The Project Gutenberg eBook of Der Weg nach Heilisoe

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Title : Der Weg nach Heilisoe

Author : Paul Steinmüller

Release date : November 1, 2024 [eBook #74665]

Language : German

Original publication : Stuttgart: Verlagsanstalt Greiner & Pfeiffer

Credits : Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER WEG NACH HEILISOE ***

Anmerkungen zur Transkription

Das Original ist in Fraktur gesetzt; Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden.

Wörter in Antiquaschrift sind " kursiv " dargestellt.

cover

Der Weg nach Heilisoe


Roman


von


Paul Steinmüller


Vierte Auflage


deko

Verlagsanstalt Greiner & Pfeiffer

Stuttgart 1926


Druck von Greiner & Pfeiffer in Stuttgart


[S. 1]

deko

Das neue Geschlecht

Vom St.-Niklas-Turm fielen drei helle Glockenschläge. Gleich darauf antworteten aus der Ferne Maria zum Rosenhag und der Heilige Geist. Dann war es wieder still. Das Abendgeläut, das um diese Zeit über Märkte und krumme Gassen wogte, setzte nicht mehr ein. Der Lobgesang, in den St. Jakob, St. Jürgen am Strande, die Katharin und der Evangelist Johannes einzustimmen pflegten, schwieg, seit der Krieg den Türmen die erzenen Zungen ausgerissen hatte.

Jörg stieß den Fensterflügel weit auf und lehnte sich hinaus. Der Abendhimmel war von hellstem Grün und wie von Silber durchflossen; hinter den Giebeln im Osten stand wohl schon der wachsende Mond. Vom Meer herüber drang ein Geruch, wie er dem März eigentümlich ist, wenn das angeschwemmte Seegras zu sprießen beginnt. Der ganze Treßhof, den fast zu einem Viertel die alte Kastanie mit dunklem kahlem Geäst überbreitete, war von diesem herben Ruch erfüllt.

Der alte Treßhof! Ein zärtlicher Blick des jungen Mannes umfing dies alte backsteinerne Vätererbe. Von den abgewetzten Prellsteinen war die kleine Güldenfey in seine geöffneten Arme gesprungen. Rechts der Kellervorbau, der zu Mellins Wohnung führte und der einer kleinen Kapelle glich; links die überdachte Treppe. In der Tiefe aber, aus der er ausschaute, das alte Wohnhaus, das die stolze Inschrift trug: Treßhof. 1525. Balzer Treß hatte es zwar erst etwa hundert Jahre später gebaut, aber der [S. 2] Handelshof selbst war damals gegründet, als die Hanse schon von ihrem guten Ruf und nicht mehr von Taten zehrte. Was tat das! Er hatte vier Jahrhunderte und eine Wallensteinsche Belagerung überdauert und würde auch durch diese Elendszeit kommen.

Die Sperlinge lärmten noch in dem dürren Rankelgewächs, das bis in die vermoosten Dachpfannen hinaufwuchs. Aus dem verblassenden Grün der Himmelswiese wuchsen die ersten Sterne. Jörg schloß das Fenster.

Gleichzeitig wurde die Tür geöffnet, und die alte Schaffnerin trat mit Harro ein. Der Raum war plötzlich in grelles Licht getaucht, der lange Beratungtisch, die tiefen braunen Stühle an seinen Seiten, der Schreibtisch, auf dem seit des Vaters Tod nichts verändert war, alles schimmerte blank und gepflegt.

»Sieh, du bist hier, Jörg!« Und Harro begann in seiner etwas lauten Art sofort auf ihn einzureden. Ob Malte und Frauke noch nicht hier seien. Und Onkel Rolf. Es sei gleich sechs Uhr. Onkel Rolf lasse sich immer Zeit, wenn er gerade einen Klienten bei sich habe.

Man spürte ihm die Unruhe an. Warum nur? dachte Jörg. Eine Testamentsverlesung ist doch ein feierlicher Vorgang. Aber Harro redete immer, als ob er seine Mannschaft zum Sturmangriff riefe und das Knattern des Feuers überschreien müsse. Vielleicht war ihm dies in seiner Tätigkeit als Rufer im Parteienstreit von Nutzen.

Er wartete eine Antwort Jörgs nicht erst ab, sondern ließ sich gleich von etwas anderm fesseln. Die Alte war um den Tisch gegangen und hatte Papier und Bleifedern ausgelegt. Jetzt trat sie an die Fenster, um die Vorhänge zu schließen, und spähte eine Weile angestrengt hinaus.

»Was ist, Ose? Kommen sie?« fragte Harro.

Sie schüttelte den Kopf, schwieg und blickte wieder aus.

Da trat er neben sie. »Was geschieht denn dort?«

»Sie ist wieder da«, sagte sie und wies auf die Torfahrt, wo Harro am Prellstein etwas Schattenhaftes zu erkennen glaubte.

»Wen meinst du nur?«

»Nun, sie, die Frau! Sie ist wieder in der Stadt, Kind.«

[S. 3]

Harro starrte hinaus. »Wirklich, Ose? War sie schon hier? Wie denkst du ...?«

Aber Ose antwortete ihm nicht, legte den Finger an den Mund, trat zurück und griff die Schnur der Gardine.

Güldenfey kam die Treppe herab, die von den Wohnräumen in das untere Stockwerk führte. »Guten Abend, Jörg, guten Abend!« sagte ihre helle, klingende Stimme. Dann erblickte sie erst die andern. Sie blieb stehen und lehnte sich grüßend über die Brüstung. Das schwarze Kleid der Trauer hob ihre blonde überschlanke Schönheit, die strahlenden Blauaugen hatten durch die Tränen der letzten schmerzreichen Wochen nichts von ihrem Glanz verloren. Wie sie da stand auf der alten Wendelstiege aus nachgedunkeltem Holz, deren Wandung eine kunstfertige Schnitzerhand vor zweihundert Jahren mit Bildern aus Christi Leiden geziert, erschien sie Jörg wie das Licht jungen Tages, das spät in verschattete Gründe steigt.

Er sagte nichts, er hob nur die Hand und ging ihr einige Schritte entgegen. Sein linker Fuß schleifte nach. Er empfand die Behinderung, die ihm die Verwundung hinterlassen, jetzt angesichts des lieblichen Bildes als einen Mangel.

»Ach, Güldenfey,« sagte er, »ich wartete auf dich hier am Fenster. Es war so schön draußen, und ich mußte, als ich die Prellsteine sah, an unsre Jugend denken.«

Sie errötete wie eine Braut. »Du erwartetest mich? Doch das wußte ich nicht.« Sie legte ihre Hand in seine und sah ihn zaghaft an. Jörg war der Gespiele ihrer ersten Jahre, aber er war ihr soviel ferner gerückt als die andern Brüder. Sie sann nach, wie es doch kam, daß sie in diesen Tagen, da er zum Begräbnis des Vaters gekommen, immer etwas wie Scheu in seiner Nähe empfand. Er war ernster als selbst Malte und stiller als Harro. Hatte er viel erlebt, was er verborgen trug? Von der Schule auf die Universität und nach dem ersten Semester in den Krieg. Während der leidvollen Jahre war er selten daheim gewesen, und danach hatte er wieder sein Studium aufgenommen.

»Liebe Schwester, liebe Güldenfey!« sagte Jörg.

[S. 4]

Seine Zärtlichkeit verwirrte sie noch mehr, und sie blickte ihn befangen an.

»Wir werden uns schon verstehen, denn du und ich, wir gehören zusammen«, sagte er. »Hilf mir, wenn es not tut, Güldenfey.«

Sie wollte etwas entgegnen, um eine Erklärung bitten, aber da kamen die andern, und nun war es plötzlich ein andres Zimmer. Onkel Rolf trug unter dem Arm die schwere Aktentasche, ohne die man den Justizrat und Ratsherrn Glöden nie sah; sein Gesicht drückte den Kummer aus, unter dem er seit dem Kriegsausgang litt. Seine trübselige Stimmung umgab ihn wie ein Gewölk und verfinsterte jeden Raum, den er betrat.

Malte, vollendet gekleidet, schien ernst und bleich. Keine Linie seines Gesichts veränderte sich, als Harro ihn mit einem derben Wort begrüßte. Er wußte genau, was er dem Ernst der Stunde schuldig war. Und Frauke! Während sie ein paar Worte mit Güldenfey wechselte, musterten ihre Augen, die grau wie Seewasser im Wind waren und immer ein wenig spöttisch blickten, die andern. Nun, sie war eine Poppelmann, Tochter des Josias Poppelmann, der Aus- und Einfuhr des amerikanischen Warenverkehrs regelte. In Harvestehude war sie daheim und fühlte sich in dieser kleinen Stadt, die wie eine ärmliche Stiftsdame vom Glanz der Vergangenheit lebte, in der Fremde.

Gewiß, gewiß, die Treß waren ein ehrwürdiges Geschlecht, aber was bedeutete das für eine Zeit, die sausende Räder an den Schuhen trug. Das leise Rauschen ihrer seidenen Kleider, das feine Klirren der goldenen Ringe an ihrem Handgelenk war ihr wie eine ferne Musik aus dem verlassenen Königreich ihrer frühen Jugend.

Sie reihten sich um den langen Tisch, Onkel Rolf saß an der Stirnseite, ihm zur Rechten Malte. Sie hatten die Schriftstücke vor sich ausgebreitet. Auf was warten sie noch? dachte Jörg und blickte fragend auf Frauke. Aber die saß königlich in einem hochlehnigen Sessel, hatte den Kopf gegen die Hand gelehnt und sah abwartend vor sich hin.

Die Tür tat sich auf, und Ose trat mit zwei Mädchen ein, die auf silbernen Platten Weinflaschen und Gläser trugen und sie vor den [S. 5] Versammelten aufstellten. Malte erhob sich und füllte die Kelche mit dem alten duftenden Traubenblut. »Liebe Geschwister,« sagte er, »unser teurer seliger Vater hat mir aufgegeben, Sorge zu tragen, daß wir in dieser Stunde seiner freundlich und liebevoll bei den letzten Flaschen seines Hochzeitweins gedenken. Ich erfülle seinen Willen. Dem Gedächtnis unsers Vaters und unsrer lieben Mutter!«

Sie hoben die Kelche und tranken andächtig. In Güldenfeys Glas fiel eine Träne. O du Gute, Ungekannte, die sterben mußte, damit ich lebe! dachte sie. Das Heimwehgefühl überkam sie. Sie beschloß, mit Ose einmal wieder von der Seligen zu sprechen.

Sie hatte die Hände in ihrem Schoß gefaltet und bemühte sich, achtzugeben auf das, was Onkel Rolf vorlas. Ihres Vaters Stimme! Ja, war denn das seine freundliche, tiefe Stimme, die so zärtlich klang, wenn er ihr Gesicht zu sich niederbog: Liebe, kleine Güldenfey! Das waren trockene Formeln, Zahlen, die Onkel Rolf sehr ausdrucksvoll betonte, und wenn er etwas Besonderes hervorhob, strich er mit dem Zeigefinger über sein Kinn. Sie verlor, während sie auf die Wiederholung dieser Eigentümlichkeit wartete, den Faden. Ach, warum auf langweilige Dinge achten, die sie nichts angingen!

Harro gingen sie an und Malte, der jetzt an Vaters Stelle stand. Sie blickte auf ihn. Er saß kerzengerade da, mit festgeschlossenen Lippen und sehr bleich. Erregte ihn das Lesen dieses väterlichen Vermächtnisses? Zuweilen glitten seine Blicke zu Frauke, suchend, fragend. Aber die saß kühl und abgekehrt da, und in ihren Augen war das Lächeln, dies seltsame fremde Lächeln.

Es fiel Güldenfey auf, wie edel das strenge, marmorweiße Gesicht ihres ältesten Bruders war. Irgend etwas war in ihm, das sie früher und an anderm Ort gesehen. Wo nur und wann? Sie sann nach und fand es nicht.

Aber plötzlich blieben ihre Augen an dem Bilde haften, das gerade über Malte an der Wand hing, dem Bild des Ahnen, jenes rätselhaften Balzer Treß, durch den der Reichtum einmal in das Geschlecht gekommen war und der auf seltsame Weise verschollen sein sollte. Das Bild war sehr alt, aber jetzt im scharfen Licht der [S. 6] Deckenkrone deutete Güldenfey in ihm Zug um Zug aus. Sie verglich und wußte es plötzlich: in Malte war Balzer Treß wiedergebildet.

Sie seufzte auf, als die gleichförmige Rede Onkel Rolfs jäh abbrach. Also nun waren sie am Ende!

Maltes Hand griff hastig schlichtend in die Papiere. Er war erregt und bemüht, es zu verbergen. Er hob das Glas an die Lippe und setzte es, ohne daß er getrunken hatte, wieder nieder. Dann stand er auf.

»Wenn ich als Ältester zu dem Vermögensstand unsers Hauses, wie er eben dargelegt ist, mich äußere, so spreche ich kein Urteil über unsern Vater aus. Er trägt nicht Schuld, daß wir viel verloren. Mehr als vier Jahre Krieg! Schlimmeres wartet unser. Aber ich verspreche euch: ich werde unser Geschlecht wieder heben, daß es angesehen dastehen wird. Und mit ihm unser Vaterland. Deutschlands Throne sind leergefegt. Wer wird sie wieder besteigen?« Er machte eine Pause und hob die Hand: »Deutschlands, Europas, der Welt Herr wird das Geld sein!«

Er wurde durch ein Geräusch unterbrochen. Jörg hatte seinen Stuhl zurückgeschoben und bückte sich, als wolle er Herabgefallenes aufheben.

»Sagtest du etwas?« fragte Malte.

»Ich sagte nichts. Obgleich ... Aber, bitte, sprich nur weiter.«

Malte sah ihn erstaunt an, dann fuhr er fort. Die feierliche Stunde, die Erregung, das Bewußtsein, der verantwortliche Erste dieses Hauses zu sein, das alles ließ ihn große Worte finden.

Jörg zog ein Blatt Papier heran, nahm den Stift und begann zu zeichnen. Er zog einige Striche hinauf und hinab, dann gestaltete sich das Bild. In die Nacht wuchs ein schmaler Warenpalast, wie ihn die Neuzeit aus Stein, Stahl und Glas baute. Die Vorderseite bestand nur aus Fenstern. Rechts und links erhoben sich zwei gleich aussehende, aber höhere Häuser. Diese drei bildeten einen ungeheuren Thron, zu dem eine breite Treppe führte. Auf diesem Thron, der mit straffen Geldsäcken ausgepolstert war, saß breit und prahlend ein Mann mit feisten Gliedern. Seine Weste straffte sich [S. 7] um den gerundeten Leib. Er hatte die Augen wie ein Blinder geschlossen, aber von jedem seiner krallenartigen Finger liefen Fäden in das Dunkel. Vor der Treppe auf dem Pflaster lag die Menge. Der Stift zeichnete Könige, die sich bückten, Richter und Krieger, die sich neigten; Minister, Künstler und Bürger, die niederknieten; Frauen, die sich entblößten. Es war eine schamlose Anbetung des frech sich flegelnden Menschen auf dem Häuserthron, der die Huldigung annahm, ohne die Huldigenden zu beachten.

»Es ist aber nicht genug, daß eure Vermögensanteile in der Handlung mitarbeiten«, fuhr Malte fort. »Du, Harro, freilich stehst im Dienst einer Partei, deren Aufkommen die neue Blüte unsers Handels verbürgt. Doch wirst du darauf denken müssen, dich mit einer Erbin zu vermählen, damit unser Haus bald entlastet wird.«

Harro lächelte vielsagend und nickte.

»Du, Jörg ... hörst du mich denn?«

»Ich höre«, sagte Jörg, schob das Blatt zurück und sah den Bruder an.

»Du wirst bald deine Prüfung bestehen und hierher kommen. Von einem tüchtigen Anwalt werden wir Nutzen haben. Onkel Rolf wird dich zunächst in seine Praxis aufnehmen und will sie dir später überlassen.«

Onkel Rolf strich mit dem Finger über sein Kinn. Malte sah Güldenfey an und wollte fortfahren. Da geschah es.

Jörg legte den Stift hart auf den Tisch und sagte: »Auf mich rechnet nicht!« Es war etwas in dem Ton, der alle aufsehen hieß.

Maltes Stirn verschattete sich. »Was heißt das, Jörg: Auf mich rechnet nicht?«

Doch bevor er antworten konnte, hatte Frauke die Zeichnung an sich gezogen. »Sieh, sieh!« sagte sie lächelnd. »Ich wußte gar nicht, daß du so geschickt zeichnest. Was stellt das denn dar?«

»Den Götzen der Welt, den Malte soeben als den kommenden König ausrief.«

Frauke begriff, sie lächelte geheimnisvoll. Die andern erhoben sich und betrachteten das seltsame Bild. Harro lobte es: »Ganz richtig, Jörg!«

[S. 8]

Aber Malte fand die Unterbrechung unschicklich, und sein Knöchel pochte auf. »Erlaubt, wir sind nicht hier, um Bilder zu betrachten. Jörg, du schuldest mir noch eine Erklärung.«

Jörg strich sich mit der flachen Hand über das Haar. »Ich habe mein Studium bereits aufgegeben«, sagte er.

Malte sah ihn fest an: »Davon weiß ich nichts.«

»Ich wollte es dem Vater ersparen, Malte. Es ist ja auch gut, daß ihn mein Entschluß nicht mehr beunruhigt hat. Er ist unabänderlich.«

»Du willst Kaufmann werden?«

»Nein. Ich will nichts werden, sondern nur sein, was ich bin: ein Musiker oder, wenn das besser klingt, ein Künstler in der musica sacra

Er sagte es völlig ruhig. Von seiner Linken, wo Güldenfey saß, spürte er eine tastende Hand. Er nahm sie und drückte sie im Dank.

»Wenn ich dich recht verstehe,« sagte Malte, »so willst du Organist werden. Nun, du bist musikalisch, aber ungeachtet, daß dazu doch vermutlich etwas mehr gehört — ein Treß sitzt nicht auf der Orgelpritsche und spielt Choräle.«

Es ballte sich irgend etwas zusammen, etwas, das quälend und ängstigend war. Güldenfey zog den Amethyst, den sie wie ein Amulett an feinem Kettlein immer bei sich trug, hervor und drückte den Stein an die Lippen. Harro musterte starr die beiden Bildnisse, die ihm gegenüber an der Wand hingen: Behrend Treß, Oberst im schwedischen Gyllenstiernaschen Regiment, und Karl Heinrich, den Major bei den Bohuslehnschen Schützen. Nein, wirklich, das ging nicht! Jörg war im Felde Offizier geworden, und jetzt Tastenschläger?

Jörg schien das, was sich um sein Haupt zusammenzog, nicht zu berühren. Er stand auf, war Malte gerade gegenüber, fast so groß wie der, und völlig gesammelt. »Malte,« sagte er, »ein Treß tut das ganz, was er einmal vor seinem Gewissen verantworten muß. Wenn du aber meinst, ich hätte nicht das Zeug dazu, so kann ich ja den Beweis erbringen. Ich lade euch auf morgen vormittag zehn Uhr, in St. Niklas mir zuzuhören.«

[S. 9]

Onkel Rolf legte seine Hand breit auf den Tisch. »Ihr Treß seid allesamt Hartköpfe. Ihr wollt euch die Schädel aneinander einrennen. Muß das just in dieser schlimmen Zeit geschehen?«

Aber Malte legte die Hand auf seinen Arm. »Es ist jetzt nicht die Stunde, davon zu handeln. Gut, Jörg, wir kommen! Und danach reden wir davon in meiner Wohnung.«

Der Zwischenfall war erledigt. Malte fuhr fort, Vorschläge zu machen. Man müsse daran denken, Einschränkungen sich aufzuerlegen. Vaters Motorboot könne verkauft werden. Schließlich könne man das Fährschiff benutzen, wenn man nach Heilisoe fahren wolle. Damit wäre auch Telge, der Bootsmann, erübrigt.

Er sah plötzlich zu Frauke hinüber. Hatte sie nicht eine Bewegung gemacht? Aber Frauke saß still und unbewegt da, die Hand an der Wange.

Und dann der Garten hinter der Mauer! Er trug nichts, es war in ihm nur ein kurzes sommerliches Blühen. Hans Olrogge hatte jüngst anfragen lassen, ob er feil sei.

»O meine Armen!« sagte Güldenfey und hob beide Arme, als müsse sie diesen lieben Fleck Erde verteidigen. Wieviel Freude wuchs in ihm! Wenn Güldenfey mit ihrer Gartenschere durch seine Beete und Büsche ging, um aus seinem Blütenreichtum Sträuße für die alten Frauen des »Räucherbodens« zu binden, war ihre Seele ganz sommerlich hell. Ihr Taschengeld reichte nie für die Bedürfnisse der Darbenden aus, und in ihren Sträußen trug sie stets einen feinen Duft in die engen Gelasse.

»Wir wollen es erwägen, Güldenfey«, sagte Malte und nickte ihr beruhigend zu.

»Aber Engelke bekommt doch ihren Stiftsplatz im Heiligen Geist!« rief sie. »O, sie kann nicht mehr. Vierzig Jahre hat sie auf dem kalten Estrich unsrer Küche gestanden und für uns alle gekocht. Der Vater hatte es ihr versprochen. Ist Engelke im Testament nicht genannt?«

Harro sprach ein paar Worte leise zu Malte. Dieser nickte. »Sei unbesorgt, Güldenfey. Wenn auch wir uns manches versagen müssen, für unsre treuen Dienerinnen wird gesorgt. Engelke soll [S. 10] ihre wohlverdiente Ruhe haben und später auch unsre alte Ose.«

Güldenfeys Augen glänzten. Nun ging sie alles andre nichts mehr an. Sie hörte kaum noch auf das, was Malte sagte, sie war gewiß, daß sie auch ihren Garten behalten dürfe. Auch bei dem gemeinsamen Essen, das man nach der langweiligen geschäftlichen Aussprache oben einnahm, merkte sie nichts von der gehaltenen Art, in der die Geschwister untereinander redeten. Ein Stuhl stand leer am Tisch; aber es war nicht die Rücksicht auf den, der auf ihm gesessen, die alle veranlaßte, die Worte vorsichtig zu wählen. Einmal fiel ihr ein: Jörg! Doch als sie zu ihm hinübersah, fand sie ihn, wie er unbekümmert mit Frauke sprach. Was war nur mit ihm? Ob er wirklich etwas Besonderes leistete? Ob Malte nachgeben würde?

Nach dem Essen verabschiedeten sich, die nicht im Treßhof wohnten. Malte und Frauke gingen in ihr Haus am Markt, Onkel Rolf hatte noch in seiner Schreibstube zu tun; Harro wollte ihn begleiten.

Güldenfey lief, noch früher, als die Tür sich hinter den Fortgehenden geschlossen hatte, zu der alten Köchin, die in ihrer Bibel las. Sie setzte sich neben sie und faßte die beiden arbeitrauhen Hände, ehe diese die Hornbrille von den Augen heben konnten.

»Engelke, es ist ganz gewiß, die Stelle im Heiligen Geist ist frei, und du kannst hinein, wann du willst.«

Engelke nahm die Brille ab, legte das Lesezeichen in das Bibelbuch und klappte dieses zu. Sie sah Güldenfey an, schüttelte langsam den grauen Kopf und fing an zu weinen.

»Du, du!« Güldenfey strich an ihr auf und nieder. »Ich freue mich so darauf, es dir zu sagen, und du weinst.«

Nun, da das ersehnte Ziel erreicht war, ängstete die Alte der Abschied. Was sollte im Treßhof ohne sie werden? Man wußte ja, wie die Mädchen der neuen Zeit waren: frech und üppig traten sie einher, von Treue wußten sie wenig.

»Laß nur, Engelke, wir werden schon fertig werden, und geht es nicht, so kommst du und siehst ein. Denk' jetzt an die niedlichen [S. 11] warmen Stübchen, deren Fenster auf den Säulenhof sehen. Wenn ich dich dort besuche und wir Kaffee trinken, während der Regen fällt! Und der Weg zu deinen Gemeinschaftabenden ist von dort so kurz!«

Ja, das war ein Trost. Die Stunden in der Winkelgemeinschaft waren Engelkes heimliche Freude, sie glaubte an die nahe Wiederkehr des Herrn: alle Zeichen dieser bösen Zeit deuteten darauf hin. Aber daneben war doch der Gedanke an Güldenfey und Jörg. Wenn der in die Ferien kam, wer würde ihm die Kartoffelkuchen recht backen!

Jörg! Güldenfey fiel es plötzlich schwer auf das Herz. Sie wollte doch noch mit ihm reden. Über ihrer Freude hatte sie ihn vergessen. Sie drückte der Alten die Hand und lief durch die Zimmer.

Aber Jörg war nicht mehr da. Er hatte hinterlassen, er gehe zum Kirchenvogt, um mit ihm alles wegen morgen zu besprechen. Nun, da kam er bald wieder, und Güldenfey konnte schnell noch einmal zu Mellins hinuntersteigen.

Der alte Packmeister des Treßhofes — er erschien Güldenfey alt, weil er einen langen Bart hatte, der ihm über die Brust bis zum zweiten Rockknopf herabhing — gehörte zum Hof wie Ose zur Familie. Es wird erzählt, daß er dem Freier der einzigen Tochter, einem übrigens erwünschten Beamten in ansehnlicher Stellung, in fast einstündiger Sitzung erklärt habe, welche Ehre ihm widerfahre, daß er gewissermaßen in das Haus Treß einheirate.

Es war da unten so viel Geheimnisvolles zu sehen: ein Glasschrank mit gläsernen Hirschen und Schweizerhäuschen, Klingelschnüre aus silbernen Perlen, Tassen mit verblichenem Goldrand und gefühlvollen Widmungen und uralte Ostereier voll wunderlicher Schnörkel. Und über allem ein leiser Duft nach Holländer Knaster und Anis.

Mellins hatten einen Brief von Marie bekommen und besprachen umständlich die Vorgänge im Tageslauf der Tochter, als Güldenfey eintrat. Sie mußte ihren Ehrenplatz einnehmen im geblümten Lehnstuhl mit den vielen Kissen, vor dem der silbergraue Kater Murr schlief; sie mußte die Nachrichten von Mariechen und ihren [S. 12] Kindern hören. Mellin wollte seine Pfeife ausgehen lassen, wie er immer tat, wenn Güldenfey auf Besuch kam, aber sie duldete es nicht. Nein, sie mußte nach oben und Jörg erwarten. Der Gedanke an ihn ließ sie heute nirgendwo seßhaft werden. Sie sagte, sie sei müde, und wünschte gute Nacht. —

Ose war im Eßzimmer und zählte das Silber ab. Güldenfey stellte sich an das Fenster und sah in den Hof, wo in den Lichtschein des Mondes die gezackten Schatten der Speicher glitten. Der Kastanienbaum füllte sich mit jungem Saft, leise trat hinter die Nächte, denen der Reif noch das glitzernde Kleid schenkte, der fröhliche Lenz.

Jörg kam noch immer nicht.

»Kind, du bist blaß vor Müdigkeit«, sagte Ose. »Komm, ich helfe dir beim Auskleiden.«

»Ach, Ose, wenn ich ihn heute nicht mehr sehe! Und ich sollt' ihm doch helfen und weiß nicht wie!« Ihre Stimme lallte schwer wie die eines schlaftrunkenen Kindes.

Ose faßte mütterlich ihre Hand. »Siehst ihn ja morgen, ich sag's ihm, wenn er heimkommt.«

Aber als Güldenfey die Decke ihres Lagers über sich zog, war alle Müdigkeit verflogen. »Ose, ich muß es dir sagen von Jörg, ich habe sonst keine Ruhe. Er will Künstler werden. Morgen in der Kirche spielt er. Malte ist dagegen.«

Die Alte saß auf dem Stuhl am Bett und faltete die Hände. »Wird Malte nichts nützen. Wenn Jörg sagt: Ich will!, so wird es. Er hat es von deiner Mutter, Kind. In ihr war lauter Klingen. Es ist seltsam um die Erbschaft des Blutes. Wem sie zufällt, muß sie antreten.«

»Wie wenig fiel mir von ihr zu!« Güldenfey seufzte und fühlte den Stein, den sie am Halse trug.

»Dir? Kind, du hast doch ihre Art geerbt: wie sie mußt auch du jedermann Liebes tun. Als sie dir den Namen gab ...«

»Ose, bitte, erzähl' es mir.«

Und die Alte erzählte aufs neue, was sie wohl tausendmal schon berichtet hatte. »Als du geboren warst, sah ich, daß ihre Kraft [S. 13] zerging, und sie wußte es auch und war ganz still und gefaßt. Dein Vater lag an ihrem Bett auf den Knien, und ihre Hand strich über sein Haar. Dann wandte sie plötzlich den Kopf: ›Bringt mir das Kind!‹ Da nahm ich dich, weiß gebündelt wie du warst, legte dich in ihren Arm, und sie sah dich lange an. Dann sagte sie mit ganz hoher Stimme, so wie du immer sprichst: ›Güldenfey, liebe, kleine Güldenfey, lebe!‹ Ich wußte nicht, was sie meinte, und sah sie verwundert an. ›Ist sie nicht wie eine kleine goldene Fee?‹ Und sie sagte zu deinem Vater: ›Otto, ich weiß, daß die erste Tochter in jeder Generation der Treß Myrrha genannt wird, und wenn du willst, mögt ihr sie mit dem Namen ins Kirchenbuch eintragen lassen, aber ihr Name ist Güldenfey, und so soll sie genannt werden!‹ — Siehst du, Kind, und dann hing sie dir das Kettlein mit dem Stein um, etwas mühsam, denn Gottes Engel winkten schon, aber ich half ihr. Und als ich dich in die Wiege gelegt hatte und mich wieder umwandte, da winkten sie wieder, und sie ging mit ihnen.«

»O du Liebe, Süße!« sagte Güldenfey. Sie hatte den Stein an ihrem Mund und küßte ihn andächtig.

