Hörweite des wartenden Kutschers, langsam auf und [S. 222] nieder. Sie sprachen heimlich. »Zu unangenehm, mir riesig fatal,« sagte zuletzt der Adjutant lauter. »Wenn nur mein Schwiegerpapa nichts davon erfährt! Er könnte ja sonst einen netten Begriff kriegen!«

»Hoffentlich spricht der andere Herr Schmölder – nicht wahr, es ist der Vetter von Ihrem Herrn Schwiegervater, der es Ihnen erzählt hat? – nicht weiter darüber?«

»Ich habe sein Ehrenwort verlangt!«

»Na, hoffen wir denn das beste! Sonst –« der Stabsarzt zuckte die Achseln und machte ein bekümmertes Gesicht – »sonst ist der arme Junge geliefert. Dann wäre es besser gewesen, er hätte gleich den Hals gebrochen!«

*     *

*

Josef Schmölder hätte sich prügeln können, daß er heute wider Willen den Verräter gespielt hatte. Wer hatte ihn nur geheißen, als er den Bräutigam sein Spätkommen damit entschuldigen hörte, daß ein Kamerad verloren gegangen sei – Leutnant Abeking, man hatte ihn den ganzen Tag gesucht, in der Furcht, er sei verunglückt – was hatte ihn da nur angetrieben, ein wenig zu lächeln und eine jener Bemerkungen zu machen, die ihm schon so oft einen vorwurfsvollen Blick der Cousine und von Heinrich ein ›Donnerwetter‹ eingetragen hatten?! » Cherchez la femme! « Weiter hatte er nichts gesagt. Aber Scheffler hatte ihn bald nachher bei Seite gezogen und ihn dringend gebeten, wenn er nur irgend welche Vermutung habe, sie ihm, ihm ganz allein, anzuvertrauen – des Kameraden wegen, den sie alle sehr lieb hätten, der fast noch ein Knabe sei, und um den sie sich aufs schwerste beunruhigten.

Josef konnte freilich nicht sagen, ob der, den er gestern in der Nacht in einer so seltsamen Situation gesehen hatte, der [S. 223] Leutnant Abeking gewesen war. Aber er fühlte sich doch jetzt verpflichtet, seine Beobachtungen mitzuteilen. Fast ein Knabe noch – wer weiß, ob er da nicht helfen konnte?! Und er hatte erzählt. Aber als er alles erzählt hatte, fortgerissen von der eigenen Schilderung, war ihm das kalte Gesicht des Offiziers auf einmal wieder so unangenehm gewesen, daß er es bereute, nur ein Wort verloren zu haben. Arme Hedwig, dummes, kleines Mädchen, so kalt, so kalt war dieses Gesicht! Würde dieser jetzt so liebenswürdige Mann einst rauh und hart zu der kleinen Frau sein und – würde er sie vielleicht auch noch betrügen?!

Josef fühlte einen immer mehr sich steigernden Widerwillen gegen den Bräutigam. Vom ersten Tage an hatte er diese Abneigung gehabt, vom ersten Abend an, als er dem lächelnden, sich an den Händen haltenden Brautpaar gegenüber gesessen hatte. War denn Heinrich ganz verblendet? Merkte er denn nicht, wie geschmeidig der Leutnant sich den Interessen des Hauses anzupassen suchte? Tappten denn Vater und Mutter blind zu? Und das sollte man mit ansehen, alle Tage?

Es war Josef, als sei die Enge des Hauses noch unerträglicher geworden durch den Eintritt dieses neuen Elements. Nun kam zu allem auch noch die Berechnung dazu.

»Du machst ja ein Jesicht, ein Jesicht – wahrhaftig, dat ’s doch kein Jesicht, wenn sich Hedde verlobt hat!« schrie Heinrich, als der Bräutigam sich endlich verabschiedet hatte. »Wat soll denn der Mann von unserer Familie denken? Massakriert dich hier einer?«

»Gute Nacht,« hatte Josef gesagt und war aufgestanden. »Ich will mich heut nicht mit dir zanken – ein andermal!«

»Bleib,« schrie der Vetter und versuchte, ihn am Rock festzuhalten. »Sag mal, wie jefällt dir denn eigentlich der [S. 224] Scheffler?!« Und als keine Antwort kam, setzte er gereizt hinzu: »Mir sehr jut!«

»Leider!« Es hatte Josef förmlich auf der Zunge geprickelt, er hatte dieses ›leider‹ aussprechen müssen.

Heinrich hatte es sehr übel genommen. ›Neidisch‹, ›hämisch‹, ›vielleicht selber auf Hedwig spekuliert‹, das alles hatte sich Josef an diesem Abend sagen lassen müssen. Und dann war er hinausgegangen; er hatte sich nicht aufregen wollen; und doch hämmerte es ihm in den Schläfen.

»Ah!« In einem tiefen, erlösenden Seufzer dehnte sich seine Brust, als die Luft des Gartens ihn bestrich. Aber sie war ihm noch nicht frei genug. Mehr Luft, freiere Luft, hinaus aus der Enge, höher hinauf! Er schloß ein Seitenpförtchen auf und trat auf die Straße; er ging sie zu Ende und ging immer weiter, bis in die Au hinein, schlug dann, ehe er an die Fabrik kam, den Fußpfad nach Heckenbroich ein und stieg ihn langsam, öfter stehen bleibend und tief atmend, hinan.

Wie herrlich! War das eine Nacht! Eine Nacht, wie geschaffen zum Lieben und Glücklichsein. Ein Hauch von Erinnerungen war in der linden Luft – von süßen Erinnerungen – ach, das war jetzt alles vorbei, er war alt geworden, wenigstens zu alt für die Torheiten der Liebe!

Er seufzte auf und sah sich um. Weit hinten, in ihrem Kessel schon ganz versunken, lag die Stadt; nur die Burg war noch im Mondlicht zu sehen und die Felsen, die wie ein Tor die Chaussee umbauen. Noch stand der Mond nicht hoch, aber nicht lange mehr, und er würde ganz hinter der jenseitigen Höhenwand hervorgewandelt sein, senkrecht über dem Tale stehen und es übergießen mit vollem Licht. Dann mußte die Nacht noch herrlicher werden, noch traumhafter schön, noch überirdischer. Es galt zu warten. Wer vermißte [S. 225] ihn denn auch?! Die im Hause schliefen, er konnte hier nächtigen, wenn er wollte, keiner wurde es gewahr.

Eine schier jungenhafte Seligkeit überkam ihn, heute noch einmal seine Freiheit auszukosten. Wenigstens hier war er frei, frei! Hier durfte er ganz er selber sein!

Mit einem tiefen Aufatmen warf sich Josef auf den Boden und dehnte sich lässig in fauler Wonne. Als Kopfkissen diente ihm das Moospolster, das sich zwischen den herausstehenden Wurzeln einer Riesentanne eingebettet hatte. Von dem glatten Schiefergerutsch, auf dem er lag, fühlte er es warm aufsteigen. Oben auf der Höhe mochte es wohl schon kühl sein, aber hier zwischen den Talwänden saß noch die ganze Wärme und Lauheit der Sonne. Eine köstliche Behaglichkeit überkam ihn, wie er sie lange nicht gefühlt hatte – da noch nie! Er drehte den Kopf dorthin, wo das Städtchen versunken lag. Gott sei Dank, man sah nichts mehr davon! Hier war er allein, allein mit der Natur, die er immer geliebt hatte, geliebt und begehrt wie eine, um die man wirbt, und die man doch nie ganz besitzen kann. Er seufzte, lächelte, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blinzelte in den Mond. Daß die Welt so schön sein kann! Er hatte das ganz vergessen. Aber jetzt war alle Bitterkeit weggespült, alles Häßliche, Niedrige und Gemeine, alles, was ihn quälte, und auch das, was ihn traurig machte.

Unten in der Au lag die Fabrik jetzt still, ohne Dampf und Gestank; nur das einsame Lichtchen des Wächters, der die Runde durch die Säle machte, flinzelte wie ein Sternchen zu ihm herauf. So weiß glänzte die rußige Stätte der Arbeit, so ruhevoll und freundlich, als sei sie eine Stätte der Freude. Traumhaft ragte darüber die jenseitige Talwand; der Mond beglänzte die Leyen, daß sie alles Krasse und Fratzenhafte verloren und zu Gesichtern wurden von wohlwollenden Riesen, die über den Tannenwald herüberlugten. Tief unten rauschte der [S. 226] Bach. Sein Rauschen, das immer stark war, denn er fließt ständig bergab mit starkem Gefälle, hatte jetzt etwas unsagbar Mildes, Einlullendes.

»Rausche, rausche,« murmelte Josef und schloß die Augen. Er hörte die Stimme der Natur. Ah, sie sprach zu ihm, zu denen, die Ohren haben, zu hören, und Herzen, um noch zu glauben an alles Schöne und Gute! Es war Josef, als sei er auf einmal wieder stark und jung und gesund und stände noch einmal an jenem Punkt, da das Leben noch jauchzt um den jungen Menschen und willenskräftig frohlockt sein starkes ›Es werde!‹

Wie lange er so dagelegen und geträumt hatte, wußte er nicht. Als er die Augen wieder aufschlug, stand der Mond ganz voll überm Talgrund. Es war so hell, so hell, daß jeder Tannenzweig sich abhob, daß man jede Welle im silbernen Bergwasser hüpfen sah, jeden Stein im Bachbett zu erkennen glaubte – oder sah man ihn wirklich? Da war noch ein zweiter Mond. Der droben am Himmel stand, spiegelte sich tief drunten im Bach – Mond oben, Mond unten. Josef lächelte: in New-York hatte er herrliche Theaterdekorationen gesehen, aber keine von ihnen wäre dieser gleich gekommen. Und sieh, die Staffage fehlte ja auch nicht!

Das wundersame nächtliche Landschaftsbild hatte sich belebt.

Josef reckte den Hals, eine plötzliche Neugier war in ihm erwacht: wer war denn das?! Wie im Märchen! Träumte er oder wachte er?! Er rieb sich die Augen. Und dann richtete er sich aus seiner lässigen Lage ein wenig auf, um besser hinabblicken zu können auf die beglänzte Straße zwischen den Tannenwänden.

Langsam, fast feierlich, trottete ein schwerer Ardennengaul daher. Als trüge er Prinz und Prinzessin ins Zauberreich. [S. 227] Der Mann saß hinten, die Frau hatte er vor sich; man sah ganz deutlich, daß er den Arm um ihren Leib hielt, daß er sie jetzt an sich preßte und küßte, und daß sie den Kopf an seine Schulter legte und das weiße Gesicht zu ihm aufhob, und daß er sie noch einmal küßte, und noch einmal, und noch einmal.

Der Mond beschien hell die Reitenden. Ein Bauernbursche und sein Mädchen waren das nicht! Der Beobachtende sah blanke Uniformknöpfe unter neugierigen Strahlen aufblinkern. Aha, ein Soldat! Aber wie kam der jetzt hierher? Nein, so saß kein gemeiner Soldat zu Pferde! Es war ein Offizier, schlank und biegsam. Und sie saß auch gut, keck und unerschrocken.

Ein leises Lachen klang herauf, es mischte sich in das Rauschen des Baches und verklang.

Oh, war das schön, war das schön, wie die beiden dahinritten! Ein Bild, ein ganz wunderbares Bild. Man brauchte kein Wort von dem zu vernehmen, was sie flüsterten, man wußte es, sie sprachen von Liebe. Und Liebe atmete die ganze Natur: die Mondnacht, die Tannen, der Wildbach. Niemand auf der Welt, als nur diese zwei. So mochte es damals im Paradiese gewesen sein, so einlullend-schön, so verführerisch-still, als Adam den Apfel nahm, den Eva ihm bot, und davon aß.

Jetzt waren die Reitenden gerade unter dem Lauscher, er beugte sich über den Rand des Felsens mit weitgeöffneten Augen.

Der Mond beschien zwei blonde Köpfe, die ohne Mütze, ohne Hut, ohne Tuch, die Stirnen dem kühlenden Atem der Nacht preisgaben. Ihnen machte die Liebe heiß. Es trabte der Gaul – trapp, trapp – er hatte einen Hackenstoß bekommen, sein Huf schlug so hart aufs Gestein der Straße, daß Funken sprühten. Trapp, trapp. Jetzt ein jäher Halt. Der Reiter hatte sich abgeschwungen. Da war ein kleines, verstecktes [S. 228] Pfädchen, das von der Chaussee zum Bach niederwärts führte, zu samtigem, duftigem Gras, zu weicher Ruhestatt. Der Reiter hob die Geliebte herab.

An eines der kleinen, neugepflanzten Ahornbäumchen wurde der Gaul gebunden. Er scharrte ungeduldig, man hörte die Hufe klappern; es plagten ihn die Mücken in der lauen Nacht. Ah, sie würden ihn noch lange plagen, der hatte gut warten! Hoch erhoben, wie ein Sieger die Beute, hatte der Liebende die Geliebte ins Versteck getragen – zusammen schlugen die Äste, man sah nichts mehr von Adam und Eva.

Wie vordem lag die nächtliche Landschaft wundersam beschienen, ein herrliches Bild, die schönste Dekoration zum schönsten Spiel. Aber Josef behagte sie jetzt nicht mehr. Was klapperte der Gaul denn so ungebärdig und schlug nach den Mücken und stampfte und schnaufte! Das störte den Frieden.

Langsam, zögernd machte sich Josef auf den Heimweg. Noch ein paar Mal schaute er sich um: der Gaul stand noch immer einsam, riesenhaft groß im Märchenschein, und scharrte die Straße. Die Glücklichen! Eine Nacht, geschaffen für die Jungen und Begehrenden. Mochten sie leben, genießen! Was ging’s ihn an, wer sie waren, woher sie kamen, wohin sie gingen?! Sie gehörten in diese mondbeglänzte Nacht, die Netze spinnt, in die alle Kreatur sich verstrickt. Er aber gehörte nicht mehr hierher.

»Josef, geh du nach Haus, leg du dich ins Bett,« sagte er, jetzt plötzlich ernüchtert, laut zu sich selber. Da – er nieste – schon ein Schnupfen! Mit lächelnder Selbstironie zuckte er die Achseln: das Liegen im Tau bekam einem eben nicht mehr!

Er beschleunigte seinen Schritt, bald war er im Städtchen. Die Turmuhr schlug Zwei. Alle Lichter waren längst erloschen, unter dunklen Dächern schliefen die Bürger. Der Nachtwächter schlief, auch der Mond ging jetzt schlafen. Josef [S. 229] hatte leise die Haustür hinter sich zugemacht. Kein Mensch war mehr draußen.

Aber einsam stand noch immer der Ardennergaul auf der dämmrig und dämmriger werdenden Chaussee. Immer ungeduldiger schlug sein Huf die Steine, er zerrte am Halfter, daß das junge Bäumchen sich bog, nicht viel fehlte, und er hätte es ausgerissen. Er wollte nach Haus, in den Stall, er wollte an die Raufe. Wütend schlug er mit Schwanz und Huf nach dem Geziefer. Er konnte nicht traben, nicht galoppieren, es durch den Luftzug verscheuchen; es bohrte sich ihm ins Fell, bald vorn an der Brust, bald hinten auf den Schenkeln, unterm Bauch, auf der Krupp. Er schnaufte, er brustete, seine Flanken schäumten. Er blähte die Nüstern, sie schienen Feuer zu sprühen durch die Nacht. Jetzt stieß er ein Wiehern aus, daß die Stille sich erschreckte, und machte einen entsetzten Satz, bei dem er die Hinterfüße hoch in die Luft warf, den Kopf fast vorn bis zur Erde stieß. Ein Wiesel war vor ihm hergehuscht, ein Fuchs, ein Iltis, oder sonst irgend ein Nachtgetier.

Er zitterte schreckhaft und zerrte am Halfter in nervöser Ungeduld. – – –


XI

Nun war das Pfingstfest vorüber. Vater Huesgen war mit dem Arbeiterzug in aller Frühe um vier schon nach Aachen gefahren; er kam erst nächsten Samstag wieder, aber wenn er dann heimkehrte, fand er die Mutter gewiß ganz munter, denn die Bäreb kehrte ja heut zurück. Darauf hofften sie. Gestern war sie gesprungen zu Echternach, und heute schon glaubte Frau Huesgen die wohltätige Wirkung zu verspüren. Sie fühlte sich frischer; was sie lange nicht getan hatte, sie schürzte ihr Kleid und fing an, den Melkeimer zu scheuern, und dann die Eimerbank und das Fäßchen, in dem [S. 230] sie so lange keine Butter mehr gedreht hatte. Wer weiß, wenn das weiter so ging, konnte sie bald Butter machen, ein paar Klütchen hinuntertragen zum Verkauf in die Stadt.

Von dem Sonnenschein des Festes lag noch über Hecken und Halden. Die Kinder zirpten noch lose wie sommerfrohe Spatzen zwischen den Hecken, sie hatten erst morgen Alltag, wenn die Schule anfing. Die kleinen Huesgens waren zur Eisenbahn gerannt, die Schwester zu holen; sie belagerten den Bahnsteig, bis der Zug aus St. Vith ankam. Aber Bäreb war nicht darin. Das war eine Enttäuschung. Ein Teil der Kinder lief heim, um der Mutter zu verkünden, daß die Bäreb nicht gekommen sei; die anderen blieben unten am Bahndamm sitzen, flitschten Steine in den vorüberquirlenden Fluß und warteten geduldig. Es kam ja noch ein Zug von St. Vith, freilich erst gegen Abend. Hei, wer zuerst die Bäreb sah und den Dores, und das der Mutter verkündete, der war König!

Kathrinchen war nicht bei den Geschwistern. Sie hütete. Bartholomäus Adams, der Nachbar am grünen Klee, hatte viel Vieh, und der hatte sie gedungen für den ganzen Sommer. Nun brauchte sie nicht wie sonst in die Schule; das tat ihr eigentlich leid, es war so schön da, und sie lernte gern, aber der reiche Bauer gab fünfundzwanzig Mark für den Sommer und was zu essen, und zum Herbst ein paar neue Schuh. Und schön war’s ja auch draußen, wo die Bienen am Rain summten und die Hirsche, wenn der Abend kam, ganz dreist aus dem Dickicht traten und unterm Vieh grasten.

Der Bauer hatte Kathrinchen die Kühe besonders auf die Seele gebunden, war ihm doch die schöne braune Kuh gestorben, trotz Doktor Dreiborn, und trotzdem man das Kalb in Stücke geschnitten hatte. »Paß op, dat se net zo viel loofe on schlag se net mö’m Stecke! De Dreiborn, de Esel! Verklagen müßt ich de Kerl! Äwer de kümmt jo su wie su in de Höll. [S. 231] Jibst du äwer net Aacht, dat roden ich dir, da krißte de Huck jeschurt!«

Kathrinchen hatte verständnisvoll genickt: ach ja, das war ein Verlust, die braune Kuh, da konnte man wohl drüber weinen. Aber sie würde schon Obacht geben, der ›Uehm‹ konnte ganz ruhig sein, ihr kam keine zu Schaden, der liebe Gott war ja immer bei ihr und den Kühen. Der Bauer hatte geschmunzelt: »Da krißte ooch jet, wann Markt is!«

Kathrinchen hatte sich aufgemacht, als noch der Morgentau lag, und hatte seine sieben Stück vor sich hergetrieben zum Venn hinauf. Die Wiese des Bauern war noch nicht gemäht, drum hütete es so lange hier oben.

Die Marienley war nicht fern, auf dem großen Kreuz blinkerte so hell die Sonne, daß es strahlte wie in einem Glorienschein. Der Eisenbahndamm war von hier oben gesehen ganz niedrig, die Schienen waren nicht dicker als Haare, und der Fluß, der am Damm vorbeilief, war wie ein Faden. Und es war so still hier, gerade noch, als sei es hoher Feiertag. Vom Dorf herüber kam kein Laut, nur vom Truppenübungsplatz hörte man das dumpfe Schießen.

Jetzt sah Kathrinchen auch etwas von den Soldaten: Pferde trabten geschwind – Fähnchen flatterten im Morgenwind – Staubwirbel ballten sich zu Wolken – mächtige Gäule galoppierten, Karren auf hohen Rädern schleppten sie hinter sich her. Das waren die Geschütze. Ei, das war lustig anzusehen hier aus sicherer Entfernung! Kathrinchen setzte sich behaglich auf einen der Felsbrocken unweit der Ley. Sie fühlte sich so wohl hier in der Einsamkeit, von niemandem gesehen und selber die Menschen nur sehend, als seien es Puppen. Kein Gedanke von Furcht beschlich sie, die Mutter Gottes war ja so nah dort im großen Stein, den dunklen Felsspalt erhellend mit ihrer Lieblichkeit. Wer sollte ihr hier wohl [S. 232] was tun?! Und Wölfe gab’s schon seit vielen Jahren nicht mehr hierzuland; früher, ja früher, wie der Herr Lehrer erzählte, da waren sie aus den Ardennen herübergelaufen gekommen in die Eifel, verhungert und gierig, und hatten Hühner gefressen und Lämmer gewürgt. Weinen hatte Kathrinchen müssen, als der Lehrer das erzählt hatte – so ein Lamm, so ein armes weißes Lämmchen zu Tode gewürgt!

Jetzt zog sie ihr Strickzeug aus der alten Strohtasche, die auch Bäreb schon umgehängt hatte, als sie noch hüten gegangen war. Kathrinchen war immer fleißig, es hatte dem Vater schon ein paar Strümpfe gestrickt und den Brüdern der Reihe nach. Nun war der Dores daran, aber für den brauchten die Strümpfe nicht so lang und weit zu sein; das ging rasch.

Ehe Kathrinchen anfing, mit den groben Nadeln zu rasseln, richtete sie die Augen zum Himmel auf, daß ihre samtige Schwärze sich erhellte vom goldigen Licht, das in sie herniederfloß, und hub ein Morgenlied zu singen an:

»Im Namen Jesu wach ich auf,
Im Namen Jesu steh ich auf
Und ziehe sittsam an mein Kleid,
Im Namen der Dreifaltigkeit.
Hochheiligste Dreifaltigkeit,
Gott Vater, Sohn und heilger Geist,
Ach schütze mich in aller Not,
Vor Feuer, Wasser, schnellem Tod!«

Die klare Stimme klang hell und weit übers Venn. Es war, als ob ihr alles lauschte. Der Morgenwind hatte sein Wehen eingestellt, die Kühe hoben die Köpfe, guckten mit den schönen dummen Augen nach der Hirtin und ließen das kurze, harte Rupfen sein, mit dem sie das zähe Gras vom Boden abrissen.

[S. 233] Immer höher stieg die Kinderstimme in die Luft, immer weiter klang sie hinaus:

»Auch bitt ich dich, o Gott, verleih
Mir gnädiglich der Engel drei,
Die heute mir und jederzeit
Geleiter sei’n zur Seligkeit.
Der erste mög mir Führer sein,
Der zweite Kraft im Kampf verleihn,
Der dritte schütz mich immerdar,
Daß mir nichts Böses widerfahr!«

Kathrinchen kannte viele solche schönen Lieder, aber dieses Lied liebte sie am meisten. Sie hatte es heute beim Aufstehen, und während sie im Herd das Feuer anblies, schon vor sich hin gesagt, aber der Rauch war ihr in die Kehle geschlagen, sie hatte es nur in sich hineinmurmeln können, schon um die Mutter nicht zu wecken, die sich noch einmal niedergelegt hatte, nachdem der Vater fortgegangen war. Hier aber konnte sie laut nach Herzenslust singen. Hier kamen auch die Geschwister nicht immerfort gerannt, zupften sie hier, zupften sie da, wollten bald dieses, bald jenes. Ach, die Jungens! Kathrinchen schüttelte altklug das Köpfchen, wenn sie daran dachte, daß sich die großen Jungen noch immer nicht selber einen Hosenknopf annähen konnten und ihr das Bein hinstreckten: »Bind mer ens de Rieme!«

O, hier war es gut sein, hier hatte sie Ruh! Die Kühe fingen wieder an zu rupfen, aber es war, als ob sie im Takt rupften und dazu nickten, das machte Kathrinchen Spaß. Sie sang voller Lust und sang immer lauter und heller der Reihe nach alle Lieder, die sie konnte und warf dabei den groben Wollfaden auf dem gestreckten rechten Zeigefinger über die langen eisernen Nadeln, die sie unter die Arme gesteckt hatte, [S. 234] so flink, daß das Strümpfchen zusehends wuchs. Ei, der Dores hatte ja so dünne Bein’, das war ihm bald maß!

Das Strümpfchen vor sich hinhaltend und es freudig anblinzelnd, saß sie sonnenbeschienen auf dem Stein, mit ihren Füßen baumelnd. Man sah ihr Figürchen schon von weit her. Sonst war nichts ragendes auf der Hochfläche, als die Ley mit ihrem Kreuz im schwarzen Dickicht der Tannen.

Simon Bräuer kam von der Strafkolonie her. Deren tiefgehendes neues Ziegeldach schrie wie Blut aus dem Braun des Moorlands; noch blühte das Venn nicht überall, seine Farbe war noch eintönig. Zögernd hatte sich der Aufseher erst noch ein paar Mal nach dem Hause zurückgewendet: würde der Hilfsaufseher auch gut aufpassen? Er war erst kürzlich eingetreten, und die Kerls waren jetzt so renitent; am ersten Pfingstfeiertage war der Süßchenbäcker frech geworden. Der Kerl protzte wohl auf seine Kraft? Hei, den hatte er aber zu Boden geduckt mit einem Blick, daß er sich nicht mehr muckte. Der Rotfuchs, der war auch wie ein Toller gewesen, wollte nicht mit zur Kirche, hörte auf kein Kommando, lief herum wie ein wildes Tier im Käfig, hatte sich auf sein Bett geschmissen, den Kopf gegen die Wand gekehrt, so daß er ihn zum Sich-besinnen mal ins Kaschöttchen hatte führen müssen, in das enge, stockdunkle Käfterchen hinter der schweren Bohlentür mit den eisernen Haspen. Ohne Licht, ohne Beschäftigung, ohne Suppe hatte er darin gesessen, bis er zahm geworden war am andern Tag. Was fiel den Kerlen denn ein, steckte ihnen der Frühling im Blut, der auch aus den elendesten Knorren Schößlinge treibt? Freilich – Simon Bräuer sah sich um, ließ seine Falkenaugen schweifen von Ost nach West, von Süd nach Nord – arme Teufel, jetzt war es lockend! Die Ferne blaute im Duft, aus dem Moorgrund stieg ein kräftiger [S. 235] Geruch; bald würde hier alles rosa blühen von den Glöckchen der Vennheide. Jetzt hieß es aufpassen!

Er setzte die Zähne aufeinander. Aber seine Frau brauchte keine Angst zu haben – sie war gestern hier oben gewesen, er hatte ihr rund ums Haus alles gezeigt – es passierte schon nichts! Was die Weiber so schreckhaft sind! Er hatte mit ihr draußen gestanden, ihr etwas erklärt, sie hatte an seinem Arm gehangen, da hatte sie plötzlich aufgeschrieen und den Kopf an seiner Brust versteckt. Nun, was war denn los? Sie hatte nachher selber darüber gelacht und sich geniert, daß sie so furchtsam gewesen war. An die Gitterstäbe des Schlafsaals hatte der Rotfuchs seine Nase gedrückt – nun ja, schön war der gerade nicht, es gab Schönere, aber zum Fürchten war er doch auch nicht. Aber sie hatte sich immer wieder geschüttelt: buh, sah der einen an! Sie war gar nicht davon abzubringen, immer wieder fing sie an von dem Kerl zu sprechen. Verwünscht! Beinahe hätte der verdammte Kerl ihren ganzen schönen Entschluß wieder über den Haufen geworfen. Auf einmal wollte sie sich nicht mehr recht entschließen, mit den Kindern herzuziehen: es wäre doch gar zu verlassen, zu einsam hier oben. Sie fürchtete sich aufs neue. Und sie hatte doch fest versprochen gehabt, zum ersten August spätestens oben zu sein! Er wollte dann darum einkommen, daß er ein Häuschen für seine Familie gebaut bekam, nicht allzuweit ab, etwa auf halbem Weg zwischen Heckenbroich und der Strafkolonie, sodaß man doch Weib und Kind sehen konnte, wenn es einem gar so gelüstete. Er hatte sich das so schön gedacht – und nun?!

Bräuer zog die Stirn zusammen, sein Gesicht wurde streng: sie mußte herauf. Sie waren Mann und Weib, und das Weib hatte dem Mann zu folgen. Das wollte er ihr heut sagen zum Abschied.

[S. 236] Er zog die Uhr und sah finster darauf: elf Uhr. Nur noch eine Stunde, und Thereschen war fort! Dann rollte sie da unten hin in dem schwarzen Zuge über die Geleise, und er hatte das Nachsehen. Er seufzte auf. Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte: je früher er zum Bahnhof kam, desto länger hatte er noch was von ihr. Er lief fast Trab, und dabei grübelte er in sich hinein: wie sollte er’s nur anstellen, sie sobald als möglich wieder hier oben zu haben? Es dünkte ihn jetzt viel unmöglicher, ohne sie zu sein, als da er das erste Mal von ihr geschieden war.

Eine bittende Stimme schreckte ihn auf. »Könt Ihr mir saone, wie vill Uhr et is?« Die kleine Hirtin saß auf einem Stein, nicht weit von den Tannen. Jetzt rutschte sie von ihrem Sitz herab, legte ihr Strickzeug sorglich nieder und kam mit trippelnden Schrittchen lächelnd auf ihn zu.

Sein finsteres Gesicht wurde ein wenig freundlicher: so würde sein Töchterchen vielleicht auch einmal aussehen, nur daß es Flachszöpfchen hatte, nicht so dunkele Haare wie die hier. Er antwortete: »Elf Uhr!«

»Merci. Da moß ich baal no hem driwe. Dä Küh weiden äwer noch esu jot!« Sie nickte und wollte wieder zu ihrem Sitz zurück, zierlich durch das Heidekraut trippelnd trotz der plumpen, schwergenagelten Schuhe, die aufs Wachstum berechnet, viel zu weit um ihre zarten Knöchel schlorrten.

Er sah sie flüchtig an, dann betrachtete er sie interessierter; das ernsthafte Gesichtchen unter dem weißen, rot-gepunkteten Kopftüchelchen gefiel ihm wohl. Daß die Eltern dies junge Kind so ganz allein in die Einsamkeit schickten! Er vergaß ganz, daß er selbst einst auch draußen im Venn, noch viel weiter draußen, noch viel ferner von jedem Menschen, das Vieh gehütet hatte. Aber er war ein Junge gewesen, [S. 237] dies hier war ein Mädchen. »Biste nit bang?« fragte er.

Sie sah ihn groß an und schüttelte, ganz verwundert, verneinend den Kopf.

»Wem biste?«

»Huesgens – ich bin jo dat Kathrinche!« Sie nahm es als ganz selbstverständlich an, daß er sie nun kannte; jeder im Dorfe kannte sie ja.

Aber er sagte: »Huesgen – Huesgen?«

»Huesgen-Jörres, am jrünen Klee, wo dir immer vorbeijeht, wenn dir nor Kirch jeht!«

»Kennste mich denn?«

»Oh, ich kennen Uech siehr jot, dir sed der Herr Bräuer von dem Huhs do!« Sie nickte nach dem roten Dach hin, das über eine Erdwelle hervorleuchtete. »Dat sieht mer jo esu wiet. On wann dir möt Uehre Leut vorbeikott, da kieken ich ömmer hinger der Heck eruhs.«

»Schmeißt du auch mit Steinen oder streckste de Zung eraus?«

Sie wurde ganz dunkelrot und sagte kein Wort.

»No, dann adjüs,« sagte er gutmütig und streckte ihr die Hand hin.

Aber sie gab ihm die ihre nicht. »Adjüs,« sagte sie nur und nickte; sie war gekränkt: wie konnte er nur denken, sie würde die armen Leute mit Steinen schmeißen?!

Er sah noch einmal nach ihr zurück, ehe er in die Senkung zur Bahn hinabstieg. Ein Trupp seiner Strafgefangenen näherte sich jetzt der Ley, die Schaufeln geschultert; sie fingen nicht weit von dem Platz der Hirtin zu arbeiten an. Bräuer krauste die Stirn: er mußte doch wirklich den Huesgens mal sagen, daß die ihr Mädchen wo anders zum Hüten [S. 238] hinschickten. Es gab ja noch Plätze genug. Warum denn gerade hier, so nahe der Kolonie?!

Aber er dachte nicht mehr weiter daran, als er jetzt an der Station stand und sein Thereschen im Arm hielt. Die Frau weinte bitterlich, viel heftiger, als da er fortgezogen war im Februar. Jetzt war ihr Herz geteilt: sie hatte ihn ja so lieb und fürchtete sich doch so sehr. Ihr schöner, stattlicher Mann – ach, würde sein starker Arm sie doch bald wieder umfassen! Und doch – der Rotfuchs, die Kerle alle! Und dann das Venn!

Er sprach kein Wort von ihrer Übersiedlung hierher. Er stieß nur heraus: »Jrüß die Kinder, jrüß die Kinder,« und preßte ihr die Hand dabei so fest, daß sich ihr der Trauring schmerzhaft ins weiche Fleisch drückte. Als sie schon im Coupé saß, stand er noch auf dem Trittbrett und drückte ihr die Hand. Er sprang erst ab, als der Zug schon in Bewegung war. »Jrüß die Kinder!« Ein Ruf, ein Winken, ein lautes Aufschluchzen im Coupé – fort war die Frau, und der Aufseher Simon Bräuer wieder allein mit seinen Vierzig auf einsamem Venn.

Festen Schritts, aber den Kopf gesenkt, verließ der Mann den Bahnhof. Nun fiel es ihm ein, nun, da es zu spät war, was er ihr hatte sagen wollen: sie mußte herkommen, sie mußte . Spätestens zum ersten August! Er machte eine Handbewegung: egal, es gab ja auch Feder und Papier, er würde es ihr sofort schreiben. Und er glaubte auch zu fühlen – ja, er hatte es gefühlt an ihrem letzten Kuß – daß er sie kaum zu treiben brauchte. Sie kam her, sie kam bald her, so schwer es ihr auch wurde!

Die Traurigkeit abschüttelnd, überlegte Simon Bräuer, daß, nun er den Hilfsaufseher doch einmal bestellt hatte, es ganz gut wäre, wenn der sich schon mit den Kerls ein wenig [S. 239] einlebte. Wenn die Frau erst da war, würde er doch öfter fort sein; und auch nachts. Er beschloß, auf einem anderen Wege, in einem Bogen durchs Dorf, nach der Kolonie zurückzugehen. Bei dieser Gelegenheit konnte er sich gleich einmal nach einer Wohnung für Thereschen umsehen. Bis das Häuschen für sie gebaut war, würde es doch zu lange dauern.

Oben auf dem Venn hatten sich die Strafgefangenen zerstreut. Heute waren sie nicht unter so strenger Hut. Der Roßschlächter und der Schuster hatten sich zusammengefunden. Sie arbeiteten nebeneinander, stachen aber nur blindlings mit ihren Spaten drauf los; ihre Augen funkelten, sie wisperten hastig miteinander.

»Los, los, lassen mir jetzt auf und davonrennen!« flüsterte der Süßchenbäcker. Pah, der Hilfsaufseher war nur ein schwacher Kerl, den schlug er mit einem Spatenhieb nieder!

Der andere wurde blaß und rot. Auch seine Nüstern blähten sich, er witterte schon die Freiheit. Frei, frei! Er stöhnte, seine Hände umklammerten den Spaten wie eine Waffe; aber er erhob ihn noch nicht, er stürmte noch nicht los wie ein Wilder. Er traute sich doch nicht.

»Los, los!« hetzte der andere. »So jut treffen wir dat nie mehr wieder. Der Bräuer is sein Frau fortbringen – voran, – voran – bald kömmt de retour!«

Sein Flüstern hatte etwas Anfeuerndes. Und etwas Betörendes hatte die Luft, die heute so selten warm, so lind wehte, als wollte sie Wangen und Stirnen umschmeicheln. Und es war alles hell, man konnte sehen, wohin man trat, man brauchte nicht die Sumpflöcher zu fürchten. Ehe es dunkelte, war man bereits über die Grenze. Da – da – sah man sie denn nicht?!

Der Süßchenbäcker machte »Pst!« und winkte dem Genossen mit den Augen, kaum merklich mit dem Kopfe hinnickend: [S. 240] da, wo das Venn und der Himmel zusammenflossen, als wären sie eins, – alles wie blaue Luft – da, wo der winzige Würfel in der blauen Luft sich abzeichnete und daneben drei Strichelchen standen, wie Haare so dünn, da war das Grenzhaus, die Baraque mit den drei Bäumen! Daran mußten sie sich vorbeischleichen. Vorsicht, Grenzjäger patrouillierten da herum, um alles Zollpflichtige aufzuschnappen. Haha! Heimliches Lachen stieß den starken Mann: wofür war er denn ein Schlächter? Einen Knüttel hatte er sich unterwegs aufgelesen, mit dem gab er dem Störenfried, der ihnen in den Weg trat, eins vor die Stirn, daß er betäubt zu Boden fiel. Und dann eins, zwei, drei über die Grenze weg! Da, da! Er puffte den Kameraden in die Seite und sagte fast laut: »Da is Belligen, da sind wir frei!«

Niemand hatte es gehört. Der Hilfsaufseher hatte nicht so scharfe Ohren wie Bräuer und auch nicht so scharfe Augen. Er hatte genug zu tun mit dem Rotfuchs; der arbeitete nicht, wie sich’s gehörte.

Der Roßschlächter lachte: »Dat is jut, dat is jut, der Rotkopp kriegt de Huck voll! Los, Kamerad, nu lasse mir käpernicken!« Er hob den Spaten, er wollte davonstürmen, er öffnete den Mund, als wollte er ›Hurra‹ schreien, da hemmte ihn ein unterdrückter Fluch des anderen.

Ohligs hatte den Kopf gehoben – frei sein, nur frei, schon atmete er die Freiheit – aber der Strahl in seinen Augen erlosch jäh. Ein unterdrückter Schrei der Wut und der Enttäuschung entfuhr ihm: da kribbelte es ja plötzlich in der Weite des Venns wie ein Bienenschwarm. Es schwärmte dahin, es schwärmte dorthin – Fähnchen wimpelten – Lanzenspitzen blinkerten – Pferdebeine trappelten und stampften Staub aus dem Heidegrund – Kommandos schallten, scharf und schneidig – der Trupp schwenkte ab. [S. 241] Aber andere Trupps tauchten auf, tauchten unter: woher, wohin? Und Fußvolk marschierte in einer Kolonne heran, man hörte aus der Ferne das dumpfe Stampfen; schnell formierte sich eine lange Linie: Seitengewehre vor – bum, ein Kanonenschuß von irgendwo her – und nun Geknatter. Kleingewehrfeuer. Eine Gefechtsübung.

»Verflucht!« Der Süßchenbäcker schleuderte den Spaten hin, daß er vom Stiel abflog: nun war nichts mehr zu wollen! Mit einem Wutgebrüll schmiß er sich auf den zerbrochenen Spaten nieder und rührte sich nicht.

Der Hilfsaufseher kam eilig herbeigelaufen: was ging denn hier vor? Nun hatte er doch etwas gehört. Aber er war kein Simon Bräuer; wenn er auch die Flinte umfaßt hielt, ganz umsonst gebot er, der Sträfling stand nicht vom Boden auf, gehorchte auch keinem Fußtritt und keinem Rippenstoß. Vergebens fluchte er und schrie, der Süßchenbäcker wälzte sich am Boden und heulte wie ein Besessener. Verzweifelt blickte der Hilfsaufseher aus: wenn doch Bräuer zurückkäme! Aber der war noch nirgend zu sehen. Es blieb ihm nichts übrig, als den sich Wälzenden von ein paar stämmigen Genossen an Armen und Beinen packen und nach dem Hause hinschleifen zu lassen.

Der Sträfling widersetzte sich nicht mehr; wie ein Toter ließ er sich abschleifen und ins Kaschöttchen werfen. Dabei lachte er heimlich in sich hinein: wenn er auch jetzt bei Wasser und Brot im Dunkeln sitzen mußte, der Kerl, der Hampelmann, die Bangbüx von Hilfsaufseher, kam erst recht in des Teufels Küche! Dies auszudenken machte ihm Spaß, soviel Spaß, daß ihm fast die Wut verging über die vereitelte Flucht.

Während der Hilfsaufseher drinnen im Haus zu schaffen hatte, die schwere Bohlentür vor dem dunklen Loche zuschlug [S. 242] und die Riegel vorlegte, irrte draußen die übrige Herde führerlos.

Viele arbeiteten nach wie vor, stumpfsinnig, als sei nichts geschehen. Sie hatten bei dem Lärm nicht einmal die Blicke erhoben; wie Lasttiere, das Joch auf dem Nacken, trotteten sie Schritt für Schritt weiter, stachen die viereckigen Ausschnitte aus dem Boden und stülpten sie auf. Was ging es sie an, wenn einer revoltierte?! Das verbesserte ihre Lage doch nicht; höchstens wurde der Bräuer noch strenger.

Der alte Kunde, der Paternoller, hatte sich an Jakobs herangemacht; seit der Rotkopf neulich so gestöhnt hatte, war es dem Alten, als müsse er dem Jungen etwas zugute tun. »Ruh dich aus, ruh dich wat aus,« mahnte er. »Jetzt sieht dich niemand. Jung, du kannst ja nit mehr!«

Der Blasse hatte bis jetzt fortgearbeitet; Schweiß troff ihm von der Stirn, seine Brust zitterte unter angestrengtem Atmen. Nun, da der Alte ihn anredete, schreckte er auf: »Laß mich in Ruh!« Aber dann stöhnte er: ja, er konnte nicht mehr! Scheu sah er sich um – niemand beobachtete ihn – und der Alte hier würde ihn nicht verraten! Mit ein paar Sätzen war er hinter dem nächsten Gebüsch, warf sich da lang hin und keuchte sich aus. Aber bald, nun er ruhte, ließ das Arbeiten in seiner Brust nach, er fühlte etwas wie Wohlbehagen. Ah, die Luft war heut schön! Der Duft der großen Tannen an der Ley kam herüber und mischte sich mit dem strengen und doch wohltuenden Geruch des Heidekrauts. Blaßrosa Glöckchen in niedrigen kleinen Büschelchen blühten zwischen dem anderen höheren Kraut. Der Sträfling riß ein paar Stengelchen davon ab und steckte sie zwischen die Lippen. Er saugte daran; harzig und bitter schmeckte das, aber es tat seinem immer trockenen Munde doch wohl. Er schloß die Augen.

[S. 243] Um ihn summte es – Bienen im Wind – oder war es der Wind selber in den Ästen der Tannen? Sonst nichts. Nicht die harte Stimme des Aufsehers. Da, plötzlich ein Singen! Er erschrak; ein Anruf des Aufsehers hätte ihn kaum so erschreckt.

»Der dritte schütz’ mich immerdar,
Daß mir nichts Böses widerfahr’!«

Da stand ein kleines Mädchen nicht weit von ihm in der Heide, bückte sich und pflückte von den rosa Glöckchen. Einen dicken Strauß hielt es schon in den Händen. Er glotzte.