»Du hast ihr Wesen geerbt und Jörg ihre Musik. Beide habt ihr das Beste von ihr. Ich sage dir, sie konnte singen! Nicht so laut und mit verzerrtem Gesicht wie die Frauen, die sich am Flügel aufstellen und tun, als wollten sie auf der Stelle sterben, sondern leise und lächelnd. Und immer ganz seltsame Melodien. Als sie Jörg trug, hab' ich nebenan beim Wäscheordnen oft lange stillgestanden und ihr zugehört. Mir wurde dann ganz sehnsüchtig um das Herz.«

»Und Harro und Malte? Haben die nichts von ihr?«

»Die sind Tresse, Kind! Harro ist Soldat, Seefahrer wie der Oberst bei den Gyllenstiernaschen Söldnern.«

»Und Malte?«

»Ja, Malte!« Ose zuckte die Schultern.

In diesem Augenblick fiel es Güldenfey ein, wie sie ihn unter dem alten Bild von Balzer Treß gesehen, wie sein schönes blasses Gesicht Zug um Zug dem des Ahnen geglichen hatte. »Malte ist Balzer, dessen Bild unten hängt!« rief sie.

[S. 14]

»Der fliegende Holländer? Gott bewahr' uns, Kind!«

Güldenfey richtete sich auf. »Der fliegende Holländer? Heißt er so? Was ist's mit ihm?«

Der Alten Lippen wurden schmal und herbe, als müßten sie etwas verschließen. »Nichts ist mit ihm. Ich weiß nichts!«

Sie erhob sich und trat an das Fenster. Die Teiche, die die Stadt umgürteten, lagen im Mondlicht. Der Duft der lenzenden Erde floß um die alten Weiden.

»Es ist hell draußen, und unter den Bäumen nebelt es. Du sollst jetzt schlafen, Kind.«

»Ach, Ose, erzähle, bitte!«

»Was? Die Unglücksgeschichte? Die bringt müden Menschen den Schlaf nicht.«

»Ich finde vorher doch nicht Ruhe.«

Wer konnte widerstehen, wenn Güldenfey bat! Die Alte schüttelte den Kopf, setzte sich am Bette wieder nieder und begann.

»Die Treß sind von Heilisoe als Fischer in die Stadt gekommen und haben den Handel angefangen. Es ging recht und schlecht mit ihnen, und ihr Wohlstand wuchs, und sie bauten die Kornspeicher. Aber dem Balzer, der nach hundert Jahren aufkam, ging das In-die-Höhe-Kommen nicht schnell genug. Damals war schon der Neid auf die Olrogges und deren Mißgunst gegen uns. Der Balzer fing also den Handel mit Holland an. Das alte Abenteurerblut brauste in ihm, er rüstete eine Kogge aus und fuhr selbst nach Amsterdam. Er hatte, ich weiß nicht wie viele, Söhne und Töchter zu Hause, aber das Goldfieber gewann solche Macht über ihn, daß er nur selten heimkam. Der Reichtum floß ihm zu, und er leitete ihn her, aber er verfiel der Gier mit Leib und Seele. Immer neue Besitztümer raffte er an sich. Aber als er nun so viel besaß, daß er es kaum noch übersah, da packte ihn das Heimweh in der fremden Stadt. Er belud eine neue schöne Kogge und segelte heimwärts. Er fuhr und fuhr und kam doch nicht an sein Ziel. Es war nicht stürmisch, doch er konnte die Einfahrt in den Sund bei Heilisoe nicht finden. In Häfen und auf der Fahrt fragte er stets aufs neue: ›Wo geht der Weg nach Heilisoe?‹ Sie beschrieben ihn dem Frager, [S. 15] doch er fand ihn nicht. Sein Kompaß wies ihn in die Irre. Seitdem fährt er rastlos durch die Meere bei Tag, bei Nacht, in Wintern und Sommern, immerfort. Sie nennen ihn den fliegenden Holländer. Viele haben seine Kogge mit der Glücksfee, die ein goldenes Füllhorn ausschüttet, als Gallion gesehen; auch mein Vater, der als Kapitän oft bis ans Nordkap fuhr. In stillen Nächten hört man auch den Anruf: ›Wo geht der Weg nach Heilisoe?‹ Dann werfen sie das Schiff nach Steuerbord herum, denn von Backbord gleitet es immer auf sie zu. Können ihm ja den Weg doch nicht weisen, und wenn schon — den Kurs findet der fliegende Holländer nicht.« —

Güldenfey lag ganz still. Ose glaubte, sie sei eingeschlafen. »Kind, schläfst du?«

»Ach nein, Ose. Wie sagtest du, das Gallion der Kogge sei eine Fee mit goldenem Füllhorn?«

»Ja, so erzählt man.«

»Ob das Mutter wußte, da sie mich Güldenfey nannte?«

Die Alte stand auf und strich über die gefalteten Hände. »Nein, nein, was hat sie mit dem alten Spuk zu schaffen! Du heißt so ... Ja, es ist seltsam, vielleicht kannst du ihn erlösen.«

»Und fährt noch heute ruhelos durch die Meere?«

»Ist ja nur eine Sage, Kind. Gott weiß alles, und bei ihm ist Vergebung. Schlaf jetzt!«

Güldenfey lag noch lange wach und sah das Mondlicht in das Zimmer gleiten. Sie hörte Jörg heimkehren und später Harro, aber ihre Gedanken waren bei dem Ahn draußen auf der See, der den Weg nach Heilisoe suchte und nicht fand.


An der Wegscheide

Seitwärts führte in die Kirche des St. Niklas eine kleine Tür, durch die die Treß zum Gottesdienst gingen. Sie war von eigenartiger Schönheit. Als der Vogt sie aufschloß, um die Herrschaften einzulassen, blieb Frauke Treß stehen und bewunderte das feine [S. 16] Maßwerk, das ein Spitzbogen in erhabener Arbeit krönte. Auch Malte sah flüchtig hin. Er hatte wenig Zeit und war nur gekommen, um vor den andern als gerechtfertigt dazustehen. Von der Musik verstand er nichts, und er betrachtete die Stunde, die er darangab, als ein Opfer.

»Was ist das?« fragte er und deutete flüchtig auf die Figuren in den beiden oberen Winkelfeldern, die gegeneinander die Posaunen hoben.

»Irgendwelche Wesen, die Musik machen«, erwiderte Frauke leichthin.

Er glaubte die Geringschätzung zu hören, die die Poppelmanns für alles empfanden, was nicht zu den führenden Handelshäusern zählte. Schmuck des Lebens, o ja! Aber wer ihn darbot, stand auf andrer Stufe. Und sein leiblicher Bruder! Wohlan, er mochte spielen! Wie Malte urteilen würde, stand bei ihm.

Pastor Thomasius war da, der feine Redner und gewinnende Mensch, der anläßlich des Todesfalls allen nahegetreten war. Als er die Geschwister begrüßt hatte, bat er um die Erlaubnis, dem Spiel lauschen zu dürfen. Er sagte nicht, daß Jörg am vergangenen Abend bei ihm gewesen war; er gab sich, als wäre er zufällig gekommen.

Seine Anwesenheit war Malte nicht willkommen. Er fürchtete, man möchte voreilig von Jörgs Plänen sprechen. Doch Thomasius' Worte verrieten nicht, daß er darum wußte, und schließlich war man hier bei ihm zu Gast.

Sie betraten den Treßschen Kirchenstuhl am Lettner, der im Volksmund der goldene Präsentierteller hieß. Er lag der Kanzel gegenüber. Der silberne Präsentierteller an der andern Seite des Altars war der Sitz der Olrogges.

Das hohe Mittelschiff war vom Sonnenlicht durchgossen. Die Säulenbündel, der buntbemalte Umgang, das hohe Chor mit dem funkelnden Altarschnitzwerk, die Barockfiguren, die in gezierter Haltung den Laienaltar umstanden, die Ambone, alles war von den fröhlichen Strahlengarben belichtet und beglänzt, die der Frühling einer blut- und tränengesättigten Erde schenkte.

[S. 17]

Inmitten dieses heiteren Lichtspiels erschien die dunkle Menschengruppe in Trauerflor und schwarzem Tuch wie eine düstere Mahnung des Unvergeßlichen. Wären nur die strahlenden Augen Güldenfeys nicht gewesen! Thomasius, der im Hintergrunde saß, beachtete, mit welchem Entzücken diese Augen die reiche Fülle in sich tranken.

Auf dem Chor, wo die ihrer blanken Pfeifen beraubte Orgel türmte, regte sich nichts.

Malte wurde ungeduldig. »Ich hoffe, er wartet nicht auf Onkel Rolf. Ob er überhaupt hier ist?« wandte er sich an Harro.

Dieser antwortete mit einer Gebärde und blickte zur Orgel auf. In diesem Augenblick setzte das Spiel ein. Ein Schrei, vor dem die Wolken barsten, und noch einmal und noch einmal, hallend wie Gottes Stimme. Und darauf die Antwort der Gründe, aufbrausend, sich überschlagend, ein Donner in Tiefen, wo entfesselte Brände heulend die Felsenbande sprengten.

Pastor Thomasius beugte sich vor und raunte den Namen des Tonstückes. Niemand verstand ihn. Harro zog die Brauen in die Höhe. In Fraukes Gesicht, das in seiner kühlen Gelassenheit gleichgültig dreingeschaut, trat ein gespannter Zug. Güldenfeys Augen weiteten sich und wurden ganz von ihrer Seele ausgefüllt. Sie sahen hilflos drein, als das ungeheuerliche Widerspiel der Stimmen begann: das Auf und Nieder, die Empörung und ihre Bewältigung, das brausende Halleluja des Sieges.

Malte stand auf, sprach einige Worte zu Frauke. Ihm war eingefallen, daß er den Prokuristen, Herrn Häberle, mit den dringendsten Unterschriften bestellt hatte. Er hatte in bezug auf Jörg seinen Entschluß gefaßt.

Als seine Schritte verhallten, begann droben das Spiel aufs neue. Jetzt war es etwas durchaus andres. Eine schmerzliche Klage ohne heldenhaften Schwung. Die wehreiche wunde Zeit öffnete ihren Mund, das deutsche Leid tat sich kund. Güldenfey preßte die Hand gegen die Brust: alles, was sie während des verflossenen Winters empfunden, sprachen die Töne aus. Die schmerzhafte Spannung bedrängte sie. Da quoll es von andern Stimmen dagegen: [S. 18] O Lamm Gottes unschuldig, tröstlich beschwichtigend. Sie weinte. Plötzlich fragte sich Güldenfey: Ist das wirklich Jörg, der dort oben spielt? Ja, sie hatte ihn gehört, wenn er am Flügel saß und stundenlang phantasierte, doch dies war mehr als Spiel. Sie reckte den Kopf, doch der Spieler war von hier aus nicht sichtbar. Kurz entschlossen verließ sie das Gestühl, ging leise im Seitenschiff bis zum Orgelchor, die Treppe empor, tastete sich über Stufen bis an die Ecke des Gehäuses und spähte.

Da saß Jörg, die Arme zu den Tasten erhoben, die Augen in eine Ferne gerichtet. Er spielte, ohne auf die Noten zu sehen, und unter seinen Fingern schwoll jetzt lauter der Bittgesang an, das Agnus Dei . Eine süße Freude erfüllte sie. Sie war nie hier oben gewesen und blickte nun scheu in die Fülle der Säulen, Bogen und Wölbungen. War es nicht, als erwache unter den Klängen alles da unten, was in steinernem Schlaf ruhte, die starren Heiligenbilder, die Kapitelle und Schmuckstücke, die Grüfte in den Seitenkapellen und die gezierten Altäre? Wer so hoch, dem Licht und dem Klang so viel näher, weilte, dem mußte das Leben anders erscheinen.

Erbarme dich unser! Gib uns deinen Frieden!

Kränzten nicht die Strahlen den mißhandelten Leib des Herrn, der am Triumphkreuz über dem Lettner schwebte? Hob nicht alles, was Menschenhand drunten geformt, die Hände zu ihm empor? O ja, Güldenfey verstand jetzt ganz. Sie hatte sehen wollen, ob Jörg diese Tonfülle wirklich hervorrufen konnte, aber sie hatte mehr empfunden: sie hatte einen Blick in seine Seele getan. Langsam kehrte sie zu den andern zurück.

»Malte bittet euch, daß ihr zu uns kommt«, sagte Frauke, als Jörg die Treppe verließ und zu ihnen trat.

»War Malte auch hier?«

»Er saß bei uns. Sahst du uns nicht?«

»Nein. Ich habe niemand gesehen. Ich habe eigentlich nur für mich gespielt, Frauke.«

Sie entgegnete nichts. Harro äußerte seine Anerkennung in lauten Worten, aber Jörgs Gesicht drückte Abwehr aus. Da schwieg auch Thomasius.

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Güldenfey hielt ihres Bruders Hand: »Du Lieber! — Soll ich mit euch gehen? Ich hätte wohl für Engelke noch etwas zu besorgen, aber wenn sie dich nun bestürmen ...«

»Warum solltest du?«

»Du sagtest gestern, ich sollte zu dir stehen.«

»Bin ich dessen sicher?«

Sie nickte ihm zweimal bedeutsam zu.

»Dann geh ruhig deinen Weg, kleine Güldenfey. Mit alledem werde ich schon allein fertig«, sagte er herzlich.

Pastor Thomasius schickte sich an, Güldenfey zu begleiten, und die drei traten in das Haus am Markt.

In dem unteren Stockwerk, wo die Schreibstuben lagen, war ein gedämpftes lebhaftes Treiben. Der alte Chef war begraben, es wehte frischer Wind. Zwar bot die Zeit des Geschäftlichen nicht allzuviel. Man stand abwartend, mit geneigten Köpfen da: Gesetze wurden über Nacht aus der Erde gestampft, und hinter besetzten Grenzen plante feindlicher Sinn das Verderbliche. Dennoch zitterte die Erregung in jedem Wort und Tritt.

Malte entließ Herrn Häberle, als die Brüder eintraten. Er war sehr freundlich und führte sie hinauf. Die Zimmer lagen im Sonnenlicht, das sich durch die Spalten der resedenfarbenen Vorhänge schob. Malte zeigte sich als der liebenswürdigste Wirt.

»Nein, setz' dich hierher, Jörg, dieser Stuhl ist bequemer! Und du, Harro? So, du hast schon gewählt. Wollt ihr etwas genießen?«

Harro, der ewig Durstige, schien nicht abgeneigt, aber Jörg sagte so bestimmt nein, daß er keinen Wunsch äußerte.

»Also reden wir zuerst!« fuhr Malte fort. »Dein Spiel! Es war einfach packend, mein Junge. Ich versteh' nicht viel davon, aber das erste Stück, das ich leider nur hörte, überzeugte mich, daß du etwas kannst. Was war es denn?«

»Die D-Moll-Tokkata «, sagte Jörg.

»Wir wußten es ja, daß er etwas darin leistet!« bemerkte Harro.

»Doch das erwartete ich nicht. Woher hast du das nur?«

Harro strich mit den flachen Händen über die Armlehnen seines Stuhls. »Mutters Erbteil!«

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»Angenommen, ja! Aber dennoch ...« Malte erging sich weiter in lobenden Worten.

Jörg saß still und hörte ohne ein Zeichen befriedigten Stolzes zu. Ein Abglanz von der Ergriffenheit, die ihn während des Spiels durchschüttert, war noch auf seiner Stirn. Er wartete auf das, was kommen würde. So leicht gab Malte seinen Vorsatz nicht auf. Und es kam.

»Wir geben zu, lieber Junge, daß du in dir trägst, was dich zum Künstler befähigt. Ich nehme auch den Zweifel zurück, daß es dir an technischer Fertigkeit mangle. Ja, ich glaube, du besitzt beides. Aber das wird jetzt nicht gefordert. Die bedrängte Zeit fordert Arbeit, rechtschaffene Arbeit, die man in Verruf getan. Von Menschen deiner Art aber, die sich in glücklicheren Tagen zu ihrer und andrer Freude ausleben durften, fordert sie Opfer. Jeder, auch ich soll es bringen. Von dir fordere ich es ebenfalls.«

Jörg hatte auf das Spiel der Stäubchen im Sonnenstrahl geachtet, solange Malte sprach. Es waren gute Worte, die an ihn gerichtet waren; sie machten ihm die Antwort schwer.

Jetzt richtete er sich auf und sah den älteren Bruder gerade an. Es war, als wolle er sein Innerstes vor ihm aufschlagen. »Danke, Malte. Du versuchst mich zu verstehen, das freut mich. Das Opfer, das du forderst, kann ich nicht bringen. Morgen kehre ich nach Schlesien zurück, aber nicht zum Jus. Ich studiere Musik.«

»Ist das deine ganze Erklärung?« fragte Malte.

»Nein, Malte! Ich werde dir erklären, warum ich so handle. Versuch' auch das zu verstehen. Auch ich will Deutschland helfen. Ich will aber nicht, daß, wie du prophezeitest, das Geld der kommende Herrscher wird. Dagegen werde ich wirken mit aller Kraft, denn das machte unsern Untergang gewiß.« Er richtete sich herrisch auf. »Deutscher Geist unter der verknöchernden Faust des Mammons! Wer beide kennt, sagt: Das ist undenkbar! Jedoch ... Ich will dem deutschen Menschen zu seiner Seele verhelfen. Weil er sie verlor, darum ist das alles über ihn gekommen, diese Hetze, diese Verlassenheit, dieses Elend.«

»Hör' einmal!« rief Harro. »Warum wirst du nicht Theologe?«

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Malte machte eine Bewegung, die ihm Einhalt gebot.

»Ich tu' es auf die Art, die mir gemäß ist«, fuhr Jörg fort. »Wahrhaftigkeit, Einfachheit lehrt die alte Musik, sie wird von den Leuten auch so verstanden. Mit meinen Mitteln will ich ihnen predigen.«

Malte stand auf, ging einige Schritte und setzte sich wieder. »Wie kamst du eigentlich auf diese Idee?« fragte er.

»Darauf muß ich dir die Antwort schuldig bleiben. Das ist ein Erlebnis, das mir sehr teuer ist.«

Etwas erschütterte Malte, etwas, über das er sich nicht Aufschluß geben konnte. Es war nicht der Widerstand. Ein Treß ohne den eisernen Willen wäre ihm undenkbar gewesen. Aber dieser Gegensatz! Diese bis in die äußersten Wurzelfasern andre Art! Seit vierhundert Jahren sann man im Treßhof auf Erwerb und Mehrung des Besitzes, und jetzt kam einer, der von der deutschen Seele sprach. Kaufleute waren sie und als Nebenreiser waren Seefahrer, Soldaten, Juristen dagewesen, aber nie Bücherhocker und Phantasten.

»Deine Zeichnung bezog sich wohl auch auf meine Worte von Deutschlands Zukunft?« fragte er.

Jörg nickte.

»Und du meinst, wir sollten arm bleiben?«

»Wir sollen mit Stolz tragen, was uns das Schicksal gab. Aber lieber arm als unfrei.«

Wieder spürte Malte die Kluft vor seinen Füßen. Wie geriet der fremde Geist in dieses Haus! Ob der Vater das geahnt hatte? Gewisse Anzeichen deuteten darauf hin.

In diesem Augenblick trat Frauke ein. Sie blieb auf der Schwelle stehen und sah kühl über die Brüder hin. Es war etwas in ihrer Erscheinung, was Jörg reizte. Ihr seidig umrauschter Gang? Ihr nicht schönes, aber in seiner Unbeweglichkeit sphinxhaftes Gesicht? Die unbeirrbare Sicherheit ihres Auftretens? Er wußte nicht, was es war, er fühlte nur bei ihrem Anblick, daß etwas in ihm sich angrifffreudig erhob.

»Ich glaubte, ihr wäret fertig«, sagte Frauke.

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Malte ging ihr entgegen. »Noch nicht ganz. Aber, bitte, bleib hier!« Er rückte ihr ritterlich den Stuhl. »Wir geraten in einen Streit über die soziale Frage«, fuhr er fort. »Bleiben wir bei der Sache! Deinen Standpunkt in Ehren, Jörg, doch ich sage dir, ein Treß kann nicht Künstler sein. Ich bitte dich: gib es auf.«

Wie kommt ihm jetzt, da Frauke hier ist, dieser andre Ton? dachte Jörg. Deckt er erst sein Innerstes auf, oder erstickt der Respekt vor seiner Frau das brüderliche Verstehen?

»Nachdem ich dir Grund und Ziel meines Entschlusses dargelegt, ist es unrecht, das geringzuachten, was ich sein will«, sagte er. »Du willst mich bereden, daß ich mir untreu werde.«

»Du kannst deinen Idealen in jedem Berufe leben«, entgegnete Malte knapp.

»Nein!« Jörg stand auf und reckte sich unwillkürlich. »Sag' es doch getrost, Malte, es ist der ›Künstler‹, der dich ärgert.«

»Nun also, ja!«

»Danke! Du bist eben von den Ansichten deines Standes beengt. Wärst du das nicht, würdest du wissen, daß der Name Treß vielleicht gerade dadurch in eine höhere Rangklasse aufrückt.«

Harro lachte auf, auch um Maltes ernsten Mund glitt der Schein eines Lächelns.

»Verzeiht, das soll kein Dünkel sein,« sagte Jörg, »doch ihr rubriziert nun einmal, und darum sag' ich euch dies: Wir Künstler, die wir unserm Beruf folgen und das Göttliche offenbaren, sind doch die Könige auf Erden. Lacht bei euren fetten Suppen über unsre Wunderlichkeiten! Schreit uns mit euren Autohupen an: Platz für uns! Laßt uns in Lumpen hinter den Hecken verkommen! Wir sind doch die Träger dessen, was ihr Kultur nennt. Keiner von euch kann uns unsre Würde entreißen, solange wir dem Heiligen in uns treu bleiben.«

Er war wieder in den Sonnenstreifen getreten, sein Gesicht war von außen und von innen durchleuchtet. Er trug in Wahrheit eine Krone. Fraukes Augen staunten, Malte schien bewegt.

»Morgen in der Frühe fahre ich. Werden wir uns noch sehen?« Jörg war zu ihm getreten und streckte ihm die Hand hin: »Ich weiß, du hast wenig Zeit.«

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Malte wußte jetzt: hier sind Worte übrig. Man sprach noch von gleichgiltigen Dingen, etwas, das den Abgang vermittelte und Unwiderrufliches abseits ließ. Dann gingen die Brüder. —

Malte stand am Fenster und blickte auf den mittaglich hellen Platz. Drüben in der Reihe der Staffelgiebel die schwarzrötlichen Zacken des Wülflamhauses. Hatte er nicht schon als Knabe geträumt, das Erbe dieses trotzigen Geschlechts antreten zu wollen? Nicht einmal den störrigen Knaben von zweiundzwanzig Jahren konnte er zur Vernunft bringen.

Er fühlte sich unterlegen wie noch nie. Die Kluft im Blut? Die neue Zeit? Nein, da war noch etwas andres, ein Geist, den er bisher nicht gekannt, der plötzlich Gestalt angenommen hatte. Wir sind doch die Könige! Wir tragen allein das, was ihr Kultur nennt.

»Es ist ja Unsinn!« sagte er laut.

Ein Lachen kam aus dem Zimmer hinter ihm. Er wandte sich überrascht um. Da saß Frauke, die Hand an die Wange gelehnt. Er hatte sie vergessen. »Ich dachte, ich sei allein. Verzeih!«

»Es ist Unsinn,« sagte sie, »aber recht hat er doch!«

»Du meinst Jörg?«

»Ja, an ihn dachtest du doch.«

Malte erstaunte. »Du sagst, er habe recht?«

»Was er werden wird, ist nebensächlich. Eigentlich mag ich diese Leute nicht. Ich kannte einige, die wuschen sich nicht genug. Aber daß Jörg für das eintritt, wofür er die Fähigkeit besitzt, ist ehrenhaft. Du wirst ihn auf seiner Bahn nicht aufhalten.«

Malte erstaunte noch mehr. War das nicht gegen sie gesprochen, was Jörg da vorgebracht? Und sie achtete dessen großmütig nicht. Er empfand diese Gerechtigkeit als ein Eintreten für seine Familie, auf die sie immer ein wenig herabsah.

»Frauke!« sagte er dankbar und streckte die Hand nach ihr aus.

»Was ist?« fragte sie kühl. Nun, sie war jedem Gefühlsüberschwang abhold. Augenblicke wie diese kamen, aber sie gingen schnell vorüber. Immer hielt sie ihn auf Armeslänge von sich fern. Es ernüchterte ihn nicht einmal mehr. Ihre Art war eben so frostig.

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Er ließ die Hand, die sie nicht ergriffen, wieder sinken, aber er begann zu ihr zu sprechen. »Ach, Frauke, es dringt jetzt zu viel auf mich ein. Unser Vermögen stark verringert, die Brüder beide andrer Arbeit zugewandt. Wir müssen wieder hochkommen, und ich bin allein!«

Das geringe Zeichen von Fraukes Anteilnahme öffnete ihm den Mund. Sie, die eigentlich in einer andern Zone lebte und immer mehr betrachtend als teilhabend auf das Treiben um sie blickte, ermunterte ihn nie. Jetzt aber schien es Malte, als müsse er ihr als Dank geben, was jede Frau als ihr Recht gefordert hätte.

Der Kornhandel, die Erwerbsquelle der Treß, war nicht mehr förderlich. Die Zwangswirtschaft knebelte ihn, und das konnte noch lange andauern. Man mußte andres versuchen. Eine Bank. Herr Häberle kannte die Art der Geschäfte, und Onkel Rolf riet dazu. Man mußte Kenntnis haben von dem Rinnsal des Geldes, das aus geheimen Gründen floß. Diese waren wie Trichter, die zuzeiten alles in sich sogen und dann wieder eine unersättliche Fülle von sich spien. Ein paar Dutzend Köpfe, vielleicht nur drei oder einer, leiteten Flut und Ebbe, in der Völker ertranken oder verschmachteten, die das Steigen oder Fallen der Verhängnisse hervorriefen.

»Usadel! Julius Usadel! Hast du von ihm gehört?« Er sprach den Namen leise und wie etwas Ehrwürdiges aus.

»Ich kenne ihn«, sagte Frauke. »Der Vater ...«

Sie vollendete nicht. Wer war er? Woher kam er? Keiner wußte es. Er war da und herrschte. Herrschte lautlos, aber jeder sprach mit Scheu von ihm, in Kalifornien wie an der chinesischen Mauer. Wenn es gelänge, mit ihm anzuknüpfen! Es mußte gelingen. Freilich mußte das Haus, das er würdigen sollte, auf breiterer Unterlage stehen.

Frauke sah verwundert auf ihren Mann, der, von seinem Gedanken durchglüht, im Zimmer auf und ab schritt. Wie kamen ihm diese weitreichenden Pläne? Er sah stattlich aus wie damals, als er in Harvestehude um sie warb, seine Schönheit trug etwas Gebieterisches. So mußten die Männer ausschauen, die die Töchter der Hanse freiten.

»Wir sprachen doch von Jörg«, sagte sie.

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»Die Linie läuft hierauf aus«, entgegnete er. Er blieb vor ihr stehen, sah sie an, und sie verstand sofort.

»Das heißt, du gebrauchst Geld für das Unternehmen?«

Er bejahte nicht, doch seine Haltung sagte alles.

»Ich werde mit meinem Vater reden!«

»Und du glaubst ...« fragte er zaghaft. Der genau bedingte Ehevertrag fiel ihm wieder ein.

»Über mein Mütterliches habe ich freie Verfügung«, sagte sie.

»Frauke!« rief er überwallend und ergriff ihre Hand.

»Wie?« fragte sie. Sie sah ihn wieder kühl an und zog ruhig ihre Hand zurück. Ein Schwärmer? fragten ihre Blicke. Sie neigte den Kopf ein wenig und ging. Auf der Schwelle wandte sie sich noch um: »Du weißt, Torheit in Geschäftswagnissen würden Vater und ich nie verzeihen.«

»Sei unbesorgt«, erwiderte er und lauschte beglückt auf das Klingen der feinen Ringe, als sie den Arm hob, um die Perlfäden des japanischen Türvorhangs zu spalten.

Er trat noch einmal an das Fenster und sah zum Wülflamhaus hinüber. Er fühlte es, wie frei seine Stirn war. Ein Ausfall in seiner Berechnung! Aber auf der Haben-Seite war ein Glücksfall zu verbuchen. Würde er die Aussicht auf einen Erben bald danach eintragen können? —


Harro und Jörg gingen, um Güldenfey zu treffen. Es wehte ein herber Wind, doch der goldene Sonnenmantel, der auf der einen Straßenhälfte lag, wärmte angenehm. Harro war in Aufregung. »Dein Plan ist ja verrückt. Statt ein sicheres Brot zu wählen, Musik machen und Menschen bekehren! Diese Gesellschaft! Nun, du wirst sie bald richtig einschätzen lernen. Und Malte hast du auch vor den Kopf gestoßen, daß seine Pläne wanken. Aber alle Achtung! Geltend hast du dich gemacht. Ein Treßscher Kopf bist du!«

Jörg ging neben ihm, hörte ihn an und sagte nichts. Harros Entzücken kam schnell und brauste bald ab, das wußte man. Sie schritten an Sankt Johannes Evangelist vorüber.

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»Geh voran, Harro!« bat Jörg. »Wir treffen uns am Tor wieder.«

»Was hast du vor?«

»Entschuldige, ich muß einige Minuten allein sein.« Und er trat in die Pforte, die zum Kreuzgang führte. Mochte Harro den Kopf schütteln, er bedurfte der Sammlung. Das Spiel, in das er sich ganz verströmte, die Auseinandersetzung, während der ihn die Kluft der Gegensätze nicht minder als Malte erschüttert hatte, und jetzt ein fades Geschwätz! Unmöglich.

Er ging unter den Arkaden des Kreuzganges auf und nieder. Der rankende Efeu hatte das Dunkel der langen Winternächte angenommen, aber schon reckten sich die jungen Triebe lebensdurstig auf die sonnenwarmen Dachpfannen, und in den vier kahlen Lindenstämmen, die ihre Wurzeln durch die Gräber namenloser Franziskanerbrüder trieben, pochte der junge Saft des wachsenden Jahres. Nach wenigen Minuten der Stille fühlte Jörg sich gesammelt und ging, den Bruder zu treffen.