Das Kathrinchen war gar nicht erschrocken über den Mann, der da plötzlich hinter einem Brombeergestrüpp vor ihm lag: ei, der war müd, der ruhte sich aus! Emsig pflückte es weiter: hier blühten die Glöckchen am allerschönsten, ein Kranz davon mußte die Mutter Gottes in der Ley herrlich kleiden!

Es war Kathrinchen plötzlich eingefallen, der Maria im Stein einen Kranz zu binden, als sie so still dagesessen und gestrickt hatte. Die Kühe waren ja brav, die liefen nicht weg, sie konnte sich schon getrauen um den großen Felsen und um die schwarzen Tannen herumzuwandern und Blumen zu pflücken, da, wo sie am schönsten blühten.

Sie lächelte den Mann an.

Er sagte nicht ›Guten Tag‹, er wies nur mit ausgestrecktem Finger auf ihren Rocksaum.

Sie guckte an sich herunter. O weh! Mit Schrecken sah sie, was sie angerichtet hatte: ihr Strickzeug, Jesus, ihr Strickzeug! Sie schleifte es hinter sich her, der Wollfaden hakte an den scharfen Pinken ihrer Schuhe fest; er war nicht gerissen, aber ganz verwirrt, vom Knäuel abgewickelt und mit Strümpfchen und Nadeln und allerlei dürrem Kraut unentwirrbar zusammengedreht. Sie stieß einen Jammerruf aus, [S. 244] ließ ihren Strauß fallen und faßte mit beiden Händen nach dem Strickzeug. Der Faden hatte sich ihr wohl zehnmal ums Bein geschlungen, sie saß wie in einer Fessel, sie kam nicht heraus.

Der Mann lag auf dem Bauche, das Gesicht zwischen die Hände gestemmt, und beobachtete sie. Er rührte sich nicht: war die niedlich! Die blassen Lippen seines mageren Gesichts verzogen sich, er zeigte in einem stummen Lachen das ganze Gebiß. Solch niedliches kleines Dingelchen hatte er wahrhaftig noch nie zu sehen gekriegt! Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Aber das Dingelchen kriegte den Faden nicht los vom Bein, es verzog das Gesicht zum Weinen. Da fletschte er die Zähne: »Wart, ich helf dir!«

Geschmeidig kroch er heran, immer auf dem Bauch rutschend; kroch immer näher an sie heran und nahm ihr Beinchen in die Hand. Der Strumpf war heruntergerutscht, er fühlte das nackte Fleisch, warm und weich. Ein Schauer durchrieselte ihn; er stieß einen zittrigen Seufzer aus. Langsam begann er, den Faden vor dem Beinchen abzuwinden.

»Merci,« sagte Kathrinchen jetzt erleichtert. Aber dann schlug sie die Hände zusammen: oh weh, wie sah das Strickzeug aus, die Maschen waren von den Nadeln gerutscht, alles kaputt! Geschwind kauerte sie sich nieder: schnell, schnell, daß nur nicht noch mehr Maschen herunterfielen! Sie wurde blutrot, ihre Hände fingen an zu schwitzen, Tränen schossen ihr in die Augen; sie kam nicht mit der Arbeit zustande.

»Heul nicht,« sagte der Sträfling und nahm ihr das Gestrick aus den Händen. Das Stricken hatte er gelernt, als er das erste Mal gesessen hatte; nun kam es ihm zu paß.

Sie sah ihm zu mit großen Augen, ganz hingenommen von seiner Geschicklichkeit. Er raffte die Maschen auf und strickte ein paar Male herum. Sie sprang auf und wollte [S. 245] hell jubeln. Er aber riß sie heftig am Rock wieder nieder: »Halts Maul!« und nickte mit den scheuen Augen aufs Venn hinaus zum Hause mit dem roten Dach hinüber.

Da sah Kathrinchen erst, daß er Sträflingskleidung trug. Aber auch jetzt war sie nicht bange: der war ja so gut! Verständnisvoll nickte sie: er wollte sich wohl hier ausruhen von seiner schweren Arbeit, und nun mußte sie still sein, sonst kam der Aufseher und holte ihn! Sie duckte sich ganz geschwind wieder nieder zu ihm hinter den dichten Busch. St, ganz still!

So blieben sie noch eine Weile zusammen. Er lag auf dem Bauche, die Ellenbogen aufgestemmt, das Gesicht zwischen den Händen und betrachtete sie immerwährend. Sie hatte ihre Kühe ganz vergessen, strickte eifrig, das Versäumte wieder einzubringen. Und dabei unterhielten sie sich, ganz leise, flüsternd, damit niemand sie höre. So scheu sonst Kathrinchen vor Fremden war, so gesprächig war sie jetzt; sie erzählte von der Schule, von den Eltern, von den Geschwistern und von der Maiblum daheim. Sie hatte ja den ganzen Tag so still sein müssen.

Er hörte ihr zu mit offenem Munde und verschlang sie fast mit den Blicken. Plötzlich schreckte er auf, eine Stimme hallte laut. Der Bräuer, kam der schon wieder?! Nun hieß es, sich davonmachen. »Bis auf ein andermal,« flüsterte er heiser. Ob sie ihm wohl die Hand geben würde?

Sie gab ihm freiwillig die Hand.

Oh, wie tat ihm das wohl, daß das Kind sich nicht vor ihm fürchtete! Starr, unverwandt hingen seine Blicke an ihr. Die Furcht saß hinter ihm – da war ja schon der Bräuer – aber er konnte sich gar nicht trennen. Ein heißes Verlangen kam ihm plötzlich, die Kleine zu küssen. Kaum bezähmte er sich: nur nicht sie erschrecken! Wenn er das tat, sie in seine Arme [S. 246] packte, dann kam sie vielleicht nicht wieder, nie wieder – und sie sollte, sie mußte wiederkommen. Er mußte sie noch einmal antreffen hier hinter dem Busch!


Als Kathrinchen diesen Abend nach Hause trieb, war sie glücklich; der Tag war ihr gar nicht lang geworden. Ihre sieben Stück waren auch brav gewesen, hatten sich so satt gefressen, daß sie keine Seitensprünge mehr machten, sondern bedächtig hintereinander gingen mit wackelnden Bäuchen. Es bedurfte keines Knalls und keines Schlages mit der langen Peitsche, die noch einmal so lang war, wie die Hirtin selber. Der Bauer hatte Kathrinchen einen Hund mitgeben wollen, aber sie hatte keinen gewollt; sie hatte ein bißchen Angst vor Hunden, die bellten so laut.

Die Hirtin sang leise vor sich hin während des ganzen Weges. Um das Kreuz der Ley verglühte das Abendrot; es hüllte auch sie mit in seinen Schimmer. Das Rot des Himmels strahlte weit; der Fluß im Talgrund, drunten das weiße Bahnhofsgebäude und die Gleise, oben das einsame Haus auf dem Venn, das Dorf, an Mattenhängen sich langziehend, seine Hecken und der überragende Kirchturm, alles war rosig bestrahlt.

Holzarbeiter kehrten heim aus den Wäldern, ein Angler kam vom Forellenfang, die Torfstecher kamen zurück, ein Bauer trieb seinen Ochsen zum Schmied weiter ins Dorf hinein, um ihn beschlagen zu lassen, und durch die Heckenausschnitte sah man die Frauen auf den Türschwellen sitzen und Kartoffeln schälen. Kathrinchen grüßte, manch freundlicher Gegengruß wurde dem Hütekind.

An der Hecke beim Adams stand schon die Bäuerin und nahm die Kühe in Empfang; sie gab Kathrinchen ein Schmierchenbrot. Gern hätte Kathrinchen das selber gegessen, ganz [S. 247] verstohlen leckte sie einmal daran im Schutz der Hecke – ha, wie lecker! – aber sie gönnte es sich nicht. Das sollte die Mutter haben oder die Bäreb.

Aber Bäreb war noch nicht daheim. Den Geschwistern war es zu lang geworden, auf den letzten Zug unten am Bahndamm zu lauern: wer weiß, am Ende kam die Bäreb auch mit dem Zuge noch nicht! Frau Huesgen war in einiger Unruh: die Bäreb hatte doch so bestimmt gesagt, daß sie heute wiederkommen würde. Und morgen mußte sie ja wieder in die Fabrik. Und nun war es schon so spät!

Den Kindern, die um den Tisch saßen, glänzten die Augen: ha, Milchsuppe mit Brotbrocken drin, wie lange hatte es keine solch gute Suppe gegeben! Die liebe Maiblum! Wenn doch die Bäreb käme, was würde die dazu sagen! Sie platzten fast vor Begier, der Schwester etwas zu verkünden.

Es war dunkel in der niedrigen Küche, ein Lämpchen wurde jetzt nicht mehr angezündet wie im Winter, das sparte man. Man sah fast nichts mehr, nur mitunter glitzerten beim Fallen von Funken im Aschenloch die hurtig sich drehenden Augäpfel der Kinder. Der Suppennapf war geleert, die Blechlöffel auf den Tisch gesunken, müde gähnten die Kleineren. Wie spät mochte es wohl sein? Sie konnten den Himmel nicht sehen, hatten keine Uhr im Haus, und auch keine schlug von der Kirche. Ob die Bäreb nun noch kommen konnte?! Unruhig ging die Mutter zur Tür hinaus und kam ebenso unruhig wieder zurück. Es half nichts, man mußte ohne Bäreb den Rosenkranz beten. Frau Huesgen kniete nieder, ihre Kinder knieten um sie her. Ein Ave reihte sich an das andere.

Obgleich das Fenster geschlossen blieb und draußen die Hecke hoch ragte, hörte man doch das betende Murmeln bis auf die Straße hinaus. So hört man’s um diese Zeit, da Nacht sich senken will und die Hecken schwarz ragen, fast aus jedem [S. 248] Hause von Heckenbroich. Die Mutter betete vor mit einigen Kindern: »Gegrüßet seist du, Maria,« und im Zusatze: »der uns den heiligen Geist gesandt hat!« Die anderen antworteten: »Heilige Maria, bitte für uns Sünder!«

In Frau Huesgens Seele zog Ruhe ein: was hatte sie denn, daß sie sich so aufregte? Ihre Kinder standen ja unter der Heiligen Schutz! Sie bekreuzigte sich fromm.

Da wurde die Tür hastig aufgerissen – ein wohlbekannter Tritt – da stand die Bäreb. Ja, sie war’s, obgleich man sie im Dunkeln kaum erkennen konnte. Der Dores greinte.

Die Mutter riß ihn in ihre Arme und küßte das übermüdete, weinende Kind: Dores, ihr Doreschen, nun war er wieder da, und war so viel besser!

»’n Abend zusammen,« sagte Bäreb. Aber ihre Stimme klang gedrückt; es war nichts von der Freude darin, wieder daheim zu sein.

Die Geschwister umringten sie, Kathrinchen schmiegte sich an sie, die Jungen rissen ihr fast den Rock vom Bund; jeder wollte sie anfühlen, jeder wollte ihr die Wangen patschen, und jeder ihr gleich ins Gesicht schreien: »Oß Maiblum, oß Maiblum! De hat e Kalev krigge, esu e fing Kalev!«

Bäreb war zusammengezuckt, sie sagte kein Wort, sie lachte auch nicht mit den Geschwistern. Langsam, schwer tappte sie hin zum Tisch und setzte sich auf die Bank. Sie stützte den Kopf, und dann brach sie plötzlich in ein heftiges, schluchzendes Weinen aus.

Die Kinder standen verdutzt: die Bäreb weinte, weil die Maiblum ein Kalb gekriegt hatte? Was fiel der denn ein?! Aber Frau Huesgen nahm’s nur als Freude, sie wußte, wie Bäreb an der Maiblum hing. Und konnte sie denn nicht auch vor Freuden weinen, daß ihre Wallfahrt so gut geholfen hatte?! Sie strich der Tochter übers Haar, von dem das [S. 249] Kopftuch heruntergeglitten war. Rauh und verwahrlost lagen die Haare an den Schläfen, und als Kathrinchen jetzt doch eine Lampe angezündet hatte, sah die Mutter, wie blaß und verstört die Bäreb aussah, gar nicht zum Kennen, förmlich alt und herabgekommen vor übergroßer Müdigkeit. Ja, es war eine harte Tour gewesen, noch dazu mit dem Dores! Aber der Herrgott im Himmel würde es der Bäreb schon lohnen, was die aus Liebe zu den Ihren getan hatte. Und nun, wie war’s denn gewesen, wollte sie denn gar nichts erzählen von Echternach?! Sie brannten alle darauf.

Aber Bäreb schüttelte stumm-verneinend den Kopf.

Nun morgen, bis morgen würde man sich ja noch gedulden, da würde man schon alles zu hören kriegen, jetzt war die Bäreb zu müde! Frau Huesgen trieb die Kinder zu Bett. Gleich darauf lag auch Bäreb neben Kathrinchen und schlief wie eine Tote. –

So müde auch Bäreb gewesen war, am Morgen war sie doch schon wieder früh auf, so früh, daß sie bereits zur Fabrik gegangen war, als die Mutter erwachte. Und am Abend kam sie so spät wieder, daß es schon dunkel war in der Hütte, als sie eintrat. Und so ging es Tag für Tag, Woche um Woche; immer war’s so.

Und es war, als sei Bäreb nie fortgewesen, als sei kein Echternach in ihr Leben getreten. Nur am Sonntag, wenn auch der Vater daheim war, dann hatte Bäreb Zeit, an Echternach zu denken; dann erzählte sie wohl auch – Wunderdinge – ihre blassen Wangen röteten sich dabei, und Eltern und Geschwister lauschten, die Augen aufgerissen, in einer andächtigen Scheu.

*     *

*

[S. 250] Der Juli war auf seiner Höhe, die Matten um Heckenbroich in die Halme geschossen; zartes Reihgras mit tausenden von Blumen durchsetzt, stand in leuchtenden Farben. Bunten Teppichen gleich, in allen Schattierungen von rot und blau, von gelb und weiß, säumten die Wiesen den Fluß-Grund und stiegen an den Hängen hinauf, bis hoch zum Venn.

Das dörrte jetzt schweigend im Sonnenbrand. Wo sonst grünes Gras aus feuchtem Grund gewuchert hatte, war es jetzt trocken und das harte Sauergras war gelb und schilfig geworden. Die Rinnsale alle, die das Venn durchschleichen, die Bächlein, schmal, zweihandbreit, die man kaum sieht im buschigen Grund, unterm Grün der Preißelbeere zwischen den Moospolstern, wollten jetzt versiegen. Nur der Fluß im Tal und der Bach in der Au hatten noch Wasser; aber auch sie rauschten und sprangen nicht mehr in sprudelnder Frische über die Steine, langsamer zogen sie hinab, wie müde geworden.

Das Venn tat sein Maul auf. Der moorige Grund schrumpelte ein in unzählige Falten und Fältchen, wie ein runzliges, altes Gesicht; und dann riß die Erde in handbreite Spalten. Stundenweit konnte man jetzt trockenen Fußes gehen, wo man sonst hatte waten müssen; nur die ganz tiefen Löcher hatten noch Wasser, aber es war von einer trügerischen Grasnarbe zugedeckt. Die ganze Fläche war besetzt mit den schwarzen Haufen der Torfstücke, die die Torfstecher aufgesetzt hatten zum Dörren; Totenhügeln glichen sie nach einer mordenden Schlacht.

Ab und zu ragte ein Kreuz, verwittert, kohlschwarz, schief auf die Seite gesunken, einem Toten zum Gedächtnis gesetzt in dieser schattenlosen, angeprallten, atem-anhaltenden Einsamkeit.

Regungslos standen die Grenzen der Tannenwälder. Das Wild trat heraus am hellichten Tage, es wartete nicht mehr [S. 251] den Abend ab; in Rudeln kam es bis dicht vors Dorf, um in den beblümten Matten zu äsen. Es hatte Hunger, denn die zarten Farrenwedel, die unter den Tannen grünen, waren längst geknickt von der Hitze, Moos und Gras versengt von den Strahlenschwertern, die an den nackten Tannenstämmen niederfuhren bis zum Grund. Erbarmungslos war jeder Stengel geköpft. Die Preißelbeere zeigte die Notreife, und die Heckenbroicher besprachen schon die Aussichten dieser Beerenernte. Aber vorerst hatten sie noch ihre erste Ernte einzubringen: das Heu.

Überall wurden die Wiesen gemäht, überall duftete es nach Heu. Zu rasch fast trocknete es, wie Pulver zerrieb es sich zwischen den Fingern, man konnte nicht eilends genug es wenden; das war ein jähes Dörren, fast dem Verkohlen gleich. In der glühenden Luft ging aller Saft verloren, alle Kraft, die doch darin bleiben muß, soll das Vieh sich gut nähren. Und es wurde noch heißer, immer noch heißer. Jeden Tag die gleiche eintönige Bläue, die nicht vom kleinsten Wölkchen durchsegelt ward; ein Himmel von eherner Monotonie. Die Augen sehnten sich nach Grau, nach trüber Beleuchtung; es tat ihnen weh, immer in diese blinkernde, blendende Weite zu sehen.

Balthasar Adams vom grünen Klee kratzte sich bedenklich den Kopf. Er hatte die meisten und besten Wiesen, aber auch er hatte dies Jahr zu klagen: das Heu hatte gar keinen Gehalt. Und noch immer keine Aussicht auf andere Witterung. Sonst hatte man den Regen in der Heuernte immer gefürchtet, jetzt hätte man ihn gern haben mögen; acht Tage hintereinander, das wäre nicht zuviel gewesen. Was sollte man machen, wenn das Wetter so blieb?! Dann verbrannte auf den gemähten Wiesen die Grasstaude bis in die Wurzel, sie trieb nicht mehr aus; es gab eine erbärmliche Weide fürs Vieh diesen Herbst. [S. 252] Und man hatte selber bald kein Wasser mehr; tief, tief mußte man jetzt schon den Eimer hinablassen in den Brunnen, so tief als die Kette reichte, und brachte dann doch nur trübes und grundiges Wasser herauf. Eine Dummheit war’s von dem Leykuhlen gewesen, fast eine Fahrlässigkeit war’s zu nennen, daß er, anstatt den Kirchenbau so zu betreiben, nicht lieber eine Wasserleitung gebaut hatte! Er war Bürgermeister – der geistliche Herr war schon alt – er, er mußte es doch wissen, was der Gemeinde am nötigsten tat. Wie lange würde es noch dauern, und man hatte, wenn das Wasser so schlecht wurde, die Krankheit hier, die wie ein Gespenst sich zuzeiten immer wieder sehen ließ im Land.

Der Bauer Adams trank längst wieder aus seinem Brunnen. Was kümmerte es ihn, daß es verboten war?! Sein Nachbar Zumstädtchen tat es ja auch. Aber ein gutes Gewissen hatte er doch nicht dabei. Ja, hätte man nun eine Wasserleitung, wie man sie hätte haben können, vom reinen Wasser des Aubachs, man wäre aller Unruh und allen Ärgers ledig gewesen. Der Leykuhlen, der Leykuhlen mit seiner Kirch, der Teufel sollte ihn holen mitsamt seinem Frommsein!

Ein grimmiger Zorn gegen den Bürgermeister faßte den Bauer. Ein um so größerer, als er klug war, um sich nicht selber auch einen Teil Schuld beizumessen. Er war die gewichtigste Stimme, hatte die meisten Weiden, das meiste Vieh, warum hatte er denn nicht das Maul aufgetan und dagegen gesprochen, als sie alle schrieen: En neue Kirch, en neue Kirch, und dem Bürgermeister zustimmten?!

Seitdem man dem Adams seinen Brunnen verschlossen hatte – seinen eigenen Brunnen, auf seinem eigenen Grund und Boden, so daß er nur nächtens daraus schöpfen konnte, heimlich daraus stehlen mußte wie ein Dieb! – seitdem hatte sich seine Meinung völlig geändert. Eine Wasserleitung mußte [S. 253] sein, eine Wasserleitung hätte längst sein müssen, daß man nicht solchen Unannehmlichkeiten ausgesetzt war! Seine Hände, die er in beiden Taschen der Buckskinhose stecken hatte, ballten sich unwillkürlich zu Fäusten. Er sah den Leykuhlen da hinten durch die Wiesen schreiten – aha, der sah nach seinen Knechten, die dort mähten – der kam ihm gerade recht!

»Hela!« Er schrie ihn an, und als der andere nicht gleich hörte, weil selbst die starke Männerstimme in der großen Weite verflatterte wie ein schwacher Kinderruf, legte er die beiden Hände als Schallrohr an den Mund und brüllte hinein mit Aufbietung aller Kräfte: »Hela!«

Da stutzte Leykuhlen und sah sich um.

Jetzt hatten sie sich ins Auge gefaßt. Der dürre Adams schwenkte die Arme und gestikulierte. Sie kamen aufeinander zu.

»Burjermeester,« sagte der Bauer, »da ’s jot, dat ich Uech ens treff! Wie is et dann mit der Wasserleitung? Solle mir noch lang dat Wasser saufe uhs oß Pötze? De Frösch springen drin!« Er sah den andern blinzelnd an: das war ja ein bißchen übertrieben, aber das schadete nichts, der Bürgermeister sollte merken, daß es ihnen nun Ernst war, daß sie nicht damit einverstanden waren, daß das Geld, das schöne Geld der Gemeinde so verbaut worden war! Er knurrte grimmig: »Hm, is dat en Trockenheit – Jeses, en Hitz! – und wann mir keen Wasser mieh hant, wat dann?«

Leykuhlen war blaß, aber eine heiße Röte trat ihm jetzt auf die Stirn. »Bin ich der liebe Herrjott? Kann ich rejnen lassen über Nacht und am Tag die Sonn scheinen? Akkurat esu, wie et Uech passend wär?!« Er zuckte die Achseln und sah niedergeschlagen und abgespannt aus.

»Davon is jo keen Red!« Adams brauste auf: was stellte der Bürgermeister sich denn so dumm? »En Wasserleitung [S. 254] hätt’r baue solle, dozumal, wie m’r esu jot bei Kass’ wore! Wat fange mir mit der jruße Kirch an? Die alt war noch lang jot. Do bruchte mir keen Angst ze han, dat oß Pötze zu End jonn. Der Zumstädtchen hat heut nühst wie Schlamm eropjehollt!« Mit bösen Augen sah er dem Bürgermeister ins Gesicht.

Leykuhlen hielt den Blick ruhig aus. »Wat regt Ihr Uech esu op, Adams,« sagte er dann. »Et is wahr, et is en schlimm Zeit, äwer de Sonn hat oß noch nie jeschadt!« Er legte dem Bauern die Hand auf die Schulter und versuchte ein Lächeln. »Ihr seid doch ’ne kloge Mann, laßt doch nit jlich der Mut falle! Et hat noch immer, immer jot jejange. Wenn et esu bleibt, müsse wir uns eben Wasser fahren, aus dem Aubach erop, in Fässern. Dat is dann nit angersch!«

»So?« Zornsprühend sah ihn der sonst so ruhige und gehaltene Bauer an. »So, un wer soll dann in dieser Zeit oß Heu einfahre? Et hat nit jeder esu vill Ochse, wie Ihr habt. Un noch zwei Perd. En halev Stund erunter, en Stund erup – wat sollen die Leut dann maache, die kee Fuhrwerk han?«

»Wir werden ihnen aushelfen, dafür sind wir Heckenbroicher. Mer soll von uns nit sagen, dat wir Brüder im Stich jelassen hätten!«

»Jo woll, jo woll,« höhnte Adams, »predigt Ihr nur esu weiter, dat hört sich alles siehr schön an. Ihr hätt oß nur früher nit im Stich losse solle. Jo, Ihr, Ihr!« Er fuchtelte dem andern mit seinem Finger immer vor der Nase herum. »Et is jot fromm sein in anger Leuts Tasch. So’n Dommheit, so’n Unsinn, esu en jruße Kirch zu baue, wenn et Nötigste im Dorf fehlt!« Er räusperte sich zornig und spuckte aus in großem Bogen.

Sie standen in der Prallsonne, die Hecke, die hinter ihnen die Weide abschloß, gab nur einen schmalen Streifen Schatten. [S. 255] Die Röte, die der Bürgermeister vordem nur auf der Stirn gehabt hatte, zog sich immer tiefer herab über sein ganzes Gesicht. Er schwitzte und dabei fror ihn. Der starke Mann schüttelte sich wie in innerem Frost: der Bauer hatte so unrecht nicht, ja, es war schlimm, sehr schlimm jetzt, daß sie keine Wasserleitung hatten!

Unbarmherzig fuhr Adams fort: »So, un wenn mir nu de Krankheit kriege – mer soll doch dat Wasser nit trinke, et wär unjesund – die is doch nit et erschte Mol he. Wenn se nu wiederkömmt?!« Er sah dem Bürgermeister mit einem gewissen Triumph ins Gesicht: »Wenn se nu wiederkömmt, he?«

»Se is schon da,« sagte der andere erbleichend.


Es war so. Bürgermeister Leykuhlen mußte es ja wissen, und er wußte es bereits seit zwei Tagen: drei Fälle von Typhus waren im Lager. Man hatte erst Hitzschlag angenommen; die Leute waren bei einer Gefechtsübung gewesen, die Sonne hatte geprallt, als schösse sie mit mörderischen Pfeilen. Aber nun schüttelten die Ärzte die Köpfe: wo hatten sich die Kerls den Typhus geholt?! Jedenfalls außerhalb des Lagers. Es war ja bekannt, diese Gegend war verseucht; es gab ein Dorf hier, nicht allzu weit, dort hatte der Typhus in einem Jahre so gemäht, daß der Kirchhof zu klein geworden war, und man flugs einen neuen anlegen mußte. Und Tage waren es jetzt, so heiß wie unterm Äquator, und die Nächte trotzdem eisig kalt. Eine Gegend wie Sibirien! Dazu die ablehnende Verschlossenheit der Bevölkerung gegen alle Neuerungen. Wer weiß, wo die Soldaten sich herumgetrieben hatten?!

Die strengsten Absperrungsmaßregeln wurden auf dem Platz durchgeführt. Urlaub gab’s nicht, kein Soldat durfte [S. 256] das Lager verlassen, die Posten wurden verdoppelt. Auch das Sitzen abends vor den Baracken, unter deren Wellblech keiner gern hineinging, wurde den Leuten nicht mehr gestattet. Es war die einzige Annehmlichkeit gewesen, abends wenn die Dämmerung aufs rote Heidekraut sank und die Nebel vom Moorland aufstiegen, sich draußen abzukühlen. Weit, weit bis ins Venn hinein war der Gesang der Soldaten erklungen.

»Es waren drei Soldaten,
Dabei ein junges Blut,
Sie hatten sich vergangen,
Der Graf nahm sie gefangen
Setzt sie bis auf den Tod!«

Der junge Leutnant Abeking hatte den Leuten oft zugehört, gern zugehört. Schön waren die Lieder, mehrstimmig, von den starken Kehlen gesungen, deren Ungeschultheit hier nichts das Ohr Verletzendes hatte. In der großen Unbegrenztheit klangen die Sänge weich und getragen.

»Des Abends kann ich nicht schlafen gehn,
Ich muß erst meine Herzliebste sehn –
Steh auf, mein Schatz, und laß mich ein« –

Das war wie ein Anruf, das pflanzte sich fort von Baracke zu Baracke; das ganze Lager war voll davon. Naturlaute, Sehnsuchtsklänge. Sie wurden eins mit dem Locken des Bächleins, mit dem leidenschaftlichen Liebeskonzert der Frösche.

Nun war auch das Singen verboten. Wer draußen gesehen wurde nach Sonnenuntergang, bekam drei Tage Mittelarrest.

Auch die Offiziere fuhren längst nicht mehr so oft hinunter ins Städtchen, Leykuhlen brauchte sich nicht über unausgesetztes Rädergerassel und spätes Heimkehren bei Nacht zu [S. 257] kränken; die Geschichte mit Abeking hatte ihnen die Lust dazu etwas benommen.

Der junge Leutnant war fort. Seine Kopfwunden gingen nicht ans Leben, aber er war doch fort; nicht in seine Garnison zurück, er hatte Urlaub bekommen – auf unbegrenzte Zeit. Und der Abschied würde nachfolgen, das wußten alle mit den Verhältnissen Vertraute. Das legte einen Druck auf die Gemüter.

Kein Mensch wußte zu sagen, wie die Geschichte eigentlich ruchbar geworden war – was wäre denn sonst so Schlimmes dabei gewesen: ein junger Mensch reitet im Dusel einmal zum Liebchen, unvorsichtig, tollkühn, er stürzt – aber nun, nun?! Es war alles zu offenkundig. Es war unmöglich, Abeking konnte nicht bleiben.

Leutnant Schmidt und der Stabsarzt hatten sich bis jetzt noch immer nicht entschließen können, wieder im Schwan zu kneipen. Aber die Neugier plagte sie: was mochte die schöne Helene wohl für ein Gesicht machen?! Es war ein Jammer um den Abeking, ein so netter Junge, ein so lieber Mensch, und Offizier dazu mit Leib und Seele! Was fing er jetzt an? Er saß nun zu Hause bei Muttern. Eine verkrachte Existenz, ein zerstörtes Leben, ehe es noch eigentlich recht angefangen hatte. Als Mann konnte man ihn voll und ganz verstehen: es war ja nur eine Dummheit gewesen, eine verliebte Torheit. Diese Helene, dies Teufelsweib! Daß sie es gewesen war, die der verliebte Junge zu einem Schäferstündchen im Waldesdunkel entführt hatte, von dem er dann, wie im Rausch, davongesprengt war, so blind und toll, daß der Gaul, erregt durch die Erregung des Reiters, wild wurde und scheute, das zirpten alle Spatzen von den Dächern. In den Augen ihrer Freunde hatte die schöne Frau darum aber nicht verloren: im Gegenteil; sie war nun mal so! Und sie hielt schadlos für manches [S. 258] andere. Was hätte man denn sonst machen sollen, in dieser völligen Weggesetztheit?!

»Ich seh et schon, lang dauert et nit, und wir sind wieder am Herunterfahren,« sagte der Rheinländer. Und der Stabsarzt sagte ganz ernsthaft: »Dann wollen wir aber alle drei an Abeking ’ne Postkarte schreiben. Der arme Kerl!«

Vorläufig fuhr nur Scheffler herunter, so oft der Dienst es erlaubte; er war ein sehr verliebter Bräutigam. –

»Bärtes, es ist nicht mit anzusehen,« sagte Josef Schmölder, als er heute heraufkam, den Freund zu besuchen. Er hatte es nicht mehr ertragen können, unten nur von der Ausstattung, von Wäsche – Leibwäsche, Tafelwäsche, Bettwäsche – von Silber und von Möbeln reden zu hören. Scheffler drängte darauf, daß die Hochzeit schon zum Winter sein sollte, aber – »Gott sei Dank, da ist Heinrich doch fest geblieben,« sagte Josef. »Er gibt Hedwig allerfrühestens nächstes Frühjahr fort. Der Herr Bräutigam ist zwar ganz unparlamentarisch geworden, und die kleine törichte Person hat geweint; aber es hilft ihnen alles nichts. ›Mai frühestens, so wahr ich Heinrich Schmölder bin‹, hat er gesagt. ›Und wenn Ihnen das nicht paßt, so lassen Sie’s bleiben!‹ Dabei hat er dem Monsieur ganz unverfroren ins Gesicht gesehen!« Josef lachte. »Das hat mir ordentlich gefallen vom Heinrich – er ist doch ein Kerl! Es sei ihm darum manches verziehen, was er mir an den Kopf geworfen hat, der Grobian!«

Leykuhlen lachte nicht mit. Er war heut nicht wie sonst, seine Frische war fort. Josef glaubte auf dem glatten, braunroten Landmannsgesicht Furchen zu sehen, die ein Kummer gepflügt hatte.

»Was ist das heute mit dir, Bärtes,« sagte er herzlich und sah dem großen Mann, der vor dem Kanapee stand, in dessen ausgesessene weiche Ecke er sich bequem hineingedrückt [S. 259] hatte, von unten her in die Augen. »Hast du Ärger gehabt? Du bist auch traurig; das paßt gar nicht zu dir!«

»Er macht zu viel Jedanken,« sagte Frau Mariechen, die aus dem Schrein die buntblumigen Kaffeetassen hervorholte und auf den mit weißer Serviette gedeckten Tisch stellte. Auch sie sah von unten her ihren Mann an; es war eine demütige Besorgnis in ihrem Blick. »Ach, sagen Sie et ihm doch, Herr Schmölder, dat er recht dran jetan hat, die Kirch zu bauen. Und dat er doch nit dafor kann, dat die Krankheit nu auch im Dorf is!«

Wie, war hier auch Typhus? Josef machte ein betroffenes Gesicht. Aber ehe er etwas sagen konnte, sagte Leykuhlen schon: »Wir haben bereits zwei Fäll im Dorf. Vorjestern der Peter Jans, unten in der Lämmerjaß; jestern der Mechernich am jrünen Klee. Torfarbeiter, arme Leut mit vielen Kindern. Und wer kömmt nu an die Reih?« Mit einem tiefen Seufzer setzte er sich schwer auf den Stuhl an den Tisch und stützte den Kopf in die Hand.

Die Frau trat dicht neben ihn, sie legte den Arm um seinen Nacken. »Bärtes, wat machste dir für Jedanken – o, ich kenn se all!« Sie klopfte ihm gegen die heiße Stirn. »Du denkst, wenn die Leut sterben, die Männer von ihren Frauen weg, die Ernährer von ihren Kindern, dann bist du dran schuld, weil wir noch kein Wasserleitung haben im Dorf. Weil die Leut immer noch aus ihren Pötzen trinken. Ach, dat is ja all dumm Zeug!« Sie versuchte zu lächeln; es gelang ihr auch, ihre Stimme klang heiter: »Bärtes, du hast zu schwer Blut! Herr Schmölder« – sie wandte den Blick ihrer klaren Augen jetzt Josef zu – »ich kenn meine Mann jetzt jar nit mehr, er is doch sonst auf ’m Platz, zu juter wie zu böser Zeit. Und er hat doch auch sonst immer jewußt, dat über uns einer is, der alles so macht, wie et jut is. Laß se doch reden, Bärtes, laß [S. 260] se doch schimpfen, laß se doch schreien: en Wasserleitung hätt jebaut werden müssen! Laß se doch, Bärtes! Ich, dein Frau, ich sag dir: recht haste jetan, janz recht!« Sie reckte ihre Gestalt mit dem sonst immer ein wenig geneigten Kopf zu ihrer schlanken Höhe auf: »Recht haste, Bärtes!«

War das eine Energische! Josef hätte das gar nicht von der zurückhaltenden, sonst immer wenig Worte machenden Frau erwartet. Jetzt floß ihr ja die Rede vom Mund – und aus dem Herzen; und das war die Hauptsache. Eine prächtige Frau, auch eine schöne Frau! Das war ihm vordem nie aufgefallen. Aber auf diesem Gesicht mit den einfachen Linien lag jetzt soviel Hingabe, soviel felsenfestes Vertrauen, daß es schön wurde und auch jung, ohne doch eigentlich jung mehr zu sein. Und ihre Stimme klang frisch.

Als Frau Mariechen jetzt ihre Wange auf die Stirn ihres Mannes legte, schien sie des Fremden Anwesenheit völlig vergessen zu haben. »Bärtes,« flüsterte sie in ihn hinein, »Bärtes, sei doch nit esu bang!« Und dann wurde ihre Stimme ermutigend; das Anfeuernde lag noch mehr im Ton als in den Worten. Sie faßte ihn bei beiden Schultern und sah ihm tief in die Augen: »Mann, Mann, wer ein rein Jewissen hat, der braucht doch keine Mensch zu scheuen. Und du hast en rein Jewissen, Bärtes, so wahr ein Jott lebt!«

»Deine Frau hat ganz recht, Bärtes,« sagte Josef und nickte dem Freund zu. Er wollte auch Frau Mariechen zunicken, aber sie hatte sich losgemacht und war rasch hinausgeeilt, errötend wie ein Mädchen, dessen Liebesgeständnis ein Unbefugter belauscht hat. »Du hast ’ne famose Frau, Bärtes!«

»Dat weiß ich, dat weiß ich!« Der Bürgermeister lächelte, aber es war nur ein flüchtiger Glanz, der über sein Antlitz huschte. »Sie jlaubt an mich. Sie weiß ja auch, wie [S. 261] ich’t jemeint hab – wenn ich nur andere davon auch überzeugen könnt! Oft mein ich jetzt, ich hab doch nit dat Richtge jetan. Jott, Jott –« er verstärkte plötzlich seinen Ton, stützte beide Arme auf den Tisch und den schweren Kopf zwischen sie – »wenn ich dächt, dat durch en Wasserleitung die Typhusjefahr abjewendt wär, ich könnt mir die Haar aus ’m Kopf reißen, dat se noch nit jebaut is!« Er faßte sich mit beiden Händen in die Haare und riß daran. »Ich Esel, ich Schafskopp, ich Doof-Uehl!« [22] Er stöhnte auf und schloß die Augen wie in einem Schwindel.

Es war heiß und still in der Stube, man hörte das Fliegengesumm. »Josef!« Etwas ruhiger geworden, hob der Bürgermeister jetzt wieder von neuem an: »Siehste, Josef, mer meint et so jut und macht et doch immer all verkehrt – und dat macht eso traurig. Is et dir auch als so erjangen?« Fast hilflos sah er den andern an, auf seiner Stirne perlte der Schweiß.

»Und ob!« Josefs Mund verzog sich zu einem leicht-ironischen und doch auch bitter-traurigen Lächeln. »Ob’s mir so ergangen ist?!« Er sagte mehrmals rasch hintereinander: »Immer! Öfter als dir, Bärtes, das kann ich dir sagen. Du bist doch ein anderer Kerl. Dich möchte ich beneiden – jetzt doppelt, weil ich weiß, was du an deinem Mariechen hast. Ich habe niemanden!« Er seufzte. Aber rasch die Bewegung abschüttelnd, die ihn erfaßt hatte, lachte er auf. »Wir leben nun einmal, alter Junge, leben, um alles verkehrt zu machen. Das ist nicht anders. Wie’s uns ergeht, geht es noch vielen; ich könnte dir Exempel von Beispielen erzählen – oh! Aber ich denke, wenn wir wenigstens das Gute anstreben, das, was [S. 262] wir als das Gute erkannt zu haben glauben, das ist doch schon immer etwas!«

»Dat is nit jenug,« sagte der Bürgermeister langsam und stand schwerfällig auf. »Ich will dir wat sagen, Josef! Et jibt en Lied in der Kirch – du kennst et jewiß nit mehr – dat lernt mer auch schon in der Schul. Et heißt drin:

›Unser Wissen und Verstand
Ist mit Finsternis umhüllet,
Wenn nicht deines Geistes Hand
Uns mit hellem Licht erfüllet.‹

Und dat is gewißlich wahr, Josef! Dat is die einzige Erkenntnis, die wir haben!«

[22] Scheltwort: taube Eule.


XII

Überall rührte sich der alte Feind. Die Fälle von Typhus im Lager und die Fälle zu Heckenbroich waren der Anfang; andere folgten nach in den Dörfern, die wie Oasen, grünen Tellern gleich, im roten Heidemeer schwimmen. Da und dort. Noch war es keine Epidemie, wie sie zu früheren Zeiten wohl geherrscht hatte, aber doch ging ein Grausen durch alle Gemüter.

Der Kreisphysikus erstattete Bericht nach Aachen; der Landrat runzelte die Stirn.

Bei der schönen Helene im Weißen Schwan kamen die Herren zusammen; sie waren ganz ein und derselben Meinung, auf Leykuhlen wurde viel geschimpft. Dieser dickschädelige Bauernbürgermeister! Es war kaum zu glauben, daß ein sonst doch ganz intelligenter Mann sich so gegen alle Neuerungen verschloß! Der Kreisphysikus kannte die Bauern: natürlich soffen sie aus den geschlossenen Brunnen! Am grünen Klee, wo das Wasser am schlechtesten war, war ja auch [S. 263] der erste Fall gewesen. Diese unvernünftigen Leute konnten es nicht lassen, sie glaubten es eben nicht; nachts wurde geschöpft, weil es am Tage des Verbotes wegen nicht möglich war, und der Bürgermeister, der doch sicher drum wußte, drückte nicht nur ein Auge, nein, alle beide zu. Unerhört!

Es war an einem heißen Vormittag, als Kreisphysikus und Landrat beim Frühschoppen im Schwan saßen und durchs geöffnete Fenster drüben auf der anderen Gassenseite den Bürgermeister von Heckenbroich vorübergehen sahen. Er ging langsam mit gesenktem Kopf und suchte den Schatten; sein Gesicht war hochrot, das Taschentuch, mit dem er den Schweiß wischte, hielt er in der Hand.

Helene mit ihren Luchsaugen war die erste gewesen, die ihn erspäht hatte. Sie machte »pst!« und winkte ihm mit dem Finger. Er mußte das wohl bemerkt haben, aber er tat, als hätte er nicht Auge noch Ohr. Erst als der Landrat ans Fenster trat, und auch der Kreisphysikus diesem über die Schulter weg rief: »Hela, Leykuhlen! Guten Morgen! Hören Sie denn nicht?« blickte er zum Schwan hinüber.

Die Herren winkten; nun konnte er nicht anders. Unwillkürlich hob er den Kopf: nein, das sollten sie nicht denken, daß er ihnen auswich! Mit ein paar großen Schritten war er über der Gasse; nun stand er unter dem Fenster: »Tag zusammen!«

»Kommen Sie denn nicht herein?«

»Ich bin et nit gewohnt, hier ’ne Frühschoppe zu trinken!« Aber wenn die Herren ihm etwas zu sagen hatten, kam er schon herein. Er trat ein und setzte sich zu ihnen an den Tisch.

Der schönen Wirtin Augen funkelten; sie machte sich am Büfett zu schaffen und räumte, was sie sonst nie tat, zwischen den Gläsern auf. Das wollte sie doch auch gern mal hören, wie die den Bürgermeister zwischennahmen. Das gönnte sie [S. 264] ihm. Es regte sich etwas wie instinktiver Haß in ihr gegen diesen Mann, der ihr abgeneigt war; und daß er das war, das fühlte sie seit langem schon. Was hatte sie ihm eigentlich getan? Er war doch ein stattlicher, ansehnlicher Mann – warum war er denn so eklig gegen sie?! Eine starke Röte stieg ihr in die weiße Stirn: der, der hätte am liebsten alle abgehalten, hier herunter zu kommen! Der, der war gar am Ende dran schuld, daß der arme Junge, der Abeking, geschaßt worden war?! Ob er sie und Abeking wohl auf dem Gaul hatte reiten sehen als verliebtes Pärchen in der Mondscheinnacht?! Mit unsicheren Blicken lauerte sie zu ihm herüber.

Leykuhlen saß das Gesicht ihr zugekehrt, aber er achtete ihrer gar nicht. Das war sie nicht gewohnt, das boste sie gewaltig. Wenn sie ihm nur ordentlich die Hölle heißmachten! Sie hob sich unwillkürlich auf den Zehenspitzen und reckte den Hals lang, ihre Zungenspitze züngelte im Lächeln zwischen den Zähnen vor: aha, jetzt kriegte er’s aber mal!

Der Landrat hatte gesprochen: »Wie steht’s bei Ihnen oben, Bürgermeister? Noch sind mir keine neuen Fälle gemeldet worden, aber mit dem einen Ihrer Erkrankten soll’s ja sehr schlecht stehen. Ist dem so?«

»In der Tat!« Leykuhlen hatte den Rücken von der Stuhllehne gehoben und saß nun da, ohne Lehne, kerzengerade. Aha, ein Verhör! »In der Tat, Herr Landrat, dem Mechernich wird et wohl an den Kragen jehen!« Er tat gleichgültig, aber die Stimme konnte seine innere Erschütterung nicht verhehlen.