Der stand am Tor im Gespräch mit Hans Olrogge. Er reckte seine breite Hauptmannsgestalt, das Eiserne Kreuz am Gürtelstrich funkelte, sein unbekümmertes Lachen scholl durch die Gasse. Die Werkleute, die zum Mittagsmahl gingen und sich auf dem schmalen Steig an der Gruppe vorüberzwängten, sahen mißtrauisch auf den Lauten, in dem sie den einstigen Offizier witterten.

»Nun, Jörg, hast du dein stilles Gebet beendet?« fragte Harro, als sie dem Hafen zuschritten.

Ob wohl in das Leben dieses Rauhen jemals etwas treten wird, was sänftigend auf ihn wirkt? fragte sich Jörg. Vier Jahre Landsknechtdienste in Blut und Rauch verhärteten den Besten, und nun brauste das schartig machende Treiben der Partei auf ihn ein. Es war schade um Harro.

Die kleinen Wellen liefen spielend gegen die Bohlenverkleidung des Hafendammes, die Sonnenblänke lag glitzernd auf dem leise bewegten Wasser. In der Ferne zog die Rauchfahne eines Dampfers, und einige Fischerboote mit braunen Segeln strebten halb wider Wind auf die Stadt zu. Eine Möwe stieß in den glänzenden Spiegel der See.

[S. 27]

»Da kommt Güldenfey«, sagte Harro.

Sie hatte die Brüder bemerkt, und es schien, als winke sie ihnen, zu eilen. Das Kopfsteinpflaster erschwerte das Gehen, aber Güldenfey ließ sich davon nicht hemmen. Ihr frisches Gesicht glühte im Eifer.

»Ich habe etwas Seltsames erlebt«, rief sie. »Kommt, ihr sollt teilnehmen; es ist so traurig.«

Und sie begann zu erzählen. Ein Schiff, aus den Ostseeprovinzen kommend, war heute eingelaufen und hatte Deutschbalten mitgebracht. Männer und Frauen, von allem Notwendigen entblößt, Kinder nur notdürftig bekleidet.

»Denkt euch, die Seefahrt im Märzwind!« Güldenfeys Stimme zitterte. »O, wie glücklich sind sie, daß sie deutschen Boden erreichten!«

Da waren zwei Frauen, mit denen hatte sie gesprochen. Sie waren den Schrecken der Kerker entflohen. An der Grenze waren sie zurückgewiesen aus kleinlichen Bedenken eines Formelkrämers. Wer trägt den Geburtschein bei sich, wenn er der Gefangenschaft entweicht! Sie hatten bei zwölf Grad Kälte die Nacht auf freiem Bahnsteig zugebracht, bis sich ein Beamter ihrer erbarmte und sie an den nächsten Hafen brachte.

»Ich möchte ihnen gern helfen«, sagte Harro gutmütig. »Ich fürchte nur ...« Er griff dahin, wo seine Brieftasche steckte.

»Aber Harro!« sagte Güldenfey. »Es sind Damen. Die Junge ist die Tochter des Professors Honterus; die Ältere ist ihre Tante. Sie wissen nicht, wohin sie sollen. Jörg, hilf mir doch! Wir müssen sie aufnehmen.« Sie hob bittend beide Hände. »Wir haben doch im Treßhof Raum. Neben Oses Stube. Oder ...«

»Sei ruhig, Güldenfey«, sagte Jörg. »Geht es dort nicht, so bleibt noch mein Zimmer. Wir nehmen sie sicher bei uns auf.«

Die meisten der Angekommenen, die ein kleiner Dampfer von der großen Insel hergeführt hatte, zogen schon Quartieren zu, einige hockten noch auf schmalen Kisten, in denen sie dürftige Reste des schnell Zusammengerafften mit sich führten. Die beiden Frauen standen ein wenig abseits; die ältere lehnte müde gegen den Haltstein, um den das Schiffsseil geschlungen war. Die königliche Haltung der [S. 28] andern verriet nichts von den Leiden, die sie belastet hatten. Sie hielt ein winziges Päckchen, das man den Habelosen zugesteckt hatte.

»Ariadne!« sagte Harro.

Güldenfey eilte auf sie zu. »Meine Brüder!« erklärte sie.

Die Junge wandte sich und sah mit fragenden Augen auf die Herren. »Ich heiße Marfa Honterus, dies ist meine Tante, Frau Staatsrat Honterus. Wir sind auf der Flucht hierher ...« Sie sprach das wie ein eingelerntes Sprüchlein mit etwas kläglichem Tonfall. Ungezählte Male hatte sie das gleiche an Schaltern, Speisestätten und in Schreibstuben gesagt, immer bittend, immer angstvoll, immer um die Antwort bangend.

»Ich hab' ihnen schon alles erklärt«, sagte Güldenfey und legte ihre Hand mit dem Pelzhandschuh auf Marfas Arm. »O, Sie frieren, Ärmste!« fuhr sie plötzlich fort, als sie die nicht bekleideten Hände ihrer Schutzbefohlenen bemerkte, zog die Handschuhe ab und drängte sie ihr auf.

»Liebes Fräulein!« sagte Marfa. Ein verirrtes Lächeln ging flüchtig um ihren Mund. Es war in der Tat unmöglich, diese Gabe anzunehmen. Die feingliedrige, schlanke Güldenfey und dieses Mädchen, deren Leib die Natur mit den Formen einer Walküre ausgestattet hatte!

»Wickeln Sie sie um Ihre armen Finger«, sagte Güldenfey. »Bitte!« Wer vermochte zu widerstehen, wenn Güldenfey bat!

»Wir haben schon alles besprochen. Sie gehen mit uns und bleiben fürs erste bei uns. Sie müssen warm werden. Unsre alte Ose wird herrlich für Sie sorgen, und ich auch ein wenig.«

»Liebes Fräulein!« sagte Marfa aufs neue. »Dieses Übermaß an Güte ... Wir wissen wirklich nicht ... Sie haben Trauer ...« Ihr kleiner Mund, der zaghaft mit dem harten Wortton der Balten das Deutsch formte, verzog sich wie im Weinen.

Jörg trat vor. »Kommen Sie ohne Bedenken mit uns. Sie wissen nicht, welche Freude Sie meiner Schwester machen. Wir alle freuen uns.«

Er sah sich nach Harro um. Warum schwieg der beharrlich? Harro stand da und blickte das fremde Mädchen an. Seine laute Wortfertigkeit [S. 29] versagte völlig. Der Wind nahm die Enden ihres Schleiertuches und hob sie in die Luft. Sie griff danach und zog sie nieder. Ihm war, als habe er sie schon einmal gesehen. Dieses dunkelbraune Haar mit den bronzehellen Streifen, das ihr in schwerem Knoten gebunden im Nacken lag; diese hohe schöne Stirn, die ein Paar nach innen schauende dunkle Augen verschattete, diesen ragenden Wuchs, der den Frauen unvermischter Geschlechter eignete. Wo lag die Stunde, aus der das Erinnerungbild aufstieg?

Verträumtsein war Harros Sache nicht. Der Blick Jörgs rief ihn zurück. Er besann sich auf die Pflicht als Kavalier, die er schutzlosen Frauen schuldig war, und sagte ein paar verbindliche Worte.

Frau von Honterus war von Güldenfey die Einladung wiederholt worden. In ihren Augen haftete das Entsetzen über das Furchtbare, das sie in den letzten Monaten hatten sehen müssen: die Gewalttaten der zur Bestie gewordenen Masse, die grausame Ermordung ihres Schwagers vor einem Fleischerladen. Abels Blut schrie laut in ihrer Seele. Ihre Lippen zitterten, da sie dankte. Güldenfey strich erbarmend über ihren Arm.

»Ihr Gepäck?« fragte Harro.

Marfa hob ein wenig das Bündelchen: »Dies und die Handtasche meiner Tante ist alles, was wir retteten.«

»Und das Leben!« scherzte er.

»Ja, dies Leben!« entgegnete sie bitter.

Sie schritten voran. Jörg und Güldenfey, die Frau Honterus führten, folgten ihnen. Harro machte seine Begleiterin auf die Schönheiten der Stadt aufmerksam. Sie sah auf das, was er ihr wies, aber sie antwortete selten mit einem Wort. Ihre Blicke gingen immer nach innen. Er verspürte plötzlich ein starkes Verlangen, diese Seele, die sich furchtsam in einem Winkel des herrlichen Körpers verborgen hatte, hervorzulocken und sie in das Leben zurückzuführen.

Als Marfa in das Zimmer trat, das Güldenfey ihr bestimmt hatte, blieb sie mitten im Raum stehen und blickte sich nicht um. Erst als das Mädchen von außen die Tür einklinkte, fuhr sie auf, wie eine, die ein Ton aus dem Schlaf schreckt. Da war ein Bett, da lag Wäsche [S. 30] ausgebreitet, da war ein Ofen, der wärmte. Sie fiel in die Knie und schluchzte hemmungslos. —

»Und nicht wahr, Ose,« sagte Güldenfey, »du hilfst mir für sie sorgen? Denke nur, alles verloren. Du hättest sie sehen müssen, wie sie da so verlassen standen! Alles vom Besten für sie.«

Die alte Schaffnerin nickte. Sie wollte dem Kind alles zuliebe tun, und auch den armen Vertriebenen. Dieser Blick der Jungen hatte so etwas Rührsames. Und wie gütig sie gesagt hatte: »Ich danke für Ihre Mühe, liebes Fräulein Fink!« Was bedeutete nur dies, daß die eine Diele auf dem oberen Flur seit heute wieder knarrte, wenn man auf sie trat? Damals, als Güldenfey geboren wurde, war es so gewesen, und jetzt, kurz vor der Krankheit des Herrn; sonst gab sie keinen Laut. Und nun heute wieder. Klopfte der dunkle Bote schon wieder an? —

Als Jörg am nächsten Morgen sich anschickte, zum Bahnhof zu gehen, erbot sich Harro, ihn zu begleiten. »Ich sollte wohl mit dir fahren,« sagte er, »die Geschäfte der Partei werden dringlich, und sie rufen schon nach mir. Aber ich kann nicht, weiß Gott, ich kann nicht!«

Jörg schwieg. Wenn Harro, der gewissenhaft seine Pflicht tat, sagte: Ich kann nicht! so würde er Grund haben, zu zögern. Er spürte aber auf dem Weg etwas Andrängendes, als wolle ihm Harro etwas sagen, für das er nicht das treffende Wort fand.

Endlich stand er im Wagen am geöffneten Fenster und sah auf Harro nieder, der sinnend vor sich hinblickte. Der Beamte, der das Abfahrtzeichen geben sollte, ging vorüber.

»Wir werden uns bald wiedersehen, Jörg.«

»Schwerlich. Ich werde jetzt viel arbeiten müssen, Harro.«

Der Beamte hob die Scheibe. Die Brüder reichten einander die Hand.

»Trotzdem, mein Junge, du wirst bald wieder hier sein.«

»Warum?«

»Ich werde meinerseits Malte auch einen Strich durch seine Rechnung ziehen. Du entsinnst dich, welchen Rat er mir gab: ich müsse eine reiche Frau wählen. Nun, ich heirate keine andere als Marfa [S. 31] Honterus. Bewahre dies noch für dich! Für den Sommer aber lade ich dich zur Hochzeit ein.«

Er blieb lachend, winkend zurück. Der Raum zwischen ihnen wuchs. Trat das Sänftigende so bald in Harros Leben?


Heilisoe

In Harro brauste plötzlich etwas vom Blut seiner Väter. Die stürmende Welle kam aus entlegener Vorzeit, aus Tagen, da seefahrende Männer die Frau von einer Insel raubten und ihr die Liebe und die Pflichten des Herdes aufzwangen. Er war stets den Frauen gegenüber erhaben aufgetreten: Bewundert mich, wie ich mit euch scherze! Mich mit einer von euch verbinden, das liegt mir fern.

Jetzt brannte seines Lebens Saft und schuf ihm die Gewißheit, es müsse etwas in ihm zerreißen, wenn er das fremde Mädchen nicht gewänne, das in seinem Vaterhaus Zuflucht gesunden. Mit Wort und Blick umwarb er sie, und die ihm selbst fremde Zärtlichkeit, die anfangs schonend auf die hilflose Lage der Armen sah, wurde bald ein stürmischer Wettkampf. Arbeit, Zeit und Raum waren für ihn keine Hemmungen: fast an jedem Sonntag erschien er im Treßhof.

Und Marfa? Das Glück, aus der Hölle der russischen Gefängnisse erlöst zu sein, nicht mehr stündlich die Hefe der Lebensbedrohung trinken zu müssen, hatte nichts Beseligendes für sie. Sie war wie eine, die aus der Flucht finsterer Schächte in das überströmende Licht des Mittags tritt und die von der Blendung so überwältigt wird, daß sie für alle Reize unempfänglich bleibt. Die bis in ihre Tiefen erschöpfte Seele fand weder Wort noch Lächeln.

»Fräulein Fink, wie lieb Sie sind! Ach, so gut tun Sie mir, liebe Güldenfey!« Aber das kam bewußtlos von den Lippen einer, die noch abwesend war.

»Die Augen sehen noch rückwärts,« sagte Güldenfey, »wir müssen sie ins Leben locken, Ose.«

»Ja, Kind, das kannst nur du. Ich saß gestern bei ihr und ließ sie ganz in der Stille von guten Gedanken streicheln. Fragt sie plötzlich: [S. 32] ›Gibt es Brunnen in dieser Stadt?‹ Sah ich sie an und wußte nicht, was sie meinte. ›Hat nicht jede deutsche Stadt fließende Brunnen?‹ Da erzählte ich ihr, daß wir einmal auch quellende Brunnen hatten. Bei der Apollonienkapelle, die als Sühne für den Pfaffenbrand gebaut war, hat einer sich aufgetan, zu dem sie wallfahrteten. Aber das ist jetzt vorbei. Fragt sie nach einer Weile: ›Ob versiegte Brunnen wohl wieder aufwachen, Fräulein Fink? Ich meine hier drinnen?‹ Und zeigt auf ihre Brust. Nun, da hab' ich sie trösten können. Aber was der alte Mensch dem jungen sagt, das geht spät auf. Helfen magst du allein.«

Am Palmsonntag brach der Brunnen in Marfa Honterus auf. Sie hatte neben Güldenfey im goldenen Präsentierteller gesessen. Pastor Thomasius hatte machtvoll gesprochen, vom bitteren Leidensweg, auf dem sich stets einer einstelle, der dem Gequälten das Kreuz eine Strecke weit abnehme.

Als sie die Kirche verlasen hatten, griff Marfa ihrer Gefährtin Hand. »Ich wollte sie küssen, diese Hand, die mein Leid abnahm, doch es wäre wohl nicht schicklich gewesen.«

»Ich?« fragte Güldenfey. »Ich?«

Da stand Harro vor ihnen. Er war früher gekommen, als er sich angesagt hatte, und in seinem Gesicht glänzte die Freude, als er die Überraschung der Mädchen sah. Während er mit Güldenfey sprach, blickte er Marfa an. Eine Blutwelle färbte ihre blasse Stirn, und sie wandte sich ab.

Was half es, daß sie sich ihm entzog und ihre Seele vor ihm floh! Was bedeuteten alle Einwände der Vernunft: Sollte ich Mittellose mich in das begüterte Haus drängen und Bedenken erregen? Das Schicksal hatte längst seinen Spruch gefällt, und sie mußte gehorsamen. Harro nahm sie, und der Frühling war sein Helfer. Noch am Abend dieses Tages sprach er mit ihr, und zitternd, willenlos ergab sie sich. Eine Stunde später weinte sie in Güldenfeys Schoß ihre Bangnis aus.

Güldenfeys Hände glitten leise über das braune gewellte Haar. »Warum nur klagen?« sagte sie innig. »Es ist ja so schön, ganz wunderschön! Wie freue ich mich, daß ich eine Schwester habe!«

[S. 33]

»Es kam so jäh, es hat mich erschreckt.«

Die feinen Hände strichen auf und ab. In diese Stunde gehört eine Mutter, nur sie vermochte zu sagen, für das keins das einzige Wort fand. Wie fern lag das versunkene Grab!

»Aber ...« Güldenfey nestelte an ihrem Hals und zog den blauen Veilchenstein am Kettlein hervor. »Den mußt du tragen diese Nacht und wirst ruhig werden«, sagte sie. »Er ist von meiner Mutter. Es sind heilende Kräfte darin.«

Und sie streifte Marfa das Angebinde über.

Der Brunnen brach auf. Waren wirklich Segensmächte in dem Amulett? Löste das Ereignis verborgene, verirrte Ströme in dem jungfräulichen Blut? Marfa ward eine andre. Ihr Blick wagte sich in das Leben, das vor ihr lag, und fand hier und dort ein wenig Glanz. Und allmählich kam ein schüchternes Lachen in ihr auf. Vor allem: ihre Liebe, die lange des Anhauchs aus Menschenmund gewartet, brannte wie eine Fackel. Endlich war gekommen, für das sie leuchten durfte, ein Zweck, eine Aufgabe war da. Hemmungslos legte sie sich in der Gewißheit des Geborgenseins in die werbenden Arme und wirkte an ihrer Hingabe wie an einem bunten Teppich, den sie vor Harro ausbreitete.

Wenn die Rosen blühten, sollte Hochzeit sein, so hatte es sich Harro gewünscht, und so geschah es. Güldenfey hatte alles vorbereitet, und Ose sorgte wie eine Mutter. Seit dem Augenblick, da Marfa sich mit Jawort und Kuß Harro verlobt hatte, war sie für Ose eine Treß.

Malte nahm die Mitteilung von des Bruders Entschluß schweigend auf. Es war etwas in Harro erwacht, das jeden Einwand ausschloß. Malte hatte Frauke um ihre Meinung befragt; Frauke hatte nur stillschweigend die Schulter gehoben. Es lohnte nicht, feststehenden Dingen andre Möglichkeiten zu geben.

Aber die Hochzeit! Daß Marfa sich ausgebeten, die Feier möge ganz schlicht vor sich gehen, wollte ihm nicht gefallen. Ja doch, die Zeit gebot Beschränkung, und was hinter der Braut lag, verlangte Stille. Überdies war das Trauerjahr geltend. Doch dieser Zwang quälte ihn. Gern hätte er der Welt gezeigt, daß es sich die Treß leisten konnten, eine arme Verstoßene zu freien. Er sah von [S. 34] seinem Fensterplatz zum Wülflamhaus hinüber. Wieviel Ellen flandrisches Tuch hatte der zähe Bertram dem Ratsverbot zum Trotz von seiner Tür bis nach St. Niklas legen lassen für seines Sohnes Hochzeitsgang?

Jörg kam, und Engelke hatte sich ausgebeten, als letzten Dienst im Treßhof das Festmahl herzurichten. Am Tage darauf sollte sie ihr Stübchen im Heiligen Geist beziehen.

»Und habe ich sie dort untergebracht, dann fahren wir nach Heilisoe«, sagte Güldenfey. »Du sollst ein paar Ferientage haben, Jörg, du siehst angestrengt aus. Wir beide streifen durch die Insel, und wenn wir bei den verlorenen Steinen unter den Klippen sitzen, erzählst du von deiner Arbeit.«

Die kleine Kapelle von St. Annen und Brigitten war ein Rosenhag. Gelb und weiß und rosa und blutrot lag es auf dem Altar, wand es sich um Sessellehnen und Empore, quoll es aus Gläsern und Behältern. Konnte der Garten Güldenfeys diese Fülle von Rosen hergeben?

Sie lächelte, als man sie fragte. Die Herkunft der Rosen war ihr Geheimnis. Die Schwester, die Harro heut verbunden wurde, sollte durch eine Wolke von Duft in das neue Leben schreiten.

Frau Honterus saß wie im Traum unter denen, die des Paares harrten. Sie hatte eine Heimat bei Verwandten im Süden des verstümmelten Deutschland gefunden, die Kinderlose würde das Kind hier zurücklassen, mit dem sie gemeinsam den bitteren Bodensatz des Lebens getrunken. War es Glück? War es eine neue Stufe in tränenschwerem Läuterungsweg? Sie sahen alle so fremd darein, diese nordischen Menschen. Freundlich waren sie, und keiner stand hinter dem andern an Beflissenheit zurück. Und doch! Eine sorgende Angst stieg wieder in ihr auf. Da sah sie, wie Güldenfey ihr zunickte. Ja, es würde alles gut werden.

Nun zog das Paar ein. Jörg blickte etwas unruhig zu der alten Orgel empor, die sich mühte, mit ihren pfeifenden Lungen und verstaubten Zungen einen fröhlichen Hymnus anzustimmen. Aber der Anblick des bräutlichen Paares fesselte ihn so, daß sein Ohr die Kränkung schnell verwand. Wie gingen die beiden heiter durch [S. 35] den Gang, der mit Blumen und Sonnenlichtern bestreut war! Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; dein Volk ist mein Volk; wo du bleibst, da bleibe ich auch! Selbst Frauke hob das Tüchlein an ihre Augen, und Malte, der heute die Abzeichen seines Konsulamtes trug, wurde unruhig, als Pastor Thomasius seine Rede begann und mit warmen Worten an verborgene Saiten rührte.

Jörg mußte lächeln. Güldenfey saß so hingegeben da, als erlebe sie ihre Vermählung voraus. Ihre Blicke hingen mit dem Ausdruck völligen Vertrauens an dem Sprechenden, ihr Mund blühte wie aller Rosen schönste. Wo du hingehst ... Sah sie in der Ferne schon den Faden ihres Weges? —

Am nächsten Tag sammelte Güldenfey die frisch erhaltenen Rosen aus. Diese bekam Telge zum Schmuck des Bootes, das Harro und Marfa nach Heilisoe brachte; diese trug sie in das Alterstübchen Engelkes, in das sie die Alte mit Jörg gegen Abend führte. Drunten am Binnenhafen hinter kleinen Häuschen, vor denen Wagnergerät den Weg sperrte, lag der Heilige Geist, ein Gewirr von spitzgiebligen Dächern, Rasenflecken und Fachwerkgemäuer, das nach einer Seite die hohe Mauer der einstigen Befestigung abschloß, und auf das der kleine Turm der Geistkirche überlegen und keck herabsah. Gleich hinter dem Tor aber war der Klosterhof, dieser stille, einsame Gang mit den hölzernen, einen Umgang stützenden Säulen, mit den für den Ablauf des Regenwassers schräg gelegten Steinplatten und der Doppeltreppe. Immer strich ein kühler Wind durch diesen Hof, immer traten, sobald Schritte in ihm erklangen, die Alten an ihre Tür.

Jörg blieb vor der Tür stehen und las, was darüber eingemeißelt war. »Sieh doch, Engelke, du trittst aus einem alten Haus in das andere«, sagte er. »Dort oben steht: Diese Wohnungen des Heiligen Geistes seindt erbaut 1643. Was sagst du jetzt?«

Doch die Alte erwiderte nichts, sondern nickte nur und folgte Güldenfey in den Säulenhof. Sie achtete auch der neugierigen Gesichter nicht, die rechts und links erschienen, blieb vor ihrer Tür stehen, bis Jörg umständlich aufgeschlossen hatte, und trat dann durch den halbdunklen Vorraum in die freundlich geschmückte Stube, wo sie sich in dem Lehnstuhl am Fenster niederließ.

[S. 36]

»In Gottes Namen denn!« sagte sie und legte feierlich das Neue Testament auf den Nähtisch.

»Gefällt es dir?« fragte Güldenfey, die Kammer und Stübchen hergerichtet hatte.

»Viel zu fein für mich«, sagte sie und sah sich um. Sie behielt den kleinen Hut mit dem ewigen Veilchenstrauß, der im Sommer den Strohkapott und im Winter den Samtkapott zierte, auf dem Kopf, als sei sie nur auf Besuch hier.

»Wenn ihr mich einmal hier forttragt, braucht's so viele Rosen nicht«, fuhr sie fort und streichelte dankbar Güldenfeys Hand.

Sie mußte nun alles beschauen, was Güldenfey eingerichtet. Sie tat es, ohne eine Miene zu verziehen. Ja, es war sehr schön, die Liebe, die ihre Treue geweckt, würde sie hier wärmen, aber heimisch würde sie sich nicht fühlen. Ihr Mutterboden lag da, wo der Treßhof an die Stadtmauer stieß, wo der Blick aus dem Mansardenstübchen über die Teiche ging und die Sperlinge in wildem Wein und Efeu lärmten. Vierzig Jahre tagaus, tagein auf der gleichen Stelle. Wen zöge es nicht beständig dahin zurück!

»Ihr fahrt nun nach Heilisoe?« sagte Engelke.

Ja, sie wollte auf der Insel, wo sich jetzt der Sommer auftat, eine Woche verweilen, bis Harro und Marfa von Schweden zurückkehrten.

»Ich bin so glücklich, daß wir unser Sommerhaus in Heilisoe behalten«, sagte Jörg. »Malte wollte auch das aufgeben.«

Engelke horchte auf. »Wollte der Konsul das? Nun, es ist gut, daß er es nicht getan. Es wäre eine Sünde.«

»Warum Sünde?« fragte Jörg.

Sie berichtete, was Fräulein Fink ihr erzählt: Vor langer Zeit sei die Herrschaft von Heilisoe in die Stadt gekommen. Die Vorfahren seien dort Fischer gewesen, deshalb wären im Wappen der Herrschaft zwei Fische bis auf den heutigen Tag.

»Aber warum sollte es Sünde sein, wenn Malte das Haus verkauft hätte?« fragte Jörg.

Die Alte schüttelte den Kopf, als begriffe sie die Frage nicht. Plötzlich legte sie die Hand auf das Testament. »Es ist dort eure [S. 37] Heimat«, sagte sie. »Von Heilisoe seid ihr gekommen, nach Heilisoe müßt ihr immer wieder zurück. Die Heimat darf keiner aufgeben.«

Güldenfey fiel es erst, als sie zum Aufbruch liebevoll mahnte, auf, daß Jörg vor sich hinsann. »Er hat wieder eine Melodie gefunden«, sagte sie.

»Die schönste, Güldenfey«, entgegnete er.

Es war ein Abschied, als sollten sie sich nimmermehr wiedersehen. Engelke stand in ihrer Tür, hatte den Mund hart geschlossen und sah den beiden mit starren Augen nach. Da gingen sie hin, und sie blieb hier. Sie würden wiederkommen, doch sie würde immer hier stehen und ihnen nachblicken ...

»Wirst du mir deine Melodie vorspielen?« fragte Güldenfey.

Aber Jörg antwortete nicht.

»Nach Heilisoe müßt ihr wieder zurück. Hast du sie dabei angesehen, Güldenfey? Sie sah aus wie eine Sybille.«


Telge stand am Steuerrad und lenkte das Motorboot aus dem stillen Hafen. Es ging wieder auf Fahrt, es gab wieder zu tun. Dieser vergangene Winter und die Krankheit des alten Herrn hatten ihn seinen Bootsmannsberuf nicht ausüben lassen, seit er im Dezember aus dem Felde heimgekehrt war. Diese Handlangerdienste und Notknechtsarbeiten hatten ihm wenig behagt. Daß du die Motten kriegst! Er blickte verstohlen nach seiner jungen Herrschaft und spie über Bord.

Mellin sagte, er habe sich das Lügen abgewöhnt, wenn er von seinen Heldentaten erzählte: Marne, Galizien und Verdun! Was half's! Man hatte doch etwas erlebt. Die Brocken von Volksbeglückung und sozialer Befreiung, die durch alle Mäuler gingen und denen jeder Schwätzer seine Weisheit beimengte, waren nicht nach seinem Geschmack. Zeigt erst, was ihr könnt, sorgt vor allem, daß Brennstoff für den Motor da ist. Daß ihr die Motten kriegt! Und Telge spie wieder über Backbord und strich dann zärtlich seinen neu sprießenden Bartkranz.

»Sieh doch, Jörg!« sagte Güldenfey. »Nein, vor uns.«

[S. 38]

Er hatte das Bild der hinter ihnen versinkenden Stadt betrachtet, dieser trutzenden Stadt mit den gewaltigen Massen der Backsteingotik, die Bürgerfleiß in wenig Jahren aufgetürmt hatte.

»Vor uns?« fragte er.

Ja, das Gewölk, das Güldenfey immer wieder betrachtete! Am westlichen Teil des Sehkreises dieser ernste bläuliche Streifen wie eine drohende Not und darüber als tröstliche Verheißung der helle Wolkenfächer, über den die Sonne blitzende Speere schleuderte. Links tauchte schon Heilisoe auf. Die Insel ruhte weit gestreckt wie eine Badende auf der schimmernden Flut.

Die weißen Hütten der Fischer von Neudorf, ängstlich gegen die Winde an den kargen Boden gepreßt und umduftet vom Würzhauch der Heide, ohne Busch und Baum. Weiter die roten Dächer des zweiten Dorfes, und hinter diesem das Kloster und das hoch aufschwellende Dünenland, das die Gräber vergessener Hünen mit ihrem sagenhaften Goldschmuck barg.

Güldenfey stand vorn im Boot. Stets aufs neue empfand sie den Zauber des Eilands, immer löste der Anblick das gleiche Entzücken in ihr aus. »Ach, Jörg, sieh doch nur! Engelke hat recht, und du hast recht: Heilisoe darf uns nicht genommen werden.«

Telge lachte, als er das Wort hörte, das der Wind ihm zutrug. Man hatte im Hof schon davon gesprochen, daß der Konsul das schöne Landhaus auf der Insel verkaufen wolle. Dann wäre er übrig gewesen. Doch wenn die beiden jungen Herrschaften dagegen waren, war seine Stellung gesichert. Zufrieden nickte er und ließ das Boot in kühnem Bogen an das Bollwerk laufen.

Es war alles wohlhergerichtet im Inselhaus, das zwischen Erdwällen im Schutz des Nadelwaldes lag. Von seinen Fenstern sah man nach drei Richtungen die blauen Augen des Meeres leuchten, und gegen Mitternacht harfte der Wind in den Föhren.

Aber Jörg und Güldenfey waren nicht oft im Haus, denn der Himmel war voller Gnaden und segnete mit Sonnenschein des Eilands kurze Blütezeit, aus deren Nächten selbst das Dunkel floh.

Wie war jetzt die Zier dieses nordisch-armseligen Pflanzenlebens so reich! Von der Ginsterblüte ganz zu schweigen, deren Gold an [S. 39] allen Hängen, in jeder Sandmulde prahlte. Aber da blühten heimlich zwischen kriechendem Wacholder und stachligem Ölweidenstrupp die winzigen Erdbeeren und unendlich zarte blasse Federnelken. Da, wo die silbernen Möwen rasteten, stand starr die glänzende Strahlenkrone der Stranddistel, und Gräser neigten ihre Rispen unter dem Flug des Windes. Die Fetthenne lag wie ausgestreutes Gold auf dem Sand; um Hundszunge und Natterkopf flogen winzige Schmetterlinge, blau wie Lapislazuli, und die Schaumflöckchen der Zikaden schimmerten wie Schnee.

Vor allem aber die Rosenbüsche! Güldenfey kniete ehrfürchtig bei einem jeden nieder, den sie in den Tälern des welligen Geländes traf. Diese seltsamen Rosen der Steppe, die von der herben Feuchtigkeit der Seeluft lebten und deren Duft nicht aus dem blaßroten Kelch, sondern aus den Flächen der grünen Laubblätter stieg, sobald man an sie rührte.

»Sind sie nicht wie ein Wunder, Jörg?«

»Das Wunder der heiligen Armut«, sagte er.

Sie sah verwundert zu ihm auf. »Jörg, du sagst oft so seltsame Worte. Hinter ihnen ahnt man immer etwas Feines oder Tiefes. Ist dies das Geheimnis der Kunst?«

Er schwieg einen Augenblick, dann reichte er ihr die Hand zum Aufrichten.

Sie stand vor ihm und sah ihn erwartend an, und seine Augen glitten über das lichte Blond ihres Haares, über das schmalfließende weiße Mädchenkleid. Du Rose! dachte er.

»Komm mit!« sagte er. »Du sollst das Geheimnis meiner Kunst wissen, du ganz allein. Ich strebe, das zu werden, was du bist.«

»Jörg!« rief sie erschreckt.

»Höre mich an, Güldenfey! Meinst du, die Technik des Handgelenks macht es oder der kühne Gedanke? Das kommt ganz von selbst. Aber ich muß ein von Liebe zur Menschheit glühendes Herz haben, sonst klingt unrein wieder, was Gott in mich hineinsprach. Eitelkeit, Ehrgeiz ersticken; darum ist so viel Papier und Lärm in der Welt. Verstehst du das?«

Sie schüttelte ängstlich den Kopf.

[S. 40]

»Du bist ein höherer Mensch, du bist ganz Liebe«, sagt er. »Dein Wesen ist wunderschöne Musik. Wenn ich meine Kunst nicht mehr üben, sondern sie wie du leben kann, dann ist sie echt.«

Güldenfey sah mit abgewandtem Gesicht über das Meer. »Und das ...?« fragte sie.

»Das ist das Wunder der Armut«, antwortete er. »Losgelöst vom Schein und Scheinhaften, fern von dem, was diesen kläglichen Reichtum des Erfolgs verspricht; nur der Liebe dienen, weil sie verpflichtet.«

Sie legte beide Hände auf ihr klopfendes Herz. Sprechen konnte sie nicht. Wie weiß er das alles? dachte sie. Wie kommt das alles in ihn? Uns Menschen des werkenden Blutes liegt das doch fern. —

Diese Abende auf Heilisoe waren unbeschreiblich. Der Himmel war das Spiegelbild der Zeit: eine große klaffende Wunde, und unter ihm lagerte tiefblaues Gewölk wie eine steinerne Schale, deren Rand in gehämmertes funkelndes Silber gefaßt ist, die feierlich das tropfende Blut empfängt. Der Wind wellte die Wasser wie ein zartes Frauenkleid und schrieb auf die Fläche krause Zeichen, die bald zerrannen. Dann spaltete sich das Licht des Abends in flammendes Orangengelb und dunkles Veilchenblau, und die Schatten verdichteten sich um die Segel der Fischerboote, die in der Ferne wie große Vögel schwammen.

So sahen sie es von den Hünenhügeln aus, wo um die Stelle, da der Opferstein gestanden, am Fuße eines uralten verkrüppelten Weißdorns die Sternmiere blühte.

»Weißt du es auch, Jörg?« fragte Güldenfey leise.

»Was soll ich wissen, Kind?«

»Das von Balzer Treß, dem Fliegenden Holländer?«

»Ich habe einmal flüchtig davon gehört«, sagte er zerstreut. »Es ist lange her. Erzähle!«

Aber Güldenfey verschloß sich. »Morgen gehen wir an das Grab der goldenen Heiligen, dort will ich sagen, was ich von Ose darüber hörte. Man muß gesammelte Sinne dafür haben.«

Der Hügel, den sie das Grab der goldenen Heiligen nennen, lag mitten im bestellten Acker. Wildbirne, Ahorn und Eiche boten [S. 41] den Vögeln Nistzuflucht, und gelbe Wicken wuchsen am Fuß der Erdhöhung, unter der die besonders Erwählten der Zisterzienserbrüderschaft ruhten.

Im Schatten dieses in Stille gebetteten Gehölzes lagen sie, und dort erzählte Güldenfey. Jörg hatte den Kopf in die Hand gestützt. Der rote Ampfer auf dem fernen Hügel, der blaue Saum der See erregte sein Auge, aber seine Seele fuhr mit dem Ruhelosen durch die Wüste der Meere ... Irgend etwas gestaltete sich in ihm. Er atmete tief. Wo geht der Weg nach Heilisoe?

»Es ist wunderbar, Güldenfey«, murmelte er.

Sie schob sich näher an ihn. »Das Wunderbare ist dies, Jörg: Malte sieht ihm ähnlich. An dem Abend hab' ich es gefunden. Er hat auch soviel Unruhe in sich, er will erwerben, immer erwerben. Du kennst seine neuen Pläne. Glaubst du, daß Vorgänge in einem Geschlecht sich wiederholen können?«

»Alles wiederholt sich.«

»O Jörg, wie furchtbar! Möchtest du nicht mit ihm einmal reden?«

Er richtete sich auf. »Ich, Güldenfey? Nein. Wir verstehen einander nicht, besonders würde er mich nicht begreifen. Äußerlich ist ja zwischen uns alles geschlichtet. Wir Treß halten zusammen. Doch in seinen Augen bin ich ein Narr.«

Seit diesem Morgen war etwas über Jörg gekommen, das Güldenfey endlich auffiel. Warum sah er sie so fragend an, als sie ihm am Strand, wo zwischen den großen Blöcken das Wasser quirlte, den honiggelben Blasentang wies, der sich an einen winzigen Kiesel klammerte, um diesen als Lot und Ballast für seine Fahrt zu benutzen?

Sie fragte, was er denke.

»Ich dachte an dich, Güldenfey«, sagte er. Und als sie ihn erstaunt betrachtete: »Ich fürchte, es könnte sich einer so an dich klammern. Malte mag seinen Weg gehen und Harro auch. Du aber hast deine eigene Richtung. Sie sollen dich nicht um irgendwelcher Pläne willen herausdrängen.«

Er faßte zärtlich bittend ihre Hand. Sie verstand ihn nicht und zuckte hilflos die Schultern.

[S. 42]

Da sagte er ihr, daß Onkel Rolf nach dem Hochzeitsmahl in erwärmter Stimmung Malte den Vorschlag gemacht habe, seinen Sohn Klaus, der als abgedankter Hauptmann neue Tätigkeit suche, in die Firma aufzunehmen. »Er sprach unumwunden aus, Klaus wolle dich heiraten.«

»Und was sagte Malte?« fragte sie.

»Malte äußerte sich vorsichtig wie bei jedem neuen Geschäft.«

Plötzlich begann Güldenfey zu lachen. Sie stellte sich Klaus vor, wie er in seinem tadellosen Zivil durch die Straßen ging, mit verdüstertem Gesicht sorgfältig um jede Wasserlache herumstieg. Seine schlaffen roten Wangen, seine niedergezogenen Mundwinkel! Sah er nicht aus wie ein Schauspieler, der in seiner Glanzrolle ausgepfiffen war und der nun die Welt ob ihres Undanks verklagte?

»Was meinst du?« fragte er.

Sie lachte noch immer. »Laß doch das, du großer Junge! Verlohnt es sich denn, davon zu reden?«

Er war beruhigt. »Aber ruf mich, wenn sie dich bedrängen«, sagte er. »Die eines Geistes sind, sollen beieinanderstehen.«

Jörg ging, etwas zu holen, was er im Hause vergessen hatte. Güldenfey sah ihm nach, wie er auf dem schmalen Steig in der Svantevitbucht die Dünen emporklomm.

Wir, die eines Geistes sind! Ja, waren denn Jörg und sie wirklich andre als die älteren Brüder? Hatte alle nicht ein Schoß getragen? Waren sie vier nicht unter dem gleichen Herzschlag dem Leben zugewachsen?

Das glasgrüne Wasser spülte über die Kuppen der Blöcke und fuhr gurgelnd um die kantigen Flächen. Wie von Riesenfäusten geschöpft, floß der Gischt über sie hin. Die sich wider ihn stemmten, schliff er in geduldiger Arbeit glatt, die abgewandten blieben rauh. Es war hier wie im Menschenreich.

Sie sah auf, ob der Bruder bald wiederkehre. Das Gefühl einer zärtlichen Verbundenheit erwärmte sie. Ja, sie und er gehörten zusammen, sie spürte es ganz deutlich. Sie mußte ihn fragen, wie es möglich war, daß er dieses Unterschieds sich bewußt geworden.

[S. 43]

Doch als er kam und von andern Dingen sprach, hielt sie die Frage zaghaft zurück. —

Und an einem Nachmittag trafen Harro und Marfa ein. Telge hatte die große Flagge gehißt und sah bewußt auf die junge Herrschaft, die das Boot am Bollwerk erwartete, als erwarte er besonderes Lob.

Wie hatte ihr junges Frauentum Marfa verändert! Ihre Hingabe an den Mann prägte jedes Wort und jeden Blick, und sie ging nicht von seiner Seite. Sie sollten im Treßhof wohnen, aber Harros Wirkungsfeld war die Hauptstadt. Er sprach davon, daß er bald abreisen müsse. Die Angst, sie solle ohne ihn sein, stand wie ein Gespenst hinter jeder ihrer blumigen Stunden.

»Nicht wahr, Güldenfey, du wirst sie trösten?« fragte Harro.

»Aber ja!« sagte Güldenfey und liebkoste Marfas Hand. »Denk nur, Marfa, er kommt oft herüber. Und jedesmal die Freude des Wiedersehens!«

»Und jedesmal ein Abschied!« sagte Marfa.

Harro war in fröhlichster Laune. Es gefiel ihm, daß er die Seele seiner Frau ganz erfüllte, und seine Worte wurden wieder von dem lauten Ton getragen, den während der Brautzeit ein bittendes Werben gesänftigt hatte.

»Marfa kann jetzt richtig lachen, ich hab' es sie gelehrt«, rühmte er. »Paßt auf, ich will es euch beweisen.«

Sie standen auf der überdachten Terrasse, Harro ging und kam bald darauf mit Telge zurück.

»Telge wird uns den Panitzenschuhtanz vorführen«, erklärte er. »Nun, Telge, zeigen Sie, daß Sie noch mehr können als steuern.«

Und Telge hockte nieder, sprang und sang in seiner Mundart, wobei er fortwährend seine Schenkel schlug: »Juchhe, Panitzenschauh! Juchhe, Panitzenschauh!«

Er war sehr komisch, und Marfas Lachen erscholl wirklich herzhaft, aber sie blickte dabei Harro an, ob er nun zufrieden sei. —

Ein selbstverständliches Gefühl ließ Jörg und Güldenfey am nächsten Tage weiter ihre stillen Wege suchen. Auf dem Vogeleiland, einer Heilisoe vorgelagerten flachen Erdwelle, waren sie [S. 44] noch nicht gewesen, dorthin wollten sie, bevor Jörg abreiste. Der dürre Sand war mit bleichen Kieselbrocken durchmengt, der Wind bog das harte Strandgras und schrieb mit den Spitzen wie mit Griffeln seltsame Zeichen in den Sand. Strandläufer und Kiebitze schrien kläglich, und emsige Spinnen, winzig klein, hasteten über Vogelspur und um die Reste braungesprenkelter Eierschalen.

Soll ich ihn fragen? dachte Güldenfey. Aber auch in dieser weltfernen Abgeschiedenheit schloß etwas, das warnte, ihren Mund.

»Ob Telge morgen zeitig genug hier sein wird?« fragte Jörg, als sie am Strand zurückgingen. Malte hatte das Boot durch Fernspruch zur Stadt befohlen.

»Also wirklich morgen?« sagte Güldenfey. »Jörg, ich muß ... glaub' mir, ich muß dich etwas fragen.«

»So frag' doch, kleine Güldenfey.«

»Es ist etwas, das nur dich angeht, aber nach diesen herrlichen Tagen der Gemeinsamkeit ... Und glaub' mir, ich hüte es heilig.«

Sie waren bei den verlorenen Steinen angelangt, zwischen denen farbige Algen schwammen.

»Ich habe kein Geheimnis vor dir«, sagte Jörg. »Laß uns niedersitzen. Was willst du wissen?«

Güldenfey faltete die Hände um ihre Knie. »Du bist für die Musik bestimmt, Jörg. Doch da ist noch etwas andres in dir, das, was du die große Liebe nanntest, das, was den meisten, auch in unsrer Familie, fremd ist. Mutter hat es gehabt. Wie aber hast du es in dir gefunden?«

Er sah lange auf das Meer, als suchten seine Augen ein Bild, das in weiter Ferne lag.

»Es ist mein größtes Erlebnis«, sagte er endlich innig und ungewöhnlich zart. »Es war, als es mich draußen haschte. Die andern waren zurückgeflutet oder tot. Ich war in eine Sandmulde gekrochen. Seltene purpurrote Blumen standen in der Dürre, große Steine lagen umher. Wie hier. Mein zerrissenes Bein brannte wie im Feuer, die Sonne stach. Meine Sinne vergingen und wachten wieder zur Klarheit auf. Dann spürte ich Hunger und den fürchterlichsten [S. 45] Durst. Ich versuchte, mich fortzubewegen — es war unmöglich. Die Nacht mit ihren Kälteschauern brachte keine Erfrischung. Als die Sonne wieder aufging, wußte ich, daß ich, von allen verlassen, sterben sollte. Noch deckte mich der Schatten einer fernstehenden Baumgruppe. Aber ich glaubte, daß die Sonnenstrahlen, wenn sie mich erreichten, den letzten Rest von Kraft aus mir saugen würden.«

Güldenfey rührte ihn an. »Jörg, Jörg! Und hier tranken wir und aßen wir und haben das nicht gewußt.«

»Plötzlich bäumte sich alles in mir gegen den Tod auf. Leben, um jeden Preis leben! Ich hatte ja noch viel zu tun, ich wollte den ungesungenen Liedern nachgehen! Da sah ich unter den Bäumen einen Mann stehen; hinter ihm hing die Sonne ihren Strahlenmantel auf. Ich weiß nicht mehr, wie er gekleidet war: anders, als wir uns kleiden, war er und doch nicht fremdartig. Ich wollte ihm winken und konnte nicht, und kein Ruf kam mir vom Mund. Ich bemerkte, daß er mich nicht sah. Er blickte über mich hin. Als ich den Kopf in die Richtung wandte, sah ich auf dem Stein neben mir einen andern sitzen, den schaute der Mann an. Der andre sah aus ... hast du meine Zeichnung von dem Götzen des Geldes gesehen? Das war er! Als ich den andern betrachtete, redete er mich an: ›Du willst leben? Wohlan, sage zum Stein, daß er Wasser gebe. Er wird es tun, sobald du mir deinen Hunger und Durst verpfändet hast.‹ — Nimm hin! wollte ich rufen; aber in der Fülle meiner leiblichen Qual empfand ich doch die Warnung: Du gibst Unwiederbringliches hin. Was sollte ich tun? Ich blickte mich nach dem Mann unter dem Baum um, als müsse mir Rat von ihm kommen, und mir war, als sage sein Blick: Was wärest du ohne Hunger und Durst! Ich schüttelte den Kopf.

›Du willst nicht‹, sagte der andre. ›Aber Ehre für deine Tapferkeit willst du ernten. Ich verspreche dir Unsterblichkeit, wenn du mir erlaubst, dein Gewissen umzubringen. Es ist eine Kleinigkeit!‹ — Ich fühlte es heiß in mir ringen. Da blickte ich auf den stillen Mann, der wiegte langsam das Haupt. — ›Geh!‹ rief ich den andern an, aber er ging nicht, er stand nur auf.

[S. 46]

›Ich sehe, dir ist es um Glück zu tun‹, sagte er und machte eine herrische Gebärde. ›Alles Glück verschaffe ich dir — nur erlaube, daß ich dort, wohin du Tag und Nacht vergebens geschaut hast, einen winzig kleinen leeren Raum schaffe. Nur so groß wie ein Stecknadelkopf, aber völlig leer.‹ — Als ich sein starres Lächeln sah, da ... ich weiß nicht, was ich tat. Ich glaube, ich habe mich aufgerichtet und nach dem Mann unter den Bäumen meine Arme weit ausgebreitet. Der kam ruhevoll auf mich zu. Als ich im Feldlazarett erwachte, sah ich meinen Weg vor mir liegen und wußte, daß ich ihn gehen würde.«

Die Wellen spülten an den Strand. Sie saßen beide am Saum der Unendlichkeit und schwiegen.

Endlich seufzte Güldenfey tief auf. »Ja, du sollst ihn gehen, Jörg, und ich halte zu dir. Aber erkläre mir ...«

»Heute nicht mehr, Kind.«

Er deutete den Strand hinunter: da kamen Marfa und Harro, und der neben ihnen ging, war das nicht Malte? Er war es, sein Gesicht war bleich und völlig verschlossen. Harro schien sehr erregt und hieb einige Male heftig durch die Luft.

»Habt ihr es gehört, das Schändlichste, was je die Hölle ausgeheckt?« rief er schon von weitem. »Wir sind verurteilt ohne Verteidigung, vergewaltigt, hingerichtet, für alle Zeit geschändet.«

Was war geschehen? Was sollten sie gehört haben? Seine Erregung schlug wie ein Lavaausbruch in die Stille.

»Malte hat die Nachricht gebracht. Sie haben unserm Volk die Bedingungen diktiert, unter denen wir leben, was sage ich! verrecken dürfen. Mit gebundenen Händen mußten wir es anhören. Maul zu, oder wir schlagen! Gekreuzigt und verlästert, um endlich erstochen zu werden.«

So hatte Harro noch keiner gesehen. Aber in der Glut dieses flammenden Zorns erschien er schön und von allem Schlackenhaften seiner Art gereinigt. Marfas Hände umschlossen seinen Arm. Wie sie ihn anblickte, schien es, als fürchte und liebe sie ihn zugleich.

»Malte, sag' es ihnen. Ich will es wieder und wieder hören. Mein Haß ist gefräßig und soll satt werden.«

[S. 47]

Malte war sachlich, er zählte das Schandregister auf: Entmannung, Überwachung, Aussaugung, diese zerquälende Folge der den Menschheitgesetzen hohnsprechenden Gewalttaten, dieses Saatbeet der Angeberei, des Verrats, der niedersten menschlichen Triebe.

Der Wind war aufgekommen, der die Wellen heftig gegen den Strand warf. Es war ein wildes Schäumen um die Blöcke. Tat die Natur ihren Mund auf, um wider die sich zerfleischende Menschheit zu zeugen?

»Man weiß nicht, was das Ärgste darin ist!« stöhnte Harro, als Malte geendet hatte.

»Das weiß man wohl«, sagte Jörg. »Daß wir die Lüge, die wider uns ersonnen ist, als Wahrheit ausgeben sollen.«

Güldenfey trat plötzlich mit erhobener Hand vor: »Jörg, das ist es, was du erzählt hast: der Mord des Gewissens.«

»Halt, Güldenfey, sag' das noch einmal!« rief Harro. »Mord des Gewissens. Das will ich mir merken. Ich hab' es mir zuweilen gewünscht, daß es hier innen still sei. Es gibt Dinge ... Einmal lag ich morgens draußen in einem Loch. Da kam einer von drüben, der sich im Nebel beim Essenholen verlaufen hatte. Er sang laut vor sich hin. Ich ließ ihn, Gewehr im Anschlag, näher kommen; dann fiel der Schuß. Er hatte einen leichten Tod. Wie viele in meinem Feuer lagen, das weiß ich nicht, will es auch nicht wissen. Aber dieser eine Mann macht mir oft Unruhe. Es ist unbequem, aber es ist doch wohl gut.«

»Quält dich die Erinnerung auch jetzt noch?« fragte Marfa.

»Seit ich dich habe, nicht mehr«, sagte er. »Malte, was können wir jetzt tun?«

»Tätig sein«, erwiderte Malte knapp.

Er war während der Erzählung des Bruders zur Seite getreten. Jetzt zog er die Uhr. »Ich bin nur gekommen, weil ich dachte, die Nachricht sei sehr wichtig für dich. In einer Stunde fahre ich.«

»Natürlich«, sagte Harro. »Man wird mich in Berlin erwarten.«

Er war so erregt, daß er nicht daran dachte, mit Marfa sich zu besprechen. Es war ja alles aufs beste geregelt: sie blieb im Treßhof, ihn forderte das Leben.

[S. 48]

»Ich fahre mit ihnen«, sagte Jörg zu Güldenfey.

»O Jörg! So enden unsre schönen Tage!«

Aber sie erkannte, daß, nachdem dieser Schlag gefallen war, auch auf den Dünen von Heilisoe kein Platz für die Freude mehr sei.

Die überstürzte Abreise der Brüder glich fast einer Flucht. Die beiden Frauen standen am Bollwerk und winkten dem Boot mit matten, hoffnunglosen Händen nach.

In der Ferne tauchte die siebentürmige Stadt auf. Jörg stand vorn am Steven und nahm das Bild in sich auf. So blickten einst die heimkehrenden Hanseaten stolz der Heimat entgegen, wenn sie von reichen Fahrten zurückkamen. Was sie heimbrachten, sollte der Stadt Zierde sein, der Heimat Ruhm. Heute? Die Jetzigen dachten nur an Selbstbereicherung. Das war der Weg zur wahren Freiheit nicht. Aber wo war der zu suchen, der Rückweg nach Heilisoe?


Das Volk in Not

Was für ein Treiben begann jetzt im Haus am Markt? Die Herren vom Rat staunten, man sprach bei den sonntägigen Zusammenkünften im alten verräucherten Weinkeller davon; die Olrogges machten runde Augen. Der alte Aldermann des Schneidergewerks wartete nach einer erregten Sitzung im Vorsaal auf Onkel Rolf, um ihn zu begleiten.

»Herr Justizrat, ist es wahr, was ich hörte? Ihr Neffe wird eine Bank eröffnen?«

»Sie sind recht berichtet, Herr Hofmeister.«

Der weißbärtige Herr schüttelte den Kopf: »Sehr schön, Herr Justizrat, ich bewundere Malte Treß. In dieser Zeit, da keiner weiß, was uns widerfahren kann, wie sich alles auswirkt ...«

»Ich bewundere ihn auch. Ich habe immer etwas übrig für Leute, die den Kopf in Zeiten der Not hoch tragen. Jetzt erst recht! Wir Alten sind mürbe geworden und verstehen das nicht mehr.«

[S. 49]

Als er seinen Weg allein fortsetzte, verdüsterte sich sein Gesicht wieder. Er würde es keinem sagen, daß er Malte doch ernstlich abgeraten hatte.

Maltes Mund war fester geschlossen als bisher, die Züge seines Gesichts waren gestrafft, seine Blicke gingen immer, wenn er sprach, über den Angeredeten fort. Herr Häberle hatte den Eindruck, als sähe sein Chef auf einen Punkt, den er unter keinen Umständen aus dem Auge verlieren dürfe. Nur wenn jemand etwas sagte, das entfernt einer Warnung vor allzu kühnen Wagnissen glich, konnte er den Sprecher so erstaunt anblicken, daß dieser jeden Einwand aufgab.

Die Schreibstuben waren in den Treßhof verlegt. Im unteren Stockwerk des Hauses am Markt klopften und hämmerten Maurer und Zimmerleute. Das Vorderhaus war neuzeitlich, aber von dem einstigen Giebelhaus ragte in den Hof noch der alte Flügel mit den Kemladen, jenen Gemächern im Halbdunkel, zu denen man über unzählbare Stufen, hinauf und wieder hinab, gelangte. Alles wurde jetzt nutzbar gemacht.

Malte trieb die Arbeitenden an, da der Umbau mit dem Ausgang des Winters beendet sein mußte, doch bei ihnen stieß sein fieberndes Eilen auf eine starre Wand. Er mußte verdrossene Worte hören, und die verwundert-gebieterischen Blicke prallten wirkunglos ab.

»Herr Häberle, die Leute arbeiten zu langsam!«

Häberle rückte seine Brille gerade. Verstand denn der Chef die Zeit so wenig? »Herr Konsul, die Menschen können sich nicht an den Gedanken gewöhnen, daß wir arm sind und Arbeit unser einziges Kapital bleibt. Sie glauben an den großen Wechsel in ihrer Tasche.«

Malte zuckte die Schultern. Sein Beispiel mußte sie anstecken, er würde sie schon mit sich reißen. Er selbst arbeitete unermüdlich. Ausruhen? Wozu? Nach wenigen Stunden Schlaf lag er doch wach, und im Dunkel und in der horizontalen Lage arbeiteten die Gedanken ungestümer denn je. Erholung? Bah, er war aus altem Holz geschnitzt! Der Weg vom Markt zum Treßhof, vier-, sechsmal am Tage, genügte ihm vollauf.

Die in den Schreibstuben saßen, mußten mit. Sie stöhnten, sie schalten, aber sie fügten sich. Wer nicht mitlaufen konnte, wurde [S. 50] abgelohnt. Es waren genug brotlose Leute da. Zehn für einen.

Auch Herr Häberle stutzte. Arbeit wurde ihm so leicht nicht zuviel, aber er vermißte den Ausblick auf die Weite des Weges, den der junge Chef eingeschlagen. Warum tat der so geheimnisvoll? Er versuchte zu erkennen.

Malte besprach einmal mit ihm ein Vorhaben. Häberle riet ab.

»Warum fehlt Ihnen seit einiger Zeit das Vertrauen?«

»Herr Konsul, diese ungeheuren Wertmassen, die auf dem Papier stehen, deren Verzinsung allein den Geldvorrat der Welt übersteigt, werden uns in eine Sackgasse jagen, aus der keiner herausfindet.«

»Wollen Sie gegen den Strom schwimmen?«

»Nein, aber ich denke an unsern Namen. Die Valuta beruht auf dem Glauben, daß der Schuldner einlösen kann. Das muß mehr als eine Annahme sein, es wird aber allmählich zum Begriff.«

Er machte sich an seiner Brille zu schaffen. Malte überlegte und stand plötzlich auf.

»Sie haben recht, Herr Häberle. Aber wir tragen keine Verantwortung, denn wir müssen mitmachen. Gedulden Sie sich noch ein wenig, und Sie werden sehen, daß ich in dieser Wirrnis erkannte, was zu tun nötig war.« —

Endlich waren die Werker im Haus am Markt fertig, und die Schreiber und Rechnungführer hielten in die Räume, in denen es nach Kalk, Farbe und frischem Holz roch, ihren Einzug.

Frauke kehrte zurück, Frauke, die vor dem Lärmen der Hämmer nach Hamburg geflüchtet war. Sie war fast während des ganzen Winters dort gewesen, und nur in den Weihnachttagen hatte Malte sie besucht. Natürlich, er war zu Hause unentbehrlich gewesen, aber es litt ihn auch sonst dort nicht lange. So gern er auch die alte Hansestadt aufsuchte und seine Brust in ihrer Luft weiten mochte — war er dort, zog es ihn wieder heimwärts. O ja, man begegnete ihm freundlich im Hause Poppelmann, man schätzte seine ruhig wägenden Urteile; der alte Poppelmann mit den scharf geschnittenen Zügen schien ihn zuweilen auszeichnen zu wollen, und doch — nirgendwo als in diesem Luftkreis fühlte Malte so stark, wie fern [S. 51] ihm seine Frau war. Zu Hause hatte sie schließlich nur ihn. In Hamburg lebte sie in einer ihm fremden Zone, ihr Denken drehte sich in fernen Kreisen. Er war Gast in ihrem Hause.

Frauke also kehrte heim, und Malte erwartete sie auf dem Bahnhof. Als sie aus dem Portal auf die Straße traten, stand da ein funkelnd neuer Kraftwagen, dessen Schlag Malte ihr öffnete.

Sie blickte ihn verwundert an. Der Mann am Steuerrad grüßte. Das war ja doch Telge!

»Mein Geschenk für dich«, sagte Malte.

Sie ließ einen gurrenden Laut der Überraschung hören. »Du? Für mich?«

Malte nickte zufrieden. Sie konnten den Wagen hier nicht betrachten. Schon sammelten sich die Gaffer.

»Ich danke dir!« sagte sie. Und der freudige Ton schien ihm Lohns genug.

Frauke war froher denn je. Ja, diese Vorfrühlingstage an der Alster, die so eigen waren, wenn das Eis brach! Aus den Fleten stieg dann ein ganz besonderer Duft, und der herbe Wind, der über die Elbe strich, trug bis in die Gassen am Gänsemarkt etwas mit sich, das es nirgendwo gab: Geruch von der Erdkraft der Lüneburger Heide, Rauchduft vom Reisig niedersächsischer Herde.

»Willst du gleich die Geschäftsräume sehen?«

Ja, sie wollte. Die Köpfe der Emsigen fuhren in die Höhe.

»Bitte die Herren, sich nicht stören zu lassen!«

Und die Stirnen senkten sich über die Tischplatten, auf deren weiße Buchblätter die grünumschirmten Lampen helle Kreise warfen. Federn scharrten leise, Papiere knisterten, die Luft war erfüllt vom Atem der Arbeit.

Frauke stand auf der Stelle, von wo sie die Flucht der geschaffenen Räume überschaute. Ihre Nasenflügel witterten. Etwas Helles durchlichtete sie und trat in ihre Augen. Sie war stolz auf ihren Mann; ihre abwägende Vorsicht schwieg.