»Das ist der Fall am grünen Klee, da, wo die Brunnen besonders schlecht sind, Herr Landrat,« erklärte der Kreisphysikus.

[S. 265] »Ja ja, ich weiß, ich weiß, ich bin ganz genau orientiert!« Der Landrat zog die Brauen hoch. »Es ist sehr bedauerlich. Das brauchte nicht zu sein. Die Familie brauchte nicht des Ernährers beraubt zu werden!« Er wechselte einen raschen Blick mit dem Kreisphysikus und neigte sich dann mit einer impulsiven Bewegung zu Leykuhlen hinüber: »Bürgermeister, Bürgermeister, warum habt ihr nicht längst eine Wasserleitung gebaut?! Nun heißt es wieder: Venn, Venn, Sumpf – aber das schlimmere, viel schlimmere Übel ist eure Verbohrtheit! Ohne gesundes Wasser keine gesunde Bevölkerung. Und Licht, Luft in die Häuser! Die Hecken nieder, die Fenster auf, und Wasserleitung in jedes Haus!«

»Und ein Krankenhaus an den Ort,« ergänzte der Physikus. »Wie oft ist unser städtisches Spital überfüllt, so überfüllt, daß wir unbarmherzig abweisen müssen!«

»Und –« der Landrat wollte noch etwas sagen, um wiederum den Kreisphysikus zu ergänzen, aber der Bürgermeister schnitt ihm gegen alle Regeln der Höflichkeit die Rede ab.

»Ich denk, wenn wir en Wasserleitung hätten, wären wir all so gesund, dat wir kein Krankenhaus mehr gebrauchten,« sagte er ohne allen Hohn, aber mit Nachdruck. Und dann stand er auf: »Nu weiß ich ja Bescheid, nu kann ich wohl jehen, meine Herren!« Er reckte sich in seiner ganzen Größe; dann ließ er seine blauen, jetzt so feurigen Augen rasch nach dem Büfett hinblitzen: wer hatte da gekichert?!

Die schöne Helene wurde dunkelrot. Ein Blick der Verachtung hatte sie getroffen, einer so sprechenden, einer so deutlichen Verachtung, daß ihre Kniee zu beben anfingen. Sie stahl sich zum Türchen hinaus. Draußen im kleinen Gang, der zu ihrem Privatgemach führte, stand sie, zitternd vor Wut, und preßte doch die Fäuste gegen den Mund, um nicht [S. 266] laut herauszuweinen. Sie schämte sich auf einmal so – warum? Sie wußte es selber nicht. Unklare Empfindungen stürmten auf sie ein. –

Die drei Männer am Stammtisch waren aufgestanden. Es war eine gewisse Kühle in dem Händedruck, mit dem die beiden Herren Leykuhlen verabschiedeten. Er fühlte die Kälte. Den Nacken hielt er steif. Nun noch das Letzte gesagt! Und er sagte mit einem tiefgeschöpften Atemzug, ohne mit der Wimper zu zucken: »Nu will ich Ihnen auch not wat sagen, Herr Landrat, und Ihnen, Herr Kreisphysikus! Ich bin herunterjekommen, weil, weil – ich hab et dem Doktor mitjeteilt – mich wundert, dat Sie et nit schon zu wissen jekriegt haben – seit heut morgen ist auch ein Knabe vom Weber erkrankt. Der wohnt auch am jrünen Klee. Et wird wohl auch Typhus sein. Morgen zusammen!«

Er ging, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie riefen ihn auch nicht zurück. Sie standen ein paar Augenblicke da und sahen sich stumm an, und dann setzten sie sich stumm wieder nieder zu ihrem Wein. Aber er schmeckte ihnen nicht mehr.

Bleiern lastete der Himmel über der Gasse. Unter dem bleiernen Himmel schritt Leykuhlen hin. Solange er noch in der Stadt war, behielt er seine aufrechte Haltung bei; aber nun, da die hochgegiebelten Schieferdächer hinter der Felsnase des Burgfelsens untergetaucht waren, veränderte sich seine Haltung. Er sank förmlich in sich zusammen. An der steinernen Brüstung der Straße, hinter der große, rundgewaschene Felstrümmer das Flußbett füllen, stand er still. Ein Zittern war in seine starken Knie gekommen, er lehnte sich gegen das Steinmäuerchen. Sie hatten ihn doch nicht klein gesehen! Aber kein Triumph war in seinem Innern – denn hier war er allein, und hier war er, ach, so klein!

Einen schweren Blick ließ er rundum gleiten. Da war [S. 267] die liebliche Au, und über die Tannen der Höh guckten die Leyen. Aber heute atmete er hier nicht auf, wie sonst, wenn er der Stadt entronnen war. Heute dünkte ihn der Sommertag unerträglich. Diese Hitze! Hier unten gaben die Talwände noch einigen Schatten, am Wasser war das Grün sogar noch grün, aber oben, oben waren die Matten ja längst gelb, das Gras verdorrt bis in die Wurzeln. Wie sollte das noch werden?! In diesem Jahr gab es keine Weide mehr; und wenn man jetzt schon vom eingebrachten Heu zehrte, womit sollte man das Vieh denn durchfüttern den langen, endlosen Winter? Und wenn die Regierung auch aushalf, wie in anderen futterarmen Jahren, viel Vieh würde doch verkauft werden müssen, losgeschlagen um jeden Preis. Zu helfen stand nicht in Menschenmacht – einzig helfen konnte nur der, der da droben!

Er richtete seine Augen zum Himmel. Wenn er regnen lassen wollte! Tagelang, nächtelang, daß sich der vertrocknete Boden vollsog, daß die Wurzeln noch einmal ausschlugen, daß die Weiden sich neu begrünten, daß die geborstene Erde ihr durstig geöffnetes Maul schloß. Dann konnte noch alles gut werden. Nur Regen, Gott im Himmel, nur Regen!

Die Sonne hatte sich für wenige Augenblicke hinter bleierne Wolken verzogen. Ha, da war sie schon wieder! In geradezu quälender Helle strahlte sie nieder. Es schwamm Leykuhlen vor den Augen, mit einem Seufzer drückte er die Lider zu: und wie sollte es mit der Krankheit werden? In dieser Luft wurde es damit nicht besser. Nun war der Knabe erkrankt, der Dores – war es auch Typhus? Noch wußte man es nicht bestimmt, der Doktor sollte es erst feststellen; aber die völlige Bewußtlosigkeit, in der das Kind lag, ließ wohl kaum eine andere Deutung zu. Der blöde Knabe kroch überall herum, wer weiß, was er sich in den Mund gestopft hatte! Mariechen [S. 268] war gleich zu den Huesgens gegangen, als Kathrinchen die Krankheit melden gekommen war, und er war herunter zum Doktor gelaufen. Ach, es war doch eine Wohltat, sich wenigstens in etwas zu betätigen! Zu viel, allzuviel hatte er schon versäumt – konnte er es je wieder einbringen?!

Mit heftiger Gebärde riß der Mann die Lider wieder auf, seine Augen fuhren umher: ›Gott Vater, Sohn und heiliger Geist, seht uns arme Sünder, seht mich armen Sünder zumal, erbarmt euch!‹

Die Hände vor sich gefaltet, die Augen groß und starr geradeaus gerichtet, schritt der Bürgermeister bergan. Ein Kummer war in seiner Seele und ein Verzagen.

Die Sonne gloste ob seinem Haupt, wie ein tiefgefärbtes blaues Tuch spannte sich der Himmel, kein Regen war in Sicht über Heckenbroich; ausgedorrt alles Land, so weit das sehnende Auge reichte. Wie stickiger Dunst stieg’s empor vom Venn, ein Brodem kroch übers Moorland; schwer und befangend legte er sich auf Gemüt und Körper. Müdes Schweigen zwischen Himmel und Erde. Da plötzlich ein Läuten – horch, das ›Angelus‹!

Der Wanderer hielt an. Sieh, da war ja der Turm von Heckenbroich! Und sieh, da war sie auf einmal voll da, sie, die Kirche, die man noch nicht hatte sehen können vom letzten Aufstieg! Zwischen hohen Tannen ragte sie, schöner noch, und viel höher als diese. Vom Dorf war noch nichts zu entdecken, das lag versunken hinter den Hecken, aber hier, im Ausschnitt der Tannen, die wie lebende Pfeiler das schöne Bild einrahmten, stand die Kirche von Heckenbroich, klar und deutlich auf dem Goldgrund der ewigen Sonne und grüßte weit übers Hochland hin.

Mit einem tiefen Aufatmen nahm der vom raschen Aufstieg Keuchende den Hut ab. Er neigte den Kopf; ein Aufleuchten [S. 269] ging dabei über sein bekümmertes Gesicht: da war sie ja, die Kirche, die neue Kirche von Heckenbroich, der Eifler Dom!


Es war am Tage des ewigen Gebetes. Feierabend – Mitternacht – die ganze Nacht hindurch das gleiche murmelnde Beten.

Sie füllten das dämmernde Schiff der Kirche, sie knieten auf den schmalen Betbänken, die Hände mit dem Rosenkranz an die leis sich bewegenden Lippen gehoben, und beteten das Gebet der Bittwoche: »Heilige Maria, du Hilfe der Christen, bitte für uns! Ihr Heiligen insgesamt, flehet für uns am Throne Gottes!«

Auf seiner Betbank kniete der Bürgermeister. Wenn die anderen einmal wieder sich niedersetzten, um auszuruhen, kniete er immer noch. Ohn Unterlaß betete er auf dem bretternen Bänkchen, das viel zu schmal war für seine Knie und viel zu niedrig für seine Größe. Er fühlte nicht, daß die gekrümmten Füße ihm abstarben, und daß seine Knie steif wurden. Das Gesicht hielt er in die Hände gedrückt, in seiner Seele schrie es:

›Der du ins Verborgene siehest,
der du deine Sonne aufgehen lässest über Gute und Böse,
der du regnen lässest über Gerechte und Ungerechte,
du unsere einzige Zuflucht und Hoffnung, sei uns gnädig!‹

Seine Augen schmerzten. Er hob das Gesicht aus den Händen, er bohrte den brennenden Blick durchs Dämmerlicht der Kirche, bis er haftete auf dem Fenster überm Hochaltar, durch dessen Glas die Gestirne hereinleuchteten in unumwölkter Klarheit.

Am Dach der Kirche stand der Mond, nicht silbern, wie sonst, nein, rund und voll und rot, eine zweite Sonne, die die Sonne des Tages ablöste auf ihrer Bahn. Und um sie her [S. 270] stand der Chor der Sterne, flinzelnd vor blankem Glanz, wie sonst nur in eiskalter Winternacht.

›Schöpfer und Herr der Natur,
alles zittert, alles dienet dir.
Du machst die Wolken zu deinem Wagen
und fährest auf den Flügeln der Winde.‹
– – – – – – – – – – –
– – – – – – – – – – –
›Herr Gott, ich bekenne vor dir,
daß ich ein Sünder bin.‹

In das Murmeln der Gemeinde mischte der Bürgermeister laut seine Stimme:

»Herr, strafe uns nicht in deinem Zorn –
Herr Gott, laß regnen, laß regnen!
Heilige Maria, die Stillung der Stürme,
du Morgenstern, bitte für uns, sei uns gnädig!«

Er wußte nicht, daß es nicht nur die Worte mehr waren, wie sie vorgeschrieben stehen im Andachtsbuch; er fügte Eigenes hinzu in der Bedrängnis seines Herzens.

Es trieb ihn um bei Tag und Nacht. Es litt ihn nicht im Bett, er konnte ja doch nicht schlafen; vor Morgengrauen schon war er aufgestanden und war hinausgeschritten auf die Höhe des Venns und hatte nach Osten gestarrt, wo die Wolken sich in leuchtendem Purpur färbten. Wenn sie doch, ach, wenn sie doch endlich, endlich einmal nicht mehr so strahlend erstünde, die unbarmherzige Sonne!

Alle Quellen waren versiegt. In den tiefsten Brunnen stand nur noch ein Pfützchen trüben, schlecht riechenden, fauligen Wassers. Kaum daß man das Vieh tränken konnte, es verschmachtete; denn auch kein Hälmchen saftigen Grüns war mehr zu finden. Und in den beiden Torfarbeiterhäusern lagen [S. 271] die Männer noch immer und quälten sich in wilden Delirien. Es war der Krankheit noch gar kein Absehen.

Was war das für ein Leid, was war das für eine Angst! Das Dorf lag geduckt wie unter einem dräuenden Alp. Alles atmete beklommen. Soviel gebetet war noch kaum worden zu Heckenbroich. Aber beklommener denn alle atmete Leykuhlen, er fühlte sich in tiefster Seele betroffen. Mariechen hatte viel zu reden, viel zu ermutigen: ›Mach dir nühst draus, Bärtes, laß sie doch reden! Wat kannst du dafür? Unser Herrjott schickt die Trockenheit und die Krankheit; wir müssen sie nehmen aus seiner Hand!‹ Aber heimlich kränkte sie sich: wie die Undankbaren ihren Mann verkannten! Und er hatte doch alles zu ihrem Besten getan! In heimlicher Sorge ging sie umher, und nachts tat sie, als ob sie schliefe; aber sie schlief nicht, sie horchte auf ihres Mannes rastloses Wälzen und unruhiges Atmen, und wußte dann nichts anderes zu tun, als inbrünstig bei sich zu beten. Gestern hatte jemand ganz laut draußen vor der Hecke auf den Bürgermeister geschimpft – wer war’s gewesen? Sie hatte es nicht sehen können – das war ja auch gleichgültig – wenn nur er, er es nicht gehört hatte!

Besorgte Blicke warf die Frau auf ihren Mann, der stundenlang jetzt in der Kanapee-Ecke saß, und sich die Zeitung so vorhielt, daß sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Es wollte ihr dünken, als sei das leichte Blatt zu schwer für seine starke Hand. Jesus Maria, wenn er wüßte, daß ihr, als sie zum grünen Klee gegangen war, die Kranken zu besuchen, ein Rudel Kinder nachgerannt war, erst mit schüchternem Gekicher, dann mit dreisterem Lachen, zuletzt mit ungezogenen Redensarten. Das waren freilich nur Kinder, unverständige Kinder, aber sie sprachen das nach, was die Erwachsenen sagten. Wenn es nur [S. 272] regnen wollte, endlich regnen, barmherzig, erquicklich, dann würden sie im Dorf auch einsichtiger werden, und ruhiger!

Die Bürgermeisterin kannte ihre Heckenbroicher gar nicht mehr wieder. Aber sie, die sonst mit ihrem Mann alles besprochen hatte, sagte ihm kein Wort davon. Er selber schwieg auch beharrlich. –

Es war eine Nacht, so drückend heiß, daß niemand Schlaf finden konnte. Hinter den Hecken brütete die Schwüle. Leykuhlen und seine Frau saßen noch unten in der Wohnstube beisammen; er saß in der einen Ecke des Kanapees, sie in der anderen. Die Lampe hatten sie nicht angezündet, selbst dies bißchen Licht war zuviel, man hatte nach all der Blendung des Tages eine Sehnsucht, fast eine Gier nach der Dunkelheit. Ach, daß doch Wolken hängen möchten, tief herab, und sich entladen mit Donner und Blitz! Und sei es ein Ungewitter mit heulendem Sturm, wenn nur Regen dabei war, erlösender Regen! Schwül genug war es.

Aber wie sie die Ohren auch spitzten, kein Rauschen war draußen vernehmbar auf den Blättern der Hecke, nicht einmal ein Tröpflein. Der Himmel war verschlossen. So ging es nun schon an die zwei Monate, es gab keinen Regen mehr. Die Welt mußte verdursten.

»Jesus Maria,« sagte die Frau plötzlich und neigte sich gegen den Mann, »hörste nühst, Bärtes? Wär et am End doch am Regnen?!«

Sie irrte sich. Jetzt war wohl ein Rauschen hörbar im Blattwerk der Hecke, aber so tat kein Regenguß. Das waren Hände, Arme, Füße, die sich durcharbeiteten durchs raschelnde Laubwerk, Körper, die sich durchwanden durchs dichte Gefüge. Von der Seite her brach es ans Haus heran.

Wenn jemand was wollte, warum ging er denn nicht vorne herum, offen und ehrlich durchs Heckentor?!

[S. 273] »Still, bis still, Mariechen,« sagte der Mann und legte der Frau die Hand auf den Mund. Sie hatte aufschreien wollen in plötzlichem Schreck.

Ein Stein war oben gegen das Giebelfenster gekracht das vom Mondschein hell beglänzt wie ein Auge über die Hecke lugte. Die Scheibe brach und klirrte. Und nun klatschte es dumpf. Sie warfen mit Kuhdung, mit Dreckfladen, mit allerlei Schmutz und Unrat; was sie gerade aufschnappten von Straße und Hof. Und ein Gequäk und Gekrächz erhob sich, ein Gewieher und Gegrunze, ein Gemauze und Geknauze, als sei die ganze Tierwelt lebendig geworden. Ein Hund bellte, eine Katze miaute, ein Ochse brüllte, ein Esel iate; es war eine Höllenmusik.

Mit beiden Armen hielt Frau Leykuhlen ihren Bärtes umfangen; sie preßte ihn fest an sich: oh, daß sie seine Ohren nur zuhalten könnte, verstopfen, daß er nichts hörte von dem abscheulichen Konzert. Sie brachten ihm eine Katzenmusik, wie man sie nur dem bringt, der sich Ungebührliches hat zu Schulden kommen lassen. Dieses entehrende Ständchen ihm, dem Bürgermeister, von seinen Heckenbroichern selber dargebracht?! Die Frau zitterte, sie hätte in Tränen ausbrechen mögen. »O Bärtes, Bärtes, mach dir nühst draus!«

»Bis still, Mariechen,« sagte er wieder wie vorhin. Er war ganz ruhig. Seine Stimme klang nicht einmal zornig, nur traurig, als er jetzt das Fenster aufriß und in die Nacht hinausrief: »Jetzt is dat äwer jenug! Nu laßt de Dummheiten! Joht no hehm!«

Einen Augenblick war es still; dann raschelte es wieder in der Hecke. Liefen sie hastig fort, beschämt, hatten sie es doch mit der Angst bekommen?!

Die Frau, die sich neben ihren Mann ins Fenster gezwängt hatte, fuhr plötzlich zurück – klatsch! Ihr Bärtes, o, [S. 274] ihr Bärtes! Eine Ladung Kot war ihm ins Gesicht geflogen, sie wurde noch mit davon bespritzt. Und eine Stimme, – es war nicht zu erkennen, wem sie gehörte, denn sie verstellte sich – äffte ihm nach: »Laßt de Dummheiten, joht no hehm!« Ein wieherndes Lachen erscholl – wieder ein hastiges Rauschen und Rascheln – die Nachtbuben rannten davon.

»Jesus Maria!« Entsetzt drückte die Frau den Kopf an ihres Mannes Brust. Jetzt konnte sie nicht anders, sie mußte laut weinen: daß man ihn so kränkte, ihn!

Er strich ihr über den Scheitel: »Bis still, Mariechen, bis still! Laß se schreien. Wer kann sich an so wat kehren!«

War er wirklich so ruhig, war er wirklich so besonnen, wollte er nicht hinter ihnen drein rennen, sie einholen, sehen, wer es gewesen war?! Sie hob den Kopf und forschte angstvoll in seinem Gesicht. Es war zu dunkel, sie konnte seine Züge nicht erkennen, sie fühlte nur seine Hand, eiskalt trotz der Hitze, schwer auf ihrem Scheitel liegen.

»Jeh nach oben, Mariechen, jeh! Kuck, wat die Nixnutze da anjericht haben!«

Er machte nicht Miene, mit ihr hinaufzusteigen in die Giebelstube. Sie zögerte; aber sein Ton wurde heftig: »Jeh, jeh!« Da ging sie; ungern nur ließ sie ihn hier unten allein.

Mit zitternden Händen schaffte sie oben Ordnung, bis auf die Betten waren die Glassplitter geflogen, Boden und Wände waren beschmutzt; die Buben hatten gut gezielt durch das im Mondschein spiegelnde Fenster. Sie kehrte und wischte, die Kniee bebten ihr, aber sie hätte die Magd nicht zu Hilfe rufen mögen. Gott sei Dank, daß die nach der anderen Seite heraus schlief! Wie sollte die sonst Respekt behalten, wenn sie so was mit angesehen hätte! Eine tiefe Scham kam über die Bürgermeisterin; sie konnte nichts sehen vor bitteren, gekränkten Tränen, die ihr unaufhaltsam über [S. 275] das heiße Gesicht rollten. Ach, ach, das waren keine Kinderstreiche mehr, keine Dummheiten, wie Bärtes sagte, das waren Niederträchtigkeiten! Wer hätte das je von den Heckenbroichern gedacht?! Ihr ganzes Leben war im Dorf verflossen – vierzig Jahre sind lang – und nie hatte sie in all dieser Zeit geglaubt, es könnte hier einer sein, der sie so kränke. Nicht sie – ach nein, es war ja nicht um ihrer selbst willen, daß ihr Tränen des Schmerzes, des Zornes und der Scham über das Gesicht liefen, es war um seinetwillen. Was er jetzt wohl machte? Was er wohl denken mochte so ganz allein bei sich?!

Sie rannte hinab, die angezündete Lampe hochgehoben in der Hand. Einen Augenblick zögerte sie vor der Stubentür – drinnen war’s noch dunkel, sie hörte keinen Laut, war er nicht mehr da?! Behutsam drückte sie die Klinke nieder, leuchtete in die dunkle Stube hinein.

Da lag er auf den Knieen vor dem Tisch, hatte die gefalteten Hände auf den Tischrand gelegt und sein Gesicht auf die Hände. Sie sah nur seinen Rücken, aber sie sah doch, wie heftige Atemzüge ihn erschütterten.

Da zog sie sich leise zurück. Das fühlte sie, jetzt durfte selbst sie nicht stören. –

In dieser Nacht schliefen sie nicht. Aber auch nur wenige im Dorf schliefen. In den Häusern, eingeschlossen hinter den Hainbuchenhecken, war die Luft dick und schwül. Nur Regen, nur Regen! Mit offenen Mäulern lagen die Menschen auf ihren Betten und schnappten nach Luft. Die Kinder greinten, selbst sie fanden keinen Schlaf. Da und dort flinzelte Lämpchenschein, man hörte Stimmen, die Mutter vertröstete die Kleinen. In den dunstigen Ställen brüllte heiser das durstige Vieh. Der und jener schlich vor sein Heckentor und schaute prüfend den Himmel an: zog da nichts auf von Gewölk im [S. 276] Westen? Er blinzelte angestrengt, das harte Bauerngesicht erhellte sich für Augenblicke wie von einem Hoffnungsstrahl; aber enttäuscht sank der Blick gleich wieder: nein, das war kein Gewölk, das Regen brachte. Das war nur ein Rauch, ein Dunst, als sei die Erde ein Feuerherd und pustete den Dampf ihrer Glut zum Himmel.

Es war keine Nacht zum Schlafen. Es war eine Nacht, um wach zu liegen, sich zu wälzen in banger Sorge. – – –

Eine müde, überwachte Stille lag mit dem neuen Tag über Heckenbroich. Feurig ging eben die Sonne im Osten auf, als es auf der Straße bimmelte. Leykuhlen fuhr mit dem Kopf zum Schlafkammerfenster heraus, – er brauchte es ja nun nicht mehr aufzutun – das klang ja, als schellte der Meßner vorm Priester her, der den Leib des Herrn über die Straße trägt?!

Was – wer – wo?! Wer sollte versehen werden?! Der Bürgermeister riß die Augen weit auf, er stierte und starrte. Richtig, da schritt der junge Hilfsgeistliche das Röcklein übergeworfen! Vor ihm her schlorrte der Küster, ungewaschen, ungekämmt, wie einer, den man eilig aus dem Bette geholt hat. Er klingelte mit dem allbekannten Glöcklein.

Mit einem Arm das Fensterkreuz umschlingend, beugte der Bürgermeister sich weit, weit über die Hecke hinüber. Mit Blicken, die seine Augen fast aus den Höhlen drängten, folgte er den Dahinziehenden. Da gingen sie hin, Priester und Meßner – klingling – leise tönte das silberne Schellchen. Da gingen sie und brachten einer scheidenden Seele die letzte Wegzehrung.

Aber wo gingen sie hin – zu wem – ach, wohin?! Leykuhlen wollte rufen und konnte nicht, der Mund war ihm wie [S. 277] zugehalten, nur ein heiser herausgestoßenes ›Herr, erbarme dich‹, brachte er über die Lippen.

Nun waren sie am Eckhaus. Gingen sie nun geradeaus, die Hauptstraße zu Ende, oder schwenken sie links ab zum grünen Klee! Sie schwenkten links ab.

Am grünen Klee lag der Mechernich, mit dem war es schon gestern sehr schlecht gewesen; nun reichten sie ihm die heiligen Sterbesakramente, daß er in Frieden abfahren konnte von dieser Welt. Aber ein verlassenes Weib schrie hinter ihm her, eine Schar kleiner Kinder weinte nach Brot. Ein Schauer überrieselte den Bürgermeister. Und daran sollte er, wirklich er, schuld sein? Wasserleitung – eine Wasserleitung anstatt der Kirche – ohne gesundes Wasser keine gesunde Bevölkerung – die Brunnen taugen nichts! Er hatte es zugegeben, daß sie doch daraus tranken. Gott im Himmel, wie sollte er sich verantworten vor dem höchsten Richterstuhl?!

Gedanke auf Gedanke wälzte sich heran, Vorwurf auf Vorwurf. Der Mann war erdrückt, wie zu Boden geschmettert; mit beiden Händen faßte er sich nach der glühenden Stirn und stöhnte auf. Da innen saß ein sausendes Rad, das sich drehte in unaufhörlichem Schwunge: wenn der Mechernich starb, was machte er dann – und wenn noch andere starben, was dann? Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, er wußte nicht mehr, hatte er recht oder unrecht getan, war er beladen mit einer Schuld oder durfte er ihrer sich ledig sprechen? Sein Geist war verwirrt. O, wer sagte ihm, hatte er recht getan oder unrecht?!

Er krampfte die Hände in einander, der kalte Schweiß perlte ihm auf der Stirn. Kommt zu Hilfe, ihr Heiligen Gottes! Herr, erbarme dich, – gib ein Zeichen! Tue deinen Himmel auf, laß regnen! Vater unser – – – gegrüßet seist du, Maria – – – laß regnen, gib mir ein Zeichen – – – [S. 278] o du Lamm Gottes, welches hinwegnimmt die Sünde der Welt, erbarme dich!

Der Himmel glühte über Heckenbroich. Und das Venn flammte weit hinaus im leuchtenden Rot seiner höchsten Blüte. Die Luft stand still überm staubbedeckten Scheitel der sonnenflimmernden Dorfstraße. Heute war Sonntag, der Tag des Herrn.

Langsam, wie matte Fliegen, krochen die Menschen zum Hochamt; sie waren in Sonntagskleidern, aber Sonntagsmienen zeigten sie nicht. Niedergeschlagene Gesichter, ohne Hoffnung, ohne Freudigkeit. In einer stumpfen Resignation schleppte man sich zur Kirche. Nun hatte man schon soviele Rosenkränze gebetet, Kerzen gestiftet, Wallfahren gelobt, und alles sollte umsonst sein! Die Weiden waren hart wie Tennen, nie mehr konnte da Gras sprossen. Und der Mechernich lag im Sterben. Ein ängstliches Raunen ging von Mund zu Mund: die Sterbesakramente hatte er bereits empfangen. Wie lange noch, und mit den anderen Erkrankten ging es ebenso. Wer kam dann an die Reihe? Und morgen früh wurde der Dores begraben, der kleine Junge vom Huesgen-Jörres. Da ging der Vater!

Den Kopf gesenkt, den Blick auf die gefalteten Hände niedergeschlagen, schritt Weber Huesgen zur Kirche. Aber es war nicht der Tod des Kindes allein, der sein Haupt senkte. Eine Woche voll rastvoller Arbeit in grenzenloser Hitze lag hinter ihm; neue Runen waren zu denen seines arbeitsverfurchten Gesichts noch hinzugekommen. Regen, ach, nur Regen, Erlösung, Regen! Es trieb ihn in die Kirche, in dem dämmerig gehaltenen hochgekuppelten Raume war’s noch am erträglichsten; daheim weinte das Weib, und die Geschwister schauten mit erschreckten Augen auf die Leiche des Dores, die im Tannensärgelchen auf zwei Schemeln im Schuppen stand, mit [S. 279] einer Girlande geschmückt, die das Kathrinchen gewunden hatte aus Schlangenmoos und blühendem Heidekraut. Der Dores war nicht am Typhus gestorben, den hatte er gar nicht gehabt; die Hitze hatte ihn mitgenommen. Die hatte er nie gut vertragen können. Seit die Sonne alles verbrannte, war auch er verbrannt wie ein flackerndes Lichtlein. Nun war das wächserne Gesichtchen freundlich, die welken Händchen auf der Brust umfaßten das Kruzifixchen, das man ihnen zu halten gegeben hatte.

Ein Kind weniger! Der Weber seufzte. Er war ein liebevoller Vater; aber daß der Herrgott den Dores zu sich genommen hatte, das war mehr eine Gnade als eine Heimsuchung zu nennen, wenn die Annelies auch jetzt noch bitterlich weinte. Sie würde sich trösten. Sie hatte nun einen Engel im Himmel, der Fürbitte tat. Aber warum die Bäreb sich so arg anstellte?! Ordentlich ärgerlich war Jörres Huesgen auf seine Älteste. Statt der Mutter bei der Hand zu sein, kniete sie immer bei der Leiche, starrte sie an mit vom Weinen verschwollenen Augen und schluchzte dann auf, so heftig, daß es ihr fast das Herz abstieß. Freilich, Leben und Sterben ist ein ernstes Ding – wurde das die Bäreb erst jetzt gewahr?

Der Weber seufzte, als er beim Summen der Orgel auf der Betbank niederkniete, und trocknete sich mit dem roten Sacktuch den Schweiß ab. War das eine Hitze! Selbst hier war heut nicht die Kühle zu finden, die so wohltat, wie in einem tiefen Keller, wenn draußen die Sonne glühte. Auch in die Kirche war die Schwüle gedrungen. Ein erstickender Dunst lastete im Raum, dessen Wölbung heute niedriger schien.

Und um den Weber seufzten und schwitzten noch viele; die Leiber der knieenden Andächtigen dampften. Matt die Stimme des Priesters am Altar, fast erstickt durch die dicke Luft, matt die Responsorien des Dieners, matt der Gesang vom Orgelchor, [S. 280] kraftlos, ohne Frische und Fülle, und matt auch die Gebete. Hier schlief eine, dort schlief einer. Diese war auf die Bank zurückgesunken, legte den Kopf hintenüber und schnarchte mit offenem Mund; jener schlief gar im Knieen, das Haupt war ihm haltlos aufs Gebetbuch genickt. Geknickten Blumen gleich hingen die bunt-betuchten Köpfe der Frauen. Jetzt wurde eine gar ohnmächtig, es gab für Minuten ein Scharren, ein Poltern, man schaffte sie hinaus. Dann wieder die vorige bleierne, lähmende Stille.

Der alte Pastor bestieg die Kanzel, heute ließ er es sich nicht nehmen, selber in der Predigt zu seiner Gemeinde zu sprechen; es war eine schwere Zeit. Er redete mit zitternder Stimme von der weisen Anordnung Gottes, die alles, was da lebt, mit Segen erfüllt, die zur Zeit Regen und Sonnenschein gibt, die aber mit Entziehung des Segens heimsucht, wo sie Reue erwecken will und bußfertige Gesinnung.

Die Gemeinde hatte das Bußlied gesungen:

»O Gott, streck aus dein milde Hand,
Erfüll mit Segen Leut und Land,
Halt ab in gütger Vaterhuld
Die Strafen für die Sündenschuld!«

Der Bürgermeister neigte sein Haupt tiefer und tiefer. Er wagte nicht aufzusehen; es war ihm, als müßten sich aller Blicke vorwurfsvoll auf ihn richten, als nagelten sie ihn alle fest mit ihren müden, umschatteten Augen.

Es brauste vor seinen Ohren, es hämmerte in seinen Schläfen, es siedete ihm in den Adern. Er hörte nichts mehr von dem, was der Pastor noch weiter sagte, er hörte nur immer das Schellchen des Meßners, der vor dem Priester her zum Sterbenden schritt. Mußte der Mechernich wirklich sterben? War er am Ende schon tot?! Zwischen dem Tönen des Schellchens [S. 281] vernahm er die Sterbeseufzer, das Jammern des Weibes, das Weinen der Kinder. Ströme von Schweiß rannen Leykuhlen über den Leib. Von einem Schwindel gepackt, wollte er die Augen schließen, aber es riß sie ihm wieder auf, er mußte sehen, alles das sehen, was er, er angerichtet hatte.

– – ›Ich begreife nicht, wie ein sonst so intelligenter Mensch sich so gegen alle Neuerungen verschließen kann‹ – ›Eine Wasserleitung ist das Allernotwendigste, wir werden den Typhus sonst hier nie los‹ – so, oder ähnlich doch hatten sie gesprochen. Schon lange, ach lange schon waren sie an ihm. Aber er hatte die Kirche gebaut. Er hatte die Gemeinde dazu bewogen. Hätte er sie nicht ebensogut zu etwas anderem bewegen können?! Sein, ja sein war die Schuld!

Wie ein Kranker wankte Leykuhlen aus der Kirche. Er bemerkte nicht, daß die Grüße, die ihm sonst ehrerbietig und willig zu teil wurden, heute ganz anders waren. Man grüßte, weil es eben sein mußte; keine Freundlichkeit erhellte diese Grüße. Die Bürgermeisterin hielt sich dicht neben ihrem Mann, ihr war, als müsse sie ihn schützen, wie gestern abend; und doch fiel jetzt kein Stein.

Die reichen Bauern, der Adams und der Zumstädtchen, kamen jetzt zusammen an ihnen vorüber; sie taten, als sähen sie den Bürgermeister nicht. Sie gingen stracks hinüber auf die andere Straßenseite und sprachen so eifrig auf einander ein, als hätten sie den wichtigsten Handel zu bereden. Sie waren grimmig. Nun hatten sie schon ein paar Mal den Dreiborn nach oben holen müssen – was das kostete! – und andere im Dorfe hatten ihn auch holen müssen.

Der Tierarzt war noch röter geworden als sonst und hatte noch mehr mit den Augen gekugelt als gewöhnlich, und hatte noch mehr räsonniert, als zu anderer Zeit: was verlangten sie denn, wie sollte das unvernünftige Vieh gesund bleiben, wenn [S. 282] der vernünftige Mensch sich krank säuft?! Er ereiferte sich sehr: weiß der Himmel, er wollte lieber Kaffern und Hottentotten kurieren, als Eifler Vieh. Was nutzte ihm alles, was er gelernt hatte, was war überhaupt die ganze Wissenschaft nutze, wenn ihr hier eine solche Borniertheit entgegengesetzt wurde? ›Ihr seid schwarz, schwarz bis in die Knochen – dat is euer Malheur!‹ Zu anderen Zeiten hätten die Bauern über ihn gelacht: was ereiferte sich der Viehdoktor denn so?! Oder sie hätten sich auch geärgert: so einer, der doch auch aus der Eifel stammte und nun in keine Kirche mehr ging, so einer, der seinen ganzen Glauben verloren hatte überm Studieren! Aber in der Stimmung, in der sie jetzt waren, hörten sie ihn an; sie verstanden ihn nicht ganz, aber das hörten sie doch heraus, daß der Dreiborn, der immerhin ein kluger Mann zu nennen war, und ums Vieh gut Bescheid wußte, nicht zufrieden war mit dem, wie es so war. Nein, sie auch nicht! Ganz und gar nicht!

Völlig erschöpft kam Leykuhlen heim. Schwer ließ er sich in seine Kanapee-Ecke fallen und stützte den Arm auf. Als die Frau ihn etwas fragte, schüttelte er nur den Kopf verneinend; weitere Antwort gab er nicht.

Jesus, ihr Mann wurde doch am Ende nicht auch krank?! Mit tränenden Augen stand die Bürgermeisterin in der Küche und blies das Feuer an. Die Magd konnte nicht damit zurechtkommen, es wollte heute nicht brennen; die Sonne gloste über dem Schornstein, die drückende Luft schlug jedes Dampfwölkchen, das aufsteigen wollte, wieder hinab in den Kamin. Die Küche war voll von Rauch und vom brenzlichen Gestank des langsam schwelenden Torfes. Immer wieder stocherte die Frau im Feuerloch, ganz mechanisch, ihre Gedanken waren nicht bei diesem Werk. Sie merkte es nicht einmal, daß sie in eine Wolke von beißendem Dampf gehüllt stand, daß sie nichts sehen konnte vor Rauch und Tränen. Die Magd war dem erstickenden [S. 283] Qualm entwichen, die Frau war allein. »Jesus,« seufzte sie aus tiefster Seele, »Jesus Christus erbarm dich!«

Da wurde hastig die Tür aufgerissen. Der, um den ihre Gedanken kreisten in unablässiger Sorge, war plötzlich bei ihr mit zwei Schritten, mit seinen alten, kräftigen Schritten. Er faßte sie um den Leib. »Mariechen, Jott sei Dank!« Es war wieder etwas in seiner Stimmen von frischem Klang. »Denk ens an, Mariechen, mit dem Mechernich steht et besser. Dat war die Krisis. ›Den kriegen wir durch,‹ sagt der Doktor. Eben war er bei mir. Haste ihn nit jehört?«

Sie hatte nichts gehört, keinen Wagen, keinen fremden Schritt im Flur, sie war so ganz in ihren Sorgen befangen gewesen. »Wahrhaftig?« fragte sie, noch ungläubig, und blinzelte ihren Mann an.

»Mit Jottes Hilf,« sagte er ernst. Aber dann drückte er sie an sich in einer jähen Aufwallung des Gefühls: »Jott sei jelobt, Mariechen, ich kann et dir nit sagen, wie jlücklich ich bin! Wenn der Mechernich durchkömmt, dann« – er lächelte sie an – »Mariechen, dann stift ich die Uhr, die noch fehlt an der Kirch. Wenn et dir recht is, Mariechen?!«

Ob es ihr recht war!


Seit der Mechernich am grünen Klee die letzte Ölung empfangen hatte, war es besser geworden mit ihm. Merkwürdig, und doch nicht merkwürdig! Vor dem Häuschen des Torfarbeiters standen die Leute und besprachen den Fall mit einer von ihrer sonstigen Verschlossenheit und Ruhe stark abstechenden Lebhaftigkeit. Ja, als das heilige Öl seine Stirn salbte, da hatte er die Augen, die er geschlossen gehalten hatte seit Tagen schon, auf einmal wieder aufgemacht. Und er hatte gesprochen, ganz vernünftig, gar nicht mehr wirres Zeug. Er hatte die Frau erkannt und die Kinder und hatte ihnen die [S. 284] Hand gegeben – nicht zum Abschied, nein, zum Willkommen. Und gesagt hatte er, daß er wohl gewußt hätte, es sei nicht gut, im Venn von dem Wasser zu trinken, daß sie aber einen so argen Durst gekriegt hätten beim Torfaufsetzen in der großen Hitze, und daß sie gedacht hätten, es würde ihnen schon nicht schaden, die Soldaten hätten ja auch getrunken, oft schon da oben im Venn.

Also die Brunnen waren doch gut?! An denen hatte es nicht gelegen, daß der Mechernich und der Peter krank geworden waren. Venn-Wasser hatten sie getrunken, von dem rostigbraunen, mit Schaumblasen bedeckten, das oben in den Gräben steht, und vor dem man oft, sehr oft schon, ernstlich gewarnt worden war. Ei, wer nicht hören will, muß fühlen. Recht war ihnen eigentlich geschehen, ganz recht, warum hörten sie nicht auf das, was ihnen gesagt wurde?! Aber dem Leykuhlen war Unrecht geschehen. Wahrhaftig. Die Brunnen waren doch gut – gutes, reines, gesundes Wasser! Sie fühlten alle Scham. Wozu denn auch eine Wasserleitung?! Das Geld für die brauchte man wahrlich nicht herauszuschmeißen, wenn man selber so gute Brunnen im Dorfe hatte! Ein befreiendes Lachen ging durch Heckenbroich.

Als die Bürgermeisterin am Nachmittag aus der Vesper kam, fühlte sie, wie schnell sich die allgemeine Gesinnung geändert hatte. Die Grüße waren ehrerbietig, fast ehrfurchtsvoll. Wieder streiften sie viele Blicke, aber jetzt waren sie nicht unfreundlich, wie am Vormittag, es war wieder etwas von der alten vertraulichen Zuneigung in ihnen. Noch steckte in der Kirche die ganze Schwüle, die der Vormittags-Gottesdienst mit seiner Überfüllung darin zurückgelassen, aber man hatte sie jetzt nicht mehr in ihrer ganzen Unerträglichkeit empfunden. Ein befreiender Windstoß war in die bange Schwüle gefahren: die Brunnen waren gut, das Wasser von Heckenbroich war gesund, [S. 285] der Bürgermeister hatte doch recht getan, wer da von Wasserleitung noch redete, sprach dummes Zeug!

Es war ein Sonntagnachmittag, wie ein solcher lange nicht zu Heckenbroich gewesen war. Die Bauern schritten wieder ihre Weiden ab; sie hatten bisher nicht den Mut dazu gefunden. Am Ende stand’s doch nicht ganz so schlimm, wer weiß, wenn man jetzt bald Regen bekam, schlugen die verdorrten Wurzeln doch noch einmal aus. Die Witwe Höfen trieb sogar ihre Kuh auf ihr Stückchen Grasland, und das Tier fand doch noch ein Hälmchen zum Rupfen. Viele prüfende und sehnsüchtige Blicke richteten sich zum Himmel auf; alle Wetterkundigen ließen sich vernehmen. Aber noch war kein Regen in Sicht; wenn der kommen wollte, wehte der Wind ganz wo anders her, und dann stand das Kreuz der Marienley nicht so fern in goldigem Blinken, dann ragte es nah, zum Greifen nah, hob sich schwer aus den blauschwarzen Tannen auf einem weißwolkigen, unruhigen Hintergrund. Noch war nicht an Regen zu denken.

Wie immer versank die Sonne flammend im roten Venn, der Himmel glühte bis zum fernsten Streifen mit Rosen- und Goldgewinden. Purpurne Dämmerung sank nieder auf Heckenbroich.

Es kam die Nacht, heiß, unerquicklich, heute vielleicht noch dunstiger als all die Nächte vorher. Die Ferne blinkte nicht so golden, sie war mit einem grauen Hauch überzogen.

Und doch schliefen die Leute von Heckenbroich. Eine Ermattung war übers Dorf gekommen, die Ermattung der Beruhigung: wenigstens das Wasser war gesund, wenigstens die Brunnen waren tauglich!

Auch Leykuhlen schlief, nach vielen schlaflosen Nächten von einer tiefen Ermüdung befallen. Als Mariechen das Licht [S. 286] ausblies, hatte er noch mit ihr sprechen wollen, aber die Worte verloren sich ihm.