Unumwunden drückten es ihre Worte aus, als sie und Malte oben am Teetisch beisammen waren. »Du sprachst einmal von anzuknüpfenden Verbindungen.«

[S. 52]

»Ich bin auf dem besten Wege, Frauke. Noch ein paar Monate, und alles wird geregelt sein.«

»Ich habe gestern noch einmal mit Vater gesprochen.«

»Ich bin dir sehr dankbar, Frauke. Kann ich mich, sobald es not tut, um Rat an ihn wenden?«

»Er rät ungern. Du kennst ihn ja: Selbst ist der Mann! Doch empfiehlt er dringend Vorsicht bei Abschlüssen von Verbindlichkeiten auf lange Dauer. Er sagt, die Zukunft sei undurchdringlich.«

War das alles? Ja, mehr hatte er nicht gesagt. Malte rückte auf seinem Sitz. Jawohl, selber ist der Mann.

»Also Güldenfey geht es gut, und Marfa erwartet ein Kind? War Harro oft hier? Und der Benjamin Jörg?«

Malte berichtete. Über kurze Andeutungen, die Familie betreffend, war er in den eiligen Briefen, die nach Hamburg geflogen, nicht hinausgegangen. Gottlob, sie waren ja alle gesund.

»Klaus ist jetzt im Geschäft?«

Ja, darüber war mancherlei zu sagen. Malte erzählte.

Klaus war gekommen und hatte gesagt: Hier bin ich, gib mir zu tun. Malte hatte ihn aufmerksam betrachtet. Er trug sich selbst auch gewählt, doch nicht in der Weise, daß er die Sonderung betonte. Hier aber: Lackschuhe, Gamaschen, das feinste Tuch und über allem der Duft teurer Blumenseife. Klaus hatte sich draußen tapfer gezeigt, war wochenlang im Sud versumpfter Gräben gelegen. Weibisch-Verderbtes lag seinem mannhaften Wesen fern. War dies das Dürsten nach Kultur, das sich übersteigerte? Viele konnten sich jetzt im Ausleben nicht genug tun und verloren das Maß.

»Du willst also arbeiten?«

»Gewiß will ich das.«

»So komm! Ich werde dir das Gefüge des Betriebs erklären.«

Klaus hatte gut achtgegeben, vernünftige Fragen getan, sich aufnahmefähig erwiesen.

»Dein Platz ist hier, gegenüber von Herrn Häberle. — Herr Häberle, Sie leiten freundlichst Herrn Hauptmann an!«

Eine Stunde später war Klaus bei ihm eingetreten. »Hör' mal, Malte, einen andern Platz mußt du mir anweisen.«

[S. 53]

»Blendet die Sonne oder zieht es dort?«

»Nein, aber unter den jungen ungedienten Leuten kann ich nicht sitzen. Und dann: Häberle gibt mir ja richtige Schulaufgaben. Auszüge aus dem Kurszettel. Ich dachte doch, ich gehöre ins Chefzimmer.«

»Du bist ein Lernender. Hier muß ich allein sein, und keiner kann dich so gut einführen wie Häberle. Sei zufrieden!« —

»Und er ist dort geblieben?« fragte Frauke. »Nun, mich wundert, daß er sich fügte. Ist es ihm ernstlich um Güldenfey zu tun?«

Malte bejahte. Klaus selbst hatte es angedeutet. Er konnte sein Heil versuchen. Malte war damit einverstanden.

»Baue darauf keinen Plan«, sagte sie. »Du wärst ein übler Menschenkenner, nähmst du an, Güldenfey finde sich dazu bereit.«

»Unser williges Kind, Frauke!«

Sie machte eine bedauernde Gebärde und erhob sich. »Du wirst noch hinabgehen wollen, ich habe die Jungfer für das Auspacken bestellt.«

War die heimliche Stunde schon verstrichen? Geschwätz von Geschäften und Familie? Mußte nicht noch etwas Besonderes kommen?

»Frauke!« sagte er und streckte beide Hände nach ihr aus. »Hätten wir uns heute nichts mehr zu sagen?«

»Was nur?« fragte sie. Als er schwieg, blickte sie ihn prüfend an und errötete leicht.

»Ich war lange allein, Frauke.«

»Es ist ja nun gut. Im Sommer will ich mit dem Vater und Johns auf Sylt zusammentreffen. Bis dahin bleibe ich hier.«

Sie neigte die Stirn gegen ihn, daß er sie mit den Lippen berühre; dann ging sie. Er blieb stehen und lauschte entzückt auf das feine metallische Klingen der Reifen an ihren Handgelenken, das durch das Nebenzimmer läutete und sich in der Ferne verlor. Dann atmete er glücklich auf. —

Klaus schlenderte durch die Bechermeistergasse der unteren Stadt zu. Es war noch nicht Zeit, zum Essen zu gehen, und er bedurfte der frischen Luft. Das Hocken in dem abgesperrten Raum, diese Zahlen, die von Mund zu Mund flogen und denen er keine Teilnahme abgewann, [S. 54] ermüdeten ihn. Er hatte Herrn Häberle etwas von einer Verabredung gesprochen und war gegangen.

Die Hauptstraße vermied er; dort konnte ihm Malte begegnen. Der nahende Lenz spürte sich auch in der engen Gasse, die so schmal war, daß Sperrbalken die einander gegenüberliegenden Häuserwände absteiften und die Gangsteine nur für einen Gehenden Raum boten. Der Entgegenkommende mußte zur Seite treten.

Eigentlich seltsam, dieses Leben! Wie oft war er vor dem Kriege durch die Straßen dieser seiner Heimatstadt geritten, den Burschen auf dem zweiten Pferd hinter sich, nach rechts bald und bald nach links grüßend. Als einziger Sohn des vermögenden Ratsherrn Glöden hatte er eine bevorzugte Stellung eingenommen. Und jetzt? Der beste bürgerliche Anzug ersetzte nicht die Uniform, und er zwängte sich durch die Bechermeistergasse, um seinem Vetter aus dem Wege zu gehen. Warum war er nicht wie tausend andre draußen geblieben, irgendwo eingescharrt? Jetzt mit fünfunddreißig Jahren Kaufmann! Es war so sinnlos.

Er war bis zur alten Sachsenbastion gekommen, da erblickte er plötzlich Güldenfey. War sie krank? Ihr Gesicht war seltsam gespannt, und ihr federnder Gang trug eine Hemmung.

»Güldenfey!«

Sie blieb stehen und reichte ihm die Hand. Im Arm trug sie ein großes Paket. Er machte Miene, es ihr abzunehmen.

»Nein, nein«, wehrte sie. »Ich gehe zu Engelke. Hier ist es schon.«

Er zeigte ein enttäuschtes Gesicht. »Aber du bleibst ja nicht lange«, sagte er. »Ich werde dich erwarten und begleite dich nach Hause.«

Sie wäre viel lieber allein geblieben, doch sie besann sich, daß sie ihn bei dem letzten Sonntagskaffee unfreundlich behandelt hatte und deshalb von Gewissensbissen geplagt war. Sie wollte wieder gutmachen. »Wenn du Geduld hast —«

Nun, die Geduld wollte er beweisen. Und während er auf und nieder ging, überlegte er, wie er gefällig erscheinen konnte. Von seiner Kupferstichsammlung mochte sie nichts hören. Hat man in dieser Zeit wirklich etwas für so kostspielige Liebhabereien übrig? [S. 55] hatte sie einmal gefragt und ihn eigentümlich angesehen. — Du mußt den onkelhaften Ton aufgeben, wenn du mit Güldenfey sprichst, hatte sein Vater geraten. Es ist nicht gut, deinen Vorsprung an Jahren zu betonen. Gut, gut; also kameradschaftlich!

Er eilte ihr freudig entgegen als sie erschien; ihn freute im besonderen, daß sie das gräßliche Paket nicht mehr im Arm hielt. Merkwürdig, Güldenfey sah so gut aus und hatte bei aller Natürlichkeit viele Reize, aber auf solche entstellenden Dinge achtete sie nicht.

»Du besuchst wohl eure Engelke oft?« begann er. »Ich fürchte, das strengt dich an. Du siehst nicht so wohl wie früher aus.«

Sie lächelte ein wenig.

»Fühlst du dich krank?« fragte er besorgt. »Ich begreife nicht ... Aber Malte bemerkt ja jetzt überhaupt nichts mehr außerhalb seiner Geschäftsräume. Ich werde mit ihm reden.«

»Bitte, nicht«, sagte sie. »Wozu das? Es würde ihn beunruhigen. Ich bin nicht krank, ich leide nur.«

»Ist das nicht dasselbe? Oder kränkt, benachteiligt man dich?«

»Mich? Ach, Klaus!«

Ja, was dann? Klaus war am Ende und blickte sie ratlos und bekümmert an. Sie lächelte wieder. Was hinter diesem in Gesundheit geröteten Gesicht lebte, wußte wohl nichts davon. Trotzdem wollte sie es sagen.

»Ich leide an dieser furchtbaren Zeit, schon lange, seit jenem Tage in Heilisoe, da Malte uns die Schreckensnachricht brachte. Es ist entsetzlich!«

Klaus machte eine zustimmende Bewegung. Ja, natürlich entsetzlich. Diese zerbrochenen und verkrüppelten Existenzen, diese Vergewaltigung dessen, das zu Besserem bestimmt war.

Güldenfey merkte, wie ihn seiner Enttäuschungen Bitternis überkam. Sie schwieg, in ihr verkroch sich etwas ängstlich. »Das wäre wohl das geringste Übel«, sagte sie endlich leise. »Aber das andre, die Verderbnis, der Hunger.«

Sie blieb stehen, ihr Arm machte eine weite kreisende Bewegung. Die Vorübergehenden blickten verwundert auf sie.

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»Komm doch!« sagte Klaus. Es war ihm peinlich, in dieser Weise Aufmerksamkeit zu erregen. Er redete weiter, heftig, hastig, sein Ärger gegen alle, die er für die Verderber hielt, entlud sich in starken Worten. Hätte er gewußt, wie weit er sich von ihr fortredete!

Güldenfey hörte ihn nicht mehr. »Wohin sind wir gegangen?« sagte sie und sah sich um. »Ich wollte zu bestimmter Zeit zu Hause sein. Ich muß die Bahn benutzen.«

Sie hatte erwartet, daß er sie jetzt verlassen würde: sie redete ihm zu, daß er um ihretwillen nicht seinen Spaziergang verkürze. Er bestand darauf, sie begleiten zu wollen. Als der elektrische Wagen vor ihnen hielt, bestieg er ihn nach ihr.

Die Plattform war um diese Zeit von Fahrenden leer. Die Schaffnerin kam und reichte ihnen die Scheine. Klaus machte eine gleichgiltige Bemerkung, Güldenfey wollte antworten. Plötzlich fuhr sie zurück. Das Gesicht der Frau, die die grüne Dienstmütze trug, näherte sich dem ihren und blickte sie dreist, mit einem häßlichen Lächeln an.

»Nun, schönes Fräulein Güldenfey! Einen vergnügten Spaziergang gemacht?«

»Verzeihen Sie, ich kenne Sie nicht«, stammelte Güldenfey erschrocken.

Die Frau lachte rauh. »Das will ich glauben. Es ist lange her, seit wir beide unter einem Dach wohnten.«

Güldenfey erbebte. Was war das für ein unangenehmer Geruch, den die Frau ausströmte? »Ich weiß nicht —«

Da griff Klaus ein: »Bitte, uns nicht zu belästigen!«

Jetzt wandte sich die Frau ihm zu. Ihre glitzernden Augen wurden dunkel im Groll. »Sie? Was hätte ich denn mit Ihnen zu schaffen?«

»Schweigen Sie! Lassen Sie sofort den Wagen halten. Sofort, oder —«

Klaus' Stimme schnarrte, als stände er auf dem Exerzierplatz. Als die Frau noch nicht Miene machte, ihm zu willfahren, riß er das Glockenseil so heftig, daß der Wagen gleich darauf stand. Er sprang ab und reichte Güldenfey die Hand. Noch einen Blick warf [S. 57] diese auf die Frau. Das Gesicht war verwüstet, verwildert, aber hinter der rauhen Schrift lag die Glätte einer versunkenen Schönheit, und etwas wie ein Erschrecken ließ sie jetzt erstarren.

Güldenfeys Glieder zitterten. »O Klaus, wer war das?«

Klaus murmelte vor sich hin: »Unglaublich! Jetzt drängt sie sich uns schon öffentlich auf.«

»Kennst du sie? Sie sagte, sie habe bei uns gewohnt!«

Es schien, als besinne er sich. »Das ist törichtes Gewäsch. Ich kenne die Person nicht, will sie nicht kennen. Sie ist eine Verworfene. Hast du nicht bemerkt, daß sie betrunken war?«

Das war also der widerliche Geruch. Und doch — Güldenfey fühlte, er verbarg ihr etwas. Ihr Blut wallte warm in Mitleid, Tränen stiegen ihr auf. »Eine Verworfene? Und du konntest so hart sein, Klaus!«

Er schwieg betroffen. Er fühlte, daß er etwas in Güldenfeys Sinn eingebüßt habe, was nicht leicht gutzumachen war.

Als sie zu Hause eintraf, rief sie nach Ose. Die Alte stand im oberen Flur vor den Leinenschränken und bündelte Wäsche ein. Atemlos erzählte Güldenfey ihr Straßenerlebnis.

Oses Lippen wurden schmal und herbe. »Laufen viele Frauen jetzt durch die Welt, die einst guter Herkunft waren; habe jüngst erst eine gesehen, die einstmals in Seide ging und nun Lumpen trägt. Was soll die Schaffnerin mit uns zu schaffen haben, du liebe Seele!«

Güldenfey trat vor sie hin: »Sieh mich an, Ose! So, und nun sag': Was hat es mit der Frau auf sich?«

Die Alte schluckte mühsam. »Kind, ich kenne sie doch nicht. Und wenn ich wüßte, wer sie wäre, glaubst du, ich würde reden, wenn ein Verbot meinen alten Mund versiegelt hält?«

Da flossen Güldenfeys Tränen. »Es ist soviel Not da, die wird verdeckt mit Schweigen. Ich möchte helfen und kann nicht, weil ich ihr nicht auf den Grund sehe. Hilf du mir doch, Ose.«

Aber Oses Gesicht blieb verschlossen und war fast hart, und der Mund, der immer willfährig war, wo es zu trösten galt, blieb dieses Mal stumm. —

[S. 58]

Ja, Güldenfey litt mehr, als alle wußten.

Frau Mellin war mit einem Brief zu ihr gekommen, das älteste Kind der Tochter siechte dahin. Die Kinder in den großen Städten starben in Menge, weil ihnen das Nötigste fehlte: Milch und Brot.

»Lassen Sie das Kind kommen«, riet Güldenfey. »Wir werden es herauspflegen.«

Doch Frau Mellin wußte, daß die Not hier die gleiche sei. »Sehen Sie sich doch die Kinder auf der Straße an, gnädiges Fräulein!«

Seitdem achtete Güldenfey in der Stunde, da sich die Schulen schlossen, auf die Scharen, die sich in die Straßen des Sachsenviertels ergossen. Sie ging hinter den Trupps her, sie stellte sich mit ihnen vor die Ladenfenster, wo hungrige Blicke die märchenhaften Dinge der Auslage prüften. Sie wollte hören, und sie hörte. Ach, was hörte sie!

»Mutter sagt, wir verkaufen jetzt unsre Milchkarten. Was nützt die Karte, wenn wir die teure Milch nicht bezahlen können.«

»Grete ist gestern gestorben.«

»Der Otto von nebenan auch.« Es klang, als werde ein Trumpf ausgespielt.

»Der Doktor sagt, sie hat die Grippe gehabt. Mein Vater sagt: Unsinn, sie ist einfach verhungert.«

Hunger! Wie furchtbar klang das Wort vom Kindermund! Welche Anklagen stiegen aus den vielen kleinen schmucklosen Särgen, die man heimlich, wie verschämt, in der Dämmerung zum Friedhof trug!

»Kinder, wartet hier. Ich kauf' euch etwas.«

Sie warteten. Ihre Blicke hinter der dicken Scheibe hafteten an dem Fräulein drinnen, das mit dem Bäcker verhandelte.

»Brot, natürlich, und Semmeln. Und die trockenen Küchlein im Glas. Packen Sie nur ein. Und bitte, schnell noch etwas von dem Zuckerwerk.«

Sie trat aus der Ladentür, beide Arme befrachtet mit Gebäck. Ein Dutzend blasser Kindergesichter — oder waren es mehr? — hob sich ihr entgegen. Das verlegene Lächeln derer, die nicht zu glauben [S. 59] wagten, schnitt in ihr Herz. Es tat so weh, dieses Lächeln, weil es nicht glücklich war.

»Seht, das ist für euch. Nehmt nur, nehmt!« sagte Güldenfey. Sie stand da wie die heilige Elisabeth und legte ihre Gaben in die geöffneten Hände.

»Nehmt es, nehmt das liebe heilige Brot!«

Wie schauten sie nur aus, diese Menschlein, um deren entkräftete Körper die zerstörenden Fieber des Lebens wie nächtige Schakale um niedergebrannte Feuer schlichen: ungepflegt, rauhe, vertragene Stoffe auf dem hageren, von keinem Hemdlinnen geschützten Leibe tragend und ohne Glauben an die große Güte, die des Hungernden sich erbarmt. Sie konnte das stumme Elend nicht ertragen, sie ermunterte: »Ihr lieben Kinder, erzählt mir etwas.«

Da und dort begann einer der essenden Münder zu sprechen. Ein Mädchen erzählte, daß man heute das Bild des Kaisers aus der Schulstube entfernt habe. Krampfte nicht das Herz, wenn man das hörte? Papierne Bestimmungen jagten einander: die Bilder ausgetrieben, der Heiland ausgetrieben — und Reihen hungernder Kinder saßen da, denen man etwas nahm und statt des nötigen Brotes eine neue Rechtschreibung gab. Es war, daß sich Steine erweichen konnten!

Wenn Güldenfey jetzt um die Mittagsstunde durch die Straßen schritt, liefen ihr die Hansen und Greten schon entgegen, und die Menge wuchs, die draußen vor dem Bäckerladen harrte, in dem sie Brot einhandelte. Sie mußte die Stücke verkleinern, denn oft reichte ihr Geld nicht aus. Und immer begleitete ihre Gabe ein segnendes Wort. Nehmt hin, nehmt das liebe Brot!

Wenn Güldenfey heimkam, wußte sie zu erzählen.

»Kind, du ißt so wenig«, mahnte die Alte und rückte ihr die Schüssel näher.

»Ach, Ose, wenn man dem nachdenkt, was man heut wieder sah.«

»Hast ja deine Pflicht getan, so darf's dir auch schmecken. Nimm noch ein wenig, nachher such' ich auch noch nach altem Leinen.«

Es war nicht allein Deutschlands Not, die sich ins Herz fraß, es war vielmehr der Übermut, der dieser Not spottete.

[S. 60]

Als Güldenfey einmal aus dem Laden trat, ihre hungrige Schar zu speisen, stand da eine Gruppe Herren und Damen, die sich das seltsame Ereignis betrachten wollten. Es waren solche, die mit funkelnd neuen Koffern durch die Geschäfte zogen, um die Waren des geschmähten Landes aufzukaufen. Ihrer Sprache nach kamen sie von jenseits des großen Wassers.

Güldenfey schämte sich. Die Fremden, schwatzend und lachend, standen wie beim Beginn einer Tierfütterung.

»Kommt ein wenig weiter, Kinder!«

Doch die Hungrigen waren zu ungestüm, und sie mußte austeilen. Die Fremden gafften und schwatzten. Zog keiner die Kamera hervor? Spitzte kein Berichterstatter den Stift zu interessantem Bericht: Speisung hungernder Kinder auf der Straße? O Deutschland!

Ein Kind ging leer aus, ein flachshaariger Bub mit tiefliegenden Augen.

»Warte, Kind, ich hole für dich!«

Güldenfey hatte kein Geld mehr, sie mußte borgen. Aber um alles nicht sollte der Junge darben. Als sie sich der Tür zuwandte, griff einer der Fremden in die Tasche und warf ihr einen schmutzigen Schein zu. Es war, als hätte er sie geschlagen. Blutrot war ihr Gesicht. Dann hob sie das Papier auf und schritt auf ihn zu. Unter ihrem Blick erstarrte das gutmütige Grinsen. »Danke! Wir bedürfen der Almosen nicht!«

In Güldenfeys Seele brannte eine Wunde neben der andern.

Hans Olrogge kam in den Treßhof. Es hätten sich Kreise von wohlhabenden Erwachsenen gebildet, die fremdländischen Tänze zu studieren; ob Fräulein Treß teilnehmen möge.

Als sie ihn ansah, fühlte er, daß es vergeblich sei, von seinen Erklärungen für die so lange unterbundene Lebensfreude Gebrauch zu machen.

»Ich sollte jetzt tanzen?« fragte sie. »Ich würde den Gedanken an die nicht los, die vor den erleuchteten Fenstern stehen und auf die fremden Weisen hören. O nein, Herr Olrogge!«

Es war angstvoll gewesen, in einer Zeit zu leben, die nach Blut und Eisen schmeckte. Der Dunstkreis dieser gärenden Zeit war gesättigt [S. 61] mit verderblichen Keimen, die wie geistiger Meltau auf die Willensschwachen fielen. Die Angst um das kleine Ich verschattete völlig die Sorge um das Ganze.

Was war es nur, das diese unvereinbaren Gegensätze schuf, die das deutsche Wesen zerrissen: Verzagtheit und frecher Übermut, Darben und Verschwendung? Es mußte etwas im Dunkel des Hintergrundes stehen, das mit frevelnden Händen an den Drähten zerrte, in denen das Wohl und Weh der Menschheit hing. Aber was war es, daß man es packen konnte!

Wäre nur Jörg einmal gekommen; Güldenfey verlangte es nach ihm, er würde ihr antworten können. Aber Jörg war jetzt ganz der Musik verfallen, seine Arbeit litt keine Unterbrechung, und seine Briefe waren in der knappen Pause, die zwischen zwei Stunden lag, geschrieben.

Malte? Ach nein! Sein Ernst erweichte vor Güldenfey noch immer zu einem Lächeln, aber das kam nicht aus seiner Seele. Seine Seele war immer zerstreut; wenn er nicht im Geschäft war, flog sie stets als Wolke vor dem Sturm der Zeit. Nur Pastor Thomasius war stets für sie bereit. In seinen Augen war ein Schein froher Zuversicht, und nie klang eine Stimme so jugendhell wie seine, wenn er vor dem Altar die Bibel in beiden Händen hob: Wir wollen bekennen!

»Welches ist der Geist, der uns zerstört?« fragte ihn Güldenfey.

»Der Haß!« entgegnete er.

Sie sann ein wenig. »Aber warum haßt man? Es muß etwas sein, weswegen man haßt.«

»Vielleicht, ja! Doch warum fragen Sie danach? Es ist die Welt frostig geworden, weil die Liebe fehlt. Wir müssen sie suchen.«

Es war ein wunderbarer Klang in seiner Stimme. Hob er das alte Buch? Sein Blick umfing warm ihre Gestalt. Güldenfey wandte das Gesicht zur Seite und begann, ihm von Marfa zu sprechen.

Marfa verließ das Haus selten. Sie hütete ihre Mutterhoffnung, doch Güldenfey wußte, das war es nicht allein, was sie in der Verborgenheit festhielt: sie sehnte sich nach Harro, sie litt, weil er fern [S. 62] war. Ihre jäh erweckte Liebe, die stürmisch nach ihm drängte, wußte in ihm ihren einzigen Halt. Sie hatte alles verloren, nun klammerte sie sich mit verzweiflungähnlicher Sorge an den Trost, den ihr das Leben als Ersatz gegeben. Kam er, so lebte sie auf; ging er, so krankte sie.

»Hier versteht mich keines, nur du, Güldenfey«, sagte sie. »Es fehlt allen hierzulande der sechste Sinn, der ahnt und erfühlt. Auch Harro fehlt er, sonst ließe er mich nicht so oft allein.«

»Wie sollte ich ihn denn besitzen!« zweifelte Güldenfey.

»Deine Seele ist wie das Geheimnis des Kristalls«, antwortete Marfa.

»Ich bleibe bei dir«, tröstete Güldenfey. Und sie begann zu erzählen, daß sie beide im Sommer auf Heilisoe wohnen und unter Sonnenschein und Seewind froh werden wollten.

»Wir liegen am narbigen Rand der Dünen, wo die blauen Glockenblumen wachsen, denn an den Strand darfst du nicht so oft hinabsteigen. Wir bleiben dort, bis der Abend alles Grün der Königsgräber in Grau verwandelt.«

»Ob wohl Harro dann eben Ferien hat?«

Harro und nur Harro! Aber Güldenfey war nicht gekränkt. Sie wußte, daß in Marfa die Vergangenheit nicht zur Ruhe kam und sie quälte, wenn sie zur Nacht wach lag und lauschte, wie der Wind der Januarnächte in den Luken der Speicher umging und Mellins silbergraue Katze klagend über die Dächer stieg.

»Du sollst dich jetzt auf dein Kind freuen. Ich glaube fest, daß deine Freude es froh machen wird.«

»Ja, du Herzlieb, ich will mich freuen. Wenn es da ist, wird Harro häufiger kommen.«

Diese zitternde Liebe ist vielleicht gar keine Liebe mehr, sondern nur ein Bangen vor grauenvoller Verlassenheit, dachte Güldenfey und sann auf Tröstungen andrer Art, die Marfa erfreuen sollten. Sie begriff, warum sich Marfa in Monaten, da sich alles in der Frau auf das Mütterliche sammelte, doch an Harro klammerte.

Es liefen schon lange dunkle Gerüchte durch die Stadt: eine Bande derer, die Eigentum und Leben des Nächsten nicht schonen, [S. 63] hätte sich die Hilflosigkeit der für die Sicherheit verantwortlichen Macht zunutze gemacht und triebe ihr Unwesen seit Wochen ungeahndet. Einer aus dieser Raubgesellschaft war beim Einbruch von einem Bürger getötet, die andern aber setzten in gutem Vertrauen auf die Ohnmacht der Gesetzesschützer ihr Handwerk fort.

In einer Nacht, da der rieselnde Regen in den Gossen seine einförmige Weise sang und das Dunkel vor jeder Tür lag, stieg aus dem Innern des Treßhofes ein schreckhafter Schrei, der selbst die Schläfer in den Kellerräumen aufstörte.

Güldenfey fuhr empor. Gehörte der Ruf in den Traum, den er zerbrochen hatte? Aber er war doch von außen gekommen und hatte geklungen, als stieße ihn Marfa aus. Jetzt zitterte er nur noch nach; draußen war die Stille des Regengeriesels. Die alte Uhr unten schlug die dritte Stunde.

Sie warf ein Morgenkleid um sich und eilte hinaus.

Die Tür zu Marfas Zimmer war halb geöffnet. Marfa saß aufgerichtet in ihrem Bett, beide Arme als Stützen hinter sich gestemmt. Ihr von der Nachttischlampe hell beleuchtetes Gesicht war linnenweiß, ihre geweiteten Augen starrten auf einen Punkt. Sie saß, als sei sie gelähmt.

Auch Güldenfey stand in der Türöffnung wie gelähmt. Ein riesiger Schatten füllte fast den Raum, und plötzlich erkannte sie hinten am Fenster, durch das es feuchtkalt hereinwehte, stand ein Mensch, breitschultrig, die Schirmmütze in die Stirn gezogen, die Faust um etwas gekrallt. Seine wölfische Wildheit war erstarrt unter dem Entsetzensblick der erwachenden Frau, die das Licht entzündete, um das Furchtbare zu entdecken.

Wie der Regen murmelte!

Von Güldenfey wich die Starre zuerst. Ihr Fuß stieß an einen Sack, in dem Werkzeug klirrte. Der Ton löste alles auf. Der Mann warf sich blitzschnell herum. Nun er nicht mehr die Lampe verdeckte, war alles hell.

Güldenfey fühlte einen Stoß, sie sank gegen die Wand, und es hastete an ihr vorüber. Sie eilte auf Marfa zu und umschlang die Regungslose mit barmherzigen Armen: »Liebste, Liebste, welch ein Traum!«

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Erst nach langem Zureden fand Marfa die Sprache. »Ein Traum? — Ich glaubte — der Henker — sei — eingetreten — mich — zu holen.«

Vom Hof herauf drang wilder Lärm; der Flüchtling war den Erwachenden in die Arme gelaufen. Telge schlug furchtbar auf ihn ein. Das Blut auf der Schwelle wusch der Regen nicht fort.

Was half das? Der Räuber war ohne Schlag zum Mörder geworden.

Als das Morgenlicht einfiel, brachte Marfa einen toten Knaben zur Welt. —

Wie hieß die Hand, die Macht, die alle Begierden aufpeitschte und jede Bändigung lähmte? Malte stand am Fenster und sah auf den Markt, als es anhob. Es war ein geringfügiger Anlaß.

Die feilgebotenen Fische waren klein. Sie fingen doch auch große! Wo blieben die? Schob man sie dahin, wo der aufgemästete Wucher märchenhafte Preise zahlte? Sind Gräten und Schuppen und Schwänze für uns gut genug?

Die beißenden Reden fielen wie Funken in Zunder.

Plötzlich eine grelle Stimme: »Nehmt sie ihnen doch fort!«

Eine rauhe antwortete: »Tretet sie in den Dreck!«

Vier, sechs, acht Hände griffen zu, stießen, schlugen. Tische stürzten, Wagschalen klirrten. Ein Gelächter flog wie eine Lästerung in die helle Luft, als grobe Stiefel die toten Fische zerstampften.

Die Händler waren geflüchtet. War nicht im Rathaus die Wache? Es rasselte kein Säbel.

Aber die Zerstörer hatten Zulauf an Frauen und Unbärtigen. Man erzählte von der Heldentat mit großen Gesten. Eigentlich war ja jetzt alles getan, aber sollte die kochende Wut schon verdampfen? Nein.

Jetzt ein Wort, das wie ein Schüreisen in die Glut stieß. »So betrügen sie uns alle, die Schufte!« Wer rief das? Die Vorderen sahen sich um: überall heiße Augen, verzerrte Münder. Einen Augenblick Stille!

»Schlagt ihnen doch die Fenster ein!«

Das war das Wort, auf das alle Triebe lauerten; nun sprangen sie an. Ein vielstimmiges Gebrüll antwortete. Es bedurfte keiner [S. 65] weiteren Weisung. Dort lag der nächste Kaufladen, Mehl und Teigwaren in der Auslage; dahin wälzte sich die Masse.

Eine Hand warf hart die Tür zu und drehte den Schlüssel. Im Haufen lachte es roh auf. Eine Stange stieß gegen die Scheibe, ein Stein flog: splitternd barst das Glas, die vorragenden Zacken brach man nieder. Hände, besudelt von Blut und Schmutz, griffen hinein, zerrten heraus, warfen den andern zu, die schreiend auffingen. Das meiste geriet unter die Füße.

»Herr Häberle,« sagte Malte, »wir müssen sofort schließen. Sie fangen an, regelrecht zu plündern.«

Als Herr Häberle, nachdem er selbst die Tür verriegelt und Wache gestellt hatte, an das Fenster trat, war schon der zweite Laden erbrochen.

Aber nein, nach Geld gelüstete es sie nicht. »Nach den Warenhäusern!« rief es. Die Masse flutete ab. Es war ein Ziel gesteckt, die Lust auf Beute war wie ein fressendes Feuer, das gierig um sich leckte.

Gerade als die ersten des abziehenden Zuges die Bogenhalle des Rathauses erreichten, erschienen zwischen den Säulen zwei bewaffnete Polizisten. Drohworte flogen ihnen entgegen. Der eine hob Halt gebietend den Arm. Glaubten sie wirklich, durch ihren bloßen Anblick den rasenden, leidenschaftlichen Strom zu hemmen? Sie wurden lachend zur Seite gedrängt.

Die Straßen boten bald ein seltsames Bild. Geifernde Zerstörungswut war bald in lachendes Berauschtsein gewandelt. Man hatte plötzlich, was man lange entbehrt und ebenso lange verlangend in den Läden betrachtet hatte. Über die Glassplitter zerstörter Fenster fort eilten vergnügt ausschauende Männer und Frauen, die Beutel, Kisten, Tücher und Bekleidungsstücke im Arm trugen. Sie wollten den Raub in Sicherheit bringen, doch keiner hielt es für nötig, ihn zu verbergen.

»Hast du auch was erwischt, Gevaddersche?«

Die Alte öffnete ihre Schürze und ließ hineinsehen. »Geht zum Apollonienmarkt, dort gibt es Schuhe!«

Leute, die sich nie einen Faden unrechtmäßig angeeignet hatten, prahlten mit den geraubten Dingen wie mit vorteilhaften Jahrmarktseinkäufen. [S. 66] Woher kam diese Verwirrung des Sinnes für Gerechtigkeit? Oder war dieser Sinn nie in Schichten gedrungen, deren Gesittung nur in der Furcht vor Strafe bestand?

In der Tat, als um Mittag die bewaffnete Gewalt anrückte, wurde es auf den Trümmerstätten ruhig.

Frauke und Güldenfey konnten den Besuch bei einer alten Verwandten am Nachmittag ausführen. Sie saßen eine Stunde lang unter altfränkischem Hausrat und bewunderten die feinsten Spitzen, die unter den kleinen, mit zahllosen dünnen Ringen geschmückten Händen des ergrauten Fräuleins hervorwuchsen.

»O, ich bin so furchtsam!« sagte sie zum drittenmal in das Gespräch hinein und sah besorgt auf das leere Bauer, in dem der letzte Kanarienvogel während des dritten Kriegssommers trotz ihrer Fürsorge verendet war.

Güldenfey trat an das Fenster und sah hinab; die breite Straße war völlig menschenleer, nur aus der Ferne drang das Geräusch tobender Kinder. »Du kannst beruhigt sein, Tantchen«, sagte sie. »Die Gefahr ist vorbei. Oder soll ich dich zu uns mitnehmen?«

Frauke und Güldenfey gingen. Die Straße war freilich ruhiger denn je, doch nach wenigen Schritten erkannten sie die Ursache dieser Stille: an beiden Enden war die Straße durch Postenketten abgesperrt. In ihrer Mitte standen auf dem Damm Maschinengewehre, die nach links und rechts drohten.

Ein Hauptmann im Stahlhelm trat auf sie zu: Ob die Damen nicht lieber in das Haus zurückkehren wollten; die Straße mußte gesperrt werden, hinter den Posten staue sich die Menge.

»Aber wir müssen nach Hause«, sagte Güldenfey.

»Wir gehen!« fügte Frauke schroff hinzu.

Der Hauptmann zuckte die Schultern. Diese wohlgekleideten Damen sollten ungefährdet durch die tobenden Menschen kommen? dachte er. Sein Befehl schrieb ihm nichts vor. Sie würden schon umkehren!

Je näher sie der Sperrkette kamen, um so mehr vernahmen sie den wüsten Lärm. Das also waren die tobenden Kinder! Die Soldaten standen unbeweglich, die Waffe mit aufgepflanztem [S. 67] Bajonett im Arm. Die auf sie niederströmenden Beschimpfungen, denen sie wehrlos ausgesetzt waren, trieben ihnen das Blut ins Gesicht. Besser war feindliches Trommelfeuer als diese Schmähung der Volksgenossen.

»Henkersknechte seid ihr. Schießt doch, ihr feigen Hunde!«

Das waren die Plünderer, die so schalten.

Zaghaft blieben die Frauen stehen. »Können wir wohl hier weitergehen?«

Ein Soldat trat ein wenig vor. Die Menge wich nicht.

»Bitte, dürfen wir durch?« fragte Güldenfey. »Wir waren hier auf Besuch und wollen nach Hause.«

Schweigen, Trotz. Ein unflätiges Wort drang aus der Menge, eine Lache schlug auf. Güldenfey erbleichte.

»Pöbel!« sägte Frauke mit zusammengebissenen Zähnen.

»O bitte!« Güldenfey hob die Hände. Bat sie um den Durchlaß oder um Verzeihung wegen des bitteren Wortes?

Allein die Männer fletschten grinsend die Zähne. Die Verlegenheit der feinen Damen befriedigte sie aufs höchste.

Plötzlich rief eine helle Kinderstimme: »Vater, laß sie doch gehen. Das ist ja Güldenfey.« Ein blasses Mädchen schob und zwängte sich durch die Menschenwand. »Sie hat uns doch Brot geschenkt!«

»Kennst du mich, Kind?« Güldenfey kniete nieder und legte einen Arm um das Mädchen. In ihrer Stimme jauchzte etwas, nicht befreite Angst, sondern Freude. Sie streichelte das verwirrte Haar. »Wie heiß du bist. Bist du nicht das Lieschen vom Katerberg?«

Wie waren sie alle so still! Soldaten, rauflustige Männer und zeternde Frauen blickten jetzt betroffen, entspannt auf das zärtliche Bild.

»Kommen Sie!« sagte die Kleine und ergriff Güldenfeys Hand.

Die Wand spaltete sich. Kein Wort fiel auf sie. Das Kind leitete sie sicher durch die Menge, die ihnen stumm Platz machte.

»So wären wir also durch den Mob vom Mob gerettet«, sagte Frauke, als sie durch das Tor schritten.

Güldenfey antwortete nicht. Frauke hätte sie doch nicht verstanden. Auf dem Markt nahm sie eiligen Abschied.

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Sie eilte wie auf Flügeln nach Hause. Ein Sieg, ein Sieg! Die Menschen, die an ihr vorübergingen und mit einem Blick ihr Gesicht streiften, wunderten sich über den strahlenden Glanz dieser Augen. Sie konnten freilich nicht wissen, daß es der verklärende Schimmer war, den ein feierliches Gelöbnis um den Gelobenden breitet.


Das Tier

»Nein!« sagte Güldenfey. »Nein, Klaus.«

Klaus zupfte an seinen Handschuhen und sah verlegen zu Boden. »Warum nein? Weißt du denn, was ich will?«

»Ich weiß es. Bitte, sprich nicht mehr.«

Sie saßen in Güldenfeys Zimmer, das voll warmen herbstlichen Sonnenscheins war. Des Mädchens Augen wanderten über die glänzend gebohnerten Möbel aus hellen Hölzern, die schon in der Mutter Mädchenstube gestanden. Was sagten diese lieben Biedermeierdinge zu dem, was hier gesprochen wurde, diese Säulenuhr unter dem Glassturz, deren Pendel emsig die Sekunden zählte, der Rundtisch mit dem vierfachen Fuß, dieser kleine Spiegelschrank, der die Sammlung alter Seltsamkeiten barg, und das mit Fadeneinlagen gezierte Sofa? Alles, alles hatte für sie Laut und Stimme, wenn sie allein hier war. Warum schwieg denn jeder Gegenstand heute?

Als Güldenfey noch hängende Zöpfe trug, hatte sie sich zuweilen die bunte Stunde ausgemalt, die ihr den ersten Antrag brachte. Jetzt war sie da. Was sollte sie sagen? Keiner half, und sie wollte doch nicht weh tun.

»Nun denn: ja, ich kam, dich um deine Hand zu bitten, Güldenfey. Warum soll es nicht gesagt werden?«

»Ich hätt' es dir gern erspart«, entgegnete sie. Ihre Hände strichen zart über die Lehnen ihres Stuhls.

»Was? Die Abfuhr? Nun, man hat ja schon allerlei erlebt«, fuhr er fort. »Aber vielleicht hast du die Güte, deine Ablehnung [S. 69] zu begründen. Ich habe fast fünfzehn Jahre vor dir voraus, denkst du. Das ist richtig. Ich glaube kaum, daß mir die Rolle des jugendlichen Liebhabers sehr liegt.« Er schwieg und machte eine bedauernde Gebärde. Sein vollwangiges Gesicht war noch tiefer gerötet als gewöhnlich.

Güldenfey wehrte ab. Nein, das war es nicht. Er durfte sie nicht erst daran mahnen, daß sein Haar an den Schläfen ergraute und das Wohlleben seinem Körper die Beweglichkeit vorzeitig genommen hatte. Sie wollte im Mann das Väterlich-Behütende finden, nicht das Stürmisch-Begehrende. Wie hatte Jörg jüngst an sie geschrieben? »Wenn man einen Menschen liebt, findet man nur Liebenswertes an ihm.« Sie mußte plötzlich an die Worte denken, die Jörg auf Heilisoe gesprochen. Sie stellte ihn sich vor, wie er mit aufzehrendem Eifer arbeitete. Und der dort ...?

»Gründe, sagst du?« sagte sie leise. »Es ist nur einer, Klaus. Willst du wirklich, daß ich ihn nenne?«

»Ich bitte, Güldenfey.«

»Ich kenne nur zwei Arten des Menschen«, fuhr sie fort. »Die einen wollen, daß das Leben ihnen diene; die andern dienen dem Leben, nicht nur mit Hingabe, sondern auch mit Opfern.«

Er sah sie betroffen an. »Und du?«

»Ich gehöre zu den letzten.«

»Aber das ist ja jugendlicher Überschwang!« fuhr er erregt auf. »Das verliert sich mit den Jahren.«

»Nein, das ist Wesen«, sagte sie fest. »Meine liebe Mutter ... Doch warum davon reden! Es sollen Menschen, die im Innersten so verschieden geartet sind, nicht an gleichem Strang ziehen.«

In diesen Worten lag etwas, das wie eine Schranke Halt gebot. Sollte er jetzt noch versuchen, Malte zu Überredungskünsten anzueifern? Es wäre doch vergeblich gewesen. An Klaus' Augen zog das Bild einer wohlhabenden, dunkelhaarigen Witwe vorüber, deren Blicke schon lange lockten. Etwas ganz andres als dieses süße lichte Blond. Und dennoch ...

Er stand auf. Der Rückzug ist für den Soldaten in jedem Falle peinlich, der Rückzug vor einem Mädchen ist doppelt unangenehm. [S. 70] Er bewahrte Haltung, doch die gekränkte Miene war nicht zu verleugnen.

»Vergib mir, Klaus!«

Er beugte sich über ihre Hand, und in diesem Augenblick ward ihm klar, was sie meinte. Ja, es war besser so. —

Güldenfey ging mit ausgebreiteten Armen durch das Zimmer, als sie allein war. Wie glänzten die Dinge um sie her! Sie tauchte ihr Gesicht in den bunten Herbstlaubstrauß auf der Kommode und ging wieder von einem zum andern.

Du hast recht getan! wiederholte fortwährend die kleine Säulenuhr. Wir bleiben bei dir, und ich zeige dir neue, versteckte Heimlichkeiten, sagte der Schrank mit dem verborgenen Fächerwerk; und der Spiegel schien ihr freundlich zuzunicken. Da lachte sie fast übermütig und strich die Delle auf dem Sofa, die Klaus hinterlassen hatte, glatt.

Sie hätte gern einem Menschen erzählt, daß sie frei bleiben dürfe, aber Harro hatte Marfa abgeholt und war zu ihrer Aufmunterung mit ihr in den Harz gefahren. Und Frauke? Nein, was hätte Frauke davon verstanden! So ging Güldenfey zu Engelke.

Die Alte war krank gewesen, befand sich jetzt aber in der Besserung. Ihre Schwester, die Schusterswitwe Friedchen Waterström, die auf dem Räucherboden von St. Johannes eine Altersstube bewohnte, war bei ihr.

»Was hat dir nur gefehlt?« fragte Güldenfey erschrocken.

Das mundfertige Friedchen, das man nie ohne ihre mit Siegellack geflickte Brille sah, nahm sofort das Wort. »Was wird's gewesen sein, gnä' Fräulein! Rheuma. Als Singen und Beten nicht halfen, haben wir ein Pechpflaster aufgelegt, das hat gezogen. Pechpflaster ist das Beste! sagte mein seliger Waterström.«

»Aber Sie hätten mich rufen sollen«, sagte Güldenfey.

»Ach, gnä' Fräulein,« rief das Friedchen, »hier im Heiligen Geist wohnt sie ja so gut, da ist ja das Kranksein schon eine Lust. Wenn ich dagegen an den Räucherboden denke! An den Geruch gewöhnt man sich und auch an die schwarze Rußfarbe, aber die Enge —«

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Es war nicht leicht, wenn die Waterström diesen Vergleich zog, durch ihren Wortschwall bis zu Engelke vorzudringen, die matt und ein wenig lächelnd im Ohrenlehnstuhl saß. Sie war noch geduldiger und freundlicher als vorher und wartete, bis die Schwester gegangen war.

»Ich wollte nicht, daß sie dich beunruhigte«, sagte sie. »Ich nahm die Schmerzen als Gottes Strafe für meinen Undank. Ich hab' es doch wirklich hier so gut und murre, weil ich nicht den Treßhof vergessen kann.«

»Du hast dich noch nicht eingelebt, Engelke?«

»Nie, nie!« sagte sie und wischte hastig ein paar Tränen fort.

Güldenfey hatte viel zu streicheln und zu trösten. »Ich möchte dir etwas ganz Besonderes schenken, Engelke. Hast du einen Wunsch?«

»N—ein.«

Aber auf längeres Zureden gestand sie, wie leid es ihr sei, daß die dumme Krankheit sie verhindert habe, in den herbstlichen Wald zu kommen. Ein Ausgang in den mailichen Wald, einer, wenn die Blätter fielen, das waren seit ihrer Jugend die freien Tage des Jahres, die die alte Magd für sich begehrt hatte.

»Es ist aber nicht zu spät«, sagte Güldenfey. »Das Laub färbt sich erst. Ich hole dich im Wagen ab. Sage nur, wann.«

Wie fein war der Tag, da die beiden ausfuhren! Sämtliche Bewohnerinnen des Heiligen Geist bildeten Spalier, als Engelke von Güldenfey zum Wagen geführt wurde, der vor dem Portal wartete. Güldenfey nickte strahlend nach rechts und links, und die welken, zahnlosen Mäulchen dankten ein wenig säuerlich. Engelke war verschämt.

Allerseelen war vorüber. Wo der Schatten den Weg deckte, knisterte um den Mittag noch die silberne Reifspur der Nacht, aber die Sonnengarbe stand leuchtend über leeren Feldern und smaragdgrüner Wintersaat.

»Sieh, Engelke, wie braun noch das Laub ist!«

Die Alte nickte stumm über gefalteten Händen. Ach Gott, daß ihr das noch wurde! Im Wagen durch diese Pracht. Sie hätte [S. 72] immerfort danke, danke sagen mögen, aber das litt Güldenfey nicht. Dann ein Kaffeestündchen in der Waldschenke, ein kurzer Spaziergang unter dunklen Tannen, und schon verschwelte die Sonnenglut des kurzen Tages.

»Ist es schon zu Ende?« fragte Engelke.

»Denk' an dein Rheuma.«

»Ach, nun kann ich wieder viel ertragen«, seufzte die Alte.

Güldenfey ließ den Wagen einen Weg einschlagen, den sie liebte und der durch jungen Wuchs führte. Der westliche Himmel war gänzlich mit Purpurflöckchen bestreut, der östliche aber, an dem die nahezu volle, grünlich-blasse Mondscheibe hing, war glatt und funkelnd wie polierter Stahl. In dieser kurzen Frist, da Tag und Nacht zu seltsamem Zwielicht ineinanderflossen, erschien der junge Trieb wie ein Märchen. Die wenigen starken Eichen trugen ihr rostiges, gekräuseltes Laub wie eine dunkle Wolke. Das Braun der Buchenheister hob sich fein von dem ernsten Grün der Jungtannen und Wacholder ab, und die Lärchen streuten ihre gelblichen Nadeln über bemooste Baumstümpfe am Wegrand.

Güldenfey ließ den Wagen halten. Engelke murmelte aus ihren Tüchern:

»Wie ist die Welt so stille
Und in der Dämmrung Hülle
So traulich und so hold
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.«

»Verschlafen? Ja; aber vergessen? Ach, Engelke!«

Mitten in der Schönheit der flammenden Wälder fiel auf Güldenfeys liebendes Herz die schwere Not der Zeit, die alle Häuser des Landes bewohnte. Gab es denn nicht einen Ort, dahin man vor ihr fliehen konnte?

Die Schönheit der Natur bot auch keine Zuflucht. Wie sollen die Menschen, die beständig gegen das große Gesetz der Liebe fehlen, in ihr Frieden finden, deren Wesen auf strengste Gesetzmäßigkeit gegründet ist!

[S. 73]

Die Pferde trabten der Stadt entgegen, der Wald versank im bläulichen Atem der Nacht.

»Engelke, du bist fromm«, sagte Güldenfey. »Weißt du, was der Grund unsrer herzbeklemmenden Not ist?«

»Das wißt ihr wohl besser als ich einfältige Magd, die Gott auf ihre Weise dient«, wehrte die Alte ab.

»Ich habe viele gefragt; doch weiß es keiner«, sagte Güldenfey.

Engelke schwieg eine Weile, dann begann sie: »Ich find' es auch nicht. Aber wenn du es fertigbrächtest, einmal unsre Versammlung zu besuchen ...! In einigen Wochen kommt ein erleuchteter Mann zum Vortrag.«

»Ich komme, Engelke.«

»Ach, Fräulein Fink wird es dir noch ausreden. Sie hält mehr vom Spuk- und Teufelskram als vom Glauben.«

Als Güldenfey der Alten am Tor des Heiligen Geist vom Wagen half, sagte sie: »Nun vergiß nicht diesen schönen Tag. Ich komme bald, um die Ankunft eures Redners zu erfragen. Dann begleite ich dich.«


An dem Abend im späten November lag schwer und feucht der Seenebel über der Stadt. Das Leckwasser tropfte träge in den Gossen, die Straßenlaternen bildeten gelbe Lichtflecke in dem trüben Dunst. Güldenfey tat einen alten Mantel um, setzte ein verschrobenes Hütchen auf und ging zu Ose hinauf.

»Jetzt geh' ich, Ose, und du leistest also Frau Doktor Gesellschaft. Aber, bitte, erzähle ihr keine gruseligen Geschichten.«

Ose stand schon bereit. »Frau Doktor will immer solche Geschichten hören«, sagte sie.

»Aber nicht wieder von Mariakron, wo sie im Klostergrund die Kinderskelette fanden«, bat Güldenfey.

»Gut, gut!« sagte Ose. »Du gehst also wirklich?«

»Natürlich, Ose.«

Die Alte schüttelte den Kopf. »Diese Winkelfrommen! Nimm doch einen Schleier, daß dich nicht jeder erkennt.«

[S. 74]

Aber Güldenfey winkte ihr nur zu, öffnete eine Tür, um Marfa noch einen Gruß zuzurufen, und ging.

Das Pflaster der Straßen war feucht und von einer dünnen Schicht klebrigen Schmutzes bedeckt. Einzelne Menschen liefen hastig durch das Dunkel der kaum erhellten Häuserzeilen, als strebten sie, so bald als möglich unter Dach zu kommen. Der Nebel dämpfte jeden Laut. Die Sirene, die im Hafen zuweilen aufschrie wie ein hungerndes Wüstentier, schien ihren Ruf aus entlegenen Weiten zu senden. Die Glockenschläge der Kirchen klangen gedämpft.

Zuweilen wurde die Tür eines Hauses geöffnet, die Steinstufen herab huschte eine Gestalt, die über die Straße lief, um jenseits im Schatten einer Beiwacht, eines Hauswinkels wieder zu verschwinden. Es lag etwas Gespenstisches in diesem lautlosen Eilen schweigsamer Menschen, deren Geschlecht, Alter und Art unkenntlich war, und Güldenfey mußte an Oses Erzählung von den Schatten vergangener Geschlechter denken, die durch die lichtlosen Straßen der Stadt irren, weil sie die Tür von St. Niklas zur Mitternachtmesse nicht geöffnet finden.

Vom Binnenhafen drang der Geruch im Wasser faulenden Unrats. Die Fenster der Schenken, hinter denen das Lärmen der Zecher und die Klänge einer Harmonika durcheinanderbrausten, waren vom Niederschlag menschlicher Dünste getrübt. Eine heisere Stimme rief hinter Güldenfey drein.

Endlich hatte sie den Heiligen Geist erreicht. Engelke stand schon bereit.

»Mein altes Herz hat in Angst um dich geschlagen. Dieses Wetter! Ich hätte dir den Gang doch nicht vorschlagen sollen.«

Güldenfey beruhigte sie, und sie gingen, gingen durch Winkel und Gäßchen, von deren Vorhandensein Güldenfey nichts wußte.

»Wo sind wir eigentlich, Engelke?«

Die Alte murmelte etwas, was Güldenfey nicht verstand. Es gab hier Mörderstraße und Diebsteig; warum das Kind erschrecken!

Endlich standen sie vor einem schmalen Vorstadthäuschen, aus dessen Pforte ein Mann trat. Engelke begrüßte ihn, und er geleitete sie die Stiege empor auf einen Flur, wo er ihnen beflissen eine Tür öffnete.

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»Es wird gleich beginnen«, sagte er leise. »Hier rechter Hand ist noch Platz.«

Sie betraten einen länglichen, mäßig großen Raum, der schwach beleuchtet war. An der einen Schmalseite standen ein Rednerpult und ein Harmonium; die hell getünchten Wände waren kahl. Auf hölzernen Bänken und Stühlen saßen die Angehörigen dieser Gemeinschaft, Männer mit harten Arbeiterhänden, Frauen mit welken Gesichtern, Mädchen, die mit der Nadel oder im Hausdienst erwarben, ein paar Burschen; aber alle waren mit sauberer Schlichtheit gekleidet, ernst und gesammelt.

Es kamen noch einige. Die Art, wie sie die schon Anwesenden begrüßten, hatte etwas Eigenes. Es lag im Blick, den sie tauschten, im Neigen des Kopfes nichts Steifes, Hergebrachtes, sondern der Ausdruck gegenseitigen Verstehens und Gelobens. Diese Menschen, die aus ihrer Tagesnot hier Entlastung suchten, erschienen Güldenfey wie die Glieder der ersten römischen Gemeinden in den Katakomben, wie die Gottsucher, die vor dem Zorn der Kirche flüchten mußten.

Seltsam! Keiner musterte sie mißtrauisch oder neugierig. Jeder schien ohne weiteres ihre Zugehörigkeit anzuerkennen.

Und da waren ja auch Bekannte. Unter den schlichten Leuten saß schlicht und unscheinbar Oberst Helf, der Kriegsverstümmelte, und etwas schamhaft im Winkel Frau von Ebel, die ihre drei Söhne verloren hatte und deren Augenlicht durch Tränenströme fast erloschen war.

Güldenfey sah sich freier um. Sie wurde sogar gegrüßt und dankte mit einem gewissen Stolz. Kannte dieser junge Beamte von einem der zahllosen neuen Ämter sie wirklich wieder? Sie hatte seine freundliche Art einmal in der Amtsstube laut gerühmt, um die aufgeblasenen Unehrerbietigen zu strafen, die grob mit den verängsteten Rat- und Hilflosen verfuhren.

Die Tür war wieder geöffnet und ein Mann eingetreten, der sich durch nichts auszeichnete. Er trat hinter das Pult auf eine Erhöhung, legte ein Buch auf den Pultdeckel und neigte für kurze Zeit den Kopf.

[S. 76]

»Das ist er!« flüsterte Engelke.

Also das war er! Vielleicht ein einstiger Beamter, vielleicht auch ein Geistlicher, den es im Schatten der Kirche nicht gelitten hatte.

Er hob das Gesicht, seine Blicke wanderten über die Harrenden dahin. Jeden schien er zu prüfen; jeden schien er zu fragen: Was gebe ich dir? Was verlangst du von mir? Dieser Mann bot den Eindruck unbegrenzter Freiheit, die sich durch nichts, was Menschen schreckt, beirren läßt.

Er nannte ein Lied, das gesungen werden sollte. Eine junge Lehrerin saß am Harmonium. Eine Weise, feierlich-getragen und doch seltsam rhythmisch bewegt, ward angestimmt. Alle sangen mit. Dem Oberst reichte eine Hand das geöffnete Buch. Güldenfey lauschte. Sangen so nicht die verfolgten Gläubigen auf den russischen Strömen, wenn sie am Abend auf verankerten Flößen saßen?

Das Lied war verklungen.

»Was jeder dem Vater an Not der Sorge oder der Schuld zu sagen hat, das tue er jetzt und entlaste sein Herz.«

Stirnen senkten sich, Hände suchten sich; zuweilen klang eines halb erstickten Seufzers Laut durch den Raum.

Und wieder ging das Fragen der Augen da vorn von Gesicht zu Gesicht. Sie waren bereit, und er begann zu reden.

Vor sechseinhalb Jahren, sagte er, sei er das letzte Mal an einem warmen Juniabend durch diese Stadt gegangen, die voll fröhlicher Reisenden war. Gesang, Gelächter, Musik, auf dem Balkon des Artushofes bunte Lampen und Gläserklirren. Aber hinter diesem glänzenden Vorhang habe eine dämonische Macht unheimlich gelauert: sechs Wochen später hätten wir die Kriegserklärung gehabt.

Der Oberst hob witternd den Kopf. Ja, damals!

Heute sei er wieder durch die Stadt gegangen. Winterliches Dunkel, Schweigen, Nebel auf den Dächern wie ein Deckel auf dem Sarg, eilige stumme Menschen. Und wieder habe er hinter dünner grauer Wand eine dämonische, menschenfeindliche Macht lauernd stehen sehen: die bange Sorge.

[S. 77]

Güldenfey spürte einen kühlen Hauch im Nacken, als sie an die Schauer ihres Weges dachte. Ja, so war es! Die Sorge.

»Aber Krieg und Sorge sind die Namen des Dämons nicht, der jetzt die Welt beherrscht, es sind nur Geißeln, mit denen er zuschlägt. Die Menschen haben Gott verlassen, aber da sie ohne einen Herrscher nicht sein wollen und nicht leben können, haben sie sich einen Beherrscher des Abgrunds gewählt, der viel verspricht, aber dafür seine Untergebenen peinigt und quält.«

Er sah wieder über die Reihen hin.

»Schon vor fast zweitausend Jahren ist von diesem Dämon geweissagt worden. Hört, was das Wort von ihm sagt!«

Er schlug das Buch, das auf dem Pult lag, auf. Es war eine Stelle, die auf den letzten Blättern verzeichnet war.

»Ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, und der ganze Erdboden verwunderte sich des Tieres und betete es an und sprach: Wer ist dem Tier gleich, und wer kann mit ihm kriegen? Und es tat seinen Mund auf zur Lästerung gegen Gott. Und ihm ward Macht gegeben, zu streiten mit den Heiligen und sie zu überwinden. Und es macht, daß die Kleinen und Großen, die Reichen und Armen, die Freien und Knechte sich ein Mal geben an ihre rechte Hand oder Stirn, daß niemand kaufen oder verkaufen kann ohne dieses Mal des Tieres oder die Zahl seines Namens.«

Er hielt bedeutsam inne und fuhr dann lauter fort: »Hier ist Weisheit not! Wer Verstand hat, der überlege des Tieres Zahl, denn es ist eines Menschen Zahl.«

Der Mann schloß das Buch. Die Augen, die sich auf ihn richteten, waren heiß und voll Begehren.

»Freunde, soll ich euch jetzt noch den Namen nennen, vor dem die Welt im Staube liegt? Kennt ihr die dämonische Macht, die allen, die Liebe und Glauben fortwerfen, Glück verheißt, die der Inbegriff des Unpersönlichen und Niedrigen ist? Es ist das Geld! Ihr alle kennt den Namen des Tieres.«

Es ging ein Aufatmen durch die Versammlung: Ja, so ist's! Geld hat den Krieg entfesselt, Geldsucht der Erpresser schafft diese [S. 78] Not. Güldenfey horchte angespannt. Würde der Mann ihrem Herzen Antwort geben?