Es war ein köstlicher Traum, der seine Gedanken verwirrte – ah, wie es rauschte, so sanft und lind! Himmlische Musik! Es rauschte, als wollte es regnen. Er schlief, erquicklich wie lange nicht, von feuchtkühlenden Lüften bestrichen; vom gleichmäßigen Rauschen war sein Ohr umschmeichelt. Er lag und atmete tief und gleichmäßig, die Stirn glatt und erhellt im beglückenden Traum. Er hörte nichts vom hellen Ausruf seiner Frau; erst als sie ihn kräftig rüttelte, wachte er auf. War es schon Morgen?!

»Bärtes, et regent! Hör, wie et am Regnen is!«

Da war er mit gleichen Füßen auch schon aus dem Bett. Das war kein Traum. Es rauschte nicht nur in den Lüften, als wollte es regnen, nein, es regnete wirklich schon rauschend nieder in gleichmäßig-eindringlichem Fluß. Kein Donner und Blitz, kein plötzlicher Guß, der rasch wieder aufhört, wie er gekommen: das war Landregen. Der Himmel ohne Licht, alle Sterne verkrochen. Regen, Regen, Erlösung, Segen!

Beide Arme in den Regen hinausstreckend, gab der Mann seine offene Brust den schweren Tropfen und den kühlenden Lüften preis. Was nutzte alle Wetterkunde? Die Wetterkundigen hatten noch lange keinen Regen prophezeit, und nun war er doch da, ungeahnt gekommen über Nacht, weil er, der die Wolken macht zu seinem Wagen und dahinfährt auf den Flügeln der Winde, weil er geboten hatte, und siehe, es geschah!

Leykuhlens Blick flog hinüber zu den dunklen Umrissen der Kirche. Schimmerte da nicht schon ein Glanz? Nein, es war nur das Dämmern der ewigen Lampe, die rötlich durchs schwarze Fensterglas glimmte!

[S. 287] Er fuhr in die Kleider. Auf der Straße war es schon lebendig. Das war ein Geschwatz und Gelächter, ein Rufen und Laufen, ein Rappeln, ein Schleppen mit Kübeln und Fässern im Morgengrauen. Die Leute fingen den Regen auf. Nur notdürftig waren sie bekleidet, aber mit Wonne ließen sich Männer und Weiber naß regnen bis auf die Haut. Das war ein Genuß. So hell hatten die Stimmen lange nicht geklungen. Man patschte durch die dunklen Regenpfützen, man öffnete die Stalltüren, ließ auch dem Vieh einen Mund voll der köstlichen Luft zukommen; trat einer in eine der Pfützen, die sich mit Zauberschnelle gesammelt hatten, so daß sie hoch aufspritzte, wurde sein Gelächter erst recht hell.

Ein Bann war gelöst. Die Dürre, die so lange Zeit mit eisernem Reifen Land und Leute umspannt hatte, war gewichen. Wie befreit dehnte sich die Brust und das Herz in ihr. Es regnete, es regnete!

Als Leykuhlen hinter seiner Hecke hervortrat, bemerkten sie ihn gleich: de Burjermeester, de Burjermeester! Sie umringten ihn. »Et räent, Hähr Burjermeester, et räent jo! Dat is jot!« In den rauhen Stimmen war’s wie ein Jauchzen. Sie begrüßten ihn, sie machten sich an ihn heran; die Männer schüttelten ihm die Hände, die Weiber schwatzten auf ihn ein, es war ihnen allen die Zunge gelöst. Daß sie ihm noch am gestrigen Tage ernstlich gegrollt hatten, das wußte kein Mensch mehr. Sie sahen ihn an, als sei er der, der den Regen gemacht hatte.

Leykuhlen stand unbedeckten Hauptes inmitten seiner Getreuen. Der Regenwind schnob daher und spielte mit seinen Haaren. Es überrieselte ihn, er empfand die Kühle wie einen heiligen Schauer. Sein Herz war übervoll einer gewaltigen Freude: da war ja der Regen! Und das Zeichen, das er begehrt hatte! Über ihn rann der Guß und badete ihm Gesicht [S. 288] und Seele. Er mußte an sich halten, seine Würde wahren, sonst hätte er laut herausgeschrieen wie ein Knabe, in höchstem Jubel: die Brunnen waren doch gut, und er hatte doch recht getan! Gott sei Dank! Er neigte die Stirn, die der Regen wusch; er fühlte den Finger Gottes.

Zur Kirche! Schon läutete es zur Messe. Die Fenster wurden helle vom ersten scheuen Morgenschein, der das feuchtdampfende Land, die triefenden Hecken, die getränkten Matten nun noch deutlicher zeigte. Wie mit freundlichen Augen lugte die Kirche von Heckenbroich; ihre Türen öffneten sich weit. Es eilten die Männer, die Frauen, die Alten und die Jungen, das ganze Dorf strömte herbei.

Weit ins morgendämmernde Land hinaus durchs offengebliebene Portal brauste Orgelklang. Der Bürgermeister hatte nicht erst beim Pastor angefragt, eigenmächtig hatte er den Lehrer auf den Chor hinaufbeordert, der Bälgetreter mußte eilends herbei, nun hieß es, alle Register gezogen. Es rauschte und brauste mit Jubelgetön: Gott den Dank, allen Heiligen den Preis. Der Bürgermeister selber mit all seiner Lungenkraft intonierte das Te deum laudamus :

»Großer Gott wir loben dich,
Herr, wir preisen deine Stärke!«

Bürgermeister Leykuhlen hatte immer ein gutes Ansehen in Heckenbroich und Umgebung genossen, aus der ganzen Gegend kam man zu ihm sich Rat holen, aus der Kreisstadt sowohl als aus dem entlegensten Venndorf. Aber nun war es doch noch anders geworden. Er war in den Augen der Leute noch gewachsen. Man hätte sich kaum mehr getraut, etwas zu tun, ohne ihn zu befragen; er war der Klügste und ein gottesfürchtiger Mann dazu. Die Mützen flogen von den Köpfen.

[S. 289] ›Der König von Heckenbroich!‹ Das hatte der Tierarzt mit einem gewissen Spott aufgebracht, und andere sprachen es nach. Der Landrat nicht ohne Ärger. Da war er mit all seinem Eifer, mit all seinem guten Willen und seiner Betriebsamkeit, mit der Vielseitigkeit seiner Interessen nicht halb so weit gekommen, wie dieser Bauernbürgermeister mit seiner Einseitigkeit. Weiß Gott, wenn’s wieder zu den Wahlen kam, stellten sie ihn noch als Abgeordneten für den Kreis auf! »Da sei Gott vor!« schrie Dreiborn in einem Entsetzen, das so komisch war, daß seine Zuhörer lachten. Aber ihm selber war’s nicht komisch, ihm war ernst dabei zu Mut, traurig sogar. Er hatte doch auch das Land lieb, auf seine Weise. Wenn doch einer käme, der den Leuten ein Licht aufsteckte! So geriet man ja immer tiefer ins Mittelalter hinein! Er pustete und wurde rot und röter, wenn er von dem Bauernbürgermeister hören mußte; und doch konnte er dem Mann eine gewisse Anerkennung nicht versagen: der Pfaffenknecht tat auf seine Weise das Beste – aber eben auf seine Weise!

Leykuhlen hatte keine Ahnung davon, daß in der Kreisstadt viel über ihn gesprochen wurde. Das Te Deum , das er so ganz aus eigener Machtvollkommenheit nach Anbruch des großen Regens in der Kirche von Heckenbroich hatte singen lassen, konnte nicht unbesprochen bleiben. So etwas war noch nicht dagewesen. Aber nur wenigen war es ein ärgerlicher Anstoß, die meisten standen ihm voller Sympathie gegenüber.

Auch Heinrich Schmölder erzählte davon zu Hause. Ihm war es im Grunde ganz gleichgültig, er hatte den Kopf voll mit eigenen Angelegenheiten – sollte er Hedwigs Mitgift nicht lieber doch noch in Händen behalten und dem jungen Paar nur eine Rente geben? – aber Lenchen hatte so lange gespöttelt und gehetzt, bis auch er von ›Betbruder‹ sprach. Dem Gatten so wenig als möglich zu widersprechen, war einer der Grundsätze [S. 290] von Frau Schmölder; aber jetzt echauffierte sie sich doch: wie konnte Heinrich so etwas sagen?! Man hätte wirklich annehmen können, er wäre kein guter Christ, wenn man’s nicht besser wüßte. Und was sollte der Bräutigam davon denken, der mit am Tische saß?

Aber Scheffler lächelte nur verbindlich; er hatte kaum hingehört, was der Schwiegervater sagte, er tändelte mit der Braut. Hedwigs Hand in der seinen haltend, zog er ihr spielend den goldenen Reif vom Finger und schob ihn ihr wieder auf. Das war ihnen beiden sehr unterhaltsam.

Josef saß dabei und biß sich auf die Lippen; in seinem Gesicht vibrierte es nervös. Nun hielt er nicht mehr an sich; dies verliebte läppische Getändel alle und alle Tage mit anzusehen, das war zuviel. Gereizt fuhr er auf: »Leykuhlen ist durchaus kein Betbruder, und auch kein Pfaffenknecht, wie ihn gewisse Leute zu nennen belieben. Er ist ein Mann, ein ganzer Mann, der genau weiß, was er zu tun hat. Ich wollte, ich wäre so einer!«

»No, und wat dann?« fragte der Vetter mit seinem breiten Lächeln.

»Dann stünde ich auf und schöbe den Stuhl unter den Tisch: prost Mahlzeit,« stieß der andere heftig heraus. Er sprang auf. »Ihr habt ja gar keine Ahnung von Größe; keinen Schimmer! Wenn ihr nur eueren guten Tag lebt, damit basta. Aber der Mann da oben, der hat selbstlose Ideen. Der ist wohl auch der Berufene, der Einzige vielleicht, der geeignet ist, Kreis und Land zu vertreten. Klug, kräftig, männlich, geradezu, unerschrocken –«

»Und dazu noch en jute Portion Selbstbewußtsein,« setzte, halb tadelnd, halb anerkennend, der Fabrikant hinzu. »Kreisphysikus und Landrat können ein Lied davon singen. Haha!« [S. 291] Er amüsierte sich noch in der Erinnerung; er hatte gehört, wie Leykuhlen denen gegenübergetreten war.

Josef schob seinen Stuhl unter den Tisch. »Gesegnete Mahlzeit,« sagte er kurz. Seiner Cousine nickte er zu: »Dein Diner war sehr gut, Sophie, ausgezeichnet wie immer; danke. Aber ich äße lieber Brot und Kartoffeln oben auf der Fangeuse!« Und damit ging er zur Tür hinaus.

»Was hat er denn nun schon wieder?« fragte Frau Schmölder ganz erschrocken. »Rebhühner ißt er doch sonst so gern. Er war ja so ungemütlich!«

»Verrückt,« sagte Heinrich, zuckte die Achseln und lachte hinter dem Vetter drein. Er nahm Josef jetzt nur mehr komisch: was sollte er sich denn noch über den ärgern?!

Dann sprachen sie von etwas anderem. Es war so selbstverständlich, daß das junge Paar die neuen Reitpferde, die Egon sich als demnächstiger Hauptmann anschaffen würde, auch einfahren ließ. Nur in welcher Farbe der Wagen ausgeschlagen werden sollte, oder ob ein Selbstfahrer eleganter wäre, darüber war man sich noch nicht einig.

Josef stürmte hinaus. Er war ingrimmig, alles widerte ihn an; und doch sagte ihm der eigene Verstand, daß er eigentlich gar keine Berechtigung habe, so aufgebracht zu sein, kein Mensch hatte ihm ja etwas getan. Aber er konnte sein Gleichgewicht nicht wiederfinden, wie sehr er auch bergauf und bergab rannte. Wo sollte er hin? Einen Augenblick dachte er an Leykuhlen, Frau Mariechen hatte etwas so Beruhigendes; aber er schämte sich, dem Freund in dieser Verfassung unter die Augen zu treten. Bärtes war so ruhig, so gleichmäßig, ein so ganz in sich gefestigter Mensch; was sollte er wohl bei diesem, er, der heute noch, den Fünfzigen nicht allzu fern, wie einer von achtzehn war?!

[S. 292] Er spazierte ziellos umher den ganzen Nachmittag, lief in sich gekehrt, mit gerunzelter Stirn; schon war er todmüde, aber er mochte doch noch nicht zurückkehren. Endlich fand er sich, oberhalb der Au, am Fuß der großen Tanne, zwischen deren Wurzeln er einmal so sanft geruht hatte in einer Mondscheinnacht. Heute war noch Sommerabendsonne, die Landschaft nicht so traumhaft verklärt wie im Mondschein, auch nicht so poetisch; wirklicher, leibhaftiger, kräftiger in den Farben, aber doch auch schön und vor allem beruhigend. Die Stille tat ihm wohl. Seine Mißstimmung verlor sich im Anschauen der Landschaft. Dunkel, so dunkel der Tannenwald, saftgrün das Wiesental. Schon schwebte ein leiser, silberiger Duft über Grund und Hängen, der Hauch des Herbstes. Bald würden die wenigen Laubkronen, die zwischen den dunklen Tannen verstreut waren, sich rostbraun färben, und dann –?! Es packte ihn noch einmal wieder: Himmel, der Herbst so nahe, und noch einmal ein Winter da unten – entsetzlich! Er schüttelte sich.

Harte Tritte klapperten; der steinige Boden leitete den Schall weit. Da kamen sie herauf, die müden Arbeiterinnen, die, nun die Dampfpfeife gepfiffen und das Glöckchen oben im Türmchen der Fabrik gebimmelt hatte, matt und hungrig den Heimweg antraten. Arme Dinger! Er sah ihnen entgegen, wie sie den Fußpfad heraufstiegen, zu zweien und dreien nebeneinander die Breite des Pfades einnehmend; alle trugen ein Körbchen am Arm, alle neigten die glattgestrählten Köpfe nieder auf das Strickzeug, dessen grobe Nadeln in ihren Händen rasselten. Selbst jetzt noch fleißig! Er bewunderte sie. Sie sprachen mit einander, mitunter sagten auch ein paar das ›Gegrüßet seist du,‹ her. Als sie bei ihm vorüberkamen, sagte er ›Guten Abend‹. Sie stießen sich an und kicherten: der Herr, der da auf dem Boden lag und sie zuerst gegrüßt hatte, [S. 293] erregte ihre Heiterkeit. Sie beguckten ihn rasch von der Seite, und dann lachten sie noch im Weitergehen: der war ja närrisch!

Es war ihm peinlich. Warum lachten sie denn so? Dumme Dinger! Er sprang auf und kroch die Berglehne etwas höher hinan und lagerte sich dort hinter ein Brombeergestrüpp. Nun konnte er sehen, ohne selber gesehen zu werden. Ganz hübsche Mädchen, sahen nur alle älter aus, als sie wohl sein mochten! Der Schönheitskenner rümpfte die Nase. Aber da, da kam eine hintennach, die war wirklich noch hübsch, vollkommen hübsch! So taufrisch, gänzlich unberührt.

Es war Bäreb. Sie kam als allerletzte. Langsam, wie sehr müde, ging sie; ein großer Abstand blieb zwischen ihr und den übrigen Mädchen. Sie strickte auch nicht wie jene, sie betete auch nicht, obgleich sie die Hände vor sich gefaltet hielt. Ihr schwerer Blick starrte geradeaus, weit, weit weg in den dämmernden Abend.

»Hela!« Es reizte Josef, sie anzurufen.

Sie erschrak heftig. Als sie nach ihm hinsah, erkannte er sie: ah, dieses hübsche Mädchen war ja die Huesgen! Schon einmal hatte er sie so erschreckt, oben vor der Kirche – war er denn so schrecklich?! Schnell rutschte er den Hang hinunter und stand mit einem Scherzwort vor ihr. Sie sagte »Juten Abend«; er merkte, daß auch sie ihn erkannte, aber sie lächelte nicht. Ihr mattes Gelblich-weiß errötete nicht, sie sah an ihm vorbei mit einem verlorenen, traurigen Ausdruck.

Nun, die machte ja ein so unglückliches Gesicht? Warum denn? War ihr der Schatz untreu geworden? Er fragte es sie scherzend.

Da schoß ihr das Blut jäh ins blasse Gesicht, und seine Hand fortstoßend, die ihr unters Kinn greifen wollte, sagte sie hastig: »Ich han keene Schatz. Ich will ooch keene – oß [S. 294] Dores is duet – vürletzte Sonndag hammer hen bejrawe!« Sie hielt sich die Hände vors Gesicht und fing an, herzbrechend zu weinen.

Josef war betroffen. Also der kleine Dores war tot? Er erinnerte sich des Kindes noch ganz genau. Aber war das denn so ein Jammer um den blöden Knaben? Er wurde ganz verlegen bei ihren Tränen. Was sollte er sagen?

Sie hielt sich die harten braunen Finger vors Gesicht, und er sah die Tränen zwischen ihnen durchrinnen. Die mußte ein weiches und warmes Herz haben! Er begann, ihr freundlich zuzureden. Sie weinte in einem fort, sie hörte nicht auf das, was er ihr zum Trost sagte; aber als er sie nach der Wurzel der großen Tanne hinzog, die wie eine Bank, mit Moos gepolstert, herausstand, ließ sie sich willenlos ziehen.

Er sprach recht väterlich. Er war fast erstaunt, wie gut er das konnte. Im stillen machte er sich über sich lustig, aber zugleich rührte ihn dieses bitterliche Weinen, diese ganze Hilflosigkeit, die sich in der geknickten Mädchengestalt offenbarte. Und um den blöden Jungen weinte sie so? Oder war da noch ein anderer Kummer?!

Der leis-spöttelnde Zug, der seine Mundwinkel herabgezogen hatte, schwand; es war herzliches Mitgefühl in seinem Ton: »Warum weinst du denn so? Kannst du es nicht sagen?«

Da hob sie das verweinte Gesicht aus den Händen. Ein Blick traf ihn aus den dunklen Augen, vor dem er stutzte. »Nee,« stieß sie schluchzend hervor. Ihr blasses Gesicht wurde flammendrot bis unter das schwarze, an den Schläfen ein wenig wellige Haar. »Nee – ich kann et nit saone – nee!« Sie schüttelte sich wie in einem inneren Krampf und warf den Oberkörper vornüber. Ihr Gesicht lag auf ihren Knieen. Die Arme schlang sie um die Kniee und preßte sie fest, als [S. 295] müsse sie sich so zusammenhalten, um nicht zu zerspringen vor heftigem Schluchzen.

Und alles dies um den blöden Jungen? Das war ja kaum möglich! Aber wenn sie es denn nicht sagen wollte, wollte er sie auch nicht weiter ausfragen. Was ging’s ihn auch an?! Aber er blieb doch noch neben ihr sitzen. Mit leichter Hand strich er ihr über den gebeugten Kopf: »Wein dich aus, Anna, Maria, Lenchen – na, Mädchen, wie heißt du doch gleich?«

»Bäreb,« flüsterte sie, kaum hörbar.

Aber sein feines Ohr fing es doch auf. »Nun, Bäreb, wein dich aus! So –« er klopfte ihr den Rücken – »das tut wohl! Wenn man noch so weinen kann wie du, Kind, dann wird man auch bald wieder froh!«

»Och, Hähr?!« Sie hob den Kopf und sah ihn angstvoll-fragend, ungläubig an.

Er nickte lächelnd: »Ja, auf mein Wort!«

Einen Augenblick huschte es wie ein Hoffnungsschimmer erhellend über ihr Gesicht, dann wurde es wieder trüb. »Ich jlöw dat nit,« murmelte sie und ließ den Kopf wieder hängen. »Nee, nee!« In ausbrechendem Jammer, nicht mehr achtend, daß ein Herr, ein Fremder neben ihr saß, warf sie den Kopf wieder auf ihre Kniee und schluchzte aufs neue.

Was sollte er tun? Zu sagen war da nichts, er kannte ja auch nicht ihren Kummer; helfen konnte er auch nicht. Aber sie dauerte ihn so: armes, geplagtes Fabrikmädchen, gewiß hatte sie es auch noch schlecht zu Hause! Stumm legte er den Arm um ihre Schulter. Er fühlte ihre ganze Wärme. War das ein kräftiger junger Körper, trotz all der mageren Schlankheit. »Tröste dich!« Er drückte sie leicht.

Da richtete sie sich hastig auf. Jetzt erst ward sie sich ihrer Unschicklichkeit bewußt. Errötend, den Blick erschrocken [S. 296] niederschlagend, sprang sie auf die Füße. O, was sollte der Herr wohl von ihr denken?! Sie war ganz verwirrt.

Josef lächelte flüchtig: die Kleine sah so allerliebst aus in ihrer Beschämung. Aber dann wurde er ernst. Ein Gedanke war ihm plötzlich durch den Kopf geschossen, der sich seiner ganz und gar bemächtigte, wie ein brennender Wunsch. Wenn die mit ihm ginge! Sie schien ja unglücklich hier zu sein, vielleicht, daß sie gern auf die Fangeuse hinauf zöge?!


Es war nun ausgemachte Sache, daß Josef Schmölder die Fangeuse bezog. Heinrich Schmölder schüttelte den Kopf: was der Josef doch für einen Dusel bei den Weibern hatte, trotz seiner angegrauten Haare! Fand wahrhaftig eine, die mit ihm da hinaufzog, noch dazu eine, die blutjung war und die hübscheste von allen in der Fabrik! Na, wenn das nur gut ging! Aber dem Josef war ja nicht zu raten, der hörte ja doch nicht. Und er, Heinrich, hatte sich auch des Rechtes begeben, ein Veto einzulegen; hatte er nicht gesagt: wenn du eine Magd findest, dann zieh hinauf! Übrigens, für ihn selber war es ja auch ganz angenehm, wenn in den Jagdtagen ein so hübsches Mädchen ihm das Bett machte und den Kaffee kochte.

Josef rüstete in fieberhafter Ungeduld; der frühere Hüter der Fangeuse war zum August bereits abgezogen. Und nun färbten sich schon die einzelnen Laubbäume gelb, und Astern und Georginen blühten im Garten. Wenn man jetzt nicht eilte, entging einem der Herbst da oben, der köstliche Herbst mit seinen Nebelmorgen und den um so leuchtenderen Mittagen, mit seiner kristallenen Klarheit und dem lichten Himmel, der sich so leicht über die Erde spannt. Er lachte seine Cousine aus, die von wollenen Hemden sprach und eine ganze Ausrüstung für ihn zusammenstellte. Konserven aller [S. 297] Art, Würste, Schinken, Kolonialwaren wurden eingepackt. Wie zur Verproviantierung einer Festung. Die gute Sophie! Es war wirklich nett von ihr. Aber als ob man nicht jeden Augenblick herunterkommen könnte, wenn man etwas gebrauchte! Aber man würde nicht kommen.

Endlich war es erlangt, wonach er sich immer gesehnt hatte. Endlich würde er allein sein, endlich einmal ohne das Geschwätz des Alltags, das ihn nervös und traurig machte. Um ihn würde nur die Natur sein, die er so unendlich liebte, mit der man Zwiesprache halten kann wie mit der Geliebten, und die, je vertrauter man mit ihr wird, dem Glücklichen immer neue und immer noch größere Schönheiten offenbart. Josef war in einer gehobenen Stimmung, er pfiff und trällerte den ganzen Tag.

»Wie’n Liwerlink,« [23] sagte Heinrich mit Spott. Josef war froh, aber auch er war froh, der Josef war ihm öfter doch recht unbequem gewesen. Frau Schmölder aber war ganz betrübt, daß der Vetter hinaufzog, er war immer galant, viel galanter als Heinrich. »Du freust dich ja so, daß du von uns fortkommst,« sprach sie, nicht ohne Vorwurf im Ton.

Da faßte er sie um die Taille und schassierte mit ihr ein paar Mal durchs Zimmer, bis ihnen beiden der Atem ausging. »Sophie, nichts für ungut – haha – ja, Sophiechen, ich freue mich unbändig auf die Fangeuse!«

»Erkälte dich nur nicht, du weißt, du bist nicht der Stärkste. Es ist rauh im Venn – huh, ich möchte im Winter nicht da oben sein!«

Sie schauderte und sah ihn besorgt an. Es würde ja nun hier unten viel friedlicher sein, es war immer so peinlich, wenn Heinrich und Josef sich zankten; aber wenn er sich nur [S. 298] nichts holte da oben, sie sagten doch alle, das Venn sei nicht zum Spaßen!

Nein, es war auch nicht zum Spaßen. Aber zum Bewundern. Stumm saß Josef Schmölder auf dem Bock neben dem Kutscher, der ihn hinauffuhr. Die Schmöldersche Equipage war dazu nicht tauglich, man hatte zwei Arbeitspferde vor einen Karrenwagen aus der Fabrik gespannt. Wo sonst die Ballen und Lumpensäcke aufgestapelt waren, lagen jetzt die Koffer und Kisten und Körbe, und hintenauf saß Bäreb mit ihrer Lade und hielt noch ein Bündel auf dem Schoß.

Ihr Gesicht war ruhig und zufrieden. Die Mutter hatte zwar geweint beim Abschied und ihr noch viele Ermahnungen mitgegeben. Die Eltern hatten überhaupt anfänglich gar nichts davon wissen wollen, daß sie zu einem einzelnen Herrn zog, und der Herr Pastor war auch dagegen gewesen; aber Bäreb hatte es durchgesetzt. Ja, sie wollte fort! Gern! Es war ihr, als müßte sie fliehen vor Erinnerungen. Und war der Herr Josef denn nicht schon so ein alter Mann, zudem der Vetter vom Herrn Schmölder?! Bürgermeister und Bürgermeisterin hatten auch die Eltern beruhigt. Und Bäreb lachte: was sollte es ihr wohl da oben zu einsam sein? Ihr war es gerade recht, so einsam. Und verdienen tat sie ja bei dem Herrn ebensogut wie in der Fabrik, besser noch, denn sie kriegte ja auch Essen und Trinken. Da hatte denn niemand mehr etwas sagen können. Kathrinchen konnte zudem der Mutter das Nötigste helfen – ach, und der Dores war ja nicht mehr da!

So stieg Bäreb wohlgemut auf den Wagen, der vor der Hecke der Eltern hielt. Auch bei Leykuhlens hatte Josef noch halten lassen. Der Bürgermeister aber war gestern nach Mariawald gegangen; das tat er alle Jahr vor Winters, um bei den frommen Brüdern im Trappistenkloster zu beichten. [S. 299] Die Bürgermeisterin versprach, daß Bärtes bald hinauf kommen würde, den Herrn Josef besuchen. »Aber werden Sie et da auch aushalten können?« fragte sie. »Bald kömmt der Schnee!«

Da lachte er sie aus.

Und jetzt saß er und staunte mit großen Augen. So hatte er das Venn noch nicht gesehen. So doch noch nicht! Immer nur war er nicht weit über Heckenbroich hinausgekommen. Jetzt aber breitete sich die Moorfläche in ihrer ganzen Unabsehbarkeit aus; vor ihm, hinter ihm, rechts und links. Das letzte Haus, was sie sahen, war das der Strafkolonie; nun verschwand es auch hinter einer Erdwelle. Das rote, im klaren Herbstlicht weithin leuchtende Dach war plötzlich weg, als sei es gar nicht da. Immer frischer wurde die Luft; Winde standen auf einmal auf aus der bräunlichen Heide, warfen den Pferden die Mähnen durcheinander und bliesen den Menschen ins Gesicht.

»Et is als kalt hie oben, Herr Schmölder,« sagte der Kutscher.

Ja, die Decke war nun doch ganz gut, die Sophie mitgegeben hatte! ›Brauch ich nicht, brauch ich nicht‹, hatte Josef zwar gesagt; nun breitete er sie doch über seine Kniee und ließ sie sich von dem Kutscher an den Füßen einstopfen.

Es wehte. Hier oben weht es immer. Vom Meer her, von der Nordsee über Belgien weg, viele, viele Meilen weit kommen die Lüfte. Aber sie haben ihre ganze salzige Frische behalten. »Hah,« sagte Josef tiefaufatmend und zog den starken Duft schlürfend ein wie einen köstlichen Wein. Man hatte förmlich den Geschmack auf der Zunge. Aber dann sagte er nichts mehr, er verstummte.

Eben noch hatte er mit dem Aufseher der Strafkolonie ein paar Worte gewechselt. Jenseits der Chaussee arbeiteten [S. 300] die Gefangenen, sie standen bis an die Kniee im Heidegestrüpp, hackten und schaufelten, gruben und rodeten wie immer, wie alle Tage, wie seit Wochen und Monaten, ob es regnete, ob die Sonne prallte. Für ein paar Augenblicke ließen sie ihr Handwerkszeug sinken und starrten an, was sich ihnen da nahte. Auch Simon Bräuer, der bei ihnen stand mit seiner Flinte, hatte den Kopf gedreht. Er war dann langsam, aber mit ein paar weitausholenden Schritten, die mehr schafften, als viele hurtige, zum Wagen herangekommen.

»Schön hier oben,« hatte Josef zu ihm gesagt, »wunderschön!«

»O ja!« Der Aufseher ließ für einen Augenblick in einem grimmigen Lächeln seine weißen Zähne aufblitzen. »Aber nit für jeden!« Mit finsterem Ausdruck starrte er dann wieder drein.

Ja, da hatte der Mann wohl recht: für die da sicher nicht! Josef hatte den Sträflingen, deren Leinenkittel sich im Winde blähten, zugenickt, aber sie hatten seinen Gruß nicht erwidert. Sie starrten nur stumm.

»En schlechte Nachbarschaft, Herr Schmölder,« hatte der Knecht gemeint, als sie dann außer Hörweite waren. »Do moß mer sich in Aacht vör holle!«

Aber Josef drehte sich noch einmal um und blickte nach den Sträflingen zurück. Wieder dünkten sie ihn wie damals Schafe, die in der Irre wandern. Und die sollte er fürchten?! Er hielt dem Kutscher eine ordentliche Strafpredigt. Aber dann mochte er nicht mehr sprechen. Je weiter sie ins Venn hineinkamen, desto stummer wurde er; auch der Kutscher schwieg und das Mädchen hinten auf dem Wagen. Die schweigende Landschaft hieß alle schweigen.

Wie ein Meer mit Wellen und Wellchen, eine Flut, endlos, ohne Ufer, ohne Begrenzung dehnt sich das Venn, und der [S. 301] Wagen fährt wie ein winziger Nachen in die Unendlichkeit. Noch war das Heidekraut nicht verblüht, aber sein Purpur war blaß geworden, gebleicht vom Brand des Mittags und vom Reif der Nächte. Nicht schwärmten tausende von Bienen mehr, matt nur taumelten noch einige; hier stürzte schon eine und sank hin ins Kraut, verklammt.

Simon Bräuer, der dem Wagen nachgeschaut hatte, lange, lange, ganz verloren in eigenen Gedanken, sah sie fallen. Nun war der Sommer dahin, und Thereschen war doch nicht gekommen! Nun würde sie auch nicht mehr kommen; und wenn er es gut mit ihr meinte, durfte er sie auch jetzt nicht mehr kommen heißen. Sein eisernes Gesicht wurde noch eiserner, er kniff die Lippen aufeinander, als wollte er einen Seufzer nicht herauslassen, der sie öffnen wollte. Verdammt! Erst die Hitze, die Dürre, der Mangel an Wasser, die Krankheitsgefahr – wie hätte er sie, die er liebte, herrufen können?! Und jetzt?! Er sah rundum. Sein scharfes Auge, gegen dessen graue Pupille mit dem dunklen Ring der Wind anpustete, als wolle er es zwingen, sich zu schließen, äugte in die Ferne. Weit, weit dort niederwärts in dem tiefblauen Dunst, in dem die Täler liegen und die Stätten der Menschen, da wohnte sie! Ob sie auch an ihn dachte, bei Tag, bei Nacht, stündlich – immer?! Ach, sie hatte ja an so vieles zu denken: an die Kinder, an die Verwandten, an die Bekannten, an die Nachbarn rechts und links – er aber, er hatte nur sie!

Wenn er hier auf dem Venn stand, die Flinte im Arm, und in die ewige Weite starrte, dann hatte er Muße genug, an die Frau zu denken; viel zu viel Muße. Ragend wie ein einsamer Baum, von allen Seiten sichtbar, brauchte er nicht bange zu sein, daß ihm einer aus der Horde ausbrach. Wenn seine Kerls ihn nur von weitem stehen sahen, dann war’s schon genug. Sie taten ihre Arbeit jetzt wie Maschinen; selten, daß er noch [S. 302] einen einsperren mußte oder den Stock gebrauchen. Sie hatten gelernt, parieren. Sie wußten, er setzte seinen Willen ein wie die eiserne Pflugschar, die unbarmherzig ins öde Brachland Furchen reißt. Aber hernach sät man doch auch Samen ins aufgerissene Land, auf daß dereinst eine Ernte zu erhoffen ist. Langsam ging das freilich, langsam; aber wer hätte überhaupt je früher daran gedacht – ein Erntefeld auf dem hohen Venn?! Selbst diese armen Teufel, die nichts von dem genießen würden, was sie hier säeten, hatten doch eine gewisse Freude daran, eine Art Stolz. Der Schleichert, der alte Kunde, hatte sich neulich an ihn herangemacht, ihm ganz strahlend an ein paar Stecklingen, aus denen einst eine Hecke werden sollte, die ersten Knospen gezeigt. Und der alte Landstreicher hatte dabei freudig gegrinst übers ganze Gesicht.

Simon Bräuer zuckte die Achseln: nein, ganz schlimm waren sie nicht, seine Kerle! Wenn nur das Thereschen hier wäre! Wenn er die nur hätte, dann wäre alles gut! Seit Pfingsten hatte er die nicht mehr gesehen. Ob sie wohl unten ins Ehebett nun das Kleinste zu sich genommen hatte? Daran dachte er, wenn er abends auf der schmalen eisernen Bettstatt den Schlaf suchte und den Traum, in dem er sie wenigstens einmal zu sehen bekam. Kotz Kuckuck, es war ein hartes Stück für einen verheirateten Mann, hier oben so allein zu sitzen! Das halte einer auf die Dauer mal aus – er nicht!

Mit einem Ruck richtete sich der Aufseher aus seiner nachdenklichen Stellung auf. Mit so großen Schritten stapfte er im Kraut hin und her, so unruhig wie ein Gefangener, trotz aller freien Weite, daß die Sträflinge verstohlen nach ihm guckten. Wenn er so war, dann mußte man sich hüten, von der Arbeit aufzusehen! Sie grinsten in sich hinein, sie verstanden das wohl: er dachte an das Weib. War es nicht eine Hübsche, Junge, die ihn geherzt hatte? Es war schon lange her.

[S. 303] Simon Bräuer hatte die Stirn in tiefe Falten gezogen. Das grimmige Lächeln, in dem er vorhin, bei der Bewunderung des Herrn, seine blitzenden Zähne gezeigt hatte, zuckte wieder auf. Ja, schön war es schon hier, mehr als schön! Es hatte ihm ja auch so wohl hier gefallen, daß er all die Jahre nicht hatte das Venn vergessen können, sich ohne Zaudern, ohne Bedenken förmlich dazu gedrängt hatte, hier herauf zu kommen. Nun war er wieder hier. Noch war es dieselbe Weite, derselbe Himmel mit den fliehenden Wolken daran, nach dem er immer den Kopf gereckt und gesucht hatte unten in der Enge der Städte; noch war es derselbe starke Duft nach Moor, nach Heide, nach Wachholder, nach Tannenharz, nach der herben Preißelbeere, und wieder war er hier der Hüter, der Herr, wie dazumal, als er seine Peitsche über dem Vieh schwang und seine Stimme scharf und klar allein hier gebot. Was war es nur, das es nun so anders machte hier, warum litt es ihn nicht mehr hier oben? Noch liebte er dieses Land ebenso sehr; er fühlte das, indem es ihm schwer wie ein Stein auf die Brust fiel, bei dem Gedanken, es zu lassen. Jenes Dach hatte er errichtet, das Haus gebaut, darin sie wohnten, Wege hatte er gebahnt, schon Äcker eingeteilt und Gartenland gerichtet, Hecken hatte er angepflanzt, sogar einen Fliederbusch, und doch mußte er gehen. Man zögerte, ihm ein Haus für seine Familie zu bauen, man wollte doch erst noch abwarten. Nun wohl, dann mochten sie sich einen andern suchen. Ob sie einen fanden, der dazu taugte?! Simon Bräuer war kein Bescheidener, er wußte, was er wert war. Wieder lachte er sein grimmiges Lachen, sein Raubvogelauge blitzte dabei. Sie kriegten nie einen solchen wieder! Wer kannte das Venn so wie er? Und wer liebte es so wie er?!

Sein greller Blick wurde milder, verschleierter; er sah trübe rund umher und auf die weißen Kittel, die im Vennwind [S. 304] flatterten. Die Kerle würden ihn auch vermissen! Gerecht war Simon Bräuer immer gewesen, streng, sie hatten ihre Strafe gekriegt, aber auch ihr Recht. Ob sie’s wieder so kriegten? Und doch würde er gehen. Und wenn sie ihm auch für seine Frau ein Haus bauen würden hier oben, durfte er sie denn hier heraufnehmen, sie und die Kinder? Sie waren nicht Vennland und Vennluft gewöhnt.

Der Schweiß brach ihm aus. Wohin er sah, er fand keinen Ausweg. Er sah nur klar den Weg, auf dem es hinging zu ihr. Und den mußte er gehen; er hielt es nicht mehr aus ohne sie.

Es war ein bitteres Gefühl, mit dem Simon Bräuer sich diese Nacht auf seine Lagerstatt streckte. So weit hatte er’s nun gebracht, sehr weit schon – was hatte ihm vor ein paar Tagen der Landrat nicht alles für Komplimente gesagt, ganz erstaunt war er gewesen und voller Lob, wie hier alles voranging – so weit, und doch reichte seine Kraft nicht weiter mehr.

In der einsamen Dunkelheit seiner Lagerstatt stöhnte Simon Bräuer auf und ballte die Fäuste in einem Zorn über sich selber.


Und noch ein anderer unter dem roten Dach, das tief übers rohe Sparrenwerk herunterhängt, stöhnte und wendete sich in ruheloser Qual. Alles schlief im scheunenartigen Raum. Ein Schnarchen, rauh wie das unablässige Schnarren und Schnurren eines Sägewerks, vereinigte alle Schläfer. Mit glühenden trockenen Augen starrte der einzig Wachende im Schlafsaal in die tiefe Dunkelheit.

Heute schien kein Mond draußen, der seine Strahlen wie blinkende Schwerter durchs Gebälk stach; finster war es. Aber der Sträfling mit seinen brennenden, sich ins Finstere bohrenden Blicken sah das Venn draußen und hinter jedem [S. 305] Busch das Kind. Das Kind, das da hockte, das ihm zulächelte, den Kopf rasch vorstreckte und ihm winkte, ihm nickte, so oft er mit seinem Spaten in die Nähe kam. Der Aufseher paßte jetzt lange nicht so scharf mehr auf wie vordem; man konnte jetzt, ohne gleich angeschrieen zu werden, ruhig weiter hinausschlendern, den Karren, den man schob, ein wenig weiter hinauskarren. O, wie das Kathrinchen so vertraulich war! Wenn er neben sie hinter dem Busch niederduckte, dann sah sie ihn immer so freundlich an mit ihren schwarzen Augen. Zum Anbeißen, zum Aufessen! Ein hübsches Dingelchen, ein Kind noch, und doch –!

Einen knurrenden, fauchenden Laut ausstoßend, wie ein in die Enge getriebenes böses Tier, packte sich der Sträfling mit beiden Fäusten ins kurzgeschorene Haar und rupfte sich die Borsten aus. Wenn er die Augen auch zudrückte, so fest zukniff, daß ihm der Schweiß auf die Stirn trat, er sah sie doch, immerfort. Gott im Himmel! Wenn Gott im Himmel sich wirklich um jeden einzelnen kümmerte, auch um einen, der hier in der Laushütte saß, dann mußte er jetzt den Schutzengel schicken, den mit dem langen weißen Kleid und dem Lilienstengel in der Hand, von dem Kathrinchen ein Bildchen hatte! Sie hatte es aus der Tasche gezogen, es ihm gezeigt und es geküßt.

Die Hände ineinander faltend, sie zusammenpressend in krankhafter Hast, versuchte der Sträfling zu beten. Ah, wenn er jetzt der Schleichert wäre, der konnte paternollen! Er, er verstand das nicht so gut. Er hatte zu selten gebetet, die Gebete, die er als Knabe gelernt hatte, alle vergessen. Ob er den Kunden weckte? Der würde wohl mit ihm beten. Sein eigenes Gebet beruhigte ihn nicht. Ha, die kleine Trine, die verstand aber noch besser zu beten als der alte Paternapgacker; und fromme Lieder konnte man die singen hören, wenn man die [S. 306] Ohren spitzte. Weit, weit übers Venn klang ihr Gesang; wenn man dem nachging, konnte man sie immer finden. Sie hütete das Vieh, sie sammelte von den roten Beeren, Tag für Tag, vom Morgen früh, bis zum Abend spät; bis daß es dunkelte. Bald war sie hier, bald dort. Ihr Ruheplatz aber war hinter den schwarzen Tannen, ganz im Dickicht, im Busch am Fuß der Ley. Da war es so still, so verborgen. Am Wochentag kam kein Beter hierhin, verlassen stand dann die Muttergottes im Stein. Sie war allein – so ganz allein!

Der Sträfling zuckte zusammen, er erschrak über die eigene Stimme; heiser hatte er’s laut geächzt: »Ganz allein!«

Er schwitzte; der klebrige Schweiß rann ihm in Strömen am Leib herunter. Er betete wieder. Es ward ein seltsames Gebet. Brocken von einst Gelerntem fand er noch zusammen, aber mit Verwünschungen vermengte er sie. Er fluchte sich und dem da oben und dem Kind hier unten. Warum war ihm das Mädchen in den Weg gelaufen? Warum lachte es ihn immer so an?! Würde sie auch noch lachen, wenn er sie zu packen kriegte hinter diesem dichten Busch, wenn er sie – ha, schreien würde sie sicher! Schreien!

Jetzt gellte es durch die Finsternis zu ihm. Er hatte ihn ganz deutlich in den Ohren, den Schrei. Die verwünschte Trine! Er fletschte die Zähne, er biß sie dann knirschend auf einander.

Und dann würde er ihr den Mund zuhalten: ›Biste still!‹ Er würde sie am Halse packen – an dem kleinen, zarten Hälschen – – –

»Jesus, Jesus Christus, erbarme dich!« Erstickt schrie er auf. Er schrie den Schutzengel an, den in dem weißen Kleid: ›komm du, sei du bei ihr, sonst –!‹ Aber auch der konnte ihr nicht helfen, nein!

Sie war wieder da, sie, die ihn überfiel wie eine Krankheit, [S. 307] wie ein Krampf, gegen den er sich nicht wehren konnte; sie, die Gier, die er auch hier nicht losgeworden war. Sie war wieder da. Und nun hielt sie ihn gepackt, fester denn je.

Die Augen rollten ihm, er bäumte sich jählings im Bett auf und wühlte sich dann wieder ein ins Stroh und richtete sich wieder auf und kauerte glühend und doch frierend, zitternd und mit den Zähnen klappernd, weinend auf seiner Bettstatt. Wann kam das Licht? Ach, helles Tageslicht! Kam es nicht endlich?! Ihm grauste in der Finsternis.