Er sagte: »Das ist das Erniedrigende, Vertierende dieser unheimlichen Gewalt, daß sie mit einem gemeinen Betrug wirkt: Ich mache dich zum Herrn. Jawohl, Herr der Dinge, aber ihr unentronnener Knecht. Das Geld besitzt den, der sich ihm unterwirft, eher, als er das Geld besitzt. Die Gier, zu besitzen, ist das Knechtmal.«

Wie füllte sich die Stimme des Sprechenden mit Glut und Gewalt, die seine Hörer aus diesem Haus entrückten! Er war in dem großen Erdteil jenseits des Ozeans gewesen, wo das Tier aus dem Wasser stieg. Vor 425 Jahren hatte Europa seine Schiffe ausgesandt, einen Seeweg, ein Land zu entdecken. Da fanden sie das Tier, den Fluch Gottes, und unterwarfen sich ihm.

Wie ein Magnet zog es die Menschen an und vertierte sie. Die eingesessenen Völker mit Schwert und Branntwein ausgerottet! Das von Blut und Frevel dampfende Land an sich gerissen! Dann die Hetzjagd nach Besitz! Man betete das Tier an, das seinen Mund gegen Gott auftat und sein Werk lästerte.

Dann kam es über das Meer nach Europa. Man wollte es hier denen da drüben gleichtun. Ein Volk entriß dem andern den Vorrang: Holland den Spaniern, England den Holländern. Dann fiel die Gier Deutschland an; das Volk mit der Kindesseele warb um das Mal des Tieres an der Stirn, kaufen und verkaufen zu können. Da stand Gott auf und gebot Halt. Und wir verloren den Krieg.

Mein Gott! dachte Güldenfey. Mein Gott! War es so? Hatte die glitzernde Bahn des Verderbens diesen Verlauf genommen? Sahen das nur wenige, waren die andern mit Blindheit geschlagen?

Wo hatte sie schon Ähnliches gehört, gesehen? Balzer Treß, der fliegende Holländer, der die Heimat verspielte. Und dann Jörgs Bild von dem ungeheuerlichen Menschen auf den Geldsäcken. Ja, die wußten darum.

Sie zwang sich, der Rede weiter zu folgen. Was war das, was er soeben sagte? Wir sind noch nicht am Ende, wir haben die letzten, bittersten Hefen noch nicht getrunken? Was käme uns noch?

[S. 79]

Der Sprecher war völlig hingenommen von dem, was er aus seiner Seele schleuderte. Er glich einer steil steigenden Flamme.

»Wir sind so der Starre verfallen, daß wir Wahrheit und Notwendigkeit nicht mehr kennen«, rief er. »Wir haben das, was wir gewannen, mit dem Verlust unsrer Seele bezahlt. Erst wenn uns das Grauen anwandelt über das, was wir verloren, werden wir erkennen, werden wir umkehren.«

Ein Seufzer stieg irgendwo wie eine wortlose Klage auf. Ein Mütterchen fuhr mit dem Handrücken über nasse Augen. Ach, sie erkannten; sie wollten nur ihre stillen abseitigen Wege gehen. Wann endeten sie nur?

Es war, als hätte sie die Gründe der Seufzenden erschaut. Diese alle waren doch gekommen, Trost zu hören. Und dann die Irrenden, die wie der fliegende Holländer durch die Wildnis der Wasser fuhren. Es waren so viele, von denen sie wußte, daß sie Deutschland den Geist, der dort drüben regierte, einblasen wollten. Malte hatte erst jüngst davon gesprochen. Malte! Sie sah ihn vor sich, sein ernstes, blasses Gesicht. War seine Schöpfung, diese neuen Räume am Markt, diese vielen Tische mit den Lichtkreisen, das Bild der Fieber, die ihn verzehrten?

Eine plötzliche Angst überfiel sie und jagte eine heiße Blutwelle in ihre Stirn. Wußte der Mann dort um das Tier, so mußte er auch um die Rettung vor ihm wissen. Warum schwieg er davon?

Sie wußte nicht, was sie tat, aber sie stand plötzlich.

Engelke sah seitwärts an ihr hinauf und zupfte sie verlegen.

Der Redner dachte wohl, sie wolle den Saal verlassen; er sprach weiter. Doch die Dringlichkeit, mit der sie ihn ansah, beirrte ihn. Er zögerte, fuhr wieder fort und brach plötzlich ab.

»Wünschen Sie etwas zu bemerken?« fragte er.

Alle Gesichter wandten sich ihr zu, sie fühlte sich unwillig angesehen. Das Blut in ihren Ohren brauste, vor ihren Augen drehte sich ein Kaleidoskop, und die Kniee lähmte eine seltsame Schwäche.

»Wo ist der Weg nach Heilisoe?« fragte ihre flackernde Stimme.

War der Nebel vor ihren Augen, oder floß er um den Mann? Aber sie sah doch, daß er sie freundlich anblickte.

[S. 80]

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte er.

»Ich meine die Hilfe«, sagte sie. »Was sollen wir tun?« Ihre Stimme war jetzt hell.

Der Sprecher lächelte. »Ich danke Ihnen, liebes Fräulein«, sagte er. »Ich wollte darüber eigentlich erst morgen sprechen, aber vielleicht sind Sie dann nicht hier. Sie haben recht. Ich werde sogleich auf Ihren Wunsch eingehen.«

Er sprach einige überleitende Worte und öffnete dann sein Buch.

»Ich las in dem gegebenen Text ein Wort nicht, das auf die ängstliche Frage Antwort gibt. Hört es jetzt: So jemand ins Gefängnis führt, der wird in das Gefängnis wandern; so jemand mit dem Schwert tötet, der muß mit dem Schwert getötet werden. Hier ist Geduld und Glaube der Heiligen not.«

Güldenfey saß wieder und lauschte.

»Alle ihr, die ihr die tägliche Notdurft höher schätzt als die Anhäufung des Reichtums, die ihr eure Hand von Wucher rein hieltet und unrecht Gut nicht nehmt, ihr seid frei vom Mal des unsauberen Tieres. Aber ihr müßt Not und Schuld eures Volkes mittragen in Glauben und Geduld. Keine Gewalt! Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert fallen. Glaube und Geduld!«

Und die Erlösung? dachte Güldenfey. Es muß doch eine Erlösung sein.

Seine Worte schlugen wie Hammerschläge. Die Hörenden packte es wie ein Schauer, in dem sie fröstelten.

»Gelobt ihr, euch frei zu halten von der Befleckung des Ungerechten und das Gebot eures Königtums zu erfüllen?«

Er blickte sich fragend um. Die Menschen hatten die Köpfe gesenkt.

»Sagt, daß ihr es wollt!«

Plötzlich rief Frau von Ebel: »Ja, wir wollen es!«

»Ja, ja! Amen!« sagten die andern.

Sie waren in heiliger Verzückung, sie hätten sich wie die Geißlerscharen der großen Pestzeiten inbrünstig mit knotigen Stricken blutiggeschlagen, um ihr Volk zu erlösen. Einige warfen sich auf die Knie, andre vergruben ihr Gesicht in gefaltete Hände. Schluchzen, Stöhnen füllte den Raum.

[S. 81]

War dies die Erlösung? Güldenfey dachte an Jörgs Erzählung von der Versuchung. Er mußte erst nahen, der Stille, Wartende, der unter den Bäumen harrte, bis seine Stunde reifte. Bis dahin durfte man nur auf das Winken seiner Augen achten. —

Leise, wie sie gekommen, entfernten sich die Versammelten. Beim Hinausgehen nickte mancher Güldenfey freundlich zu.

»Wie liebenswürdig sie sind, Engelke!« flüsterte Güldenfey.

Die Alte, die mit jemand gesprochen, wandte sich Güldenfey wieder zu. »Hast du nun erfahren, was du wissen wolltest?« fragte sie.

»Das Tier! Ja, nun kenn' ich es.«

Engelke ergriff die Hand eines blassen Mädchens, das neben ihr stand. »Das ist Hanna Wilkens, unsre fleißige Näherin«, sagte sie. »Sie geht den gleichen Weg wie du und wird dich begleiten.«

»Und du, Engelke?«

»Ach, mich alte Person läßt schon jemand einhaken, und bis zum Heiligen Geist ist's nur eine kleine Strecke.«

So ging Güldenfey an der Seite des kleinen Nähmädchens durch die Straßen. Der Nebel war noch schwerer geworden, er hüllte die dürftigen Straßenlampen wie mit abblendenden Händen ein. Vor den Fenstern der Häuser lagen die Läden fest verklammert. Nur selten klangen ferne Schritte durch die Nacht.

Es lauert etwas dahinter, dachte Güldenfey. Ich kenne es: das Tier, das aus dem Meer stieg, bedroht uns.

Sie versuchte mit ihrer Begleiterin ein Gespräch anzuknüpfen; die antwortete leise und bescheiden. Sie arbeitete in dem Anfertigungraum eines Geschäftshauses, einer großen Stube, deren Fenster auf einen tiefen Hof sahen und zwischen dunkelnden Wänden standen. Ihre Mutter war Witwe; sie hatte zwei unversorgte Geschwister und versuchte, noch außer ihrer Arbeitszeit zu verdienen.

»Und obgleich Sie so müde vom Tage sind, besuchen Sie noch abends die Versammlungen?« rief Güldenfey erstaunt.

»Es ist fast die einzige Freude, die ich mir gönne«, sagte das Mädchen.

[S. 82]

»O!« Güldenfey fühlte sich sofort beschämt, und ihr Herz wallte auf. »Besuchen Sie mich doch Sonntags. Sie wissen, der Treßhof.«

»Ich habe sehr wenig Zeit, auch am Sonntag«, erwiderte die kleine Näherin. »Ich bin aber schon für die gütige Einladung dankbar.«

»Nein wirklich, Sie müssen kommen«, sagte Güldenfey herzlich. »Wir wollen nachdenken, wie wir Ihre Lage verbessern.«

Die andre lächelte. Nach einer Weile fragte sie: »Sie werden in unsre Gemeinschaft nicht mehr kommen?«

»Ich glaube nicht!« sagte Güldenfey leise. Es war, als hüte sie sich, mit ihrer Antwort dem Mädchen weh zu tun.

Mellin in seinem Wettermantel stand vor der Torfahrt und schaute nach Güldenfey aus.

»Wir sehen uns gewißlich wieder«, sagte Güldenfey und drückte dankbar die Hand der Freundlichen.

Mellin steckte die Schlüssel in das Türschloß. Sie aber stand noch und sah der Fortgehenden nach, bis ihre Schritte im Nebel der dunklen Straße verhallten.


Usadel

Um den Tag der heiligen drei Könige setzte ein scharfer Frost ein, der in Kürze über alle Wasser gläserne Brücken schlug. Nach wenigen Nächten war das Eis auf den Teichen für tragfähig befunden, und auf Schlitten und Stahlschuhen glitt die Jugend hinüber und herüber, während die befransten Enden buntfarbener Wollschals um die vor Eifer geröteten Köpfe wie Puttenflügel flatterten.

Eine Woche nach der Ankunft des Frostes war die Brücke über den Sund bis zur großen Insel fertig. Schlitten und Lastwagen fuhren hinüber, und die Koithans, jene alten schmalen Personenschlitten mit den zu beiden Seiten weit hervorragenden, quergelegten Sitzbrettern, läuteten auf der abgesteckten Fahrtlinie hin und her. Vor den Dampffähren aber sägten die Eisbrecher die Schollen, die Wasserrinne offen zu halten.

[S. 83]

Der Sonntag war der Tag, an dem auch die Werkenden sich das Besondere leisten konnten, die Insel zu Fuß zu erreichen. Ein dunkler Strom Wandernder schob sich über die bläulich-graue Eisdecke. Stellenweise beulte sich diese, denn der Ostwind hatte in den Frostnächten mit vollen Backen geblasen. Die Pfähle der Badebrücken hatte das Eis schief gerückt. Es war ein Geruch nach Schnee in der Luft. Am Himmel lagen zottige Wolkensäcke, rötlich gegen Westen, von unsichtbar verglimmendem Sonnenbrand gesprenkelt.

In der Kette der von der Insel Heimkehrenden schritten der Justizrat Glöden und sein Sohn. Onkel Rolf ohne Aktentasche! Es war ein Ereignis. Aber Klaus hatte es für nötig gefunden, den Vater, der sich in Geschäften aufrieb, in frische Luft zu bringen. Also zur Insel, wenn sich Klaus in diesem Massenbetrieb auch nicht am rechten Platz dünkte.

Der Alte glaubte, Klaus wolle eine leidige Geldangelegenheit besprechen, aber Klaus redete von ganz andern Dingen.

»Wie steht es eigentlich um dein Verhältnis zu Güldenfey?« fragte der Vater nach einer Gesprächspause.

Klaus winkte bedeutsam ab und schwieg.

»Stillstand?«

»Erledigt. Endgiltig aus.«

»Aber —« Der Justizrat blieb überrascht stehen.

»Verzeih, Vater; ich habe nicht davon gesprochen. Schon im Oktober hab' ich mich ihr erklärt. Es kam, wie ich es voraussah.«

»Ich warnte dich, Klaus —«

»Ja, ja, mein onkelhafter Ton! Nun, den hatte ich schon abgelegt. Es ist eben eine Verschiedenheit da.«

Er gab etwas von dem wieder, was Güldenfey damals gesagt hatte.

»Unsere Verhältnisse erzogen uns doch zu der Aufgabe: Verdiene gut, daß du dich anständig kleiden und geschmackvoll essen kannst. Das ist die Hauptsache. Sie aber spricht von den Opfern.«

Der Justizrat rieb mit dem Zeigefinger das Kinn. Hatte er das den Sohn gelehrt? Essen und Kleidung der Sinn des Lebens? Alle diese Menschen hier auf ein paar Zoll dünner Eisrinde über [S. 84] Meerestiefen — wenn sie plötzlich versinken würden! Ja, man redete das so hin, doch im Grunde ...

»Ist dir kalt, Vater?«

»Ja, die Eisfläche. Laß uns schneller gehen.«

»Es gibt zwei Arten von Menschen, sagt sie. Nun denn, ich bin hüben, und sie ist vielleicht drüben. Trotzdem —«

»Doch! Es ist schade!«

Es lag ein besonderer Ton auf dem Wort. Klaus sah den Vater an. Aber in dem hatte der Wirklichkeitssinn schon wieder jede andre Regung verdrängt.

»Deine Stellung zu Malte wird das nicht beeinflussen?« fragte er. »Die Heirat und dein Eintritt in die Firma bedingten einander.«

»Das ist das Angenehme in Güldenfeys Korb,« sagte Klaus, »ich kann jetzt mit gutem Grund das Geschäft aufgeben.«

»Was fällt dir ein!«

Onkel Rolf war außer sich, er vergaß, den Grüßen zu danken, die ihm dargeboten wurden. Malte ein Streber? Nun ja, der wußte, was er seinem Namen schuldig war. Es gab in dieser Zeit keinen andern Weg als den, etwas kühn zu wagen.

»Etwas sagst du«, fiel Klaus ein. »Gut, meinethalben soll er etwas wagen. Aber darf er alles aufs Spiel setzen?«

»Was heißt das?«

»Den Besitz, den Ruf, seinen Namen?«

»Er ist zu klug, um das zu tun.«

Klaus zuckte die Schulter. »Vielleicht bin ich als abgedankter Offizier mit zu engen Begriffen ausgestattet. Aber diesen erstrebten Anschluß an den internationalen Ring der Geldleute halte ich für verderblich.«

»Warum soll Deutschland außen stehen?«

Klaus schwieg eine Weile, dann sagte er: »Mein mütterliches Erbteil stecke ich nicht in dies Geschäft. Du weißt, Malte hat dies gewünscht.«

»Du bist der Mann stiller Beschaulichkeit«, knurrte Onkel Rolf.

»Was bliebe einem Menschen, der seinen Beruf verfehlt, sonst noch übrig, Vater? Aber verlaß dich darauf: von dem, was mir [S. 85] dieses klägliche Leben schuldig blieb, erliste ich mir dennoch soviel als möglich.«

Und seine Gedanken spielten wieder um das behagliche Haus, in dem die dunkelgescheitelte Witwe lebte. Noch einen Monat oder zwei! Es war gut in diesem Fall, sich ein wenig rar zu machen.

Onkel Rolf ging schweigsam. Es bedurfte nicht umstürzender Ereignisse, um das trübe Flämmlein seines Mutes dem Erlöschen nahe zu bringen. Wieder ging ein Plan in Trümmer. War Klausens Urteil über Malte berechtigt? Ach was! Er kannte des Sohnes Abneigung gegen geschäftliche Dinge zur Genüge. Und doch, man sollte aufmerken. Man war schließlich beteiligt.


Malte Treß saß einige Tage später in seinem Arbeitzimmer und vollzog einige Unterschriften. Ein Buchhalter stand neben seinem Stuhl, legte die Briefe vor und trocknete die Schriftzüge, die der Chef mit kurzem, kräftigem Strich unter den Schriftsatz zog. Ein Schreiben erregte Maltes Aufmerksamkeit.

»Sagen Sie, wann wollte Herr Häberle in Berlin sein?«

»Heute, Herr Konsul.«

Malte rechnete nach. Die Besprechung auf dem Wirtschaftamt mußte an einem Tag erledigt werden. »Also wird er morgen abend spätestens hier sein. Legen Sie bis zu seiner Rückkehr den Brief zurück.«

Es war ein viertes Werbeschreiben an ein Glied des heimlichen Ringes. Die Angelegenheit gedieh nicht weiter. Maltes Tatendrang zerrte an den Widerständen wie ein stallmutiges Pferd an der Halfterkette. Dennoch — den Inhalt dieses Schreibens mußte er mit Häberle noch einmal erwägen.

Der Buchhalter trat zurück.

»Sobald die amtlichen Berichte einlaufen, bitte.«

»In einer halben Stunde, Herr Konsul.«

Die Tür schloß sich. Malte lehnte sich in den Sessel zurück. Was nun? Den Aktenstapel über eine Fabrikgründung? Die Bilanz einer Genossenschaft? Die neue Gesetzsammlung? Immer Neues wälzte [S. 86] jeder Morgen herbei. Er sah gelangweilt über die Papierstöße auf seinem Schreibtisch hin. Oder war das Müdigkeit? Nein, nur Langeweile. Er straffte sich. Nur ein seltsames ziehendes Schmerzen über der Braue.

Malte stand auf und zog den Fenstervorhang zu. Die Wintersonne gleißte wie blankes Messing. Also die Bilanz!

Plötzlich hörte er den singenden Schlag der Standuhr auf seinem Schreibtisch. Als der letzte Schlag erklang, ließ die Figur des Todes den Arm mit der Hippe fallen. Wieder eine Stunde fortgemäht! Es war ein altes Stück, das der Großvater aus England mitgebracht hatte. In der Linken trug der Todesbote eine Sanduhr. Auf einem Spruchband stand: Carpe diem!

Malte griff nach dem Stundenglas und kehrte es um. Wenn der Sand abgelaufen war, sollte die Arbeit beendet sein.

Sie war fertig, als es klopfte. Die Berichte wurden überreicht.

Mit diesen fertig zu werden, war nicht die leichteste Aufgabe des Tages. Jede neue Verfügung war ein Zeugnis für die Hilflosigkeit und Unentschlossenheit der Spitzenmänner, die das Gedeihen lähmte. Pflanzt, reißt aus! Pflanzt neu, reißt wieder ab! Kaum war der letzte Stein in die Mauer gefügt, sah man, daß sie unzweckmäßig war. Also fort mit ihr! Ein Spiel der Kinder am Sandhaufen. Aber die Drossel an der Kehle des Volkslebens waren ein gewagtes Spielzeug. Eines Tags ... Nun, dann würde eben jemand den Erstickungtod feststellen.

Die Uhr klang; der Arm mit der Hippe erhob sich gleich darauf wieder für den nächsten Schlag.

Malte stand auf. Er wollte auf das Gericht gehen, wo er Onkel Rolf zu treffen hoffte. Als er den Pelz überzog, pochte es wieder.

Eine endlose Drahtnachricht. Von Häberle? Sie war unterzeichnet von Usadel. Malte traute seinen Augen nicht. »Wie ist dies gekommen?« fragte er.

Der Bote wandte sich auf der Schwelle um: »Mit der Post, Herr Konsul!«

[S. 87]

Malte winkte. Natürlich! Seine Frage war töricht. Und doch! Als Aufgabeort zeichnete ein schwedischer Hafen. Wie das? Die letzten Berichte ließen Usadel in Amerika weilen.

Er las: »Treffe mit dem Schwedenzug heute nachmittag auf dem Stadtbahnhof ein. Verspätung infolge des Eisganges wahrscheinlich. Unterbreche die Fahrt dort auf kurze Zeit, um mit Ihnen Rücksprache wegen der von Ihnen gewünschten Geschäftsverbindung zu nehmen. Da ich wenig Zeit habe, ersuche um Bereitstellung alles Nötigen. Bitte, Aufsehen zu vermeiden. Usadel.«

Malte las aufs neue und ein drittes Mal.

Er setzte sich im Pelz an seinen Schreibtisch, ein tiefes Aufatmen hob seine Brust. War es die Entlastung von einer Sorge? Gewiß. Aber auch das Auflehnen gegen eine neue beängstigende Spannung. Usadel kam. Die Entscheidung war ganz nahe gerückt.

Die Entscheidung! Er fühlte sich plötzlich hilflos, entleert, aufgesogen. Wie ärgerlich, daß Häberle nicht da war! Malte vergaß ganz, wie oft ihn die besorgliche Vorsicht seines Prokuristen verdrossen hatte. Jetzt empfand er den leeren Platz draußen als einen Mangel. Die ruhige Sicherheit, die von dem Manne ausging, fehlte ihm.

Was bedeutete das: Bereitstellung alles Nötigen? Wollte Usadel Einblick in die Bücher nehmen? Natürlich, er mußte sicher gehen.

Malte trat an die Tür: »Herr Braun, bitte!«

Der älteste Buchhalter trat ein.

»Die Geschäftsbücher mit einem vorläufigen Abschluß müssen bis vier Uhr vorliegen. Dringende Angelegenheit.«

»Es soll geschafft werden.«

»Gut! Haben Sie alles zur Hand?«

»Gewiß, Herr Konsul. Wo sollen die Bücher ausliegen?«

Malte überlegte. Sein erster Gedanke war: hier! Es schmeichelte ihm, den Beherrscher des Geldwesens durch die neuen Räume und den eindrucksvollen Betrieb zu führen. Doch sie waren hier nicht vor Störung sicher. Aufsehen vermeiden! Der Treßhof erzwang schon wegen seines Alters Ehrfurcht.

»Im Beratungzimmer des Treßhofes«, bestimmte er.

[S. 88]

Das Telegramm in der Hand haltend, stieg Malte in die Wohnräume hinauf. Frauke saß am Schreibtisch und schrieb in ihrer spitzen Perlschrift einen Brief. Er legte das Blatt vor sie hin.

»Entschuldige Frauke! Ich denke, es wird dich freuen.«

Sie las und sah dann ruhig auf. »So, Usadel! Nun, ich wünsche dir Glück!«

Der Panzer ihrer kühlen Gelassenheit war doch undurchdringlich. Malte schritt im Zimmer auf und nieder. »Es handelt sich um den Beitritt, Frauke. Ich muß mich entscheiden. Was rätst du, das ich tun soll?«

Sie legte die Feder nieder und wandte sich ihm zu. In ihrem Blick war Erstaunen, das ihn beschämte: Soll ich sagen, was deine Sache ist? »Das mußt du selbst wissen, Malte. Oder frage Onkel Rolf.«

»Gewiß«, murmelte er. »Du solltest nur sehen, daß ich Wert darauf lege, deine Meinung zu hören.«

Ob man einen Imbiß vorsetze? Frauke stimmte zu, sie werde dafür Sorge tragen. Und der Wagen? Natürlich, der Kraftwagen stand bereit.

Malte verließ das Haus ein wenig bekümmert. Etwas in seinem Innern lag brach, ein umhegter Fleck inmitten bestellter Felder, der ohne Blühen war, der immer den Anblick winterlicher Starre bot.

Auf der Straße grüßte man ihn ehrerbietig, der Aldermann Hofmeister redete ihn zutraulich an. Die Achtung, die man ihm erwies, belebte sein Selbstbewußtsein wieder. Wenn sie wüßten, welche Pläne er auszuspinnen im Begriff war! Die Alten würden Augen machen.

Onkel Rolf war noch auf dem Gericht. Malte fragte, ob jener sich ihm als Beisitzer zur Verfügung stellen wolle.

»Als Beisitzer, mein Lieber?«

Da der Name Usadel fiel, zeigte er ein erstauntes Gesicht.

»Der kommt hierher? Das ist unmöglich. Er schickt einen seiner Direktoren.«

Malte legte die Drahtnachricht vor.

»Hast du mit Klaus schon gesprochen?«

[S. 89]

»Mit Klaus? Du siehst, die Sache ist vertraulich. Übrigens setzt dein Sohn seine Mittagszeit schon recht frühzeitig an.«

Rolf wurde bedenklich. Der Zeigefinger mit dem Siegelring rieb das Kinn. »Ja, eigentlich, da es eine rein geschäftliche Sache ist ... Wird denn ein Vertrag zu schließen sein?«

»Du begreifst, lieber Onkel, daß ich darüber nichts sagen kann. Ein Vertrag? Nein, es handelt sich zunächst um eine Rücksprache.«

Malte, der eine lebhafte Zustimmung erwartet hatte, wurde etwas ungeduldig. Schließlich war sein Vorschlag doch ein Vertrauensbeweis.

»Du magst es nicht gern tun, Onkel?« sagte er knapp.

»Offen gesagt: nein, Malte. Ich würde vielleicht als zudringlich empfunden werden. Man wünscht mit dir allein zu verhandeln.«

»Gut! Du kannst recht haben.«

Er verabschiedete sich, ohne Empfindlichkeit zu zeigen. Eigentlich war es ihm lieb, daß der Onkel sich ihm versagte. Nun er sich auf sich selbst gestellt sah, fand er seine alte Zuversicht wieder.

Also zum Treßhof, wo er Mellin und Telge die Herrichtung und Heizung des Beratungzimmers anempfahl. Dann nach Haus.

Nach dem Essen ging er wieder in sein Arbeitzimmer. Er wollte sich sammeln, alle Möglichkeiten erwägen, denn er sollte in entscheidender Stunde allein seinen Mann stellen. Malte wußte, wieviel vom ersten Eindruck abhing, zumal bei den Gewaltigen des Geldwesens.

Die Zeitungen! Sie konnten warten. Aber da war eine mit Rotstift aufdringlich bezeichnete Stelle. Er las und erschrak.

Es war ein aufreizender Artikel gegen das Treiben der Treuhandgesellschaften, den Harro geschrieben. Andeutungen, die auch den Uneingeweihten nicht in Zweifel ließen, wer gemeint sei, waren reichlich vorhanden. Die Absicht, den Vorstoß einer Partei damit anzukündigen, war offenbar.

Wie peinlich! Wenn Usadel dies gelesen, konnte es übel auslaufen, denn Maltes Zusammenhang mit dem Politiker Doktor Treß war ihm sicherlich bekannt. Man mußte Harro verständigen.

[S. 90]

Auf eine Anfrage war vom Bahnhof mitgeteilt worden, der Schwedenzug habe eine halbe Stunde Verspätung. Als Malte eintraf, ward eben eine volle Stunde Versäumnis gemeldet. Malte betrat den Bahnsteig.

Der Wintertag ließ sich sanft in den weiten Mantel der kommenden Nacht hüllen. Den westlichen Himmel deckte eine brandige Glut, deren Widerschein der Schnee der Dächer auffing. Der Rauch der Schlote stieg kerzengerade in die flimmernde Luft.

Die Geräusche des Fahrtbetriebes klangen in das leise Summen unruhig schreitender Menschen vor den Schranken: der Pfiff einer Maschine, das Kreischen der Räder am Bremsklotz. Ein Personenzug fuhr ein und entleerte sich; Frauen mit Lastkörben schoben sich an Malte vorüber. Dann schleppte eine Maschine die leeren Wagen aus der Halle.

Endlich erging die Meldung, der erwartete Zug werde einlaufen. Die Post- und Gepäckkarren wurden vorgefahren, und Reisende strömten herzu; die ganze Unrast des Verkehrs, die durch das Warten gesteigert war, flutete um Malte. Dann schob sich mit glühenden Augen, unter stoßenden Atemzügen der rollende Zyklop herein, der die lange Kette vereister Wagen schleppte.

Malte hatte sich so aufgestellt, daß er die Aussteigenden überschauen konnte. Es waren nicht viele, die meisten fuhren weiter. Keiner von denen, die an ihm vorübereilten, konnte der Erwartete sein. Der Bahnsteig wurde leer. Sollte eine Versäumnis eingetreten sein? Lag auf seinem Schreibtisch zu Hause schon die Nachricht? Zögernd ging er am Zug entlang.

An dem Fenster eines hell erleuchteten Abteils zeigte sich ein kahler Kopf. Die Lippen bewegten sich mechanisch, nicht wie im Gespräch, sondern als sagten sie etwas her. Über die Platte des Klapptisches beugte sich schreibend oder lesend ein gekräuselter Mädchenkopf. In der Nähe stand auf dem Bahnsteig eine Gruppe schwatzender Menschen: vier oder fünf Männer und ein Mädchen, dessen Gesicht in dem umgelegten Pelz verschwand.

Aus dieser Gruppe löste sich ein Herr und trat, als Malte sich näherte, auf ihn zu: »Herr Konsul Treß vielleicht? Sie erwarten —«

[S. 91]

Malte bejahte: »Herrn Usadel.«

Der Herr hob den Hut und nannte einen Namen. »Bitte, einen Augenblick Geduld. Herr Usa—del — der Name betont sich auf der letzten Silbe — diktiert noch.«

»Im Zug? Doch der wird sofort abfahren.«

»O, der Schaffner weiß Bescheid.«

Malte erfuhr, daß die Wartenden das Gefolge waren: ein Kanzlist, ein Geheimpolizist, ein paar Berichterstatter und die zweite Schreiberin.