[23] Lerche.


XIII

Nun war Josef Schmölder schon vierzehn Tage oben auf der Fangeuse, und noch keine Stunde war ihm sein Entschluß leid geworden. Die erste Nacht freilich hatte er nicht schlafen können, er hatte wach gelegen in einer aufgeregten Neugier: was würde ihm die Nacht offenbaren? Wie ein Geheimnis schien es ihm in der Stille zu lasten. War das still, grabesstill hier! Eine tiefe, tiefe Ruh. In ihr mußte man selber zur Ruhe kommen; die Seele mußte sich glätten wie ein stiller Bergsee, um den die schützenden Wände von Alpen stehen, den kein Windzug mehr kräuseln kann. Er setzte sich im Bette auf und lauschte den Stimmen der Nacht.

In der Hecke, die das Haus völlig umgab, flüsterten die Winde; horchte man angestrengt, so konnte man auch das Rauschen der Tannen hören. Schwarz und hoch umstanden sie den kleinen Wiesenplan, auf dem die Fangeuse sich hinter die Hecke duckte. Hier war man wahrhaftig geschieden von aller Welt, hier konnte nichts, gar nichts von außen heran; man war hoch über all dem kleinen Getriebe.

Mit einem großen Wohlgefallen blieb Josef wach. Sonst war er ungeduldig, schier verzweifelt, wenn er nicht schlafen konnte, heute wachte er gern. Er malte sich das Leben hier [S. 308] aus, so schön, daß er selber kaum daran glauben konnte. Alle Tage in Frieden, kein Genörgel von Heinrich – die paar Tage, die er zur Jagd heraufkommen wollte, würden sich schon überstehen lassen – gar nichts von dem Spießbürgertum der kleinen Stadt, von den alltäglichen Sorgen und Besorgungen der Hausfrauen, die die gute Sophie so gern umständlich besprach. Hier war er all das los. Die Bäreb würde ihn nicht weiter stören. Mochte sie machen, was sie wollte! Sie hatte ihm zwar am Abend eine Suppe vorgesetzt, vor der ihm noch grauste; aber er hatte sich mit Brot und Schinken begnügt und die Suppe verstohlen zum Fensterchen hinaus zwischen die Hecke gegossen. Er wollte sie doch nicht kränken. Mochten die Mäuse des Feldes und die Raben, die, seit wieder Menschen eingezogen waren, über der Fangeuse lauerten, sich die Brocken herausholen!

Bäreb hatte sich augenscheinlich gefreut, daß er so viel von ihrer Suppe gegessen hatte. Sie schaffte voller Freudigkeit im Haus. Kaum, daß sie vom Wagen gestiegen waren und der Knecht die verschlossene Haustür und die verrammelten Läden geöffnet und all das Gepäck abgeladen hatte, hatte sie in der Küche ein Feuer angezündet, Wasser vom Brunnen herangeschleppt, das Kleid geschürzt, die Ärmel aufgestreift und angefangen zu scheuern. Die Möbel standen alle an ihrem Platz, aber dicker Staub lag auf ihnen; die Fensterchen waren blind, nicht zum Durchsehen. Der Kutscher hatte ihr bei der Arbeit geholfen, und während die beiden so schafften, war Josef hinausgegangen und hatte sein Reich umkreist in immer weiteren Kreisen. Er konnte sich nicht satt sehen an dem blauen Duft der Ferne, in dem tief unten, meilen- und abermals meilenweit, weit jenseits der Grenze, die belgischen Städte und Städtchen auftauchten, wie weiße Flecke, beglänzt vom Sonnenschein. Alle sah er sie, und sie sahen ihn doch nicht.

[S. 309] Als er endlich zurückkehrte ins Haus, war der Kutscher fort. Das war ihm gerade recht, er wollte kein Alltagsgesicht mehr hier sehen; er hatte Feiertag gemacht. In der Stube prasselte ein Reisigfeuer, träumend saß er davor und sah die Funken springen.

So hatte er den ersten Abend hingebracht; er wußte nicht, daß es schon fast Mitternacht war, als er endlich zu Bett ging. Noch immer schaffte die fleißige Bäreb. Sie schlief dann aber auch gut. Die Zwischenwände im Haus waren nur dünn, er hatte ihre tiefen, ruhigen Atemzüge gehört.

Und die hörte er jetzt alle Nacht. Sie mischten sich mit dem Rauschen der Tannen, mit dem Säuseln in der Hecke; er hätte nicht ruhen können, hätte er sie nicht mehr gehört. Am Tage wurde er wenig von dem Mädchen gewahr. Er war immer draußen; die Tage waren so schön, herbstlich klar und doch noch so warm hier oben, weil die Sonne hier am frühesten kam und am spätesten ging. Wenn unten die Schatten schon düsterten, war sein Wiesenplan noch golden beglänzt; er bedauerte alle, die da unten hausen mußten. Aber lagern konnte man nicht mehr draußen, die Wiese war Moorgrund und blieb tief innen feucht trotz aller Bestrahlung. Er hatte es Bäreb anfänglich nicht geglaubt; er hatte sich hingelagert, zwar auf seinem Plaid, aber der hatte doch nicht verhindern können, daß er Schnupfen bekam und Reißen in allen Gliedern. Doch diese Stunden, auf dem derb-duftenden Wiesenplan in der Sonnenflut verdämmert, waren es wert gewesen.

»Ihr müßt ens schwitze, ich will Uech ’ne Tee holle jonn,« sagte Bäreb, als er nieste und sich mit einem ›Au!‹ den schmerzenden Rücken hielt.

Das war das erste, was ihn hier oben verstimmte. So alt war er denn doch nicht, daß sie ihm Tee zum Schwitzen kochen mußte! Oder ergriff sie die Gelegenheit gern, um herunterzukommen, [S. 310] war’s ihr schon zu langweilig hier oben bei ihm? Er fragte es in gereiztem Ton.

Sie sah ihn groß an: warum sollte sie nicht gern hier oben sein? Es ging ihr ja gut!

War es ihr denn nicht zu einsam?

Einsam?! Sie sah ihn wieder verständnislos an, und dann lachte sie: »Mir sein dat jo jewent. Un Ihr seid jo ooch do!«

Das versöhnte ihn. Aber er nahm sich doch vor, sich etwas mehr um sie zu kümmern, mehr mit ihr zu sprechen als das Allernotwendigste. Sie war so jung, immer allein – wer weiß, sie konnte doch Heimweh bekommen! Oder am Ende bändelte sie aus langer Weile mit einem der Grenzjäger an, die zuweilen hier vorüberstrichen.

So kam es, daß, als die Abende so früh herabsanken, daß sie lang erschienen, Bäreb beim Herrn in der Stube saß.

Sie hatte es anfänglich nicht gewollt, in der Küche gefiel es ihr sehr gut. Aber nachdem sie ihre Scham überwunden hatte, erschien sie jetzt jeden Abend mit ihrem Strickzeug und setzte sich auf die Bank unterm Fenster.

Er las. Zweimal die Woche brachte der Landbriefträger Zeitungen. Es war eigentlich rührend von Sophie, daß sie die für ihn sammelte und dann einen ganzen Packen heraufschickte! Aber er wollte ja gar nichts wissen von der Welt. Und doch griff er aus Gewohnheit danach. Wenn er glaubte, etwas gefunden zu haben, was auch Bäreb interessieren konnte, las er es laut; sie saß ganz still, aber bald merkte er, daß sie doch nicht zuhörte. Und an einem Abend schlief sie über seinem Lesen ein. Fast freute er sich darüber: ja ja, sie sollte lieber ganz so bleiben, wie sie war, das war ihr größter Reiz! –

In den Wochen, die er nun schon oben wohnte, hatte Josef außer mit Bäreb nur noch mit Bräuer gesprochen. Auf [S. 311] einer weiten Streiferei war er bis in die Nähe der Kolonie gekommen; sein altes Interesse für die Sträflinge erwachte wieder. Die gehörten ja nicht zur Welt, die standen jenseits. Er sah ihnen lange zu. Sie beachteten ihn nicht; selten, daß einer oder der andere sich aus seiner gebückten Haltung aufrichtete, die heruntergerutschte Hose mit beiden Händen heraufzog und so ein paar Minuten, umflattert von den Fetzen des Kittels, stehen blieb und nach ihm hinblickte. Wie die Scheuchen sahen die Kerle aus! Ob sie denn nicht bald wärmere Kleidung bekamen?

Besonders der eine, ein schwächlicher Mensch mit käsigem Gesicht, mit abstehenden Ohren unter kurzgeschorenen rötlichen Stoppeln, schien einer wärmeren Jacke bedürftig. Er fiel Josef auf. Wie heiser der Mensch hüstelte! Aber Bräuer wollte nichts von wärmerer Kleidung wissen. Es war ja noch gutes Wetter, wie sollten sie denn den Winter hinbringen, wenn man sie jetzt schon verzärtelte?! Er war überhaupt abweisend. War das noch derselbe Mann, mit dem er im Frühjahr so eingehend über die Gefangenen und das Kolonisationswerk gesprochen hatte? Jetzt schien er verdrossen.

Fast feindlich blickte er, als Josef es wagte, ihn zu fragen: »Sie sind wohl nicht gern mehr hier?«

»Sein Sie erst en Zeitlang hier, dann fragen Sie nit mehr so dumm!« Und dann schrie er übers Venn, daß es hallte: »He, halt, wohin will denn der Rotfuchs? Zusammenjeblieben! Hier wird sich nit von der Arbeit jedrückt! Verfluchtes Luder, fauler Schlingel!«

Der blasse Mensch mit den roten Haaren fuhr erschrocken zusammen; er hatte sich ein wenig von den anderen entfernt. Hatte er sich davonmachen wollen? Jetzt kam er wieder angetrottet, den Kopf gesenkt, und nahm die Arbeit wieder auf.

[S. 312] Sie schaufelten tiefe Gräben aus, in denen man sie kaum sehen konnte, wenn sie darin standen; es sollten Drainröhren hineinkommen noch diesen Herbst. Die Arbeit eilte.

Als Josef nach Haus spazierte, fröstelte ihn. Der Wind schnob schon kräftig, obgleich die Sonne noch warm war. Überall im Venngras blickte es rot von den korallenen Träubchen der Preißelbeeren, in dichten Gebinden, Büschelchen bei Büschelchen, faßten sie alle die Rinnsale und Rinnsälchen ein, die jetzt reichlich sickerten. Der ganze Grund war naß, man mußte sich hüten, den schmalen Pfad zu verfehlen; ein Tritt daneben und man sank knöcheltief. Josef mußte ab und zu einen Anlauf nehmen und eine Lache überspringen; dann schwankte der Boden jedesmal unter ihm, die tiefen Tappen, die sein Tritt machte, füllten sich rasch mit Wasser. Hätte er den Umweg der Fahrstraße nicht gescheut, er wäre bequemer gegangen, aber es reizte ihn, das Venn zu durchqueren. So lief man geradewegs auf die Fangeuse zu und auf die Grenze. Die Sträflinge hatten es doch eigentlich recht bequem, eine halbe Stunde hinter der Fangeuse, und man war überm Grenzfluß. Aber man hatte noch von keinem Fluchtversuch gehört. Ja, Bräuer war wohl der Mann, sie zu hüten. Aber ein harter Mensch, ein grausamer Mensch. Wie er den armen blassen Kerl angeschrieen hatte!

Ein Gefühl der Trauer beschlich den einsam Wandernden. Hier war nun die Natur, rein, groß, unverfälscht – noch ganz Natur – nichts von dem kleinlichen Gewese der Menschen, nicht ihre Wohnstätten mit Rauch und Geschrei. Eine Stille, hehr, überwältigend, fast erdrückend in ihrer Majestät. So mußte die Erde gewesen sein, als es hieß: ›Sie war wüst und leer‹, und als Gott sprach: ›Es werde Licht!‹ Und doch war auch hier schon vom Leid der Menschheit hergedrungen! Josef konnte die Jammergestalt des Sträflings nicht vergessen.

[S. 313] Naß, müde, etwas verstimmt kam er auf der Fangeuse an. Er traf Bäreb vor der Tür. Sie hatte Preißelbeeren gesammelt, einen mächtigen Steintopf voll; nun saß sie außen an der Hecke und verlas sie. Den schwarzen Kopf hielt sie emsig über das leuchtende Rot in ihrem Schoß geneigt; eine weiße Katze, die sich halb verhungert im Holzstall vorgefunden hatte, rieb sich schnurrend an ihrem Ärmel.

Josef stand unter den Tannen und betrachtete sie verstohlen eine lange Weile. Halblaut sang sie vor sich hin. Sie hatte nicht dieselbe Stimme wie Kathrinchen – unwillkürlich mußte Josef der leichten, hohen Kinderstimme gedenken, die er in Leykuhlens Flur gehört hatte – der Erwachsenen Stimme war rauher, tiefer, aber es war trotzdem etwas darin, was an des Kindes Stimme erinnerte. Sie war ja auch noch ein Kind, ein unschuldiges Kind! Er betrachtete sie mit Wohlgefallen, und sein Gesicht erhellte sich.

Seine Stimme klang heiter, als er sie anrief: »He, Bäreb!«

»Seid Ihr et?« Sie lächelte, ohne zu erschrecken, und ohne den über die Beeren geneigten Kopf zu heben. »Joht als erein!«

Drinnen fand er schon den Tisch gedeckt, das Feuerchen knistern und seinen Sessel, den einzig bequemen, der im Hause war, zum Feuer gerückt. Wie gut sie für ihn sorgte! Ein Gefühl der Rührung beschlich ihn: ja, er hatte ihr wirklich zu danken, ohne sie hätte er doch nicht hier sein mögen! Dann wäre es doch sehr einsam gewesen auf der Fangeuse.

*     *

*

Die Hirsche schrieen. Nun war es völlig Herbst. Nebelschwaden lagerten auf dem Wiesenplan, der Wind hatte genug zu tun, sie aufzustöbern und den schwarzen Tannen wie [S. 314] Schleier an die Zacken zu hängen; erst die Mittagssonne verjagte sie ganz. An Tagen, an denen die Sonne nicht schien, verschwanden die Schleier nicht, dann blieben sie hängen von Morgen bis Abend.

Bäreb sang schallend in der Küche; ihr machten die Nebel nichts, sie kannte die. Aber Josef saß verdrießlich innen; er konnte nicht heraus, der nasse Nebel legte sich ihm unangenehm auf die Brust. Er dachte daran, daß jetzt Heinrich bald heraufkommen würde. Und das war auch ganz gut! Aus dem Fensterchen vor Bärebs Kammer, vor dem in der Hecke ein kleiner Durchschlag war, hatte Heinrich früher einmal einen Hirsch geschossen, einen Vierzehnender, der im Sternenschein auf der Wiese stand und in die Tannen hineinschrie.

Brunftzeit. Die Tiere wurden frech. Als achteten sie gar nicht des Hauses der Menschen, so umzogen sie es bei Nacht; man hörte ihre Hufe trappeln, die dumpf den Boden schlugen. Das war Josef was ganz Neues, es regte ihn unbeschreiblich auf. Bei jedem leisen Orgeln, das nächtens und oft ganz aus nächster Nähe an sein Ohr drang, fuhr er zusammen. Dann lauschte er hinüber zu Bäreb: hatte sie es auch gehört?

Sie atmete ruhig, aber er blieb wach und horchte. Würde ein Alttier antworten? Mit erregter Phantasie malte er sich das Bild draußen aus. Da stand, nur durch die Hecke von ihnen getrennt, der majestätische Kronenhirsch auf dem Wiesenplan; seine unruhigen Schalen scharrten den Moorgrund, seine Stangen forkelten ihn auf – Moos und Grasbüschel flogen – er stampfte wild. Und dann hob er den zum Grund gesenkten, geweihbeschwerten, mächtigen Kopf, streckte den schwellenden Hals aus und schrie, schrie dumpf, drohend und begehrlich zugleich, schrie, daß das Echo zwischen den [S. 315] Tannen auftaumelte und nachschrie, daß die Ferne lebendig wurde. Das ganze Venn war voll Hirschgeschrei. –

Sie saßen im Haus, schier belagert von den brünstigen Tieren. Abends konnten sie gar nicht heraus. Bäreb wäre gern am Sonntag zu den Ihren hinuntergegangen – so lange war sie nicht in der Kirche gewesen, und wie mochte es der Mutter gehen, wie den Geschwistern, und was wohl die Maiblum machte?! – aber auch das ging nun nicht; denn kaum daß es dunkelte, hörten sie draußen ein Getrappel, ein Gestampf von Hufen und dann ein heiseres Orgeln, so laut, so anhaltend, so gewaltig, daß es ihnen in den Ohren dröhnte. Und eine Antwort dröhnte wider, so laut, so anhaltend, so gewaltig, daß sie erschraken.

Sie lugten durchs Fenster, sie sahen aber nichts. Waren das wirklich zwei Hirsche nur, oder waren’s ihrer viele? Ein ganzes Rudel schien draußen. Das war ein Toben, ein Stampfen, ein Schnauben, ein Schnaufen wie von einer Herde Ochsen, die, toll geworden, blind-wütend durcheinander rennt.

Das hielt an. Sie saßen im Zimmer zusammen und hatten nicht Lust, zu Bette zu gehen. Schlafen konnte man hierbei doch nicht. Bäreb fand zwar den Mut, vor die Haustür zu treten, in die Hände zu klatschen und laut zu schreien – das würde die Tiere verscheuchen – aber erschrocken, mit einem gellenden Aufkreischen sprang sie zurück und schlug krachend die Tür zu. Etwas Dunkles, Gewaltiges war an ihr vorübergeschossen mit heiserem Keuchen, sie hatte einen glühenden Atem gefühlt. Nun hatte sie Angst. Zitternd saß sie in der Stube.

Josef wollte sie zerstreuen, er fing an, über die Ihren daheim mit ihr zu reden. Aber sie blieb einsilbig; und als er vom Dores sprach, rollten ihr ein paar dicke Tränen über die [S. 316] Wangen. Er nahm ihre Hand und streichelte sie, er behielt sie in der seinen.

Eng saßen sie bei einander in dem einsamen Haus, um sie nur Nacht und wildeste Triebe.

Sie hörten das Orgeln bis gegen Tagesanbruch. Zuletzt einen röchelnden Schrei.

Als sie am Morgen vor die Türe gingen, lag nahe auf dem zerstampften, blutigen Plan ein mächtiger Sechzehnender. Der Leib war ihm aufgeschlitzt, das schöne Haupt, das die Zunge herausstreckte, war zur Seite gesunken.

Da schrieb Josef Schmölder an Heinrich Schmölder:

›Lieber Vetter! Komm jetzt herauf, die Hirsche schreien. Schieß ein paar von den Bestien ab, sie werden uns lästig.‹

Und Heinrich antwortete; schon beim nächsten Erscheinen des Zeitungspaketes war sein Brief dabei:

›Lieber Vetter! Teile Dir mit wendender Post mit, daß wir nächsten Mittwoch, 20. Oktober, oben eintreffen werden, ca. zwölf Uhr mittags. Zu essen schickt Sophie mit.‹

Wir – wir –?! Nun, hoffentlich kam doch niemand anders mit als Leykuhlen? Den pflegte Heinrich immer zu seinen Jagden einzuladen. Eine plötzliche Angst überkam Josef, es war ihm, als sollte sein idyllischer Frieden unsanft gestört werden. Aber trotz schlimmer Vermutungen fühlte er doch etwas wie freudige Spannung: wer es auch sein mochte, er sollte ihm willkommen sein!

Draußen fiel Schnee. Es waren die ersten Flocken. So früh im Jahr? Aber Bäreb versicherte, daß es manchmal schon im September geschneit hätte, noch dazu tüchtig; ganz Heckenbroich hatte unter weißer Decke gelegen. Vergangenes Jahr waren um diese Zeit längst alle Beeren im Venn erfroren gewesen. Nun hielt es wohl so an; sie konnten auch unten nicht mehr hüten gehen, die Kühe blieben im Stall [S. 317] und die Menschen im Haus. Und es kam bald die Zeit, in der man sich ausschaufeln mußte, wenn man herauswollte.

Josef ging vor die Hecke und sah sich erschrocken um. Ausschaufeln –?! Ach, so schlimm konnte das hier ja nicht werden! Es hatte jetzt wieder aufgehört zu schneien; auf dem feuchten Wiesenplan waren die Flocken nicht liegen geblieben, nur auf den breiten Ästen der Tannen ruhte es noch wie Schwanenflaum. Das sah schön aus. Überhaupt, es mußte ganz herrlich hier sein, wenn Schnee lag. Eine Weiße, eine Reinheit, eine bräutliche Weihe über allem – anders als Schnee in den Niederungen! Nun hatte er keine Angst mehr.

Als am Abend Bäreb bei ihm in der Stube saß, neckte er sie mit ihrem Ausschaufeln. Aber sie blieb dabei: sicher, der Schnee lag oft fast so hoch wie die Hecke, und wenn er recht ruhig und gerade herunterfiel, dann stopfte er die Lücke zwischen Haus und Hecke dicht zu, dann sah man nichts mehr aus den Fenstern; dann wurde es ganz dunkel im Haus, man mußte Licht brennen den ganzen Tag, und morgens konnte man die Tür nicht aufkriegen, so sehr man auch dagegen stemmte und stieß. Und hatte der Herr Josef denn nicht die Kreuze im Venn gesehen? Von hier nicht weit, rechts und links von der großen Chaussee, da standen ihrer manche. Man konnte die Aufschriften nicht mehr lesen, und die Kreuze fielen auch bald um, sie waren ganz schwarz und vermorscht; sie waren dahingesetzt worden für solche, die im Moor versunken, im Schnee erfroren, im Nebel verirrt waren. Wie sie als Kind hüten gegangen, hatte sie manchen Kranz drangehängt und ein Gebet gesprochen für die arme Seele.

Ja, er hatte die Kreuze gesehen. Unvermutet war einmal eines vor ihm aufgetaucht, – ein vermorschtes Holz – halb eingesunken in den schwammigen Boden. Er war fast darüber gestolpert. Es schauderte ihn noch.

[S. 318] Bäreb aber saß und strickte und sprach mit lachendem Mund von all diesen Schrecknissen des Venns.

Nun fehlte nur noch, daß es hier auch Wölfe gab! Es war ihm wie eine Beruhigung, daß der Vetter kam. Er selber war doch noch zu wenig vertraut mit den Verhältnissen, Heinrich wußte hier besser Bescheid. –

Am Mittwoch kamen sie, etwas unpünktlich, sie hatten Mühe gehabt, durchzukommen; auf dem Moor, das man passieren muß, wenn man von der Chaussee abbiegt zur Fangeuse, waren sie zweimal auf dem schmalen Weg stecken geblieben. Sie hatten alle absteigen und die Räder mit anheben müssen, und wenn nicht zufällig noch ein Grenzjäger und ein Feldhüter drüben aus dem Gemeindeforst ihnen zu Hilfe gekommen wären, so hätten sie es überhaupt nicht fertig gebracht.

»Tag, Josef! Is dat ’ne Dreck,« sagte Heinrich, als er abstieg und dem Vetter die Hand schüttelte. »Siehst ja janz wohl aus – no, dat wird Sophie freuen!«

Mit einem wahren Schrecken sah Josef auch den Leutnant von dem hochräderigen Jagdwagen absteigen. Auch der Landrat war mitgekommen. Aber die Freude, Heinrich zu sehen, ließ die unangenehme Empfindung nicht überwiegen. Doch wo steckte Leykuhlen?!

»Ja, der!« Heinrich Schmölder lachte. »Wat denkst du wohl, Jung, dein Freund is jetzt en Persönlichkeit! ’ne populäre Mann! Der reist auf den Dörfern herum, der macht sich lieb Kind – o, reden kann der janz jut! Der wird jewählt, so sicher wie Amen in der Kirch. Der kömmt durch, da is kein Zweifel dran!«

»Er wird unerhört poussiert von gewisser Seite,« sagte der Landrat hinter der vorgehaltenen Hand, und sah sich vorsichtig um nach dem Kutscher und dem Burschen des Leutnants, [S. 319] die Körbe und Decken vom Wagen trugen. Es wäre doch unangenehm, wenn in streng ultramontanen Kreisen solche Äußerung des Landrats kolportiert würde! Das könnte ihm die Stellung sehr erschweren, ihn fast unmöglich machen!

»Kommt er denn nicht?« fragte Josef enttäuscht. Eine plötzliche Sehnsucht nach dem Freund überkam ihn. »Kommt Leykuhlen denn wirklich nicht?« fragte er nochmals hastig.

»No, no, immer mit die Ruhe!« Heinrich lachte. »Immer noch der Alte. Die Fangeuse hat dich noch nit ruhig jekriegt, Josef! Leykuhlen kömmt nach. Diesen Abend bestimmt; er hatte nur noch wat zu tun. Er kömmt zu Fuß nach. So lang warten wir noch. Dann aber jeht et los! Wir kriegen Mondschein. Nix für unjut, meine Herren« – er schmunzelte seine Gäste an – »aber der Leykuhlen is doch noch der sicherste Schütz – nach mir!«

Der Leutnant riß an seinem Schnurrbart; er ärgerte sich über seinen Schwiegervater, aber er schluckte den Ärger schweigend hinunter.

Josef fand den Tag längst nicht so angenehm, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Sophie hatte zwar ein ganzes Diner mitgeschickt: kalten Braten, Krammetsvögel in Gläsern und Hummer in Büchsen. Bäreb hatte nur Kartoffeln zu kochen, der Bursche war bei ihr in der Küche und half. Josef hörte die beiden lachen und war verstimmt; seine ganze Ruhe war gestört. Das Zimmer pafften ihm die Herren voll – und wo sollten sie schlafen? Es war so eng im Haus: ein Zimmer nur und zwei Kammern. Aber dann fiel ihm ein, sie würden ja die Nacht draußen auf dem Anstand zubringen. Und morgen würden sie wieder hinunterfahren – Gott sei Dank!

Draußen heulte der Wind. Über dem Wiesenplan hingen schwarze Wolken, aber der Wind ließ sie nicht lange stehen bleiben, er jagte sie immer wieder fort. Dann kam der Mond [S. 320] hervor, und sein bleiches Licht leuchtete kalt und fast tageshell. Die Jäger waren entzückt: gutes Jagdwetter! Bei der rasch wehenden, beständig umspringenden Luft bekam der Hirsch nicht so leicht die Witterung, man konnte ihn ruhig herankommen lassen vor den sicheren Schuß. Da – die Herren, die gedrängt um den kleinen Tisch der Stube saßen, fuhren auf – da, da orgelte wahrhaftig einer schon in der Ferne!

Wie heiseres Gebell eines gewaltigen Hundes erklang es vom Bach herauf, der unten in der wilden Schlucht längs der Grenze fließt. Dort war nicht Schmöldersche Jagd mehr; aber, nur noch Geduld, nicht lange, und das Tier würde übertreten und auch hier schreien!

Sie konnten kaum mehr ruhig bleiben, das Jagdfieber hatte sie ergriffen.

»Jetzt könnt’ der Leykuhlen aber wahrhaftig kommen,« sagte Heinrich Schmölder. »Um neun spätestens sollt’ er hier sein!« Er sah nach der Uhr, öffnete vorsichtig den Laden und spähte ungeduldig hinaus.

»Es wird ihm doch nichts passiert sein?« Josef war ängstlich.

Der Vetter lachte ihn aus. »Pah, wer sich so jenau auskennt wie der, dem passiert hier nix! Et is ja auch keine Nebel, man sieht ja, wo man tritt!«

»Er hat wahrscheinlich etwas Wichtigeres vor,« sagte der Landrat; eine kleine Gereiztheit war in seinem Ton. »Gehen wir doch immer heraus, lieber Schmölder!«

»Ja, das sehe ich auch nicht ein, warum wir auf den warten sollen, Papa!« Scheffler sprang auf und zog seine elegante Jagdjoppe stramm. Auch der Landrat war in solch einem eleganten Jagdkostüm.

[S. 321] Desto schäbiger dagegen sah der Fabrikant aus. »Nee, wir warten noch!« Und dann – es mußte ihm wohl auch aufgefallen sein, wie sehr sein Anzug von dem der Gäste abstach – fing er an, lang und breit zu erzählen, warum seine Joppe so geflickt war, und warum es seine Hosen auch waren. Bei diesem Kittel hier hatte ihn eine verwundete Sau letzten Winter zu packen gekriegt, als sie ihn annahm und er nicht mehr Zeit genug hatte zu baumen. Aber er hatte ihr mit der Saufeder den Todesstoß in den Nacken versetzt. Und die Hose hatte ihm ein starker Bock so hübsch zugerichtet von unten nach oben. »Haha!« Er lachte, jetzt noch strahlend über dies Abenteuer. Mit Weidenruten und harten Gräsern hatte er sich die Fetzen ums Bein geschnürt, damit er sich doch einigermaßen wieder sehen lassen konnte. Und dann hatte er den Bock auf den Rücken geladen und hatte ihn selber aus dem Busch herausgeschleppt, so weit, bis die Leute ihn finden konnten, die er nachher ihn holen geschickt. Das, das hier war noch sein Schweiß! Er wies auf die braunen eingetrockneten Flecken. Eine ganze Traufe war den Rücken herunter.

Mit Widerwillen sah Josef hin: wenn Heinrich auf die Jagd zu sprechen kam, war er ohne jedes Empfinden, ohne jegliches Mitleid mit der armen Kreatur. Was würden sie nun wieder für ein Blutbad anrichten! Und doch hatte er sie selber heraufgerufen. Er hätte sich vor die Stirn schlagen mögen: Dummkopf!

Er trat vom Tisch zurück, an dem die Jäger saßen, und lehnte sich tief-verstimmt gegen den Ofen. Stumm verharrte er. Sie waren noch einmal auf Leykuhlen zurückgekommen.

»Ja, meinen Sie denn wirklich, dieser Bauernbürgermeister wäre als Abgeordneter ein Glück für den Kreis?« [S. 322] Der Landrat schien sich noch immer nicht von diesem Thema losreißen zu können. »Er ist doch zu wenig gebildet, zu wenig weitsichtig, zu eng!« Er sah sich um, als fürchte er einen Lauscher, und sprach dann gedämpft: »Unter uns gesagt: zu bigott!«

Schmölder lachte. »No, ’nen Zentrumsmann wählen wir ja doch! Schwarz ist Trumpf. Und da is der Leykuhlen am End ebensojut wie ’ne andere! Mir is et übrijens janz Wurscht! Ich wünscht, ich schöß diese Nacht ’ne Sechzehnender. Dat wär noch wat!« Er schlug sich aufs Knie.

»Ich meinesteils würde es für höchst bedauerlich erachten, und als ein betrübendes Zeichen für unseren Kulturzustand,« sagte Mühlenbrink scharf, »wenn man keinen anderen Mann fände als Leykuhlen. Ich lasse ihm volle Gerechtigkeit widerfahren, er hat sich ohne Zweifel so weit herausgemacht, wie sich so ein Bauer eben herausmachen kann. Aber ich bitte Sie, er ist ja ganz verbohrt. Ich nehme es ihm kolossal übel, daß er sich so gegen eine Wasserleitung sperrt, anstatt meine Bestrebungen mit all dem Einfluß, den er ohne Zweifel besitzt, aufs lebhafteste zu unterstützen. Die Typhusfälle will er nicht mit den Brunnen in Verbindung gebracht wissen – aber selbstverständlich, ganz natürlich kommen sie daher! Wissen Sie, was er mir sagte, als ich ihn deswegen interpellierte, – vor ein paar Tagen war’s – da sagte er mir: ›Wir stehen in Gottes Hand!‹ Selbstverständlich, das tun wir, aber man kann sich doch nicht einfach dabei beruhigen. Nein, mit solch einem Mann ist uns nicht gedient!«

»No, warum dann nit?« Heinrich Schmölder gähnte. »Ob der oder der! So’ne sitzen ihrer ’ne janze Meng im Reichstag und Landtag, und dat sind die schlechtesten noch nit. [S. 323] Wenn ich nur wüßt, wo der Leykuhlen bleibt?! Da schreit schon wieder einer – Donnerwetter!«

Er war aufgesprungen und schritt nun ungeduldig mit knarrenden Stiefeln im Zimmerchen hin und her. »Nu jeht’s aber bald los!«

Josef war an den Tisch getreten, an dem der Landrat noch sitzen geblieben war. Er wußte selbst nicht, woher ihm heute die Kampfeslust kam; er war gereizt. Er glaubte zu fühlen, daß der Bürgermeister in diesem hier einen Widersacher habe. »Leykuhlen ist mein Freund,« sagte er, »und ich glaube ihn besser zu kennen als Sie, Herr Landrat – pardon! Sie sehen ihn eben nur vom geschäftlichen Standpunkt aus, ich aber doch noch von einem anderen. Er ist der beste, selbstloseste, edelste Mensch, den ich kenne. Und bei all seiner anscheinenden Rückständigkeit von einem scharfen und klaren Verstand!« Immer lauter erhob er die Stimme. »Wenn Leykuhlen nicht wie einer dazu berufen ist, hier den Kreis zu vertreten, dann will ich nicht schwarz von weiß mehr unterscheiden können! Leykuhlen, der Land und Leute so genau kennt wie sonst keiner, der sie so liebt, ist der berufene Mann, er –«

»Dank dir, Josef,« sagte jetzt draußen eine Stimme. Es pochte an den vorgelegten Laden, und gleich darauf trappte der starke Schritt einer nägelbeschlagenen Sohle in den Flur.

»Da ist er!« Lebhaft eilte Josef zur Tür.

Leykuhlen trat ein: »’n Abend zusammen!« Er begrüßte die Anwesenden ganz ohne Verlegenheit. Sein Gesicht war gerötet von der starken Luft und angeregt durch einen weiten und scharfen Gang; seine Augen waren hell, es war eine tief-innere Genugtuung und Freudigkeit, die aus ihnen strahlte. Er sah um Jahre jünger aus, als zur Zeit der [S. 324] Dürre. Einen Strom von Frische brachte er mit ins verqualmte Zimmerchen.

»Sie kommen ja so spät?« brummte Heinrich Schmölder.

»Ich bin pünktlich, Herr Schmölder. Hier« – er hielt die Uhr hin – »Schlag neun. Ich wär aber schon wat eher dajewesen, wenn ich den Bräuer nit anjetroffen hätt. Wir haben lang jestanden. Der Mann will weg. Er wollt schon zum Oktober, aber sie haben ihn noch nit jelassen. Nu jeht er April!«

»Ich weiß schon, ich weiß schon!« Der Landrat nickte. »Schade, jammerschade! Die Sache ging unter ihm so wundervoll voran. Er war ganz der Mann, den wir brauchen. Wenn wir ihn nur halten könnten!«

»Den halten Sie nit!« Leykuhlen lachte. »Den zieht dat Weib. Sie müssen schon suchen, ’ne andere zu finden!«

»Aber wo?« Der Landrat seufzte und stützte bekümmert den Kopf: die Kolonisation lag ihm doch so am Herzen, hatte ihm so ganz besondere Freude gemacht, einen zweiten Bräuer, der das Gesindel so famos in Ordnung und so zur tüchtigen Arbeit anhielt, fand man so leicht nicht wieder!

»Ich finde ihn roh,« sagte Josef; er gedachte des blassen Sträflings und der Schimpfworte des Aufsehers. »Etwas mehr Milde in der Behandlung könnte nichts schaden. Man schickt doch die Leute hierher, nicht allein, daß sie wie Lasttiere arbeiten, arbeiten, und immer wieder arbeiten, sondern auch, daß sie durch dieses Leben ganz in und mit der Natur selber einen Vorteil haben – innerlich. Diese armen Kerle! Wieviel Qual, wieviel Verzweiflung mag sich unter diesen wehenden Leinenkitteln bergen! Wenn ihnen diese große, ungehindert-strahlende Sonne täglich ins Gesicht scheint, ob sie ihnen da wohl zuletzt auch ins Herz scheint? Ich hoffe. Manches Dunkel wird sich da lichten. Und diese vielen [S. 325] Blumen, die auf der weiten, duftenden Vennheide blühen, blühen sie nicht auch für sie, für die, denen sonst keine Blume blüht in der Welt der sogenannten Kultur, von deren Segnungen sie wenig, von deren Nachteilen sie desto mehr verspürt haben?! Nein, dieser Bräuer sollte nicht so grob schreien – es verletzt!« Josef hielt sich die Hände gegen die Ohren; noch immer gellte ihm der barsche Ton des Aufsehers darin. »Achtung vor diesen Leuten! Auch sie sind Kulturbringer. Wir dürfen sie nicht gering achten!«

»Sie sind ein Dichter!« Der Landrat lächelte ein wenig maliziös.

Leykuhlen legte dem heiß und rot Gewordenen die Hand auf die Schulter: »Dat is sehr nett von dir, Josef, dat du Mitleid mit den Leuten hast, und dat du so en jute Meinung von unserm Venn hast. Ich bin kein Dichter, ich muß dir sagen: mir wär et lieber, wir hätten die Nachbarschaft nit. So ’ne Sträfling!« Er zuckte die Achseln. »Unsere Heckenbroicher hatten bislang noch keinen zu sehen jekriegt. Und wat wußten unsere Leut von all den Verjehen und Verfehlungen, von all den Sünden, die sich jetzt da oben anjesammelt haben wie ’ne Haufen Unflat. Jeh mir, Josef, mit deinen Kulturbringern! Überhaupt, Kultur – wat redt man jetzt doch immer so viel von Kultur?! Dat is jetzt so’n Schlagwort!« Er kehrte sich gegen Mühlenbrink: »Sie jebrauchen dat auch immer, Herr Landrat! Die höchste Blüte der Kultur ist die christliche Religion, Herr Landrat!« Er hatte das ganz ruhig gesagt, aber mit einer gewissen triumphierenden Freudigkeit.

Und diese reizte den Landrat. Er fuhr auf: »Natürlich, von Ihnen habe ich das ja gar nicht anders erwartet, von Ihnen, der Sie prinzipiell gegen jeden Fortschritt sind, sei’s wo es sei, in wirtschaftlicher wie in geistiger Beziehung! [S. 326] Sie wollen ja gar keine Aufklärung. Ebenso wie Sie an Ihren licht- und luftraubenden Hecken festhalten, ebenso halten Sie krampfhaft die Schranken aufgerichtet gegen jedes geistige Moment!«

Der Bürgermeister lächelte. »Warum soll ich dat nit tun, Herr Landrat? Sagen Sie mir, wat wir eintauschen, Herr Landrat? Wenn dat den Eintausch wert is, dann will ich Ihnen jern recht jeben. Ich bin nit verbohrt!«

»Doch sind Sie das!« Der Landrat wurde blaß und dann glühend rot. »Sie lassen es ja auch noch zu, ja, Sie begünstigen es sogar – o, ich weiß es wohl – daß man bei Ihnen nach Echternach springen geht. In Heckenbroich läßt man sich nicht genügen mit Mariawald, mit Heimbach und anderen Wallfahrtsorten hiesiger Gegend, man pilgert sogar bis nach Echternach, um da zu springen. Springprozession – eine Sache, die mir und auch anderen guten Katholiken eher ein peinlicher Anstoß ist als eine Erbauung! Wir dürfen uns doch nicht ins dunkle Mittelalter zurückschrauben. Das geht einfach nicht!«

»Dat wollen wir auch jar nit! Aber wenn Sie wüßten, wat für ’ne Segen Echternach in diesem Fall – wir können nur von einem Fall sprechen, nur die Barbara Huesgen aus unserem Dorf ist springen gewesen – wat für ’ne Segen Echternach für die Leut jeworden is, Sie würden nit von Mittelalter und von Dunkelheit sprechen. Aber sei dem wie ihm sei,« – der Bürgermeister machte mit seiner großen Hand eine entsprechende Bewegung – »et kömmt mir nit zu, zu trennen: hier Jlaube, da Aberjlaube – hier fängt dat Wunder an und da der Humbug – spotten is immer billig, und mer hat noch die Lacher auf seiner Seit – ich sag nur: der Jlaube macht selig! Und der Jlaube schafft auch Wunder. Und hier hat er en Wunder jetan. Den Huesgen ihr Dores, [S. 327] en blöd, armselig Jüngelchen, von Krämpfen heimgesucht, von klein an en Plag für die armen Leut, für den dat brave Mädchen in rührender Schwesterlieb springen gewesen is nach Echternach, den hat der Heilige nun zu sich jenommen in die Seligkeit. Und die Leut leben nun auf, die Mutter is jesund« –

Ein lautes Aufschluchzen unterbrach plötzlich Leykuhlen. Bäreb war eingetreten, ungehört; sie hatte melden wollen, daß der Waldhüter draußen sei, um nun mit den Herren zu gehen. Niemand hatte ihrer geachtet; selbst Schmölder, trotz seiner Jagdunruhe, hatte aufmerksam dem Bürgermeister gelauscht. Nun schraken sie alle zusammen, die Tür klappte hastig zu.

Was hatte denn die Bäreb?! Josef eilte ihr nach. Als er den dunklen Flur entlangtappte mit ausgestreckten Händen, fühlte er sie an der Wand stehen, die Stirn gegen die kalte Mauer gelehnt.

»Bäreb, warum weinst du? Bäreb, was ist dir?!«

Aber sie gab keine Antwort. Förmlich besorgt wurde er; sie weinte wie aufgelöst, wie hingenommen von einer großen seelischen Erschütterung.

»Bäreb, was ist dir geschehen? Hat dir jemand etwas zu leid getan? Hast du Heimweh bekommen? Weinst du um das verstorbene Brüderchen? Bäreb, Kind, Mädchen, so sage es doch!« Er bedrängte sie förmlich; dieses Weinen ängstigte ihn.

Aber eine Antwort, die er verstand, bekam er doch nicht. Sie stieß nur hervor unter einem zitternden, wie befreienden Atemzug: »Och, oß Burjermeester, oß Burjermeester! Och, dat is ’ne Mann! De weiß doch alles! Oß Doresche, oß Doresche, dem jeht et jo nu esu jot. Et hat ihm doch jeholfen! [S. 328] Et hat ihm doch jeholfen! Jelobt seist du, heiliger Willibrord!«

Das klang ja unter bitterem Weinen wie heller Jubel?! Merkwürdig! Aber er war froh, daß sie sich nun beruhigte. Mit der Schürze wischte sie sich die Augen aus; und als sie dann hineinging, um noch einmal den Waldhüter zu melden, strahlte ihr hochgerötetes Gesicht von einer so großen Freude, als ob sie ein seliges Glück zu verkünden hätte.

»Hübsches Mädel,« sagte Scheffler, sie fixierend.

Heinrich Schmölder rief sie zu sich heran und kniff ihr die Wange: »No, Mädchen, wie jefällt et dir dann hier oben?«

»O, Herr Schmölder, de Herr Josef is jo esu jot!«

Da wollte sich Heinrich halbtot lachen. »Na, na!« Er drohte dem Vetter. »Du du, sei nur nit zu jut, du alter Schwernöter!«

Josef wollte aufbrausen, aber Leykuhlen kam ihm zu Hilfe: »Ärger dich nit, Josef! Sehen Sie, Herr Landrat,« – er kehrte sich zu diesem hin und reckte seine hohe Gestalt wie in stolzer Zuversichtlichkeit noch höher – »sehen Sie, wo anders könnt dat wohl nit jut sein, en jung Mädchen unter so ’nen Verhältnissen hier oben. Aber bei uns braucht mer nit bang zu sein. So wat is ausjeschlossen bei uns, – wir haben eben unsere Kultur

»Ja, du hast recht, Bärtes!« Josef legte ihm den Arm um die Schultern. »Das ist ein Mädchen, so lauter, so rein, so unberührt wie euere Natur hier – die Natur selber! Geht mir mit euerer Kultur!« Enthusiastisch streckte er die Hand aus. »Was war ich denn da unten? Hier bin ich erst Mensch geworden im höheren Sinne. Hier liege ich an der Brust der Natur und gesunde. Du hast recht, Bärtes, daß du dich wehrst gegen alles von außen! Ihr sitzt hinter eueren Hecken – mit beschränktem Horizont, das will ich zugeben – [S. 329] ihr wißt nichts von der Welt da draußen, aber ihr habt eine andere Welt hinter eueren Hecken, eine reinere, edlere. Laßt euch die Hecken nicht niederreißen, erhaltet sie mit Bedacht! Was gibt man euch denn für die Reinheit euerer Herzen, für die Einfalt euerer Sitten, für die Zufriedenheit eueres Lebens?!«

»Und für die Jewißheit, zur ewigen Seligkeit einzujehen,« schloß Leykuhlen lächelnd. »Mehr Kultur, denk ich, tut niemandem nötig, Herr Landrat!«


XIV

Nun waren sie wieder allein. Josef sagte es sich mit tiefem Aufatmen; aber ein bitterer Nachgeschmack war ihm doch geblieben, er konnte sich nicht mehr mit so reinem Gefühl wie bisher dem Frieden des Lebens hier hingeben.

Wie geschmacklos von Heinrich, ihm noch beim Aufsteigen auf den Wagen, als er Abschied nehmend am Tritt stand und Bäreb in der Tür, mit dem Finger zu drohen und dann nach dem Mädchen hinzublinzeln: »Vorsicht, alter Junge!« Und dieser Scheffler hatte dazu gegrient. Gräßlich, gräßlich! Ein Glück, daß die Bäreb Heinrichs Anspielung nicht verstanden hatte!

Sie war unbefangen wie immer. Aber Josef war es nicht mehr. Fast scheu ging er ihr aus dem Wege. Warum kam sie denn immer herein und störte ihn und wollte schwatzen?! Er wollte nichts wissen. In Ruhe lassen sollte sie ihn! Zum ersten Mal, seit sie miteinander hausten, fuhr er sie unwirsch an, und hernach tat es ihm doch wieder leid; es kam ihm vor, als hätte sie rotgeweinte Augen. Er entschuldigte sich. Aber da stellte es sich heraus, daß sie gar nicht deswegen geweint [S. 330] hatte. O, der Herr Josef konnte schelten mit ihr, soviel er wollte, der war wie ihr Vater! Dabei sah sie ihn mit ihren schönen Augen so treuherzig an, daß ihm das Blut zu Kopf schoß. Sie war wirklich rührend in ihrer Demut; aber zugleich ärgerte er sich, daß sie ihn auf dieselbe Stufe mit ihrem Vater stellte: zählte er auch vielleicht an Jahren nicht viel weniger als der Weber, es war doch etwas anderes mit ihm als mit diesem abgearbeiteten, verbrauchten Manne! Unwillkürlich richtete Josef seine schlanke, noch sehr elastische Figur stramm auf und strich den Schnurrbart, dessen Blond noch nicht wie das des Kopfes mit Grau untermischt war. Wenn sie nicht deswegen geweint hatte, warum denn? Da errötete sie und stammelte verlegen, daß sie gern wieder einmal herunter zu den Ihren möchte. Und vor allem in die Kirche. Nun, seit sie den Bürgermeister gesehen und gehört hatte, standen das Dorf mit seinen Hecken, das Elternhaus mit all den Geschwistern, die Kirche mit ihrem Turm, so lebendig vor ihr, daß es sie zog an Händen und Füßen. Die Tränen kamen ihr schon wieder.

Da stieß er rasch heraus: »Geh, geh, wenn du willst, ich habe dir doch nichts in den Weg gelegt. Geh!« –

Sie war am Sonntag aufgebrochen in aller Morgenfrühe, noch war es nicht hell. Er hatte sie aufstehen hören und in der Kammer hin und her gehen. Es war ihm ganz recht, daß sie fortging; nun genoß er doch einmal die Einsamkeit ganz, aber auch ganz ungestört, in so vollen Zügen, als wäre die Natur nur einzig für ihn allein da. Er blieb noch eine Weile liegen. Sonst störte ihn oft am Morgen ihr Klappern in der Küche, das Knarren der Kaffeemühle, das Klirren der Herdringe; heute hörte er nichts. Nicht ein Atemzug war im Haus. Heute hätte er schlafen können bis in die Unendlichkeit, aber heute konnte er nicht. Gähnend raffte er sich auf: [S. 331] rasch nur jetzt auf und heraus! Die Sonne schien, es war noch ein guter Tag. Und im Hause würde es heute wohl etwas frostig sein?! Aber als er ins Wohnzimmerchen kam, knisterte dort das Feuer, und in der Küche stand der Kaffee für ihn warm. Es war alles wie immer, nur das bräunliche Gesicht mit den schwarzen Augen fehlte, das ihm sonst alle Morgen zulächelte. Wie sehr man sich an jemanden gewöhnen kann!

Den ganzen Tag trieb sich Josef draußen umher. An das Essen dachte er nicht; sie hatten zwar gestern verabredet, daß es Bäreb in die Herdröhre setzen sollte, aber er vergaß es. Nun war er Robinson, nun lebte er auf einer wüsten Insel; er hatte sich das als Knabe immer gewünscht. Und doch sollte das knabenhafte Entzücken sich heute nicht mehr einfinden. Wohl fühlte er einen Schauer, als er allein, ganz allein auf dem kleinen Wiesenplan stand – weltenfern die Stätten der Menschheit – als er, einsam unter den schwarzen Tannen dahinschreitend, deren Wurzeln tief ins Moor hinabreichen, sich sagen konnte: wenn du jetzt rufst, es hört dich keiner! Aber es war ein leises Unbehagen in diesem Schauer.

Huh, war das eine Öde! Er war durch eine Lücke aus den Tannen heraus ins Freie getreten. Hier war die Jagdkanzel oben auf dem Baum, von hier aus hatte Heinrich neulich den großen Hirsch geschossen, als er draußen im offenen Venn stand und ins Freie orgelte. Ein Blitz, ein Knall, das Tier hatte das stolze Haupt geschüttelt – ein Satz – hier, hier hatte es sich noch davongeschleift, eine tiefe Spur hatte der schwere Leib im Gestrüpp gezogen. Noch jetzt, nach Tagen, sah man die Fährte hundert Ellen weit. Und hier war der Hirsch zusammengebrochen. Ein brillanter Schuß. Der glückliche Schütze hatte gar nicht genug damit prahlen können.

[S. 332] Josef sah den getrockneten Schweiß auf dem Moos und wendete sich rasch ab; die Lust war ihm vergangen, hier zu spazieren. Er kehrte in den Tannenwald zurück. Aber aus dem Dickicht wechselte plötzlich eine Wildsau, und wenn er sie auch nicht fürchtete, es war doch kein angenehmes Gefühl, ohne Flinte, ohne jegliche Waffe, selbst ohne Stock zu sein.

Wohin er sich heute auch wendete, es behagte ihm nicht. Er war unruhig, unzufrieden, von einer Nervosität befallen, die ihn bisher auf der Fangeuse nicht heimgesucht hatte. Das war ja noch dieselbe unendliche Weite, die wie die Heide der Niederung erscheint, fast flach, nur leise wellenförmig bewegt, und auf der man doch nie vergißt, wie hoch, hoch oben man ist. Blauer Horizont grenzte ihr purpurnes Braun ein. Und dahinten, da weit, da ganz unten waren die Berge, die Flüsse, die Täler, Menschen wohnten da, lachten und freuten sich, kämpften und litten! Das war alles noch wie sonst. Hier war nur die Einsamkeit. Aber sie ging wie eine graue Frau mit gesenktem Kopf über das dämmernde Moorland und wob am Netze der Schwermut, dem niemand entrinnt.

Josef fühlte eine tiefe Bangigkeit. Er stand und starrte, hätte sich gern losgerissen und konnte doch nicht. Es saugte ihm etwas an der Seele. Langsam, wie mit geschlossenen Füßen, schob er sich voran.

Ein Stein lag mitten im Heidebraun, halb eingesunken, und doch noch fast so groß wie ein Haus. Es gab deren viele im Venn, sie sollten einstmals vom Himmel heruntergefallen sein. So sahen sie auch aus; hingeschleudert, hingeworfen von Riesen in plötzlichem Unmut. Er kroch auf den lagernden Block, den Regen und Stürme geschliffen hatten, setzte sich oben nieder und starrte ins Weite. Eine ununterbrochene Kette von Gedanken, deren Schlußglied sich nicht einfand, umschlang ihn quälend.

[S. 333] Was sollte werden? Ewig konnte er doch nicht hier oben bleiben, denn wenn Bäreb einmal fortging von ihm, dann blieb auch er nicht mehr auf der Fangeuse. Nein! Er schüttelte, die Stirn in viele Falten ziehend, den Kopf, und dann lächelte er wehmütig: sie würde ja einmal fortziehen, sie mußte doch heiraten, solche Mädchen heiraten immer. Ob sie heute recht glücklich war unten bei den Ihren? Sicherlich. Er hatte ihr Geld geschenkt; das würde sie nun der Mutter schenken, und den Geschwistern würde sie etwas mitbringen, ihnen kaufen, was sie nur Schönes im Dorfladen fand. Es würde da unten ein Jubel sein. Er fühlte fast Neid: schade, daß er das nicht mit ansehen konnte! Bäreb konnte sich freuen wie ein Kind, nicht ganz so laut und nicht so heftig mehr, aber ganz so unbefangen.

Ein plötzliches Frösteln überfiel ihn: huh, war das kalt! Nun fühlte er, daß er ganz erstarrt war, Hände und Füße waren wie abgestorben; der Vennatem hatte ihn durchhaucht. Durch die graue Luft kam’s angeflattert mit klatschendem Flügelschlag und klagendem Ruf. Das waren die Moorhühner – schwerfälliges, träges Gevögel – sie strichen ihm um den Kopf, trübselig und graufarben wie Venn-Gedanken. Er sprang auf. Die Heide hatte abgeblüht, dahin war der Schimmer. Fort, nur fort, daß er aus der endlosen Weite fortkam zu begrenzterem Raum! Er kniff die Augen zu. Hier war zu viel Raum, zu viel Endlosigkeit. Er ertrug sie heut nicht.

Wie ein Zerschlagener kam er heim. Und dann fing die Ungewißheit an, ihn zu peinigen: ob sie nun bald kam, oder erst spät auf den Abend? Oder ob sie gar am Ende erst morgen früh wiederkam? Wer weiß, die Ihren hatten sie nicht mehr fortgelassen, es ward ja schon dunkel! Er sah nach der Uhr. Wenn sie nun nicht bald kam, ging er noch einmal hinaus und ihr entgegen.

[S. 334] Der Wind, der den Tag über geweht hatte, war zum Sturm geworden. Mit einer Gewalt schnob er von Westen her, daß selbst die Hecke, so dicht gefügt sie auch war aus armesdickem Astwerk, ihn nicht abhalten konnte. Das Haus erzitterte, die Türen sprangen auf, im Schlot erhob sich ein Winseln und Heulen. Die Tannen ächzten; man hörte ihr Stöhnen bis hinein ins Zimmer.

Der Einsame stand am Fenster und versuchte, den Himmel zu beobachten, aber die ragende Hecke schnitt ihm jeden Ausblick ab. Im Zimmer war es dunkel und dunstig. Rastlos schritt er auf und nieder; ihm war bange. Eine dumpfe Traurigkeit schien über diesem Erdwinkel zu lasten, eine plötzliche Trostlosigkeit machte seine Seele erschauern; wie gejagt, wie vor sich selber fliehend, stürzte er zur Tür, er riß sie auf: draußen konnte es ja nicht unerträglicher sein! Aber ein Zugwind klatschte sie wieder zu. Er saß drinnen wie gefangen. Es fing an zu regnen. Er hörte die gepeitschten Tropfen hart gegen die dürre Hecke rasseln. Da war nun auch bald das letzte Blatt heruntergeschlagen, Sommer und Herbst waren hin, der Winter war da – wie würde er ihn überdauern?!

Zum ersten Mal kam auch ihm der Zweifel, den alle anderen schon vor ihm gehabt hatten: würde er’s auch aushalten hier oben?! Er lehnte sich niedergeschlagen gegen die kalte Wand im dunklen Flur und seufzte. Eine lange, lange Reihe öder Tage gähnte ihn an – da hörte er plötzlich draußen, in der atemschöpfenden Stille zwischen zwei lärmenden Windstößen, einen hurtigen Tritt. Die Tür flog auf, Bäreb wehte herein mit zerzausten Haaren, das bunte Kopftuch im Nacken, durchnäßt, erhitzt.

Ihre Augen strahlten ihn an, der dunkle Flur war auf einmal nicht mehr so dunkel. »Do bin ich, Hähr Josef!«

[S. 335] Er konnte nicht an sich halten – er war ja so froh, sie wieder zu haben – er riß sie heftig mit beiden Händen zu sich heran und küßte sie.

Sie ließ sich den Kuß gefallen; sie leistete nicht den geringsten Widerstand, als er hastig, wie verdurstet, seine Lippen auf ihren Mund drückte. War dieser Mund frisch, den hatte noch kein anderer vor ihm berührt! Das Blut stieg ihm siedend zu Kopf, er fühlte sich auf einmal wie neu belebt, verjüngt – – – aber dann wich ihm alles Blut jäh aus dem Gesicht zurück: nein, das durfte nicht sein, dieses Mädchen durfte er nicht küssen! Alle, alle Mädchen der Welt, es war kein Unrecht dabei; aber diese, diese hier nicht!

Mit Mühe unterdrückte er das Beben seiner Stimme und zwang sich zu ruhigem Ton: »Nun, mein Kind, war’s schön zu Haus?« Und dann drehte er sich von ihr ab, ging zur Stube hinein und machte die Tür hinter sich zu.

Aber sie kam ihm nach. Ihr Herz war zu voll, sie mußte es ihm erzählen, wie gut es der Mutter jetzt ging, wie das Kleine trefflich gedieh, wie die Maiblum so reichlich Milch gab, daß sie alle Tage Suppe kochen konnten, und daß Kathrinchen vom reichen Adams außer den Schuhen noch ein Extratrinkgeld bekommen hatte, weil von den Kühen, die sie ihm im Sommer hüten gegangen, keine, aber auch gar keine zu Schaden gekommen war. Nun konnte das Kathrinchen nicht mehr hüten, nun ging es wieder in die Schule. Und auf des Dores Grab war ein Kreuzchen gekommen, darauf stand zu lesen:

›Vater, Mutter, tröstet euch,
Ich bin jetzt im Himmelreich!‹

Nun weinte die Mutter nicht mehr. Sie betete alle Abend zur allerheiligsten Mutter von Lourdes, und alle [S. 336] Morgen zum heiligen Willibrord; zu den zweien, denen sie am meisten zu danken hatte.

Bäreb lachte froh: ja, wenn der Mutter nicht dazumal, gerade als es ihr am allerschlechtesten ging, die heilige Frau an der Ley begegnet wäre, wer weiß, ob sie, die Bäreb, dann nach Echternach springen gegangen wäre! Sie sprach es gedämpft, wie mit andächtiger Scheu. Und ein nachdenklich-ernsthafter Zug, der ihrem harmlosen Gesicht sonst fremd war, ließ es älter erscheinen.

Josef hatte gar nicht recht hingehört auf das, was sie sagte. Im Lehnstuhl saß er, hatte den Arm auf die Seitenlehne gestützt und beobachtete sie hinter der vorgehaltenen Hand. Wie hübsch sie aussah, wie besonders hübsch! Auf ihren bräunlichen Wangen glühte ein tiefes Rot, ihre Augen waren feucht. Es gab vielleicht Schönere! Josef schloß einen Moment lächelnd die Augen, Gestalten huschten an seiner Erinnerung vorüber. Er hatte viele schöne Frauen gekannt, die Welt war weit, aber so, wie dieses Mädchen hier, hatte ihm doch keine gefallen!

»Geh,« murmelte er – er war ganz heiser – »geh, zieh dich um, du bist ja ganz naß. Ich will allein sein!«


Das wurde eine böse Nacht. Waren denn alle Geister des Venns lebendig geworden und jammerten?

Josef hörte das Mädchen ruhig atmen – oh, die focht nichts an! Aber ihn. Er fluchte dem Lärm draußen, er fand keinen Schlaf. Oder war es etwas anderes, das ihm die Ruhe verscheuchte? Ihm war es heiß, glühend, trotzdem es kalt in der Kammer war; der Wind schnob durch alle Ritzen bis hin an sein Bett. Und dem Toben draußen gesellte sich der Aufruhr innen. Hier – hier! Er schlug sich wütend mit der flachen Hand gegen die Brust, so heftig, daß ihn ein [S. 337] Husten erschütterte. Sollte es nun auch schon wieder aus sein mit ihm hier an diesem Platz, sollte er so rasch wieder das Leben hier aufgeben, es wechseln, wie man ein Kleidungsstück wechselt, das man noch gar nicht zu Ende getragen hat?! Er war verzweifelt über sich selber. Alter Tor! Ja, Heinrich hatte ganz recht, der wußte besser Bescheid über ihn, als er über sich selber: er taugte zu nichts. Er hatte keine Energie. Nicht einmal diesem hier war er gewachsen. Und – aber was war denn eigentlich weiter dabei, daß er der schönen Bäreb einen Kuß gegeben hatte?! Sie würde den bald vergessen. Vielleicht hatte sie ihn schon vergessen, ihn kaum gefühlt!

Er lauschte angestrengt: ob sie wirklich so ruhig schlafen konnte? Es wurmte ihn, es kränkte ihn. Wie es an der Hecke riß, an den Läden klapperte! Jetzt stürzte ein Dachziegel – krach. Aha, jetzt wälzte sie sich! Jetzt tat sie einen zitternden Seufzer! Jetzt stammelte sie: »Jesus Maria!«

Josef saß im Bett aufrecht, umstürmt und durchstürmt. Mit einer jähen Aufwallung von Freude hatte es ihn durchzuckt: ah, sie konnte auch nicht schlafen! Aber gleich darauf schämte er sich dieser Freude: nein, alle Nacht sollte sie einen so friedlichen, unschuldigen, ungestörten Schlaf haben, den harmlosen Schlaf der Kindheit!

Josef hatte Tränen in den Augen. Er war froh, daß es draußen gewaltig stürmte, so konnte er es sich doch selber weismachen, daß er deshalb nicht schlafen konnte. Mochte sie nebenan schlafen oder nicht schlafen, ruhig atmen oder zitternd seufzen, er versenkte sich ganz in das Toben der Nacht. Ob die sich anderwärts auch so wild gebärdete? Wie mußte das Haus der Strafkolonie, das einsame Haus ohne Hecke, sich ducken! Zitternd hockten die Menschen darin; mußten sie [S. 338] nicht wähnen, weggefegt zu werden, nicht denken, Weltuntergang sei da?

Es toste in den Lüften, es brüllte und lärmte. Jetzt rollte ein Getöse sich vom Grenzbach herauf. War das ein gewaltiger Hirsch, der da in den Tannen orgelte? Nein, der Sturm, der Sturm. Er übertönte alles Sterbliche. Das war eine ohrenbetäubende Musik, die Musik des jüngsten Gerichts. Wohl dem, der sie hören konnte mit reinem Herzen!

Die Bäreb schlief wieder ganz fest – horch, wie sie gleichmäßig atmete! Ja, die hatte nichts zu bereuen. Aber die armen Strafgefangenen! Huh, wie sie zitterten in ihren Leinenkitteln, aufgestanden waren sie alle, der barsche Aufseher hatte sie aufgetrieben; sie wußten ja nicht, ob das Dach ihnen nicht über den Köpfen aufflog!

Josef stellte sich die nächtlichen Gestalten deutlich vor – ein zitternder, erbärmlicher Spuk – er versuchte wieder das alte Mitleid mit ihnen zu finden, und fand zuletzt doch nur Mitleid für sich allein. War es nicht scheußlich für ihn, hier einsam zu liegen und sich so zu quälen? Wenn er nun aufstünde, wenn er nun einträte nebenan –?! Pfui! Er kniff die Augen zusammen und preßte die beiden Hände gegen das Gesicht. Nein, das wäre gemein, an die Unschuld zu rühren! Das ging ihm gegen die Ehre.

So lag er kämpfend, lange, lange, bis das Brüllen im Venn nachließ, bis es aber auch schien, als sei kein Ziegel mehr auf dem Dach, kein Laden am Haus mehr, kein Blatt mehr an der Hecke und auch keine Tanne mehr im Forst. Alles mußte der Sturm weggerissen haben, weggeknickt, wegrasiert, als sei es nie dagewesen. Resigniert schlief Josef ein.

Die Stimme Bärebs weckte ihn. Es klopfte an seiner Kammertür: »Hähr Josef, Hähr Josef, nu stoht äwer up, et is esu spiet!«

[S. 339] Was, schon spät? Es war ja noch dunkel! Er sprang aus dem Bett. Was wollte sie denn, konnte sie ihn denn nicht wenigstens jetzt in Ruhe lassen?!

»Hähr, Hähr,« – Bäreb lachte fröhlich – »et is am Schneie, ärg am Schneie! Mir schneien ein!« –

Und sie schneiten ein.

Die Tannen hatte der Sturm nicht weggefegt, noch standen sie unversehrt, sie waren das starke Wehen gewohnt, aber nun schienen sie doch fast brechen zu müssen unter Schneelasten. Ihre Wipfel neigten sich demütig tief. Schnee, Schnee, Schnee, alle Tage und alle Nächte. Die Stürme schwiegen. Ganz ohne Geräusch, sammetweich, sank der weiße Flaum und schichtete sich höher von Stunde zu Stunde. Man sah ihn steigen wie die Flut, unwiderruflich, unentrinnbar; aber eine Ebbe kam nicht.

Erst hatten sie wacker geschafft auf der Fangeuse. Sie hatten sich Ein- und Ausgang freigehalten; Josef half der Magd täglich einen Gang schaufeln, von der Haustür bis zum Heckenausgang, von da zum Brunnen, und von da weiter bis hin zum Wiesenplan. Er war in den ersten Tagen tüchtig umhergestapft und hatte sich nicht satt sehen können an der reinen, makellosen Weiße; es war ihm, als lägen auch alle Wünsche und Begierden unter dieser Decke und schlummerten ein. Aber das stete Weiß tat bald seinen Augen weh, sie brannten und flimmerten; die ungeheure Monotonie des Weiß fing an, ihn zu langweilen, mehr als das, ihn zu beängstigen. Er fühlte eine heimliche Angst. Vor was? Er hätte sie nicht erklären können. Aber die Angst war da, er fühlte sie genau, sie war keine Täuschung. Sie lauerte auf ihn in der endlos-unabsehbaren Einöde von Schnee, hinter diesen weißen, tiefgeneigten Tannen, in diesem Haus, das versunken lag hinter einer Mauer von Schnee. Die Hecke [S. 340] war zum Schneewall geworden. Grau war die Luft, die Ferne verhangen; man war wie geschieden von allem, was lebt, durch eine graue Wand. Man wußte, da unten tief lagen Städte und Dörfer, in denen Schlöte rauchten und Menschen wohnten, aber zu sehen war nichts von ihnen, gar nichts. Nicht einmal bis zum Grenzbach konnte man hinunterkommen, oder in anderer Richtung bis hin zur Chaussee gelangen. Josef wollte dem Landbriefträger entgegengehen, es verlangte ihn so nach den Zeitungen, aber er sank ein bis an die Kniee, und als er’s doch erzwingen wollte, sogar bis an die Hüften. Mit Mühe nur kam er wieder heraus. Geschwitzt, ermattet, fröstelnd, von bangen Ahnungen durchschauert, kehrte er wieder ins Haus zurück.

Die Post blieb aus.

Im Haus war’s warm; an Heizmaterial hatten sie keinen Mangel, Holz und Torf waren genug aufgeschichtet im Schuppen, und Bäreb hatte fleißig Tannenäpfel und Reisig gesammelt. Nun war es eigentlich gemütlich in der starkgeheizten Stube, die Fenster liefen an, man konnte nicht einmal die Hecke draußen mehr sehen. Und es wurde am Mittag schon dunkel; frühe Dämmerung sank hernieder, ebenso lautlos und geisterhaft still wie der großflockige weiße Schnee. Am Himmel zwängte kein Stern sich durch, einzige Helle gab nur noch der Schnee; aber diese Helle war kein Licht, sie war nur bleicher, matter, gespenstischer Widerschein. Und nirgend ein Laut.

Josef schrak zusammen, wenn Bäreb etwas sprach. Sie saß jetzt fast den ganzen Tag hier innen; die Küche hatte Steinfliesen, man konnte sie bei der Witterung doch nicht da sitzen lassen. Verstört fuhr er dann von seinen Büchern auf. Er hatte lesen wollen und las doch nicht; er hatte geträumt. [S. 341] In solcher Abgeschiedenheit müßte es schön sein, sehr schön, wenn man glücklich ist! Ihm war sie schrecklich.

»Und so ist es immer bei euch, alle Winter?«

Sie lachte und nickte: ja, so war’s immer, wenn’s auch nicht gerad so viel Schnee gab wie dieses Jahr.

Wenn doch der Postbote wenigstens morgen käme! Aber auch dann blieb er aus. Über acht Tage hatte man nun schon keine Kunde mehr, daß es noch eine Welt gab. Die da unten hatten ihn wohl ganz vergessen?!

Es war eine Erlösung, als endlich, an einem Mittag, als Josef schon beinahe die Hoffnung aufgegeben hatte, der Briefträger erschien. Mit einer an Gier grenzenden Eilfertigkeit riß Josef den Brief auf, den er erhielt. Heinrich schrieb, man hätte Schnee unten, da hätte man gewiß oben noch viel mehr Schnee, ob Josef nicht lieber herunterkommen wollte? Er sollte Nachricht geben durch den Mann, damit ihn ein Schlitten holen käme.

Sehr nett von Heinrich! Aber, aber – Josef sah nach Bäreb hin. Sie saß auf der Bank unterm Fenster und sah zu, wie es dem Boten, dem sie eine Tasse Kaffee heiß gemacht hatte, schmeckte. Wie blühend sie aussah, wieviel gesünder und runder, als da sie noch unten in der Fabrik arbeitete! Dann würde sie wieder dort arbeiten müssen – nein, es war nicht möglich, daß er ging! Um Bärebs willen nicht. Er mußte aushalten.

Er gab dem Briefträger die Antwort an Heinrich mit: es gefiele ihm noch ganz gut, noch immer sehr gut, und wenn es bald aufhören würde, zu schneien, würde es sogar herrlich sein. Nein, er dachte gar nicht daran, hinunter zu gehen! Mit einem gewissen Trotz schloß er das Kuvert. Sie sollten auch nicht sagen, daß er nicht standgehalten hätte.

[S. 342] Mit der Miene eines Siegers übergab er dem Boten den Brief. Als aber der Mann fortgestampft war, hätte er ihn gern zurückgerufen: nein, er wollte doch lieber fort, sie sollten ihn doch lieber herunterholen!

Bäreb hatte die weiße Katze auf den Schoß genommen; der Winter hatte das halbwilde Tier ins Haus getrieben. Nun sah Josef, wie sie sich anschmiegte, wie sie schnurrte; er hörte, wie das Mädchen sie mit zärtlicher Stimme liebkoste. »Heraus mit dir!« Unsanft jagte er das Tier aus dem Zimmer. Aber als ihn dann Bärebs Augen vorwurfsvoll anblickten, ging er hinaus, der Katze nach, und versuchte, sie wieder hereinzulocken. Doch sie kam nicht. Auf der steilen Leiterstiege, die zur Dachluke führte, saß sie und miaute kläglich. Er kletterte ihr nach, er kletterte bis aufs Dach; da jagte die Katze über die verschneiten Ziegel, lief hinüber bis zur Hecke, die mit dem Dach jetzt fast eine Schneefläche bildete, und er konnte ihr nicht mehr nach.

Nun hatte er Bärebs einzige Unterhaltung verjagt, nun hatte sie gar nichts mehr, was sie zerstreute. Es tat ihm leid. Er fand nicht den Mut, sie zu fragen, ob es ihr langweilig sei, öde und traurig? Wenn sie ›ja‹ sagte, würde er sich ärgern – und wenn sie ›nein‹ sagte, was dann? Lieber nicht fragen! Er glaubte in ihrem Blick etwas zu sehen, was er früher nicht darin gefunden hatte. Ihre Augen glänzten so weich, so vertraulich. War es nicht natürlich, daß sie das Verlangen nach Vertraulichkeit hatte? Sie hatte nicht Vater, nicht Mutter hier, nicht die Geschwister, nun nicht einmal das Kätzchen mehr. Wer weiß, vielleicht hatte sie auch einen Schatz da unten – was wußte er denn von ihr? Er beobachtete sie verstohlen. Oft, wenn sie im dämmernden Licht, das die kleine Lampe verbreitete, auf der Bank saß, ließ sie jetzt ihr Strickzeug sinken und sah mit leicht geöffnetem Mund, [S. 343] mit halb-geschlossenen, träumenden Augen ins Leere. An was dachte sie – und an wen?! Ein Gefühl, das er nicht Eifersucht nennen wollte, und das doch Eifersucht war, durchzuckte ihn. Ja, sie hatte einen Schatz! So blickt ein verliebtes Mädchen! Und wenn sie vielleicht auch jetzt keinen hatte, so hatte sie doch einen gehabt. Daß er das früher nicht gesehen hatte! In diesen Augen, die so rund und harmlos in die Welt blickten, versteckte sich in der Tiefe etwas, das in keinem Kinderauge zu finden ist. Nun ja, sie war eben in den Jahren!

Er grübelte über sie; er lag förmlich auf der Lauer. Bald war es ihm, als dürfe er die Hand nach ihr ausstrecken, ohne unrecht zu tun, und bald verwies er sich schon diesen Gedanken hart. Nein, sie war noch ganz Kind, noch ganz unschuldig – wie sagte doch Leykuhlen? ›Hier braucht man nicht bange zu sein, so was ist ausgeschlossen bei uns!‹

Er sah wieder nach Bäreb hin: träumte sie? Nein, sie träumte nicht. Ruhte nicht auf ihm, auf ihm ihr Blick, sinnend, glänzend, zärtlich?!

Da schrie er sie an: »Hast du einen Schatz?« Und als sie nicht gleich antwortete, sondern die Augen rasch abwandte, vor sich niedersah, verwirrt und dunkelrot, da schrie er noch einmal, in unverständlicher Heftigkeit mit dem Fuß aufstampfend: »Willst du’s mir wohl sagen! Oder hast du etwa einen Schatz gehabt?!«

Er war aufgesprungen, er stand nun bei ihr und packte sie fest am Arm.

Ihr Arm war sehnig und stark, trotz der Schlankheit, aber nun sagte sie leise: »Au, Ihr tut mir weh!«

»Äh was, weh!« Er lachte grell. Er war plötzlich ein ganz anderer.

[S. 344] Sie sah scheu-erschrocken zu ihm auf: was machte der Herr Josef denn für ein Gesicht?

Finster sah er auf sie nieder, all die Güte war aus seinem Gesicht geschwunden. »Hast du einen Schatz?« Er murmelte es fast drohend, ließ den Blick von ihr, schaute, blaß werdend, zu Boden und nagte an seiner Lippe. Wenn sie jetzt sagen würde ›ja‹ – keinen Augenblick würde er sich dann mehr besinnen. Warum denn auch? Nehmen würde er sie, wie eine fällige Frucht, die gepflückt zu werden verlangt.

Aber sie sagte: »Nee!« Ernsthaft schüttelte sie den Kopf, fast traurig: »Nee, Hähr Josef, ich han keene Schatz, dat könt Ihr mir jlöwe!«

Da ließ er ihren Arm, den er noch immer krampfhaft gepackt hielt, fahren. Er stieß sie fast von sich. Knäuel und Strickzeug und Nadeln rasselten zur Erde, verwirrt bückte sie sich und raffte alles zusammen. Sie eilte hinaus, aber als sie schon in der Tür stand, schickte sie noch einen Blick nach ihm zurück, der ihm zu denken gab. Warum war sie so flammendrot, warum so erschrocken? Warum waren ihre Augen so eigentümlich? Ihre Blicke so unsicher? Sollte sie ihn belogen haben?!

Gleich darauf hörte er draußen ihre kosende Stimme. Hatte die Katze sich wieder eingefunden? Er hätte gern gewußt, mit wem sie so redete. Aber er traute sich nicht hinaus. Diesen Abend ging er früher zu Bett denn jemals, und als nebenan die wurmstichige Bettstatt zu knarren anfing, da zog er sich die Decke bis über den Kopf und steckte sich die Finger in die Ohren. –

Wenn man nur Menschen zu sehen bekäme, Menschen! Der Schnee fiel nicht mehr, aber er lag fest; er lastete mit schwerer Decke, unter der sich kein Weg abzeichnete und auch kein Gestein. Auch die Karrees der Tannen-Anschonungen [S. 345] waren zugeweht. Nirgendwo gab es ein Merkmal mehr, nach dem man sich richten konnte. Es trieb den Einsamen aus dem Haus. Und war es auch in dem kristallenen, körnigen Schnee, den niemand zusammengetreten hatte, der wie trockener Sand, lose und rinnend, in eisiger Kälte bis zu den Knieen aufstieg, ein mühseliges Fortkommen, er wollte es doch versuchen. Bis hin zur Chaussee wenigstens, da mußte doch mal ein Lastwagen fahren oder die Post kommen. Alles konnte doch nicht ein Ende haben. Da würde er dann in den Räderspuren leichter weitergehen. Vielleicht auch, daß er einen Menschen antraf, einen Grenzjäger, einen Waldhüter, einen Förster, nur irgend einen! Nur einmal ein anderes Gesicht sehen, als ewig, ewig das des Mädchens!

Er floh vom Haus. Aber weit war er noch nicht gekommen, als er schon fühlte, daß ihn alle Glieder schmerzten, daß in seiner Brust der Atem keuchte. Er hielt an in dem tiefen Schnee. Ringsum Totenstille. Er drehte den Kopf nach allen Seiten: kein Mensch, nicht einmal ein Wild! Kein einziger dunkler Punkt, den das Auge hätte erhaschen können in der Unendlichkeit des verschneiten Venns. Sein Auge suchte die Richtung, in der tief unten die Stadt liegen mußte, aber nicht einmal die Richtung war mehr zu bestimmen; man wurde völlig verwirrt von dieser überall gleichen, eintönig weißen Weite. Ja, sie hatten sein vergessen! Er stieß einen ungeduldigen Seufzer aus und lächelte bitter. Selbst Hedwig, die sich doch sonst so oft an seinen Arm gehängt hatte, kümmerte sich jetzt nicht mehr um ihn in ihrem bräutlichen Glück. Sie hatte ja auch an etwas Besseres zu denken, als an ihn, den schrulligen, überflüssigen Junggesellen. Die Ausstattung mußte nun bald fertig sein, jedes Stück erregte das glühendste Interesse. Man schrieb und ließ sich zur Auswahl senden, man packte aus und packte wieder ein, man schrieb [S. 346] wieder und ließ sich wieder schicken, man reiste nach Aachen, nach Köln, man suchte selber aus, man kaufte ein, man probierte an, der Tag wurde zu kurz. Man hatte so viel zu tun, es war eine stete Unruhe. Heinrich würde wohl manchmal dazwischenwettern, wenn er nicht treten konnte vor Packen und Päckchen, vor gestickten Unterröcken und zarten Negligés, vor Spitzen und Seidenschleifen, vor duftigen Blusen und Staatskleidern. Pompös würde das Brautkleid ausfallen. Josef sah ordentlich, wie die beiden Verlobten mit glänzenden Augen die Stoffproben betrachteten. Der Bräutigam lispelte dabei der kleinen Braut tausend dumme Dinge ins Ohr. Zeit hatten sie ja genug zu dergleichen, das Militär war längst fort, der Platz geräumt; nur das Wachkommando lag noch oben. Der Adjutant vom Platz mußte zweimal die Woche hinauf, im übrigen aber hatte er die Vergünstigung, unten im Städtchen zu wohnen. Also Gelegenheit genug zu Liebesgetändel – und sie durften ja. Sie durften! Ende April schon würden sie heiraten. Jetzt war es bereits Januar.

Ob der Schnee denn ewig liegen würde? Zwei Monate fast war man schon begraben bei lebendigem Leib. Josef sah sich wild um. Aber so tief man auch eingegraben war, das Herz gab sich doch nicht zur Ruhe, das pochte nur um so lebendiger. Daß man doch davonrennen könnte – wohin? Ganz gleich. Nur einmal andere Eindrücke, andere Gesichter, daß man auf andere Gedanken kam!

Und doch mußte er immer wieder ins Haus zurückkehren, wo niemand war, als die Bäreb und er.

Nun aßen sie schon lange altes Brot; zehn Tage war es her, daß der Bote, der sonst alle Woche Vorrat heraufbrachte, zuletzt dagewesen war. Blieb der etwa ganz aus? Es verlangte Josef nach frischem Brot; auch hatte er eine geheime Angst: wenn es einmal so käme, daß er auch ohne Licht [S. 347] sitzen müßte mit der Bäreb im dunklen Haus?! Ungeduldig harrte er, aber der Mann kam nicht.

Da machte sich Bäreb auf den Weg. Er wollte sie nicht lassen, aber sie lachte ihn aus: was war denn weiter dabei, sie war ja jung und kräftig, sie kam schon durch! So ließ er sie gehen. Aber als sie fort war, packte ihn die Reue. Er hatte dieselbe Unruhe wie damals, als sie gegangen war, ihre Eltern zu besuchen – nein, eine noch weit größere Unruhe. Es war ihm zu Mut, wie einem, der ein Kleinod verloren hat.

Er fing an, im Schuppen Reisig zu zerkleinern, aber er hieb sich dabei auf die Finger; dann begann er, Schnee zu schippen. Sie würde sich freuen, wenn er ihr einen recht breiten Pfad geschaufelt hatte bis hin zum Brunnen. Aber als er eine Stunde geschippt, geschaufelt, gehackt und gekarrt hatte, verließ ihn die Lust. Dieser Arbeit fühlte er sich nicht gewachsen. O, was waren das doch für tausend Unbequemlichkeiten! Zornig über die eigene Torheit, die ihn in eine solche Lage gebracht hatte, ließ er Schaufel und Besen fallen, warf sich todmüde drinnen aufs Bett und stierte die Decke an. Er war zu träge, um Licht anzuzünden, er blieb so liegen in der Dunkelheit. Er lag wie in einer Apathie. Nur das fühlte er, wenn es noch lange so anhielt, wenn das noch immer, immer so weiterging, dann beging er noch viel größere Dummheiten, als er bisher begangen hatte, oder – eine Schlechtigkeit. Oder – er faßte sich mit beiden Händen an die pochende Stirn – er wurde verrückt!

Diese Einsamkeit, diese Einsamkeit! Er stöhnte auf. Sie übte den furchtbaren Druck. Alles Übel kam von dieser Einsamkeit. Er verwünschte die Fangeuse. Hätte er sie nie betreten! Sie war der rechte Ort, Gedanken auszuhecken, die nichts taugten. Heute begriff er nicht, daß er hier einstmals Tage verlebt hatte, Tage solch reiner, solch hoher Entzückungen, [S. 348] wie er solche noch nie im Leben gekostet hatte. Er fühlte nichts mehr für Dankbarkeit für jene sonnenwarmen Herbsttage. Wenn er jetzt an sie dachte, geschah es mit Achselzucken: verrückter Schwärmer!

Tiefe, tiefe Dunkelheit draußen; tiefe, tiefe Dunkelheit drinnen. Eine Trostlosigkeit kam ihm über das eigene nutzlose Leben. Was hatte er denn schon geleistet? Hatte er wohl mit all seinem guten Willen für das Wohl anderer je etwas Gutes geschafft? Immer hatte er Mitleid mit den Menschen; Mitleid mit den jungen Dingern, die unten auf den Lumpensäcken ihr Brot verzehrten, Mitleid mit den Sträflingen, die zur Arbeit getrieben wurden in Wind und Wetter. Dummes törichtes Mitleid, es hatte niemandem etwas genutzt! Wie konnte man nur daran denken, dieses unwirtliche Land durch die Sträflinge urbar machen zu wollen? Und wenn hundert und aberhundert Hände sich auch mühten, wenn man immer neue Kolonien gründete, neue Arbeiter hier heraufschaffte, würde nicht Venn doch Venn bleiben, ein finsteres Moorland? Gefangenen wies man die Arbeit der Kolonisation zu, gedrückten, unfreien Menschen! Er konnte jetzt das nicht mehr vertreten, was er an jenem Jagdabend so enthusiastisch gesprochen hatte: ›Apostel – Kulturträger – Kulturbringer‹ – konnten die Bringer des Lichtes einem dunklen Lande sein, die selber unfrei waren?!

Er lag verdrossen. Wäre er nur fort von hier! Er sehnte sich nach einer leichteren Luft, nach einer heitereren Sonne, nach lebhafteren Menschen. Nicht immer diese Stille, diese lastende Stille; Fröhlichkeit, Heiterkeit, ein rascher bewegtes Dasein, vielseitiger und vielgestaltiger! Ach, gingen denn selbst Leykuhlens Interessen über den Turm seiner Kirche hinaus?! Und diese gepriesene Frömmigkeit, diese Einfalt [S. 349] der Sitten, diese Zufriedenheit – entstammten sie nicht einer geistigen Armut?!

Heute gefiel ihm alles nicht mehr, er sah heute mit anderen Augen. An solch kritischen Tagen hatte er unten immer mit Heinrich gezankt – ach, hätte er jetzt nur einen zum Zanken! Da knarrte die Haustür – Gott sei Dank, endlich die Bäreb! Er stürmte hinaus: so lange auszubleiben?!

Sie stand da, heiß und rot, ganz außer Atem, und streckte ihm den Laib Brot entgegen. »Janz frisch, Hähr Josef, et is janz frisch. Ich han et sälwer beim Bäcker uhs dem Ofen jehollt. Do hatt Ihr et nu!« Sie strahlte ihn an.

Er fühlte, daß das Brot noch warm war. Glühend heiß mußte sie’s unter ihr Tuch gesteckt haben, es im Arm gehalten haben, dicht an ihrem Herzen. »Wie du außer Atem bist!« Er streichelte sie. »Nun, wie geht’s deinen Eltern? Und den Geschwistern? Und der Maiblum?«

»Dat weeß ich nit!« Sie sah ihn groß an. »Ich bin nit derheem jewes, dat war noch zu weit!«

Nicht zu Haus? Sie war doch nach Heckenbroich hinunter gegangen, hatte Brot geholt und sonst allerlei, und sie war nicht zu Hause gewesen?!

»Ich kont doch nit!« Sie sagte es ganz verwundert. »Ihr woll’ doch so jär frisch Bruet, do han ech mich plage mosse, für jetzt wedder hee zu sin!«

Er war entwaffnet. Für ihn, für ihn allein war sie also gelaufen?! War im Dorf gewesen, hatte sich aber nicht einmal Zeit genommen, Eltern, Geschwister, an denen ihr Herz hing, wiederzusehen?! Er wußte nicht, was er sagen sollte; das war mehr, als er erwartet hatte, mehr, als er erwarten durfte. Von der Verdrossenheit, in der er vorhin gelegen hatte, war urplötzlich nichts mehr in ihm. Er zog sie an sich. »Ich danke dir,« flüsterte er.

[S. 350] Und sie flüsterte wieder: »Dat hat ich siehr jär für Uech jedon!«

Dann saßen sie in der Stube. Draußen war es dunkel und kalt, aber hier innen war es warm und hell. Heute bediente er sie; er hatte die Lampe angezündet, Holz aufgelegt, daß der Ofen glühte, sie gezwungen, in seine warmen Filzschuhe zu schlüpfen und aß nun und rieb ihre Hände, die eiskalt und blaugefroren waren.

O ja, es war schon schwer gewesen heute durchzukommen, der Wind hatte einen förmlich durchblasen, als hätte man kein Tuch und kein Kleid an, gar nichts auf dem Leib! Aber nun war sie froh. Sie erzählte ihm, daß sie ein-, zweimal vom Wege abgekommen und schon so müde gewesen war, daß sie sich hatte hinsetzen wollen; aber da hatte sie an den Herrn Josef gedacht und wie dem so bange sein würde, wenn sie nicht bald wieder da war, und da hatte sie sich wieder aufgerafft. Ihr Schutzengel hatte sie denn auch richtig geführt. Zurück war der Weg leichter gewesen; den Wind hatte sie im Rücken gehabt, er hatte sie vor sich hergeblasen, daß sie kaum zu laufen brauchte, daß sie über den Schnee hingeweht worden war. Raben waren über ihr geflogen während des ganzen Weges, fast mit den Flügeln hatten die sie gestreift und sie immer umkreist; aber sie hatte ihr Brot festgehalten und war gerannt und gerannt. Sie lachte fröhlich.

Es war, als hätte der heiße Wein, den Josef dem erstarrten Mädchen zu trinken gegeben hatte, es völlig verändert. So lebhaft war Bäreb noch nie gewesen. Sie taute auf; da war nichts mehr von Scheu und Zurückhaltung. Aber als sie jetzt plötzlich seine Hand streichelte: »Ihr seid eso jot,« war doch keine Dreistigkeit in ihrer Vertraulichkeit.

Mitten im Schwatzen wurde sie müde, wie einem Kinde fielen ihr die Augen zu. Schwarz hoben sich die langen Wimpern [S. 351] von den durch die scharfe Luft hoch geröteten Wangen. Sie hatte den Kopf gegen Josef geneigt und nickte, das schlummermüde Haupt an seiner Schulter. Er saß und rührte sich nicht und hielt den Atem an.

Er kam sich unsäglich lächerlich vor. Das mußte ihm, ihm passieren! Aber er traute sich nicht, sie aufzuraffen, sie davonzutragen, wie einen willigen Raub. Steif blieb er sitzen, bis sie ein Stündchen geschlafen hatte und blinzelnd die Lider öffnete. Mit einem wohlig-verschlafenen: »Sein ech äwer möd!« lächelte sie ihn an.

Er fühlte, jetzt brauchte er nur die Hand auszustrecken. Es war so still im Zimmer, so warm. Ganz allein waren sie – wo war die Welt?! Die fragte nicht nach ihnen.

Aber hastig rückte er zur Seite, daß ihr Kopf unsanft von seiner Schulter glitt. »Gutnacht, Bäreb!« Es klang barsch.

Sie sah ihn verdutzt an mit schwimmenden Augen: war er bös mit ihr, der Herr Josef?!


Sein Ton blieb auch noch barsch am anderen Morgen. Er konnte es ja nicht vermeiden, ihr zu begegnen. Sie wohnten sich zu nahe; immerwährend streifte ihn ihr Rock, immerwährend umgab ihn ihre Sorgfalt. Er konnte das heute nicht vertragen. Träume hatte er diese Nacht gehabt, Träume, wie er sie sich nie mehr zugetraut hätte. Er war sich bewußt gewesen, daß er träumte – nebenan hörte er ihren Atem zittern – aber er hatte immer wieder die Augen zugedrückt und immer wieder den gleichen Traum gesucht. Aber am hellen Tage mied er sie, um die sich seine Träume gewoben. Der weiße Tag stand auf der Schwelle; er floh aus dem Haus.

Draußen war es wie immer still und kalt; das heißt, nur still von Menschenlaut. Es war ein Ächzen in den Tannen, [S. 352] ein lautes Knacken, und ein Sausen von umherfahrenden Lüften zwischen Himmel und Schnee. Merkwürdig, es dünkte ihn heute minder kalt; vielleicht fühlte er’s weniger, seine Stirn brannte so. In seinen Augenhöhlen bohrte ein Schmerz. Wie ein Planloser irrte er umher, der Tag draußen dünkte ihn besser als der Tag drinnen.

So weit zu kommen war ihm bisher noch nie gelungen. Der Wind hatte sich plötzlich gelegt, jetzt konnte er ganz gut gehen. Er fühlte die Anstrengung nicht, seine Gedanken waren zu sehr beschäftigt. Er sah gar nicht, was um ihn war, er sah immer nur nach dem Hause zurück. – – – Nun räumte sie in seinem Zimmer auf – nun war sie in der Küche – nun sang sie beim Kartoffelschälen – nun richtete sie das Mittagbrot – nun wartete sie auf ihn, wartete mit heißen Wangen, mit blühenden Lippen – ah, Mittag mußte es wohl schon sein?

Plötzlich aufschreckend, sah er sich um: war’s möglich, so weit war er schon gegangen?! Da lag ja wie ein Würfel ein einsames Haus in der unendlichen Schneeweite. Nur wo der Schnee nicht angeweht war, schimmerte sein Gebälk dunkel, sonst war’s weiß, weiß wie das Land rundum. Und das Dach schwer belastet. Tiefer noch hing es herab als sonst über Tür und vergitterte Fenster. Die Strafkolonie!

Ein paar Raben krächzten; sie lauerten auf Fraß, aber keine Hand warf Futter heraus. Nichts rührte sich. War das Haus verlassen? Nein, ein schwacher Rauch stieg aus dem Schornstein empor; man sah ihn kaum, er wurde gleich eins mit der grauen Luft. Josef hüstelte: es legte sich heute so schwer auf die Brust. Nun fühlte er doch, daß er müde geworden war. Er pochte an.

Drinnen rasselte es, ein Schlüssel wurde ins Schloß gestoßen, ein Riegel zurückgeschoben. Simon Bräuer öffnete selber.

[S. 353] Er sah den Ankömmling finster an: »Wat wollen Sie?« Dann erst erkannte er den Eindringling und wurde zugänglicher; aber man merkte, daß ihm die Freundlichkeit Mühe machte. Es schien ihm sauer zu werden, den Mund aufzutun. »Kommen Sie erein!«

Er scheuchte einen der Sträflinge auf, stieß ein Bündel Weidenruten und einen halbfertigen Korb beiseite und ließ Josef Platz nehmen.

Es saßen ihrer Zwanzig in dem engen Raum auf roh zusammengenagelten Schemeln. Auf dem Herd brodelte es in einem großen Topf, ein alter Mann stand dabei und rührte mit einer riesigen Kelle. Im Herdloch fielen die Funken wie glühender Regen; von dort kam ein rötlicher Schein – das einzige Licht in dem winter-dunklen Raum. Aber trotzdem es im Ofen knackte und knasterte, und man vors Fenster als Schutz ein dickes Brett gestellt hatte, war es doch nicht warm hier; die Luft war nur dick.

Josef war ordentlich zurückgeprallt vor dem Dunst, der ihm entgegenschlug. Mit erschrockenen Augen sah er sich um: so hausten die hier im Winter? All diese Leute zusammengepfercht, und so Tag für Tag?!

Bräuer sagte: »Über die Hälft ist nach Aachen abjeschoben. Die kommen erst wieder erauf, wenn die Arbeit draußen anjeht. Die hier flechten Körb und binden Besen. Der da,« – er wies auf ein Gesicht, das Josef bekannt vorkam – »der ist jeschickt, der hat uns die Schemel gemacht. Nu schnitzt er Löffel. Zeig mal her!«

Der blasse Mensch, der den rotborstigen Kopf über seine Arbeit geneigt hatte, stand auf und kam heran; er zeigte ein Besteck aus Birkenholz, nur roh geschnitzt, aber an den abgeplatteten Stielen war als hübsche Verzierung eine Blume eingekerbt.

[S. 354] »Setz dich wieder!« Man merkte der Stimme des Aufsehers trotz aller Rauheit einen gewissen Stolz an.

Josef lobte die Geschicklichkeit des Sträflings. Der Gelobte wurde rot, er hob den Blick und zum ersten Mal sah Josef in die grünen, unruhigen Augen. Jetzt zog der Mensch in einem geschmeichelten Lächeln den Mund breit, und Josef erschrak fast: ha, fletschte der Kerl die Zähne! Unangenehme Physiognomie! Aber gesünder sah er aus, nicht mehr so käseweiß, nicht so zum Erbarmen elend wie das letzte Mal. Und man sollte doch denken, hier eingeschlossen im vergitterten Haus müßte er elender aussehen als draußen in freier Luft?! Merkwürdig, dieser Mensch schien jetzt ganz wohl und zufrieden!

»Wollen Sie wat von unserer Supp essen, Herr Schmölder?« fragte Bräuer.

Josef nickte; er war hungrig.

Der Alte am Herd nahm einen von den Blechnäpfen, die aufgestapelt einer im andern standen, und füllte ihn mit seiner Kelle aus dem großen Kessel. Es roch ganz gut: nach Erbsen, nach Schmalz, nach Zwiebeln und nach Wärme. Aber als Josef ein paar mal den Blechlöffel in die dünne Brühe getaucht hatte, hatte er genug. Das schmeckte doch nicht. Und auch das Stück schwarzen säuerlichen Brotes mit der zähen geräucherten Blutwurst wollte ihm nicht munden, obwohl der Alte, der ihm das präsentiert hatte, mit aufglänzenden Blicken jeden Bissen verfolgte, den er in den Mund steckte. Er erhob sich; ihm war, als müßte er ersticken in dieser dumpfen Dunkelheit. Der letzte Bissen würgte ihn. »Ich danke, Herr Bräuer. Adieu! Ich muß nun zurück!«

»Ich bring Sie en Stück längs!« Es mußte dem Aufseher nun doch zum Bedürfnis geworden sein, mit jemandem zu reden. »Mer jewöhnt sich dat Sprechen janz ab,« sagte er [S. 355] wie entschuldigend, als sie draußen durch den Schnee stapften.

»Läuft Ihnen keiner fort? Sie haben ja nicht wieder zugeschlossen!« Josef sah noch einmal nach dem verlassenen Haus zurück und schauderte.

»Wohin?« Bräuer machte eine umfassende Handbewegung. »Hier sind die sicher verwahrt. Die sind ja auch janz zufrieden hier. Und ich bin auch zufrieden mit ihnen!«

»Und doch wollen Sie fort, wie ich höre?«

Das Gesicht des Aufsehers, das sich eben ein wenig aufgehellt hatte, wurde rasch wieder finster. Er zog die Stirn in Falten und schlug den Blick zu Boden.

»Es ist schade, Herr Bräuer!« Josef sagte es warm. Wahrhaftig, er hatte dem Menschen doch Unrecht getan, der war längst nicht so schlimm, als er sich stellte. »Sie sollten nicht gehen, Herr Bräuer!«

»Ich muß!« Der Aufseher brummte es zwischen zusammengebissenen Zähnen, und dabei zuckte es über sein Gesicht. Nun sagte er nichts mehr. Eine Strecke trabten sie stumm nebeneinander her, dann stieß er plötzlich heraus: »Ich hab en Frau zu Haus. Adjüs!« Er machte kurz kehrt.

Ehe Josef noch etwas sagen konnte, war er schon fort. Mit weitausholenden Schritten rannte er zurück, kein Rufen erreichte ihn mehr. Josef wendete sich ärgerlich: er hätte Bräuer doch noch einmal fragen können, ob er hier auch auf dem richtigen Wege war?

Wie eine Wand hatte es sich plötzlich zwischen ihn und die Strafkolonie geschoben. Grau, dick. Das war nicht Nacht, das war ein dichter Sack, der sich einem urplötzlich über den Kopf stülpte.

Sollte das etwa Nebel sein? Venn-Nebel? Josef hatte schon oft davon erzählen hören. Ei, das war ja ganz interessant, den einmal mitzumachen! In London hatte er oft [S. 356] Nebel erlebt – nun, schlimmer war der berüchtigte Londoner Nebel nicht, wie dieser hier! Pfui, wie sich einem der schwere Dunst auf Hals und Brust legte!

Er nieste und hustete und knöpfte dann seinen Überzieher fester zu; im Haus hatte er ihn aufgerissen gehabt in seiner Beklommenheit. Nun fror ihn, obgleich es gar nicht mehr kalt war. Kein Lüftchen regte sich, es war ganz still geworden, und trotzdem durchschauerte es ihn bis ins Mark. Kältende Tropfen hingen an Schnurrbart und Wimpern; das ganze Gesicht wurde feucht. Nur rasch nach Haus, es war zu unlustig, um spazieren zu gehen!

Er rannte wie toll. Aber als er hundert Meter gelaufen war, stand er plötzlich still: ging er denn auch richtig? Nur nicht die Richtung verlieren! ›Immer mit die Ruhe‹, wie Heinrich sagte. Er ging langsamer. Er strengte die Augen an: endlich mußte doch einmal ein Ausblick kommen, irgend einen Ritz mußte dieser Sack doch haben. Nur ein Auslug, und man wußte gleich wieder, wo man war.

Er ging und ging. Aber der Auslug kam nicht, der graue Sack wurde immer dicker. Und enger; gleichsam, als würde er einem über dem Kopf fest zusammengezogen. Er ging rascher. Er fühlte, daß er aufgeregt wurde. Ganz niederträchtig, hier so herumrennen zu müssen! Sein Herz klopfte. Hoffentlich war es nicht mehr weit bis zur Fangeuse! Aha, da schien ja jemand gegangen zu sein. Nun immer ruhig den Fußtapfen nach, sie nur nicht verlieren, dann kam man schon an ein Haus, an irgend einen bewohnten Ort, wenn’s auch, schlimmstenfalls, nicht die Fangeuse war.

Er bückte den Kopf nieder und ging wie ein Spürhund der Fährte nach. Noch immer Fußstapfen, noch immer. Bauerntappen waren das nicht. Merkwürdig, wie seine Füße gerade da hineinpaßten – der rechte Fuß, der linke Fuß – [S. 357] keine nägelbeschlagene Sohlen! Er zuckte plötzlich zusammen und stieß einen Ausruf des Ärgers und der Verwunderung aus: was machte er denn, rannte er denn auf der eigenen Fährte herum wie ein Verrückter?! Er wollte lachen, aber er konnte nicht.

»He! Holla! Ho–ho–o–oh!«

›He–holla–ho–ho–o–oh!‹ äffte ihm irgend etwas nach.

War hier ein Echo? Scheu blickte er sich um.

»He, he! Hört denn niemand?!«

›Niemand!‹

Seine Stimme klang nur schwach im dicken Nebel; der dämpfte jeden Schall. Er wischte sich über die Stirn; schon fing er an zu schwitzen, die Anstrengung war groß, er wurde müde. Unter seinen Sohlen ballte sich der Schnee, hing sich an die Absätze in Klumpen; je schwerfälliger er zutrat in seiner Müdigkeit, desto lästiger klebten die Klumpen an. Schwer stützte er sich auf seinen Stock. – – – – – –

Josef rief nicht mehr. Wer sollte ihm hier auch helfen? Hier mußte man sich selber zu helfen suchen, wenn man nicht, wie die Bäreb, an einen Schutzengel glaubte. Überall Fußtapfen, überall Fußtapfen. Aber er war nicht mehr sicher, ob es nur die seinen waren; sie waren teilweise verwischt, auseinandergetreten im Schnee. Und es war zu wenig licht, um deutlich zu sehen. Mit beiden Händen faßte er seinen Stock und trieb ihn tief hinein in den Schnee: daran würde er’s merken, wenn er wieder an denselben Platz zurückkehrte. Ob er etwa in die Runde lief, immer auf den eigenen Fußtapfen herum die ganze Zeit?!

Es wurde ihm schwer, den Stock zu entbehren, seine müden Füße glitschten hin und her; es kostete ihn jedesmal eine Anstrengung, sie zu heben, die Kniee waren steif. Aber [S. 358] er wankte weiter. Weiter mußte er, er konnte sich doch nicht hinlegen hier. Nicht einmal hinsetzen. Die größte Lust hatte er freilich dazu, er war so müde, und die grenzenlose Stille des Nebels schläferte unwiderstehlich ein. Wenn er sich nun hier hinlegen würde und einschlafen? Dann würde er nicht mehr aufwachen – es wäre der sanfteste Tod! Einen Augenblick kam ihm dieser Gedanke, trotz aller augenblicklichen Not. Nur immer weiter, weiter, so leicht gibt man das Leben denn doch nicht auf.

Nun lief er, so rasch er konnte. Wie lange mochte er schon unterwegs sein? Es war Mittagszeit gewesen, als er in der Strafkolonie eingetroffen war; eine Stunde mußte seither wohl vergangen sein. Er sah nach der Uhr und starrte erschrocken – drei?! Er hielt sie sich ans Ohr, er rüttelte sie. Sie ging wie immer, gleichmäßig mit leisem Tick, tick. Um himmelswillen, drei Stunden war er seither schon umhergeirrt? Jetzt fühlte er erst ganz die Müdigkeit. Sie war lähmend. Wenn er nun nicht mehr weiter konnte, wenn er hier im Nebel sich nicht bald zurechtfand, was dann?! All das fiel ihm ein, was Bäreb erzählt hatte.

Überall, rechts und links, vor ihm, hinter ihm, tauchten Kreuze auf. Er wußte, das war nur eine Halluzination, hier waren keine; aber er sah sie so deutlich, als ständen sie da, schwarz und verwittert, denen zum Gedächtnis, die im Schnee erfroren, die im Nebel verirrt waren.

Große Schweißtropfen rannen ihm von der Stirn, vom Kinn, und fielen nieder in den Schnee. Noch ein paar Stunden, und es war vorbei. In der Abenddämmerung ging kein Mensch mehr durchs Venn. Hoffentlich traf er jetzt noch einen Grenzjäger an, ihr Dienst trieb die ja umher bei allem Wetter! Mit geschärftem Ohr lauschte er: war da nichts zu [S. 359] hören? Aber er hörte kein Klirren von Sporen, kein Traben eines Pferdes, kein ›Wer da!‹ Gar nichts. Nichts.

Eine grauenhafte Stille umfing ihn. Erst war er aufgeregt gewesen im Gedanken, so spät nach Hause zu kommen – Bäreb würde sich ja um ihn ängstigen – aber nun kam ihm eine größere Angst. Sie überfiel ihn plötzlich wie eine Pantherkatze in jähem Sprung. Sie saß ihm im Nacken, er konnte sich ihrer nicht mehr erwehren, er wurde sie nicht los, so sehr er auch rannte. Das Klopfen seines Herzens war zum Hämmern geworden. Poch, poch – wie das gegen die Rippen anstieß, als wollte es sie eindrücken. Es stach ihm im Rücken bei jedem Atemzug. Jetzt mußte er langsamer gehen, so rasch ging es nicht mehr weiter. Er stand still, die Hand gegen das klopfende Herz gestemmt. Mit wirren Blicken sah er sich um.

Er war in seinem Leben schon in allerlei gefährlichen Lagen gewesen, viel gefährlicheren als heut: in einem furchtbaren Sturm auf der Überfahrt nach Amerika und bei einem Zusammenstoß von zwei Eisenbahnzügen – die Passagiere waren schreiend durcheinandergerannt, die Verwundeten hatten gewinselt und gestöhnt, er war ruhig geblieben. Hier wurde es ihm schwer, die Fassung zu bewahren. So allein, so mutterseelenallein. Und so gar nichts sehen können, keine zehn Schritt vor sich! Das war entsetzlich.

Er stieß einen furchtbaren Schrei aus – er war gegen etwas gerannt, sein Fuß strauchelte – er packte zu: es war sein Stock! Sein Stock, den er hier in den Schnee gerammt hatte. Bei ihm war er nun wieder angelangt. Also abermals in die Runde gelaufen?!

Er schlug sich vor die Stirn: warum tat er das, warum ging er denn nicht nach rechts oder links? Er riß den tief eingebohrten Stock aus dem Schnee heraus und stapfte nach [S. 360] links. Aber dann hielt er auf einmal an: was nützte es, er kam ja doch nie, nie wieder hier heraus! Warum noch die letzte Kraft erschöpfen? Besser stehen bleiben und warten, bis der Nebel sich gelichtet hatte; der mußte sich wenigstens doch etwas heben. Regungslos stand er, auf den Stock gestützt; ohne ihn wäre er umgesunken. Die Überanstrengung verursachte ihm Schwindel; im grauen Nebel tanzten rote Punkte, sie wurden größer und größer, wurden zu rasch sich drehenden Kreisen. In seinen Schläfen stach es, der Boden, auf dem er stand, schwankte wie ein Schiff; ächzend schloß er die Augen. O, wie würde sie jammern, wenn er nicht wiederkam! Ob sie nicht hinauslief, um ihn zu suchen?!

»Bäreb, Bäreb!«

Gellend war der Ruf der Brust entwichen. Er schrie den Namen des Mädchens mit aller Anstrengung von Hals und Lunge. Aber nichts war in diesem Ruf zu hören von der Angst, von der Verzweiflung, von der Sehnsucht, die ihn herausgepreßt hatte; er klang matt und zahm. Die Stille war zu groß. Sie hatte, ohne den Mund aufzutun, eine viel gewaltigere Stimme, und die gebot: ›Schweig!‹ Der Mensch verstummte.

Josef riß die Uhr aus der Tasche. Vier Uhr! Wieder eine Stunde vorbei. Nun war er sieben Stunden von Hause fort. Bald kam die Nacht. Er stand und zitterte und rührte sich nicht mehr vom Platz, nur daß er zuweilen die Füße aufstampfte und die Arme umeinanderschlug, um nicht ganz zu verklammen. Durch seinen Kopf rasten die Gedanken; er wußte selbst nicht, was er eigentlich dachte, ihm war dumpf und wirr im Gehirn. Die Hoffnung, einem Grenzjäger zu begegnen, hatte er längst aufgegeben; die saßen bei dem Nebel auch in einem Unterschlupf. Niemand war im Venn, als er und die Kreuze der Toten.

[S. 361] Er sah wieder nach der Uhr. Er mußte sie sich dicht vor die Augen halten, selbst so war’s kaum möglich mehr, sie zu erkennen. Halb fünf! Die Kniee drohten unter ihm einzubrechen. Wenn jetzt nicht ein Wunder geschah, dann – –

Horch, war das nicht ein Glöckchen?! Es klang so.

Klingelingeling!

Ein blechernes Anschlagen wie von den Schellchen, die die Pferde vorm Schlitten tragen.

Er schrie nicht, er rief nicht Hilfe, der Mund war ihm wie zugehalten; aber er wandte sich jetzt nach der Richtung des Klingelns. Er rannte, er stürzte, er sank tief ein in den Schnee, er raffte sich wieder auf, rannte wieder aufs neue – immer das leise Klingelingeling – jetzt ward es schon stärker – jetzt noch stärker – jetzt ganz deutlich: Klingelingeling!

»Halt!« Mit einem Schrei stürzte der Verirrte vorwärts und fiel der Länge lang dem Karrengaul vor die Füße. Der blieb stehen.

Der Mann, der heute vormittag endlich den ersehnten Proviant nach der Fangeuse heraufgeschafft hatte und jetzt auf der Rückfahrt begriffen war, sich ganz auf den Instinkt seines Pferdes verlassend, lud den Herrn auf seinen Schlitten und wendete noch einmal um.


XV

Über die sturmgepeitschte Fläche rannte das Mädchen. Der Schnee war nicht mehr körnig wie eisiger Sand, er war weich geworden und ließ sich zusammentreten; aber schwer war trotzdem das Weiterkommen. Erst recht schwer. Bärebs Brust keuchte, sie mußte sich stemmen gegen den starken Wind, der sie umwerfen wollte, und wütend, daß ihm das nicht gelang, an ihren Röcken zerrte, um sie in Fetzen zu zerstückeln. Das Kopftuch riß er ihr herunter, fast schmerzhaft peitschte es ihr den Nacken; die Haarsträhnen schlugen [S. 362] ihr ums Gesicht. Weit war es, sehr weit bis Heckenbroich, aber sie mußte hin. Der Tünnes würde dann schon rasch hinunterlaufen zur Stadt, zum Doktor, zum Apotheker – ihr Herr war krank, Jesus Maria!

Aus tränengefüllten Augen schickte Bäreb einen flehenden Blick gen Himmel. Die ganze Nacht, nachdem er heimgekehrt war, hatte der Herr im Fieber gelegen, er sprach irre, er erkannte sie nicht. Und heute Nacht war ihm wieder so heiß gewesen, daß sie ihm alle Augenblicke zu trinken geben mußte. Eiskaltes Wasser war noch nicht eiskalt genug. Und er füllte sich so schwach, so krank, daß er nicht aufstehen konnte.

Jetzt schlief er. Jetzt konnte sie die Zeit benutzen: der Doktor mußte zu ihm kommen. Der Tee, den sie zu kochen verstand, der nutzte dem Herren nichts. Ob es schlimm mit ihm war? Er hatte sich das Blut verkühlt, das war sicher; ganz matt hatte ihn ja der Knecht zur Fangeuse gebracht, wie ein Toter lag er auf dem Wagen, kaum, daß er hatte sagen können: ›Bäreb, da bin ich noch einmal wieder!‹ Gelächelt hatte er freilich dazu; aber sie mußte weinen, wenn sie an dies Lächeln dachte. Alles hatte sie getan, was sie tun konnte, um ihn zu erwärmen; hatte seine Füße gerieben, ihren warmen Atem in seine Hände gepustet – es hatte alles nichts genutzt. Noch im Bett hatte er mit den Zähnen geklappert, so lange, bis die flammende Hitze kam. Ach, daß sie dem Mann doch Auftrag gegeben hätte, den Doktor heraufzuschicken – aber wer konnte gleich ahnen, daß es so schlimm werden würde mit ihm! Ihr Herr, ihr lieber, guter Herr.

Es war Bäreb einen Augenblick, als hätte sie noch nie jemanden so lieb gehabt, nicht einmal Vater und Mutter. Mit Ungestüm warf sie sich dem Wind entgegen. Nein, sie kehrte nicht um, sie mußte durch! Eine Schneegrube kam ihr [S. 363] in die Quere, dort ein aufgewehter Wall, sie übersprang beides.

Es war ein harter Weg, eine mächtige Anstrengung. Der Schweiß troff ihr vom Leibe, laut keuchend hob und senkte sich ihre Brust, ihre Pulse klopften; es war ihr, als könne sie die Füße nicht mehr heben. Aber sie mußte, sie wollte voran. So war es ihr gewesen, damals – ach, damals zu Echternach! Aber jetzt war keine Musik dabei, keine anfeuernde, lockende, beschwörende Melodie.

Warum ihr nur heute auf diesem Wege Echternach einfiel? Es war doch gar keine Ähnlichkeit zwischen hier und dort!

Eine glühende Röte wie eine Flamme schoß ihr plötzlich übers ganze Gesicht; ihr Blick wurde unsicher, sie senkte den Kopf gleich einer Schuldbewußten und blieb zögernd stehen. Aber nur einen Augenblick, dann bewegten ihre Lippen sich murmelnd, sie bekreuzte sich andächtig: der heilige Willibrord war trotzdem ein mächtiger Fürsprecher für sie im Himmel gewesen. »Heiliger Willibrord, bitt für uns, wir bitten dich, heiliger Willibrord, erhöre uns!« Sie fing laut an zu beten.


Viele Tage hatte Josef im Fieber gelegen; es war eine böse Erkältung. ›Knapp an einer Lungenentzündung vorbei,‹ sagte der Doktor. Auch den Kreisphysikus schickte Heinrich noch herauf, es sollte dem Vetter nicht an ärztlicher Behandlung fehlen. Er war sehr besorgt, wenn er auch am Krankenbett polterte und wetterte: das kam von solch verrückten Ideen! Er fühlte sich selber auch schuldig dabei: wie hatte er nur zugeben können, daß der Josef mit seiner schwachen Konstitution einen Winter auf der Fangeuse zubrachte?! Am liebsten hätte er den Kranken in Decken gepackt und sofort herunter geschafft. Aber das ging nicht an. [S. 364] Bis zur Fangeuse konnte man nicht mit dem Federwagen fahren, und den Patienten per Karren herunter zu befördern, dem widersetzte sich der Arzt.

Auch Josef widersetzte sich. Nach Fieberwochen und hochgradiger Erregung war eine sanfte Ruhe über ihn gekommen. Er glaubte sich nie mehr einer Aufwallung fähig. Er fühlte sich jetzt wohl hier, so wohl unter diesen braunen Arbeitshänden, die feiner geworden waren in der Winterrast und weicher in seiner Pflege.

Sie war den ganzen Tag um ihn. Draußen gab es so gut wie nichts zu tun, und es kam viel öfter ein Bote herauf, der ihnen alles brachte, was sie bedurften; dafür sorgte schon Heinrich Schmölder, daß sein Vetter nicht Mangel an irgend etwas hatte.

Der Arzt hatte vorläufig seine Besuche eingestellt. Man würde ja sehen, was mit der Zeit nötig tat, vor der Hand nur nicht aus der Stube heraus, und Ruhe, geistige und körperliche Ruhe!

Die hatte er. Um sie schwamm das Venn. Sie saßen wie auf einer Insel. Alles das, was vordem gefroren gewesen, war jetzt aufgetaut; all die Moorlöcher und Torfgruben hatten ihr Maul aufgetan und zeigten zwischen schmutzigen Schneerändern ihren schwarzen Schlund. Jetzt war es am unsichersten im Venn, jetzt am allerschlechtesten zu gehen; man wußte nie, ob unterm nachgebenden Schnee nicht ein Sumpfloch lauerte.

Scharfe Februarsonne hatte um die Mittagsstunde mit spitzer Zunge gestochen und gestöbert; der Schnee war noch nicht ganz fort – die Lasten waren zu groß gewesen – aber schon zeigte sich unterm Scharren des Wildes moosiges Grün. Die Tage waren länger. Mit mißtönendem Schrei segelten Wildvögel über die Fangeuse. Josef hörte sie und [S. 365] rückte sich bequemer in seinem Sessel. Was kümmerte es ihn, was draußen war? Ob Grau und Grausen, um ihn war Friede und auch Friede in ihm.

In der wohligen Ermattung des Genesenden betrachtete er Bäreb: ein liebes Mädchen, ein treues Geschöpf! Aber kein Wunsch war in ihm. Wer dem Tod so nahe ins Auge geschaut hatte wie er, dem blieben solche Wünsche für alle Mal fern. Oft nahm er ihre Hand, wenn sie ihm etwas reichte, in die seine, ohne daß sein Puls darum rascher klopfte; oft ruhte ihr Kopf fast auf seinem Schoß, wenn sie sich tief vor ihm niederbückte, um ihm die Decke an den Füßen einzustopfen. Er fühlte es dann mit Genugtuung: er spürte kein Verlangen mehr. Träumerisch lächelte er wie bei etwas längst Überwundenem.

Nur als Bäreb am Sonntag herunterpatschte zur Messe – sie hatte fast mehr Verlangen nach der Kirche als nach den Ihren – fühlte er etwas wie einen eifersüchtigen Stich. Und die Zeit wurde ihm lang, bis sie wiederkehrte. Sehr lang.

Dafür wußte sie dann aber auch viel zu erzählen. O, unten begann schon der März sich zu rühren, die Hecken zeigten, daß Leben in ihnen war! Die Hühner fingen an zu legen, und von der Maiblum hofften sie, daß sie wieder kalben würde in diesem Jahre. Die Mutter war gesund, die Geschwister waren sehr gewachsen, das Kathrinchen hatte ein Kleid gekriegt von der Frau Bürgermeister, darin sah sie aus – o, so fein! Der Rock war schon lang, es war darin bald wie ein erwachsen Mädchen. Und Bauer Adams hatte sie schon im voraus gedungen; sie würde wieder hüten gehen für ihn, wenn es an der Zeit war. Jetzt ging sie freilich nur aufs Venn, um an den sonnigsten Stellen, bei der Marienley, nach den gelben Blumen zu suchen, die bereits aus dem getauten Schnee zu sprossen anfingen. Die ging sie dann verkaufen herunter [S. 366] nach der Stadt. O ja, das Kathrinchen war fleißig! Die ältere Schwester war ordentlich stolz auf die Kleine. Wenn die erst in die Fabrik ging und in Akkord arbeitete, die verdiente tüchtig was!

Es durchzuckte Josef. Die Augen schließend, winkte er abwehrend mit der Hand: er mochte nicht von der Fabrik hören. Wie sollte das werden, wenn er nicht mehr hier oben war?! Würde Bäreb dann auch wieder in die Fabrik gehen müssen?

Sie plauderte, sein verfinstertes Gesicht nicht beachtend, eifrig fort. Auf dem Platz waren auch schon wieder Soldaten eingerückt. Und an der Strafkolonie waren sie auch wieder am Bauen, das Dach war aufgeflogen, sie deckten es neu. Viele waren draußen mit Karren und Schaufeln und Pflug und Egge. Lustig hatte es ausgesehen, als ihrer zwei sich vorgespannt hatten vor den Pflug, und die anderen sie angetrieben hatten mit Hott und Hüh.

Also wieder das alte Lied?! Josefs Stirn verfinsterte sich immer mehr. Ein rundes Jahr war herum, ein ganzes volles Jahr – schon wollten die gelben Narzissen, die Märzbecher im Venn, wieder anfangen zu blühen – und war man weiter gekommen in all dieser Zeit? Es war alles noch beim alten, beim gleichen – Fabrik, Strafkolonie, Truppenübungsplatz – und es würde auch lange noch so bleiben! Er stieß einen Seufzer aus. Und hatte er denn etwas vor sich gebracht? Nichts, gar nichts; nur vage Wünsche, Hoffnungen, Verbesserungen ins Blaue hinein!

Er fragte nach Leykuhlen. Was machte der Bürgermeister, warum war er während seiner Krankheit denn gar nicht einmal zu ihm heraufgekommen?

»O, oß Burjermeester läßt Uech villmals jrüße,« sagte Bäreb rasch, rot werdend ob ihrer Vergeßlichkeit. »He wor [S. 367] in der Kerch. De Leut saone, de könt nu no Berlin, de wird siehr jruß on hat vill zu saone!«

So, – sehr groß – viel zu sagen! Josef lächelte in sich hinein, die Bäreb war gar so wichtig. Und dann wurde sein Gesicht wieder ernst: wäre es denn gut, wenn der so viel zu sagen hätte, wie die Leute meinten? Wer weiß! Josef zuckte die Achseln. Er ärgerte sich über sich selber. War er denn so nüchtern geworden, daß er nichts mehr von dem Begeisterungsrausch wiederfinden konnte, der ihm vormals Kopf und Herz warm gemacht hatte? ›Verbohrt‹, ›zu bigott‹ – so sagte der Landrat. War denn Leykuhlen wirklich so bigott?!

Er hatte früher nie darüber nachgedacht. –


Das Hindämmern hatte aufgehört, von Tag zu Tag hoben sich des Genesenden Kräfte. Und jetzt kamen auch die Langeweile und die Ungeduld. Nicht heraus zu können, wenn zu Stunden scheue Sonnenstrahlen auf den Wiesenplan fielen, nicht wandern zu können, wenigstens bis unter die Tannen! Aber bei jedem Tritt vors Haus sank man ein bis an die Knöchel, der Boden war wie ein vollgesogener Schwamm.

Josef suchte sich durch Lesen die Zeit zu vertreiben. Die gute Sophie schickte die Zeitungen treulich herauf, obgleich sie jetzt gerade so vieles zu bedenken hatte; die Hochzeit kam immer näher. Sie sollte nun doch schon am ersten Mai sein. Je weiter die Jahreszeit vorrückte, desto mehr Militär kam herauf, und desto weniger Zeit blieb dem Bräutigam für die Hochzeitsreise. Und die wollte das junge Paar doch recht schön und weit machen; am liebsten im Automobil. Aber Heinrich blieb fest: das auch noch? Nein, das gab’s nicht. Sie hatten Wagen und Pferde, das war wahrhaftig genug!

Der Fabrikant sah griesgrämig aus; selbst bei Lenchen heiterte sich sein Gesicht nicht so auf wie früher. Sie gab sich [S. 368] auch nicht mehr viel Mühe mit ihm; spitzbübisch lachte sie hinter ihm drein. Und dann ließ sie ihre Augen umherschweifen. Je völliger sie wurde, und je weiter sie von den Zwanzigen abkam, desto mehr bevorzugte sie die ganz Jungen.

Ob Josef die Hochzeit mitmachen würde? Frau Sophie zählte bestimmt darauf, und auch, daß er ihr mit seinem feinen Geschmack bei den Arrangements helfen würde. Er würde sicher auch einen reizenden Toast ausbringen, er verstand ja so schön zu sprechen. Aber Heinrich rechnete nicht darauf. Selbstverständlich war der Josef dann von der Fangeuse herunter – so wie es ohne Schaden für ihn anging, mußte er da fort – aber der Arzt hatte ihm im Vertrauen gesagt, daß gerade in der Übergangszeit ein südlicheres Klima für den Patienten anzuraten sei. Sollte der Junge haben, sollte er selbstverständlich haben! Donnerwetter, daß der sich da oben auch so einen Knacks holen mußte! Wiesbaden, Montreux, Riviera – was der Doktor für das Beste hielt!

Der Arzt brachte die Riviera in Vorschlag.

Aber als Heinrich Josef von den Reiseplänen sprach, lachte ihm dieser ins Gesicht: »Nein, ich bleibe hier. Ich denke gar nicht daran, fortzugehen. Kann sein, daß ich mal ein bißchen zu Euch herunterkomme, wenn Hedde erst weg ist und Ihr allein seid. Aber nein, vor der Hand mache ich keine Pläne, will ich keine Pläne machen!«

Josef wollte keine Pläne machen. Er wollte nicht denken, wie es weiter werden sollte, es gar nicht wissen; und doch besaß er nicht die Macht, Gedanken ganz abzuweisen, die ihm jetzt häufiger kamen. Der Sommer würde ja vielleicht wieder leidlich angenehm sein – aber noch so ein Winter hier oben? Huh, nein! Ein Frösteln überlief den Rekonvaleszenten, der noch schwach in seinem Stuhle saß, das blasse Gesicht sehnsüchtig nach dem Fenster gewendet, das man noch nicht [S. 369] öffnen durfte, um Licht und Luft hereinzulassen. Es war noch zu rauh. An der Hecke zeigte sich noch keine schwellende Knospe, noch kein Trieb. Oh, es war zum Verzweifeln, wie lange der Frühling hier ausstand!

Unwillkürlich irrten Josefs Gedanken umher, bis sie Sonne und Wärme fanden. An der Riviera mußte es jetzt herrlich sein, gerade die rechte Zeit, der ganze südliche Frühling war da mit seiner üppigen Fülle.

Josefs lebhafte Phantasie rief den blauen Himmel herbei, das blaue Meer, die im Sonnenlicht glänzenden Häuser, die Gärten mit ihren Blüten, den ganzen Wohlgeruch der Orangenhaine – wie schön, wie schön! Er schrak zusammen, als Bäreb eintrat. Was wollte sie?

Verwundert sah sie ihn an: nun, bei ihm bleiben, wie immer da auf der Bank unterm Fenster sitzen und stricken. Oder sollte sie lieber wieder gehen?

»Setz dich schon,« sagte er unwirsch. Aber gleich darauf fand er sich unfreundlich und undankbar. Ob sie’s wohl empfand, daß er nicht mehr so zu ihr war wie früher?!

Sie saß und strickte, ohne eine Miene zu verziehen. Aber er sah einen Seufzer, der ihre Brust hob. Warum seufzte sie unhörbar leise? Ihr ruhiges Gesicht reizte ihn. Das war nicht Ruhe, das war Verschlossenheit.

Was sich wohl hinter dieser Mädchenstirn schon alles abgespielt haben mochte – hatte sich überhaupt etwas abgespielt?! Er fing an, sie zu beobachten. Und plötzlich fiel ihm Echternach ein. Warum, hätte er nicht sagen können; er folgte einer jähren Eingebung. Sie war damals, ganz gegen ihre Art, so aufgeregt, als von Echternach die Rede gewesen war! Was hatte Leykuhlen doch gesagt? Josef konnte sich der Szene nicht mehr genau erinnern. Und warum hatte sie so heftig geweint damals im dunklen Flur? Hatten Erinnerungen [S. 370] sie überkommen? Jedenfalls, dieses Echternach – es mußte ein großer Tag in ihrem Leben gewesen sein!

Er langweilte sich und wollte unterhalten sein. Ganz unvermittelt fragte er: »Wie war das eigentlich in Echternach? Erzähle! Ich weiß wohl, du hast gesprungen, aber du hast doch auch noch –«

»Ich –?« Sie unterbrach ihn mit einem hastigen Auffahren. Sie war blutrot geworden.

Was hatte sie denn, warum erschrak sie so? Er sah sie an mit verwunderten Augen.

Und sie starrte ihn wiederum an mit erschrockenen Augen. Eine ängstliche Verwunderung war in ihnen, fast ein Entsetzen.

Nun erschrak auch er. Sein Herz fing auf einmal an heftig zu klopfen. Ihr Erschrecken machte ihn argwöhnisch.

Er faßte sie scharf ins Auge: da war etwas nicht richtig! Das wurde ihm auf einmal klar. Und plötzlich stand das lebhaft vor ihm, was er so oft hatte erzählen hören von allerlei Unfug, von Schlimmerem noch, von all dem, was sich so ereignete im Lauf einer Wallfahrt. Er hatte nie daran geglaubt, und nun wollte es ihm auf einmal doch glaublich dünken – wohl möglich. Wo so viele zusammenlaufen, wo so viele junge Leute zusammen sind, Bursche und Mädchen – ledig, ohne Aufsicht, weit von Hause, ihrem Alltagsleben entrückt, vom Beten exaltiert, vom Springen erhitzt, vom hastigen Trunk berauscht, berauscht von dem Glauben an Wunder und von dem Gefühl, gesegnet zu sein, berauscht von der Jugendkraft, die den heilbringenden Sprung beendet hat – was konnte da nicht alles geschehen?! Wieder sah er Bäreb an.

Sie stand am Tisch wie eine arme Sünderin, den Kopf gesenkt; jetzt blaß, dann wieder glühend rot. Das Strickzeug [S. 371] lag am Boden, sie wagte nicht, es aufzuraffen; schlaff ließ sie die Arme herunterhängen.

Da sagte er nicht mehr: erzähle! Er wollte gar nichts hören, nein, gar nichts wissen. Was ging es ihn an, was sie da etwa getrieben hatte?! Aber als sie hinausgegangen war, hinausgeschlichen, ohne daran zu denken, daß ihr Strickzeug mit verwirrtem Faden am Boden liegen geblieben war, da rannte seine Neugier hinter ihr her. Die plagte ihn förmlich den ganzen Tag.

In der Nacht konnte er nicht schlafen. Was war er doch für ein dummer Kerl, ein Esel, daß er mit ihr umgegangen war so schonend, so rücksichtsvoll, so behütend – wie ein Vater! Er lachte sich selber nun aus. Sie würde auch nicht anders als andere sein. Sie erschien nur äußerlich so unberührt, so jungfräulich rein!

Er war ihr nicht böse – wie konnte man ihr darum wohl böse sein?

Seine Phantasie malte sich rege alle möglichen Situationen aus. Nun glaubte er auf einmal zu wissen, was in dem tiefen Dunkel ihrer Augen lauerte. Es überkam ihn ein Mitleid mit ihr und zugleich ein heftiges Verlangen; sie erschien ihm wieder reizvoll, so reizvoll wie früher, vielleicht reizvoller noch. Aber jetzt wehrte er sich kaum mehr gegen diesen Reiz. – –

Es regnete den ganzen Tag in nicht endenwollenden dichten Strömen. Es war, als käme eine Sündflut. Schwarz hingen die Wolken über der Fangeuse, das Dach fast erdrückend mit ihrer Schwere.

Er saß einsam. Es wollte ihn bedünken, als traue sich Bäreb nicht herein zu ihm. Da rief er sie. Und sie kam, wie immer, gehorsam, mit dem alten freundlichen Gesicht; und doch glaubte er zu bemerken, daß sie seinen Blick mied, daß [S. 372] sie in einer gewissen Scheu auf ihrem Platz saß. Es war ihr alter Sitz, dieselbe Bank, aber sie, die darauf saß, war nicht dieselbe mehr. Unruhig atmete sie, auf ihren Wangen kam und ging das Rot. Das Licht der Lampe fiel voll auf sie, er sah jeden Zug in ihrem Gesicht. Aus dem Halbdunkel der Ecke, den Kopf aufgestützt, belauerte er sie hinter der vorgehaltenen Hand.

Sie seufzte zitterig. Er seufzte auch. Keiner von ihnen sprach ein Wort.

Draußen goß der Regen, es tobte der Frühlingssturm und rüttelte am einsamen Haus trotz der Hecke. Das war ein Blasen des losgelassenen Westes über den Wiesenplan, ein Orgeln des Sturmes in den Tannen. Die gleiche Musik wie dazumal, als die Hirsche schrieen. Josef mußte daran zurückdenken. Und er verspürte auch die gleiche Unruhe wie dazumal, dasselbe Kreisen des Blutes, dasselbe Treiben – aber wozu sich jetzt noch wehren gegen den Trieb?! Wenn er jetzt die Arme ausbreitete, wenn er jetzt so auf sie zuginge?! Sie würde ihm nicht entweichen, er brauchte sie nur zu nehmen, sie würde – – –

Da – sie erschraken beide heftig. Josef setzte sich hastig nieder auf seinen Stuhl, von dem er sich schon halb erhoben hatte.

»Et klopft,« flüsterte die zitternde Bäreb.

Draußen am vorgelegten Laden tastete was. Jemand versuchte, ihn zu öffnen. Und dann tappten Schritte an der Wand entlang zur Haustür.

Nun hörte man wieder nichts, der Wind tat zu gewaltig; er heulte, als wollte er die ächzenden Tannen ausraufen und mit dem Haus zusammen auf einen Haufen schleudern.

Aber jetzt rüttelte es an der verschlossenen Tür, eine Stimme wurde hörbar, recht kläglich: »Macht mir doch auf! [S. 373] Jesus Maria Josef!« Es klang, als ob ein Hund winselte.

Josef war aufgesprungen, er ging zur Tür, aber Bäreb drängte sich an ihn: nein, allein ließ sie ihn nicht gehen, wer weiß, wer es war, der da Einlaß begehrte! Sie zitterte.

Er zitterte auch; aber nicht aus Furcht, er fühlte des Mädchens Körper an sich. Ohne zu fragen, wer Einlaß begehre, schloß er die Tür auf, und hätte sie doch gern gleich wieder geschlossen. Denn kaum öffnete sie sich spaltbreit, so drängte sich auch schon einer herein und schlug die Tür wieder zu, als seien Verfolger draußen, und warf wild-rollende Blicke um sich im nur spärlich-beleuchteten Flur.

Ein Strolch, ein Vagabund, eine scheußliche Fratze – der Rotkopf aus der Strafkolonie!

Sie erkannten sich beide. Unwillkürlich war Josef einen Schritt zurückgewichen: das war kein angenehmer Besuch.

Aber über des Blassen verelendetes Gesicht ging ein Grinsen. »Herr,« sagte er heiser – es sollte bittend klingen, aber es war zugleich etwas Drohendes darin – »Sie werden mich nit verraten. Ich – ich bin dervonjelaufen. Ich hab – ich wollt –«

Das Weitere verlor sich in einem von röchelndem Husten erstickten Gemurmel. Der Mensch ächzte; er schnappte nach Luft. »Ich bin so jerannt – en janze Nacht schon – den Tag hab ich in der Schonung jelegen – ich kann die Jrenz nit finden. Er is hinter mir. Aber nit wieder zurück – och, Herr, sein Se so jut, nit wieder zurück!« Von Schauern gerüttelt, sich windend wie in einem Krampf, packte er Josefs Rock.

»Kommen Sie doch herein,« sagte Josef und drängte die entsetzte Bäreb, die sich an ihn klammerte, von sich ab. »Geh in die Küche, mach Kaffee warm!« Und dann ließ er den zerlumpten Kerl vor sich her in die Stube treten.

[S. 374] Der zitternde Mensch sank auf die Bank hin, auf der vorher Bäreb gesessen hatte. Er war völlig erschöpft; er war kaum imstande, den Kaffee zu trinken, den Bäreb mit scheuen Blicken hereintrug. In kleinen Schlucken nur brachte er ihn herunter. Vierundzwanzig Stunden hatte er nichts genossen; es gab noch nichts, noch gar nichts im Venn, nicht Beeren, nicht Vogeleier. Und das schmutzige Wasser der Lachen war ihm wie Eis in den Magen geronnen, es hatte ihm Übelkeit und Leibschneiden gemacht.

»Warum sind Sie denn weggelaufen? Überhaupt jetzt?!«

Keine Antwort. Ein scheu-lauernder Blick nur streifte Josef bei dieser Frage.

»Sie schienen mir diesen Winter doch ganz zufrieden. Das sagte auch der Aufseher. Warum denn nun auf einmal nicht mehr?«

»Et wird Frühling,« stieß rauh der Sträfling hervor. Und dann hustete er, so entsetzlich, so erbärmlich, daß es den anderen durchschauerte, stützte beide Arme auf den Tisch, den Kopf zwischen die Hände und sagte kein Wort mehr.

Bäreb flüsterte hinter der Tür mit ihrem Herrn: ach nein, nein, den nicht hier behalten! Da wollte sie lieber jetzt bei Nacht ganz allein übers Venn bis hin zur Strafkolonie rennen und den Aufseher holen. Mochte der ihn in Ketten legen! Aber Josef sagte kurz: »Er bleibt hier, ich bin kein Verräter. Siehst du denn nicht, daß der arme Teufel dazu noch krank ist?«

Krank schien der Rotkopf in der Tat, wie Fieber glühte es ihm aus den Augen; dabei schüttelte ihn immerwährend der Frost, seine Borsten standen gesträubt.

Josef kannte das: ah, diese Frostschauer waren schrecklich, die man sich im Venn holte! Mit einer Geschäftigkeit, [S. 375] die er sich selber nicht zugetraut hätte, bereitete er dem Frierenden ein Lager in der Küche. Bäreb entschloß sich nun doch, eine Schütte Stroh aus dem Holzstall herbeizuschaffen, und eine überflüssige Decke fand sich auch noch. Ein paar Strümpfe und eine alte Hose gab Josef her; um den halbnackten Menschen schlotterten nur noch Fetzen, das dichte Gestrüpp der Schonung hatte ihm alles vom Leibe gerissen. Seine Holzschuhe hatte er gleich in der ersten halben Stunde verloren, er war in Strümpfen gelaufen durch den Morast. Eine triefende Spur bezeichnete seinen Tritt und Stand, es war von ihm abgeflossen wie ein schlammiger Bach.

Nein, diesen Hilfesuchenden konnte man nicht hinausstoßen. Der kam jetzt nicht mehr weit, nicht bis zum Grenzbach; schon an den Tannen sank der um! Josef glaubte nie etwas Jammervolleres gesehen zu haben.

Er empfand keine Furcht, als er die Küchentür hinter dem Sträfling geschlossen hatte und sich nun allein in der Stube befand. Bäreb hatte er sich hinlegen heißen, er hörte, wie sie ihre Kammertür verriegelte und verschloß – zum ersten Mal. Nun hätte das nicht mehr nötig getan! Bäreb konnte so ruhig schlafen wie unter ihres Vaters Dach. Der elende Mensch würde ihr nichts anhaben – und er?! Er hörte sie sich werfen und zitternd seufzen; sie fand keinen Schlaf. Aber das erregte ihn jetzt nicht mehr.

Er ging zu seinem Sessel und ließ sich da nieder. Das Feuer war im Verglimmen, schon wurde es kalt in der Stube; er warf neuen Torf auf und stocherte im Ofenloch, bis die Glut sich wieder entfachte. So würde er sitzen und wachen die ganze Nacht, dem Knacken und Knistern im Ofen lauschend, bis alles ausgebrannt war, tot und leer, bis im Morgengrauen der Sturm sich legte und es ruhig über den Tannen ward.

[S. 376] Josef stützte den Kopf, er war ihm schwer, und er fühlte ein Beben in den Knieen. Das war doch noch über seine Kraft gegangen. Aber er dachte jetzt nicht mehr wie so oft über sich nach, er dachte an den Elenden in der Küche. Was sollte er mit dem armen Kerl anfangen?!

Allerlei phantastische Pläne tauchten in Josef auf. Wenn er ihn morgen nun bis zur Grenze führte, ihm Geld gab, daß er sich drüben weiter forthelfen konnte? Ach, der war viel zu kaputt, der kam ja nicht weiter. Und er selber war auch noch nicht stark genug, sich durch die Wildnis des Grenztals durchzuarbeiten. Er kannte auch den Weg gar nicht. Es würde nur ein Irre-Laufen zu zweien sein. Bäreb würde sich schon eher zurechtfinden, sie hatte den Instinkt der Venn-Bewohner, aber konnte er sie allein mit dem Sträfling schicken? Der Kerl hatte ein Gebiß wie ein Wolf und grünliche unstete Raubtieraugen.

Josef lauschte nach der Küche hinüber; er ging noch einmal auf den Flur und legte sein Ohr an die Küchentür: drinnen alles still. Nein, jetzt ein Stöhnen, und dann ein Husten, so hohl und rauh, daß es dumpf zwischen den Wänden hallte.

Zwei-, dreimal noch in dieser Nacht lauschte Josef so an der Küchentür. Immer noch drinnen ein Stöhnen. Endlich ein Schnarchen, rasselnd und raspelnd wie eine Säge, die durch widerstrebendes Material sich schwer durcharbeitet. Aber der arme Kerl schlief doch wenigstens!

Mit einem Gefühl der Erleichterung taumelte Josef in die Stube zurück. Auch er war todmüde. Frostschauer rüttelten ihn beim erlöschenden Feuer, aber seine erregten Nerven ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.

Endlich mußte er doch eingeschlafen sein. Träumte er noch oder war er schon wach? Hörte er nicht Simon Bräuers Stimme?!

[S. 377] »Hela, holla, aufgemacht!« Mit kräftiger Faust wurde gegen die Tür gepocht. Das dröhnte durchs Haus wie ein Donnerschlag. Josef fuhr auf, so rasch es seine im Sitzen steif gewordenen Glieder zuließen. Das galt seinem Schützling!

Er stürzte auf den Flur – die Küchentür lag weit in den Angeln zurück, beim Herd die zerwühlte Strohschütte, die hastig abgeworfene Decke. Ein Zugwind fuhr wie ein Messer durchs offenstehende Küchenfensterchen, klappte mit der Tür und winselte im Raum. Die Küche war leer. Der Sträfling fort. Durchs Fensterchen, nach der Rückseite zu entwichen. Josef glaubte noch ein Rascheln im dürren Laub der Hecke zu hören und ein Brechen im Astwerk – oder tat das der Wind, der sich neu wieder aufmachte? –

Simon Bräuer suchte den ihm seit vorgestern Abend abhanden gekommenen Sträfling. Er fluchte. Da war es noch schönes Wetter gewesen, die Kerls hatten alle ruhig auf dem Venn gearbeitet, der vermaledeite Halunke auch; er war dessen so sicher gewesen, er hatte ihn ruhig sich entfernen lassen, ein wenig abseits gehen von den anderen.

»Ich denk, de muß mal austreten. Ich laß ihn. Ich seh ihn hinter den Busch jehen, den Schweinigel. Er kömmt lang nit wieder. Wo bleibt de? Ich ruf, ich schrei. Zum Donnerwetter noch mal, legt sich dat faule Luder hin und läßt sich die Sonn auf den Buckel scheinen! Et war Abendsonn, aber noch janz wärmlich. Ich steig hinter den Busch – kein Jacobs da. Zum Kuckuck – wo? Ich kuck mich rasch um. Da kommt die kleine Huesgen aus den Tannen hinter der Ley heraus, sie singt und sucht von den gelben Blumen. ›Haste ’ne Kerl jesehn?‹ Da nickte sie und winkt mit dem Kopf nach ’m offnen Venn. Und ich seh ihn noch laufen. Aber de war zu weit fort, eh ich schießen konnt. Und in der [S. 378] Nacht war nix mehr zu machen. Aber ich krieg ihn doch. Mir is et nit bang drum!« Simon Bräuer schickte noch einen greulichen Fluch nach.

»Seit jestern hab ich die Spur – in der Schonung hat der Lauskerl jelegen – über die Jrenz is er noch nit. Dem werden die Kaldaunen schon so zusammenjeschnurrt sein, dat de froh is, wieder unterzukriechen bei Wasser und Brot!«

So viele Worte hintereinander hatte Josef noch nie von dem Aufseher zu hören bekommen. Der Mann war erregt, man sah’s an seinen blitzartig umherfahrenden scharfen Blicken und an einem Zucken der Muskeln im sonst so eisernen Gesicht. Er schien ganz allein zu sein. Es wunderte Josef, keinen Gendarmen bei ihm zu sehen. »Sind Sie denn allein?« fragte er zögernd. Ah, vielleicht war es dann doch noch möglich, daß der arme Teufel entwischte!

»Janz allein!« Bräuer lachte auf. »Denken Sie vielleicht, ich bin bang? Wenn ihn einer kriegt, krieg ich ihn. Und ich werd mich doch nit so blamieren!«

Die Zähne zusammenbeißend, knurrte er böse. Und dann, die Blicke umherschießen lassend, schrie er plötzlich auf: »Wer hat denn hier genächtigt? Wat is dann dat?«

Vergebens hatte Josef versucht, ihm den Blick in die Küche zu versperren. Der viel größere Mann guckte ihm über die Schulter weg.

Mit mächtigem Satz war der Aufseher in der Küche, mit einem zweiten bei der Lagerstatt, mit einem dritten beim Fenster – ein Blick genügte ihm: da hing ja noch ein Fetzen, und das Gefüge der Hecke zeigte deutlich den Durchbruch! »So,« sagte er eiskalt und maß den Erschrockenen mit durchbohrendem Blick, »Sie haben ihm Unterschlupf jejeben, diese Nacht, Sie –«

[S. 379] Josef wollte ihn unterbrechen, etwas sagen von ›krank‹, von ›entsetzlichem Zustand, dem er sein Mitleid nicht habe versagen können‹, aber Bräuer schnitt ihm die Rede ab: »Ich versteh, versteh, Sie sind ’ne Mensch – aber ich bin ’ne Aufseher. Kommen Sie mal mit! Nach wozu is er dann?«

Er nötigte Josef vors Haus, ließ ihm kaum Zeit, sich Mantel und Kappe herzulangen. Sie standen draußen auf dem Wiesenplan, aber nach welcher Richtung der Flüchtling gelaufen war, davon hatte Josef keine Ahnung. Wahrscheinlich dem Grenzbach zu.

Der Aufseher lief wie ein flüchtiger Hirsch, er machte weite Sätze. Josef hatte ihm längst nicht mehr zu folgen vermocht, obgleich auch ihn die Aufregung vorwärts trieb und seine Kräfte verdoppelte.

Es war eine wilde Jagd über den Wiesenplan, zwischen den Tannen durch, durch Gestrüpp und Geröll, über gestürzte Baumstämme, durch vermoorte Wasserläufe, immer abwärts zum Grenzbach.

Da war ja Blut! Eine rote Lache auf schwarzem Grund! Josef stutzte plötzlich: war hier ein Wild getroffen worden?

Ein Grausen überkam ihn, er rief nach dem Aufseher; der war nicht mehr zu sehen. Keine Antwort wurde ihm. Er rannte wieder weiter und sah sich scheu dabei um: wo hetzte jetzt der Unglückliche hin, ohne Schuhe, nur in Strümpfen, und ohne Rock? Wo würde ihn der Aufseher fassen? Wenn er jetzt hier, bei ihm, durchs Gebüsch bräche, er würde ihn ruhig laufen lassen, ihn sicher nicht festhalten.

Josef wußte nicht, was er eigentlich wünschen sollte. Gewiß war der Rotkopf der beste Bruder nicht – eine Galgenphysiognomie – aber hatte er, Josef Schmölder, er denn das Recht, auf ihn herabzusehen? Der war ein Verbrecher, in der Tat, – weiß Gott, was der schon alles begangen hatte [S. 380] – aber er, Josef Schmölder, er hatte auch eine Schlechtigkeit begehen wollen. Wäre nicht der Flüchtling dazwischen gekommen – oh! Es war Josef, als sei er dem armen Kerl gewissermaßen Dank schuldig. Und doch, durfte man, als dem Gesetze untertan, einem entlaufenen Sträfling Vorschub leisten?!

Nach Atem ringend, stand Josef einen Augenblick unschlüssig. Da wurde ihm schon die Antwort auf sein grübelndes Fragen. Ein Schuß krachte plötzlich schreckhaft laut durch die Stille des Venns, lang-nachrollend in einem furchtbaren Echo.

»Bräuer!« Josef schrie auf. O, diese Menschenjagd! Hatte er ihn getroffen – erschossen?!

Gellend schrie Josef nach dem Aufseher. Er rannte umher, bald zur Rechten, bald zur Linken. Wo waren sie? Wo war der Verfolger, wo der Erschossene?!

»Holla!« Des Aufsehers starke Stimme wies ihn zurecht.

Da stand Bräuer unten im Grund, stark, aufrecht; um ihn vermodertes Holz, wildes Gestrüpp, Sumpf, Felsgeröll, Steine, vom schmelzenden Wildwasser rund gewaschen, und dazwischen noch übriggebliebener schmutziger Schnee.

Der Flüchtling lag am Boden.

»Bräuer, um Gottes willen, Bräuer!«

»Beruhigen Sie sich!« Der Aufseher zog die Mundwinkel herab in einem spöttisch-verächtlichen Lächeln. »Dat war nur ’ne Schreckschuß. Wo werd ich denn! Dem is nix jeschehn!« Er bückte den Kopf ein wenig zu dem am Boden Liegenden herunter und gab ihm einen Rippenstoß mit dem Fuß: »Steh auf, mein Sohn! So, du verfluchtes Aas, nu heißt et, wieder heimjehn. Haste dich drücken wollen? Wart du! Marsch!« Mit der verkehrten Hand wischte er sich die [S. 381] Tropfen von der Stirn. Das hatte doch Schweiß gekostet.

Aber der Sträfling stand nicht auf; er lag mit keuchender Brust platt auf dem Rücken, sein Mund war offen, blutiger Schaum kam ihm über die Lippen, mit einer seltsamen Glasigkeit stierten seine Augen zum Himmel.

»Willste wohl? Marsch, vorwärts, zu....rrück!« Der Aufseher riß ihn auf.

Aber kaum stand der schlotternde Mensch auf den Füßen, so fiel er auch schon wieder nieder und umklammerte des Aufsehers Knie. Er röchelte: »Barmherzigkeit, nit dahin – haben Se Barmherzigkeit, nur nit dahin!« Er streckte den zitternden Finger in der Richtung der Strafkolonie. »Nit zurück – überall hin – nur nit dahin!«

»Ja wohl, arbeiten möchste nit, da heißt et jearbeit. Faules Luder! Mach keine Fisematenten, du hast mich jenug vexiert. Voran!« Der starke Mann riß den Schwachen wieder auf und stieß ihn vor sich her.

Aber mit ungeahnter Kraft widersetzte sich der Rotkopf. Er warf sich wieder lang hin und schlug die Hände wie Krallen ins nasse Moor. »Ich will nit, ich will nit,« heulte er. Es klang wie das Brüllen eines Tieres. Und ins Brüllen hinein fielen menschliche Worte. »Ich drück ihr sonst doch noch den Hals zu – ich muß – kann nit anders – dat Mädche – Barmherzigkeit – ach, dat kleine Dingelche – se is schon wieder auf dem Venn – sucht Blumen – dann hütet se – Frühjahr, Sommer, – überall, überall – o, Herr Aufseher, überall is se – über – all – über – a – – –!«

Die Worte waren nicht mehr verständlich, sie gingen unter in Schluchzen und Ächzen und Husten und Heulen.

Die Stirn krausend stand der Aufseher. Er war blaß geworden.

[S. 382] »Was sagt er?« flüsterte Josef. »Ich sagte es Ihnen ja, er ist krank. Er spricht im Fieber!«

»De spricht nit im Fieber!« Finster starrte der Mann auf den anderen im Moose. Und dann schlug ihm eine jähe Röte ins Gesicht. Er nickte nachdenklich, schwer mit dem Kopf. »So is et,« sagte er langsam und wischte sich mit der Hand über die Stirn. Und dann beugte er sich tief zu dem am Boden Liegenden herunter und klopfte ihm mit der Hand auf den Rücken: »So, nu komm, Rotfuchs, du mußt jetzt aufstehn. Aber ich versprech dir, ich schick dich nach Aachen zurück; da siehste kein Fraumensch. Und so lang bis du wegkömmst, schließ ich dich in’t Kaschöttchen ein – da biste sicher!«

Da stand der Sträfling gehorsam auf. Sie nahmen ihn zwischen sich, aber sie mußten ihn führen. Er konnte nicht mehr allein gehen.


XVI

Langsam fuhr der Wagen von der Fangeuse fort nach der Chaussee zu; es spritzte der Morast um die Räder, es schwankte das hohe Gestell im schlammigen Moor. Aber man kam doch jetzt schon durch mit dem Jagdwagen. Und Josef war auch soweit, daß er, in Decken verpackt, darauf sitzen konnte.

Der Schluß des Märzes hatte ihm noch einen bösen Rückfall gebracht. Nun war der April da, ein lichter Himmel spannte sich übers Vennland. Aber wo anders würde der noch viel lichter sein! Josef sehnte sich, fortzukommen. An die Riviera.

»Dat is janz dat Rechte für dich. Immer Sonne, mehr Menschen, allerlei zu sehen, Musik, schöne Bilder, Jondelfahrten. [S. 383] Da kömmste auf andere Jedanken,« sagte Heinrich herzlich. Und Josef nickte dazu mit halb-wehmütigem, halb-hoffnungsfreudigem Lächeln: ja, da konnte Heinrich wohl recht haben.

Nur fort von der Fangeuse! Es litt ihn nicht mehr da, der Abschluß war zu schrecklich gewesen. Und ihm grauste auch, wenn er an die Tage der Schnee-Einsamkeit zurückdachte. Und doch wurde ihm das Scheiden schwer.

Bäreb stand Abschied nehmend am Wagen. Sie sollte erst noch im Haus aufräumen, alles zuschließen und verwahren. Dann ging auch sie hinunter nach Heckenbroich, und die Schlüssel schickte sie dann dem Herrn Schmölder.

Sie weinte; mit der Linken hielt sie sich die Schürze vors Gesicht; ihre Rechte hatte sie zum Wagen hinaufgereicht, sie ruhte in Josefs Hand.

Er drückte sie ihr krampfhaft: »Leb wohl, Bäreb!«

Sie schluchzte laut. Jesus Maria, ach, es wurde ihr doch so arg schwer, fortzugehen vom Herrn Josef! Von der Fangeuse, wo sie so gute, ach, so sehr gute Tage gehabt hatte! Die ganze Nacht schon hatte sie mit Weinen verbracht. Es hatte ihr immer noch wie ein Traum gedünkt, wie ein recht böser, daß sie nun weg sollte von hier; aber nun mußte sie es ja glauben, es war wirklich Ernst. Das Schluchzen sprengte ihr fast die Kehle, es erschütterte ihre ganze Gestalt.

In Josefs Gesicht zuckte es. »Bäreb, wein doch nicht so! Bäreb, sieh mich doch noch einmal an! Willst du mir denn nicht ordentlich Adieu sagen, Bäreb?«

»Adjüs,« sagte sie halb erstickt. Aber ihr Gesicht ließ sie nicht sehen, sie preßte nur noch fester die Schürze dagegen; die war schon ganz naßgeweint.

»No, no, Mädchen!« Heinrich Schmölder beugte sich über den Wagenrand und klopfte der Schluchzenden gutmütig [S. 384] den Rücken. So ein hübsches Mädchen, und so anhänglich! Er war ordentlich gerührt. »Still, bis still, Kind! Warste denn so arg jern hier oben?«

Sie nickte krampfhaft.

»No,« sagte der Fabrikant und schmunzelte; es war ihm plötzlich eine famose Idee gekommen, die er auch auszuführen gedachte. Wenn die so arg gerne hier oben war, dann konnte ihr ja geholfen werden – und zugleich ihm selber. Tüchtig war sie, und es würde nett sein, in den Jagdtagen ein so allerliebstes Gesicht um sich zu sehen. »Weißte wat, Bäreb,« sagte er vertraulich, »ich weiß ’ne jute Ausweg. Ich engagier ’ne junge Förster für hier. Ich hab ja nu doch noch die Jemeindejagd zujekriegt – äh, et jeht mir jetzt doch so viel Jeld drauf, da will ich wenigstens auch mein Pläsier haben. Und den jungen Förster, den heiratst du! Wat, Bäreb?!«

Nun ließ sie doch die Schürze vom Gesicht sinken. Ihre nassen, rotgeweinten Augen hoben sich fragend auf. »Is dat Uech Ernst, Hähr?«

»No, natürlich, mein Wort!«

Da lächelte sie ein bißchen. Ein Erröten huschte über ihre blassen Wangen, sie flüsterte verschämt: »Wenn Ihr esu jot sein wollt, Hähr Schmölder!« –

Die Pferde ruckten an, der Kutscher konnte sie nicht länger halten, sie wollten fort von der zugigen Höhe, heim in den warmen Stall.

Ein Zungenschlag, ein Peitschenknall – zurück blieb die Fangeuse.

Solange man sie noch sehen konnte, solange wandte sich auch Josef zurück. Da stand noch immer die Bäreb draußen vor der Hecke; versunken dahinter das Häuschen, und über allem ragend die Tannen.

[S. 385] Lebe wohl, Bäreb! Josef sah ihr Kleid noch flattern, sie schirmte die Augen mit der Hand gegen die Weite und sah ihm nach. Er winkte: »Adieu, adieu!«

»Adjüs!« Das war ein heller und kräftiger Ruf. Jetzt riß sie die Schürze ab und ließ sie wehen. Wie eine lustige Flagge wimpelte das gestreifte Weiß und Rot.

Und nun kam eine Biegung, ein Erdwall – nun war alles verschwunden, die ganze Idylle. Nichts da, als das große, öde, gewaltige Venn. Der flüchtige Sonnenblick war schon erloschen, es durchschauerte Josef auch heute am Frühlingstag.

»Frierst du?« fragte der Vetter besorgt.

Josef gab keine Antwort. Was sollte er sagen? Heinrich würde ihn ja doch nicht verstehen. Und er traute es sich auch gar nicht zu, sich klar genug auszudrücken. Es fror ihn ja nicht nur körperlich, es fror ihm die Seele.

Seine Blicke irrten umher: wieviel Schweiß, wieviel Lebenskraft verlangte dieser Boden! Und würde er denn überhaupt je von schwarzem Moorland sich wandeln zu hellerem Gefilde?! Die auf ihm arbeiteten, an ihm arbeiteten, waren ja Unfreie, Gebundene. Josefs Gedanken glitten schnell von den Häftlingen der Strafkolonie hin zu dem König von Heckenbroich: auch der war unfrei. Ein Befangener, ein Gebundener trotz allem und allem!

Da lag die Strafkolonie! Der Tag wurde grauer und grauer. Düsterer denn je dünkte Josef das einsame Haus, selbst das Rot des Daches schrie heute nicht hell und niemand war draußen zu erblicken. Josef seufzte. Aber dann war es wie ein Aufatmen: Gott sei Dank, so bald würde er das nicht wiedersehen!

Noch ragte das Kreuz der Marienley schwarz auf aus den schwarzen Tannen. Alles so düster, so schwer. Der [S. 386] Kutscher peitschte die Pferde. Rasch rollte der Wagen voran, und immer rascher hinab ins Tal.


Aus dem Haus der Strafkolonie kamen jetzt langsam Gestalten heraus. Sie standen draußen herum mit gesenkten Köpfen, die Mützen in den Händen.

Nun erschien Bräuer; ein zweiter Aufseher mit einer Flinte neben ihm. Sie schlossen den Stall auf, darin Holz und Torf aufbewahrt wurden – und heute noch etwas anderes.

»Voran,« sagte Bräuer. Er hatte eigentlich nicht mehr zu kommandieren, neben ihm war der Neue, der von morgen ab allein hier zu gebieten hatte. Aber alle sahen doch nur nach ihm.

Vier traten an; sie spuckten in die Hände, und dann hoben sie den Sarg, der auf ein paar zusammengebogenen Fichtenstämmchen im Stalle stand, heraus. Leise zählte einer: »Eins – zwei – drei, hebt – auf!« Schwer war die enge Tannenlade doch; wer hätte gedacht, daß der Jacobs noch so ein Gewicht haben könnte.

Mit zusammengebissenen Zähnen gingen die Träger, hinter ihnen zu zweien und zweien die übrige Schar. Sie alle folgten dem Sarg; zuletzt die beiden Aufseher.

Der Neue hätte den Gang gern benutzt, um sich noch über manches zu informieren, aber Bräuer blieb hartnäckig stumm. Er hielt die Hände vor sich gefaltet wie es die Sträflinge auch taten; manch einer von ihnen hatte einen Rosenkranz vorgesucht, nun rollten die Perlen.

Das Kreuz, das man sonst vor dem Sarge herträgt, hatten sie nicht. Aber der alte Schleichert hatte eines zurechtgeschnitten aus glatten Stöcken und zusammengebunden; nun ging er damit voran, ernsthaft und andächtig. Es war [S. 387] ihm arg: ohne Beichte und Absolution, ohne noch versehen worden zu sein, war der Junge gestorben! Sie hatten ihn gefunden im Schlafsaal, tot im Bett, als das Morgenrot sie aus festem Schlafe weckte. Sie hatten gar kein Röcheln gehört. Weiß und kalt lag der Rotfuchs schon; die Hände hielt er ins Stroh gekrampft, wie Borsten standen ihm die Haare, und die härene Decke war voll Blut gespieen. Einen Priester hatte man nicht mehr holen können.

Aber der Landstreicher hatte ihm wenigstens rasch noch die Hände ineinander gefaltet, ehe sie gänzlich erstarrten. Kruzifix und geweihte Kerze waren nicht zur Hand; er hatte nur das Kreuzeszeichen über ihm machen können. Dann war er an der Bettstatt niedergekniet und hatte laut zu beten angefangen, was ihm gerade einfiel; und wenn er nicht mehr weiter wußte, fing er wieder von vorne an.

Die anderen hatten lachen wollen über den alten Paternapgacker: was fiel dem denn ein, so zu paternollen?! Aber dann hatte es sie doch gepackt: der Tod war unter ihnen – wer weiß, an wen es nun kam?!


Sie beteten emsig. Hoch reckte der Alte das Kreuz, sein stoppliges Gesicht schielte nach oben. Er betete vor:

»Herr, erbarme dich unser,
Christus, erbarme dich unser!«

Als Echo wiederholte der Chor:

»»Herr, erbarme dich unser,
Christus, erbarme dich unser!««
»Gegrüßet seist du, Maria, Gebenedeite unter den Weibern!«
»»Heilige Maria, Mutter Gottes, bitt für uns, jetzt und in der Stunde unsres Todes!««
»Amen!«

[S. 388] »Amen!« murmelte auch Simon Bräuer. Er senkte den Blick: nun war es aus! Morgen um diese Zeit war er schon weit von hier. Bald bei dem Thereschen! Aber keine Freude kam darob in sein Herz. Tief hing er den Kopf – vor ihm trottete die Herde – er kam sich vor wie ein Fahnenflüchtiger. Und doch, er mußte gehen!

Einen raschen, scheuen Blick warf er nach dem Sarg, der vor ihnen allen herschwankte, und dann senkte er den Kopf noch tiefer: vielleicht daß er wiederkam, wenn sie mitging, wenn er ein Haus für sie gebaut kriegte, nicht allzu weit ab, und wenn es ihr gefiel – dann vielleicht! Aber nur dann!

Langsam rückte der Zug voran. Die Träger wechselten häufig; es war ein schweres Gehen mit der Last durchs struppige Vennkraut. Nur der Schleichert gab sein Kreuz nicht ab, er trug es mit Stolz und Hingebung. Bei jedem Windstoß, der über die Fläche fauchte, verstärkte er seinen betenden Ton:

»Rette, o Herr, seine Seele!«

Und die anderen verstärkten den ihren dann auch. Weithin streute der Wind das betende Murmeln:

»Laß ihn ruhen in Frieden!«

An der Grenze von Heckenbroich stand der Bürgermeister; er sah den Zug kommen und hörte das Beten. Er nahm den Hut ab, als sie vorüberzogen, Mann bei Mann, zu zweien und zweien, ein sich windender Wurm, der hinkroch durch den finsteren Tag nach dem Kirchhof von Heckenbroich.

»Herr, gib ihm die ewige Ruh!« betete der Alte.

Die anderen beteten nach: »Und das ewige Licht leuchte ihm!«

[S. 389] »Uns allen!« flüsterte Leykuhlen und bekreuzte sich. Er verneigte sich tief.

Jetzt waren sie vorüber. Aber hinter ihnen ragte das Kreuz der Ley, das einzig Ragende auf der weiten Fläche. Das alles Überragende – das Wahrzeichen im schwarzen Land.


Romane und Novellen von Clara Viebig


Ausgewählte Werke

Acht Bände

1. Das tägliche Brot / 2. Die vor den Toren / 3. Rheinlandstöchter / 4. Einer Mutter Sohn / 5. Das schlafende Heer / 6. Die Wacht am Rhein / 7. Eifelgeschichten / 8. Das Kreuz im Venn

Unter dem Freiheitsbaum

Roman. 384 Seiten. 15. Tausend

Das rote Meer

Roman. 292 Seiten. 18. Auflage

Töchter der Hekuba

Ein Roman aus unserer Zeit. 351 Seiten. 45. Auflage

Eine Handvoll Erde

Roman. 297 Seiten. 27. Auflage

Heimat

Novellen. 244 Seiten. 13. Auflage

Das Eisen im Feuer

Roman. 383 Seiten. 20. Auflage

Die vor den Toren

Roman. 438 Seiten. 30. Auflage

Das Kreuz im Venn

Roman. 389 Seiten. 37. Auflage

ABSOLVO TE

Roman. 392 Seiten. 26. Auflage

Einer Mutter Sohn

Roman. 341 Seiten. 40. Tausend

Naturgewalten

Neue Geschichten aus der Eifel. 276 Seiten. 18. Auflage

Das schlafende Heer

Roman. 450 Seiten. 42. Auflage

Eifelgeschichten

476 Seiten. 28. Auflage

Die Wacht am Rhein

Roman. 389 Seiten. 40. Tausend

Das tägliche Brot

Roman. 400 Seiten. 40. Tausend

Das Weiberdorf

Roman aus der Eifel. 289 Seiten. 44. Auflage

Rheinlandstöchter

Roman. 408 Seiten. 32. Auflage

Kinder der Eifel

Novellen. 313 Seiten. 25. Auflage

Jubiläumsausgabe: 303 Seiten 4 o auf Bütten mit Bildern von Professor Fritz von Wille


Deutsche Verlags-Anstalt in Stuttgart

Liste korrigierter Druckfehler

Seite 10 : »rauhharigen« durch »rauhhaarigen« (Mit rüstigem Schritt, den rauhhaarigen Zylinder in der Hand tragend, ...)

Seite 13 : Punkt am Satzende ergänzt (..., dat steht in Jottes Hand.)

Seite 22 : »Trünen« durch »Tränen« ersetzt, einleitendes einfaches durch doppeltes Anführungszeichen ersetzt (Das Mädchen brach in Tränen aus. »Wat soll ich dan maache?! ...«)

Seite 37 : »Aufsehen« durch »Aufseher« ersetzt (..., der seine zwölf Jahre in den Kasematten von Köln verbracht und dann noch ein paar dazu als Aufseher hinter den Mauern von Siegburg, ...)

Seite 40 : Komma am Satzende durch Punkt ersetzt (»Sie sind sehr streng,« sagte Leykuhlen vorwurfsvoll.)

Seite 44 : »im üppigstem« ersetzt durch »im üppigsten« (Das waren die gelben Narzissen, die blühten jetzt im üppigsten Flor.)

Seite 50 : »imer« durch »immer« ersetzt (Noch immer irrten die Schafe durchs Heidemeer, ...)

Seite 55 : Komma am Satzende durch Punkt ersetzt (... ein leicht schelmisches Lächeln erhellte ihr ernsthaftes Gesichtchen.)

Seite 60 : »hate« durch »hatte« ersetzt (... er hatte den Hut aufgesetzt ...)

Seite 63 : »Männergestelt« durch »Männergestalt« ersetzt (Fast wäre die verspätete Beterin in ihrer Eile gegen eine Männergestalt gerannt, ...)

Seite 64 : »Kahrintchens« durch »Kathrinchens« ersetzt (... nun wußte er auf einmal, an wen des Kathrinchens Augen ihn erinnert hatten.)

Seite 69 : »zusamen« durch »zusammen« ersetzt (... oh ja, es kam heute schon was zusammen mit der Rechnung ...)

Seite 69 : »entlegegen« durch »entlegenen« ersetzt (Nicht nur Manieren, auch Geld brachte man in diesen entlegenen Erdenwinkel.)

Seite 75 : »Schnurbärtchen« durch »Schnurrbärtchen« ersetzt (Nervös zwirbelte er an seinem schüchternen Schnurrbärtchen, ...)

Seite 76 : »unruhigen« durch »unruhige« ersetzt (... am hohen Giebel des Schwan, um den wie unruhige Gedanken im Zickzackflug fortwährend dunkle Fledermäuse flatterten, ...)

Seite 84 : »gekomen« durch »gekommen« ersetzt (Es war über ihn gekommen wie eine Erleichterung.)

Seite 88 : »stechen« durch »stecken« ersetzt (Ihr solltet lieber nit mit dem Landrat unter einer Deck stecken, Ihr solltet mieh mit oß haalde!)

Seite 116 : »Brunen« durch »Brunnen« ersetzt (Nun sollte sie ihren Brunnen ausschachten lassen und ummauern, sonst ...)

Seite 143 : »un« durch »und« ersetzt (... und sie antwortete blitzgeschwind, gar nicht um die Antwort verlegen:)

Seite 166 : »Ecko« durch »Ecke« ersetzt (Um die Ecke bog’s ihr entgegen ...)

Seite 179 : schließendes Anführungszeichen ergänzt (›... Sieben Söhn’ hatt’ Adam –‹)

Seite 179 : »zwölfhundertund fünfzig« durch »zwölfhundertundfünfzig« ersetzt (Ein Weg, zwölfhundertundfünfzig Meter lang, dreifach, nein, fünffach zu machen!)

Seite 182 : schließendes Anführungszeichen ergänzt (›Adam hatte sieben Söhn –‹)

Seite 190 : »hate« durch »hatte« ersetzt (O, und Verstand hatte sie auch!)

Seite 211 : Punkt am Satzende ergänzt (Man gab ein genaues Signalement.)

Seite 219 : »Immmer« durch »Immer« ersetzt (Immer steil abwärts ging es, ein böser Absturz.)

Seite 227 : »kühlendem« durch »kühlenden« ersetzt (..., die ohne Mütze, ohne Hut, ohne Tuch, die Stirnen dem kühlenden Atem der Nacht preisgaben.)

Seite 243 : »Vienen« durch »Bienen« ersetzt (Um ihn summte es – Bienen im Wind ...)

Seite 247 : »Muter« durch »Mutter« ersetzt (Unruhig ging die Mutter zur Tür hinaus und ...)

Seite 248 : »Muter« durch »Mutter« ersetzt (Die Mutter riß ihn in ihre Arme und ...)

Seite 275 : Komma ergänzt hinter »mehr« (... das waren keine Kinderstreiche mehr, keine Dummheiten, ...)

Seite 275 : »vier« durch »vierzig« ersetzt (Ihr ganzes Leben war im Dorf verflossen – vierzig Jahre sind lang – und nie ...)

Seite 277 : »Händen« durch »Hände« ersetzt (Er krampfte die Hände in einander, ...)

Seite 282 : »imerhin« durch »immerhin« ersetzt (..., daß der Dreiborn, der immerhin ein kluger Mann zu nennen war, ...)

Seite 283 : Punkt am Satzende ergänzt (Die Magd war dem erstickenden Qualm entwichen, die Frau war allein.)

Seite 283 : »Schriten« durch »Schritten« ersetzt (..., mit seinen alten, kräftigen Schritten.)

Seite 290 : Punkt am Satzende ergänzt (»No, und wat dann?« fragte der Vetter mit seinem breiten Lächeln.)

Seite 297 : einleitendes einfaches durch doppeltes Anführungszeichen ersetzt (»Wie’n Liwerlink,« sagte Heinrich mit Spott.)

Seite 299 : Punkt am Satzende ergänzt (Aber dann sagte er nichts mehr, er verstummte.)

Seite 302 : Punkt am Satzende ergänzt (Mit einem Ruck richtete sich der Aufseher aus seiner nachdenklichen Stellung auf.)

Seite 313 : »die« ergänzt (... eine weiße Katze, die sich halb verhungert im Holzstall vorgefunden hatte, ...)

Seite 317 : »kaum« durch »kam« ersetzt (Und es kam bald die Zeit, ...)

Seite 333 : »forgelassen« durch »fortgelassen« ersetzt (Wer weiß, die Ihren hatten sie nicht mehr fortgelassen, es ward ja schon dunkel!)

Seite 355 : »hate« durch »hatte« ersetzt (Wie eine Wand hatte es sich plötzlich zwischen ihn und die Strafkolonie geschoben.)

Seite 357 : »Verrückten« durch »Verrückter« ersetzt (... rannte er denn auf der eigenen Fährte herum wie ein Verrückter?!)

Seite 362 : schließendes doppeltes durch einfaches Anführungszeichen ersetzt (›Bäreb, da bin ich noch einmal wieder!‹)

Seite 387 : einleitendes doppeltes Anführungszeichen ergänzt (»Amen!«)