»Dort kommt Herr Usadel schon!«

Dem Wagen entstieg jener Mann, den Malte am Fenster beobachtet hatte. Das also war der vielgenannte Große! Einfach gekleidet, ein wenig unbehilflich und scheu. »Freut mich, Herr Konsul. Ich habe warten lassen. Bedaure. Haben Sie einen Raum für eine einstündige Besprechung bereit?«

Die Worte kamen kurz, in etwas heiserem Ton. Er streckte ein paar Finger zur Begrüßung von sich. Der weitkrempige Hut verschattete das Gesicht. Er wandte sich zu seinen Leuten.

»Haben wir heut' noch Verbindung nach Berlin?«

Der Kanzlist meldete, daß nach dem Fahrplan keine Verbindung möglich sei.

»Also einen Extrazug, Herr Direktor!«

Er schickte sich an, zu gehen; Malte und der Herr, der sich ihm vorgestellt hatte, traten an seine Seite, die andern blieben zurück. Einen Extrazug! dachte Malte. Wenn er so viel draufgibt, was mag er dann fordern! Als sie auf die Straße traten, ließ Telge den Motor anlaufen, und sie stiegen ein.

Malte war ein wenig beunruhigt. Es war ihm peinlich, daß Usadel einen Zeugen bei sich hatte, während er den beiden allein gegenüberstand. Also galt es, aufs höchste gesammelt sein, jedes Wort zweimal wägen. Er fragte nach dem Ergehen seines Gastes, nach dem Befinden während der Reise. Doch Usadel schien ermüdet zu sein, er antwortete einsilbig, und Malte erfuhr nur, daß jener tatsächlich aus Amerika über Schweden komme. Als sie auf dem schmalen Damm zwischen den Teichen fuhren, lehnte sich Usadel [S. 92] vor und schaute einen Augenblick auf die dunklen Gestalten der Schlittschuhläufer, die sich noch auf dem Eis bewegten.

»Das sind die Teiche, denen die Stadt zu Wallensteins Zeit ihre Rettung dankt, Herr Usadel«, sagte Malte beflissen.

Er sah im Licht einer Laterne, wie sich Usadels Lippen ein wenig verzogen. War es Spott? Oder Verlegenheit?

»Der hat auch seinen Vorteil nicht verstanden«, sagte er. »Um diese Jahreszeit wär' es ihm besser geglückt.«

Gleich darauf wandte er sich an Malte: »Der Politiker Treß ist Ihr Bruder?«

Jetzt kommt es! dachte Malte, als er bejahte.

Aber Usadel nickte und sagte nur: »Sie haben den Artikel gelesen? Er kam just zur Zeit und hat das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte.«

Malte atmete erleichtert auf. Da glitt schon der Wagen in die Torfahrt des Treßhofes und hielt gleich darauf vor der Tür. Mellin stand bereit und öffnete den Schlag.

Was würde Usadel sagen, wenn er den alten Beratungraum betrat, diesen Raum mit den historischen Bildern, der geschnitzten Treppe, dem schönen Gestühl? Es schimmerte alles blank und vornehm. Usadel sagte nichts, er legte den Mantel und den Hut ab, rieb die Handflächen aneinander und sah sich nach einem Sitz um. Was für ein Mensch war das! Seine Gestalt gedrungen und doch nicht feist, seine Farbe von einem eigentümlichen blassen Gelb, seine Gebärden nicht auffallend und doch durchaus bestimmt. Die hohe Stirn, die in den kahlen Schädel hineinwuchs, gab ihm etwas Überragendes, die Augen waren nicht zu bestimmen; sie waren von den Lidern halb verdeckt. Er trug keinen besonderen Zug des Rassefremden. Das war der Mann, der wie ein Schweifstern, von dem keiner wußte, plötzlich aufgetaucht war und in seltsamem Licht über der Menschheit funkelte, von einigen gepriesen, von andern als böses Zeichen gedeutet.

»Die Herren sind erschöpft«, sagte Malte, auf den Tisch deutend, der seitwärts hergerichtet stand. »Darf ich einige Erfrischungen anbieten lassen?«

[S. 93]

»Unsre Zeit ist sehr beschränkt, Herr Konsul.«

Es klang drängend. Des Begleiters Augen fuhren begehrlich über die Kristallflaschen, in denen dunkles und goldenes Rebenblut glänzte, aber er setzte sich an Usadels Seite. Malte nahm den beiden gegenüber Platz.

»Sie haben um Anschluß an uns nachgesucht«, begann Usadel. »Es ist nicht unsre Gepflogenheit, kleine Häuser in der Provinz heranzuziehen. Doch in diesem besonderen Fall wäre eine Vereinigung zu erwägen, wenn Sie auf unsre Bedingungen eingehen. Herr Direktor, entwickeln Sie unsern Plan.«

Der Angeredete begann zu sprechen. Jetzt erst betrachtete ihn Malte genau. Sein wulstiges, fahles Gesicht mit den winzigen Bartflecken auf der Oberlippe war das Muster für die Gesichter aller Geldmenschen, die von jagender Arbeit zerrissen sind und deren Unstete den Geist zerpflückt. Malte mußte an die Worte denken, die ihm der blühende Hans Olrogge jüngst über sein Aussehen verwundert zugerufen hatte. War der Mann dort sein Zukunftbild?

Er hatte nicht Zeit, darüber zu grübeln. Sammlung, Sammlung! Nach den ersten Worten begriff er, um was es sich handelte: man wollte den Getreidehandel eines weitreichenden norddeutschen Bezirks in die Hand bekommen; Mittelpunkte sollten geschaffen werden; hier sollte eins dieser Zentren, vielleicht das vornehmste, entstehen. Ob er Sicherheiten dafür biete.

Malte griff nach den Geschäftsbüchern, die ihm zur Hand lagen.

Der Direktor winkte etwas geringschätzig ab. »Darüber sind wir völlig unterrichtet. Sagen Sie uns, ob Sie es sich zutrauen.«

»Wir haben hierzulande viele Genossenschaften«, wandte Malte ein.

Wieder die geringschätzige Geste. »Die bekommen wir alle. Mut, Entschlossenheit, Herr Konsul! Zu haben ist jeder. Nie fragen: Ob?, sondern nur: Wieviel?«

Er machte die Gebärde des Geldzählens und lachte ein trockenes Lachen. Malte blickte auf Usadel. Der saß mit halbverdeckten Augen da und schien gänzlich unbeteiligt wie eine regunglose Amphibie im Sonnenschein. Und doch mußte er Obacht geben. Denn als Malte [S. 94] ihn ansah, verzog sich wieder seine Lippe, nicht zum Lächeln, sondern zu einer eigentümlichen Verzerrung.

»Sie haben sich unlängst neue Geschäftsräume eingerichtet,« fuhr der Dritte fort; »das wäre ja für die Vereinigung recht zweckmäßig.«

Das war ihnen auch bekannt? Malte erkannte, daß sie bis ins Kleinste vorbereitet kamen. Aber wie sollte er sich zu dem vorgelegten Plan stellen? Gewinnbringend war er, zu befürchten war nichts, wenn Usadel dahinterstand. Aber schließlich war mancherlei zu bedenken. Er bat um Bedenkzeit.

Plötzlich erwachte Usadel aus seiner Unbeteiligtheit: »Wie lange, Herr Treß? Zehn Minuten, fünfzehn? Ich habe meine Reise nur unterbrochen, um Ihre Entscheidung zu hören. Die Sache ist eilig.«

»Ich erkenne noch nicht klar meinen Vorteil,« sagte Malte etwas bedrückt.

»Das ist mir verständlich«, erwiderte Usadel. »Sprechen Sie weiter, Herr Direktor.«

»Ihr Geschäftsvermögen wird dadurch sichergestellt für die nächste Zeit, daß wir es in unsern Ring mit aufnehmen«, sagte dieser.

»Wäre es nicht ebenso sicher bei mir?«

»Keinesfalls. Geben Sie acht!« Er blickte sich um, ob kein Lauscher da sei. »Man will wieder geregelte Verhältnisse in der Welt schaffen. Deshalb müssen wir Deutschland von den ärgsten Schulden befreien. Man tut das, indem man Geld macht, ganze Wellen von Geld. Wie, fragen Sie? Man wird Papier machen, das nicht da ist, und Gold und Silber nehmen, das noch da ist.«

»Das ist gegen das Gesetz«, warf Malte ein.

Der Direktor zuckte mitleidig die Schulter: »Gesetze!« sagte er. Es klang, als bedaure er einen Verstorbenen.

»Das läßt sich doch niemand gefallen!«

»Meinen Sie! Die Revolution hat gelehrt, daß die Menschheit auf alles Neue geht wie der Fisch auf den Köder. Zahlen verblüffen. Sagen Sie jemandem, er verdiene das Dreifache, keiner fragt, ob Sie ihm Metall oder Papier geben.«

Malte fühlte eine seltsame Beklemmung auf seiner Brust. War das alles ernst gemeint oder ein wirres Spiel?

[S. 95]

»Ich kann mir nicht denken —« murmelte er.

»Ja, die Luftzone, in die wir treten, ist sehr ungewöhnlich«, sagte der andere. »Ich verstehe, daß es Sie schwindeln macht. Doch verlassen Sie sich darauf, sie kommt.«

Ja, es war alles klar, was dieser Mensch da vortrug. Wenn es gelang, der Menschheit das Fieber der Gewinnsucht in diesem Maße einzuimpfen, sie mit der Geldmasse über den Geldwert fortzutäuschen, dann war sie blind für alles. Malte gestand sich, daß es der einzige Weg zur Rettung und ein genial erdachter Plan sei, und doch — es war ein höllischer Plan, der ihn, den Kaufmann alten Blutes, erschauern machte.

Er sah Usadel an; der saß da, als sei er unbeteiligt. Seine Hand lag auf dem Tischrand. Plötzlich fiel es Malte auf, wie brutal diese Hand war, wie ungeformt, zum Zupacken geschickt; die kurzen fleischigen Finger wie Krallen. Sah Usadel Maltes Blick? Die Hand fuhr zurück und zog die Uhr. Das war ein nicht mißzuverstehendes Zeichen.

»Ich verstehe alles«, sagte Malte. »Die Sache ist gut erdacht. Aber, vergeben Sie, Herr Usadel, sie ist doch ein großartig angelegter Betrug!«

Der Direktor fiel ein: »Vielleicht! Was geht das uns an? Wir sind keine Beichtväter für das Gewissen.«

Usadel verzog die Lippe: »Wenn in dieser Zeit das Gewissen wirklich noch da wäre, müßte man es totschlagen.«

Mord des Gewissens! Wo hatte Malte das doch gehört? Der Strand mit den schäumenden Wellen trat ihm in die Erinnerung. Irgendwo dort hatte es jemand gesagt. Sein Blick haftete mit einem Male an dem Schnitzwerk der Treppenbrüstung, haftete an einem Bild. Was war das doch? Der Judaskuß im nächtigen Garten. Was sollte das hier? Er riß sich gewaltsam los. Mit dem allen hatte er ja nichts zu tun. »Man« machte das, und ihm konnte es gleich sein, wer der rätselhafte »Man« war, ihm war verheißen, daß in der hereinbrechenden Sintflut sein Vermögen gerettet werden sollte, alles andre konnte ihm gleichgültig sein. Der Ehrenschild der Treß blieb unbefleckt.

[S. 96]

»Es wird Zeit für uns«, sagte Usadel und schob den Stuhl ein wenig zurück. »Herr Konsul, wie ist Ihre Meinung?«

Ein Aufbäumen war in Malte, ein Zurückweichen. Aber zwang er es nicht nieder, so lag all sein stolzes Planen zerstört da. Die Ehre! Und Frauke! Und die Poppelmanns! Er hätte sich für alle Zeit lächerlich gemacht, und das verzieh Frauke am wenigsten. »Ich gehe auf Ihre Vorschläge ein, ich danke Ihnen«, sagte er.

Usadel nickte gleichmütig. »In weniger als einer Woche trifft ein Herr bei Ihnen ein, der die nötige Vollmacht hat. Er wird Sie über die nächsten Maßnahmen unterrichten. Verträge schließen wir nicht. Es bleibt Ihnen wie uns überlassen, mit dreimonatlicher Aufsage unsre Verbindung zu lösen. Wenn Ihnen dafür die Geltung des Ringes nicht genügt, so kann es schriftlich festgelegt werden.«

Ja, Malte wünschte das Schriftstück. Der Direktor lächelte.

Die Herren erhoben sich, ein paar Reden wurden noch getauscht. Der Direktor sandte noch einen sehnsüchtigen Blick nach den Flaschen, Malte lud nochmals ein, aber Usadel lehnte ab. Dieser Mensch schien keiner Nahrung zu bedürfen.

Der Wagen fuhr vor, man stieg ein, und der Treßhof blieb zurück.

Auf dem Bahnhof erwartete das Gefolge die Ankommenden: die Berichterstatter schrieben eifrig auf einen Bogen irgendeine Mitteilung, die noch in der Nacht einer Zeitung zugehen sollte. Die beiden Schreibmädchen blickten aus ihren Pelzen neugierig auf Malte, der Kanzlist meldete, daß der Zug bereitstehe.

Sie hatten auf dem Weg nur wenige Worte gewechselt. Usadel hielt die Angelegenheit für erledigt. Hinter seinen verdeckten Augen zuckten wahrscheinlich schon wieder neue Pläne, denen er nachsann. Malte suchte höflich eine Unterhaltung zu pflegen, aber auch der Direktor, der so geschwätzig gewesen war, verhielt sich schweigsam.

Usadel schob wieder einige Finger vor und faßte dann an den Rand seines Hutes. Wozu noch viele Worte, da der Zweck erreicht war!

»Nun?« fragte er seinen Begleiter, als er sich in das Polster des Wagens fallen ließ.

Der machte eine Gebärde des Zweifels. »Der Mann wurzelt in alten Anschauungen«, sagte er.

[S. 97]

»Taugt also nicht für uns.«

»Wenn er sich nicht mausert, nein, Herr Usadel. In Deutschland jedoch gibt es viele von der Art; man muß mit ihnen rechnen, und dieser scheint mir versprechender als mancher andere — er ist ehrgeizig.«

Malte stand draußen am Wagen und wartete, daß der Zug abfahre. Er grüßte, als sich die Räder in Bewegung setzten; von innen kam kein Dank. Sie arbeiteten wohl schon wieder.

Er ließ sich von Telge nach dem Treßhof fahren, Mellin mußte im Beratungzimmer das Licht andrehen. Dort saß er lange und erwog. Aber seltsam! Immer wieder fand er seinen Blick auf jenem Bild der Treppenbrüstung: wie der bärtige Mann, dessen Hand den gefüllten Geldbeutel umspannt, dem Meister den verräterischen Kuß darbietet. Was hatte das alte Bild zu schaffen mit den Vorgängen dieser wilden Zeit? Er wußte es nicht, er wollte dem nicht nachdenken, und doch trat es ihm aufdringlich nahe.

Und noch eins. Er sah Jörg vor sich, wie er nach dem Spiel in St. Niklas in jenem Zimmer des Hauses am Markt stand, innerlich in Begeisterung erglühend, sein Gesicht besonnt: Wir sind doch die Könige!

Er hatte bei sich gedacht: Welchen unbändigen Stolz trägt doch der arme Wicht! Wir königlichen Kaufleute und dieser Tastenschläger! Jetzt beneidete er ihn. Ihm war, als dürfe er das Recht des königlichen Menschen heute nicht für sich in Anspruch nehmen. Seufzend erhob er sich und verließ das Haus. —

In Fraukes Zimmer fand er Klaus, der eine Mappe mit Stichen mitgebracht hatte, die Blätter ausbreitete und einige Feinheiten erläuterte. Malte stellte sich hinter ihn und hörte zu. Er wußte, daß Frauke, die den Vetter wegen seiner Sucht, sich etwas stutzerhaft zu kleiden, verspottete und ihn leicht als einen gutmütigen Hausnarren behandelte, in Kunstfragen sein Urteil gelten ließ.

Plötzlich sah Frauke zu Malte auf. »Weißt du schon, daß Klaus uns verlassen will?« fragte sie.

Klaus legte die Stiche zusammen. Es war ihm sichtlich peinlich, daß Malte ihn so verwundert betrachtete.

[S. 98]

»Er will heiraten«, fügte Frauke hinzu.

Güldenfey? dachte Malte. Hat er mit ihr gesprochen? Hat sie sich vielleicht in Rücksicht auf mich bereit erklärt? Er fühlte ein lebhaftes Bedauern.

»Er hat eine kleine Witwe gefunden, die ihn bezaubert«, fuhr Frauke fort.

Klaus lachte verlegen. Was würde Malte jetzt sagen? Doch Malte sagte nichts, er ging zur Wand und drückte auf den Klingelknopf. Als das Mädchen erschien, bestellte er Schaumwein. Ein plötzlicher Rausch war über ihn gekommen, seine Augen glänzten. Frauke blickte ihn erstaunt an: er war leuchtend wie damals in Harvestehude.

»Wir wollen dem Glück Willkomm bieten«, sagte er, als er die Gläser füllte. »Dir, Klaus, und uns! Ich habe heute mit Usadel abgeschlossen!«


Das Skelett im Hause

Harro kam nicht. Marfa saß am Fenster ihres Zimmers, das neben Güldenfeys Zimmer lag, sah über die Teiche hin und wartete. Ihr Leben war nur ein Warten. Die alten Weiden dort drüben begrünten sich, standen in vollem Laub, wurden fahl, starben ab. War es die Zeit, da die Primeln ihre Augen aufschlugen? Flossen die schweren Ströme des Lichts über die dürftigen Erdwellen von Heilisoe? Ging der Herbst in knisterndem Brokat oder standen die Bäume in winterlichem Rauhfrost wie arme bettelnde Waisenkinder? Sie wußte es nicht, sie achtete dessen nicht. Sie zählte nicht mehr nach Jahreszeiten, sie zählte nur noch Harros Besuche.

Seit ihr das Leben ihres Kindes entglitten, hing sie sich mit einem Verlangen, das sie verzehrte, an ihn, den Einzigen, den sie noch besaß. Haushaltssorgen hatte sie nicht, andre Beschäftigungen befriedigten sie nicht. Alles, was die Frau in dieser nothaften Zeit die Hände regen ließ, um den Schwestern zu helfen, schien Marfas Seele in jenem Kasernensaal in Riga verloren zu haben, wo täglich [S. 99] der Tod in die Schar der gefangenen Frauen griff und die auf ihn harrenden mehr quälte als die fortgeführten.

Harro! Warum mußte er fern von ihr sein? Während einer Zeit schrieb sie endlos lange Briefe an ihn. Sie gab es auf, als sie merkte, daß er nur die ersten Seiten las. Stieg er aus dem Bahnwagen, den sie, seit einer Stunde auf dem windigen Bahnsteig stehend, erwartet hatte, so überströmte sie ihn mit einer kindlich-stürmischen Freude. Doch am Abend schon begann sie die Stunden zu zählen, die sie noch von seiner Abfahrt trennten.

Er wurde warm, aber seine Zerstreutheit fand kein Ausruhen bei ihr, solange er den heftigen Puls ihrer Unruhe empfand. Von seinen politischen Dingen mochte er nicht zu ihr reden: sie duldete es, aber er wußte, daß sie alles haßte, was ihn von ihr trennte. Tröster ihres Leides konnte er nicht sein; vielleicht verstand er es nicht, jedenfalls konnte er nicht trösten, wo er selbst getröstet sein wollte.

»Marfa ist eine von denen, die suchen und sich darüber selbst verlieren«, sagte einmal Frauke.

Güldenfey sah sie überrascht an. Zuweilen tat Frauke einen Ausspruch, der wie ein Spalt in ihrer kühlen, verhaltenen Art erschien und Tiefen ahnen ließ. Aber man konnte nie hinabblicken, weil immer gleich wieder eine hochmütige Gebärde, ein frostiges Wort sich wie eine kalte Schicht darüberbreitete. Güldenfey allein ahnte, daß dieses hastige Zudecken nur Scham sei.

Frauke kam zuweilen, um Marfa zu besuchen. Es zog sie etwas in dieser Frau, die der Zukunft nicht froh ward, weil sie nicht vergessen konnte, an. Sie saß Marfa gegenüber, und wenn nach den ersten Worten das Gespräch stockte, betrachtete sie das schöne Gesicht in dem dunklen Flechtenrahmen grübelnd. Dann stand sie plötzlich auf und ging unter einem nichtssagenden Vorwand wieder fort.

Ja, wäre Güldenfey nicht gewesen! In die Tage eines aufreibenden Wartens trug sie Leben.

»Marfa, heut stäubt's um die Haseln im Teichwald, und der Haubentaucher schwimmt im gelben Rohr. Du mußt mitkommen und es sehen.« — »Marfa, gestern ist einer armen Frau im Sachsenviertel ein Kind geschenkt; komm mit mir, es wird dich freuen.«

[S. 100]

Und Marfa, die nur ungern das Haus verließ, ging mit, stand wortlos daneben, wo Güldenfey bewunderte und lobte, und in ihre Wangen stieg ein leises Rot. Wie konnte Güldenfey an den langen Winterabenden erzählen! Nicht wie Ose, die in der Vergangenheit Bescheid wußte, sondern aus der Gegenwart: sie streute immer Blumen in die grauen Stunden, und ihre tröstenden Worte waren die goldenen Schlüssel, die die verschwiegensten Kammern erschlossen.

Sie war es, die auf den Postboten wartete und dann leuchtenden Auges ins Zimmer trat: »Marfa, hier ist ein Brief von Harro!« Und so kam sie auch an dem Morgen, da man die Osterpalmen aufgestellt hatte und alle Räume vom Duft jungen Wuchses voll waren.

Marfa las mit flimmernden Augen, das Papier zitterte in ihrer Hand. »Harro kommt,« sagte sie, »er kommt heute gegen Mittag.«

Und sie begann sich für den Gang zum Bahnhof zu rüsten, obgleich noch Stunden sie von dem Augenblick des Wiedersehens trennten.

Harro kam. Er sah angegriffener aus als sonst und war zerstreut. Sie merkte, wie ihre Zärtlichkeit an ihm abglitt und sah ihn besorgt an.

»Verzeih, ich bin achtlos«, sagte er und blickte dabei starr auf eine Menschengruppe, die sich mühte, einen Handwagen mit vielem Gepäck zu beladen. »Ich muß dich bitten, allein nach Hause zu gehen. Ich will Malte aufsuchen.«

Ihr ahnte nichts Gutes, sie wollte fragen, aber sein verschlossenes Gesicht drängte jedes Wort zurück. Sie ging allein nach Hause und sah mit zuckenden Lippen auf die Schneeglöckchensträuße, die sie zu seinem Empfang hingestellt hatte. —

Malte sah den Bruder verwundert an, als der eintrat. Es war die Stunde, da keiner vorgelassen wurde.

»Ja, ja, Häberle hat mich beschworen, zu warten,« sagte Harro, »aber es duldet keinen Aufschub. Ich komme deshalb schon früher, als ich darf.«

Er nahm erschöpft Platz und begann zu berichten. Er hatte für einen Parteifreund gutgesagt, die Forderung war ihm jetzt zugestellt, es mußte in kürzester Frist für Deckung gesorgt werden.

[S. 101]

»Wieviel?« fragte Malte.

Als Harro eine namhafte Summe nannte, legte er entschieden den Bleistift auf die Tischplatte. »Ich bedauere, ich kann dir jetzt nicht helfen.«

Harro blickte erstaunt auf: »Du, der Mann, durch dessen Hände täglich ungeheure Summen laufen? Der Verbindungen hat wie keiner in unserer Stadt?«

»Das verstehst du nicht, Harro.«

»Gut, so schaffe Rat!«

Malte hob die Schultern. Er sagte, daß es leichter sei, eine Torheit zu begehen als sie gutzumachen.

Da wurde Harro erregt. »Du vergißt, daß es mein Geld ist, was ich fordere, und nicht das deine.«

Es war kein freudiges Wiedersehen. Malte warf dem Bruder Leichtfertigkeit vor, dieser berief sich auf sein Recht der freien Verfügung. Sie standen einander mit zornigen Augen gegenüber wie Kämpfer. Es war bei Malte beschlossen, daß er dem Bruder helfen müsse, doch daß dieser seine törichte Handlung nicht reuig ansah, das versteifte seinen Trotz. Mochte er doch die bitteren Folgen seines Leichtsinns schmecken! Er war auch in täglicher Bedrängnis. Unerhörte Forderungen drängten auf ihn ein.

Plötzlich griff Harro nach seinem Hut. »Du willst also nicht?«

Es war etwas in des Bruders Gesicht, das Malte erschreckte, eine Entschlossenheit, die vor dem Letzten nicht haltmachte. War er denn so benommen gewesen, daß er über die Ängste fortsehen konnte, die in Harros Seele ihre Zähne gruben? Er sah den kleinen Jungen vor sich, mit dem er den Ball geworfen hatte. Er hob die Hand. »Ich will dich nicht in Unehre kommen lassen, Harro«, sagte er. »Aber versprich mir: Nie wieder! Setz' dich hin! Wir wollen überlegen, was sich tun läßt.«

Als Harro gegangen war, trat Häberle ein und berichtete. Die Tretmühle drehte sich, aber Malte mußte sich heute anstrengen, die Gedanken bei der Sache festzuhalten. Nein, Harros Angelegenheit ließ sie nicht mehr unruhig flattern. Aber immer aufs neue verloren sie sich in dem Grübeln darüber, wie es möglich sei, daß er über [S. 102] diesem Täglichen die Empfindungen für den Bruder verloren hatte. Er sah sich im Spiegel, und sein Wesen erschien ihm sonderbar verändert.

»Noch etwas, Herr Häberle?« fragte er, als dieser seine Schriftstücke in die Mappe tat und zögernd stehenblieb.

»Ja, Herr Konsul, sie war wieder hier.«

Malte sann nach.

»Die Frau Jobst. Sie hat abermals gefragt, wann sie vorgelassen werden könnte.«

»Ich bin für die Frau nicht zu sprechen. Auf keinen Fall!«

»Sie will wiederkommen.«

»Verbieten Sie ihr das Haus. Entfernen Sie sie, drohen Sie ihr mit der Polizei!«

Häberle versprach es, doch seine Miene verhieß keinen Erfolg.

Malte stand auf und ging durch das Zimmer, sobald er allein war. Was bedeutete dies wieder? Schon einmal hatte Häberle ihm diese Frau gemeldet, und er hatte sie abweisen lassen; nun war sie wiedergekommen! Was mochte sie wollen? Sicherlich betteln. Er war erschrocken gewesen wie selten, als er erfahren, daß sie in der Stadt wieder aufgetaucht war. Der Schreck hatte sich wiederholt, als Klaus ihm erzählt, wie sie sich an Güldenfey gedrängt. Er hatte sich erkundigt, ob es keine Möglichkeit gebe, sie aus der Stadt unter irgendeinem Vorwand zu entfernen. Onkel Rolf hatte sich vergeblich bemüht. Nein, es war unmöglich. Sie lebte unbescholten, ihr Mann — irgendein Arbeiter — war krank, und sie ernährte ihn und ein fünfjähriges Kind. Am besten war es, man übersah ihr Dasein, ließ sie gewähren, solange sie die andern in Ruhe ließ.

Darüber war eine längere Zeit vergangen. Vielleicht wußten Leute in der Stadt darum und munkelten von alten Zusammenhängen. Man mußte es stillschweigend dulden, man hatte eben wie viele andre auch ein Skelett im Hause. Nur es nicht berufen! Nur nicht daran denken!

Aber nun war sie von selbst gekommen, ging um und störte die Ruhe des Hauses. Er hätte in ihr mehr Stolz vermutet. Aber solche Geschöpfe — wer wußte, wie tief die gesunken war! Klaus hatte gesagt, sie sei damals betrunken gewesen.

[S. 103]

Was nun? Sie würde wiederkommen, o ja, sie würde wiederkommen, Malte wußte es. Wohl wäre es das einfachste, ihr Geld zu geben, um sie fürs erste loszuwerden, aber Geld stachelt die Begehrlichkeit an, sie würde wieder und wieder pochen, und was seit zwanzig Jahren begraben war, würde wieder in aller Leute Mund sein. Und dann das väterliche Verbot! Nein, sie von sich fernhalten, war das beste. Landgraf, werde hart!

Malte setzte sich nieder und begann etliche Schriftstücke durchzusehen.

Als er eine Stunde später das Haus verließ, trat ihm am Fuß der Treppe eine Frau entgegen. In diesen groben Kleidern und mit dem gealterten Gesicht unter einem zerdrückten Mützchen hätte er sie nicht wiedererkannt. War das die stolze Schönheit von einst? In seiner Erinnerung lebte ein Bild, das war biegsam schlank, trug ein seegrünes schillerndes Kleid und hatte rötliches Nixenhaar. Doch er hatte immer in heißem Groll daran gedacht und jeden Gedanken an diese Verführerin gewaltsam zurückgedrängt: ihr Bild hatten die Jahre undeutlich gemacht. Als jetzt sein Blick sie streifte, wußte er trotzdem, daß sie es war.

Sie trat auf ihn zu und grüßte. Er beachtete es nicht und wollte vorüber; da vertrat sie ihm den Weg. »Ich bin Frau Jobst«, sagte sie.

»Ich kenne Sie nicht«, sagte er hastig. »Bedauere, ich habe keine Zeit.«

»Wenn Sie mich nicht kennen, so ist das begreiflich«, erwiderte sie, ohne den Weg freizugeben. »Ich werde mich etwas verändert haben. Kurze Zeit hieß ich Frau Treß.«

Er blickte sie hochmütig an, dann glitt sein Blick an ihrer dürftigen Erscheinung nieder. Wie, wagte sie es, ihn daran zu erinnern? »Wenn Sie mich daran mahnen, so werden Sie wissen, daß wir nichts mehr miteinander zu schaffen haben.«

»Ich weiß es«, entgegnete sie fast demütig. »Aber ich will Sie sprechen, und man hat mir den Zutritt verweigert.«

»Meinen Sie, die Straße sei der passende Ort für ein Gespräch mit Ihnen?«

[S. 104]

Sie machte eine schnelle Bewegung, als hasche sie etwas, das ihr entgleiten wolle. »Wenn es Ihnen unangenehm ist, mit mir gesehen zu werden, so bestimmen Sie die Stunde, in der ich Sie im Hause treffe. Mein Anliegen ist so dringend, daß ich darum bitten muß.«

»Ich sagte Ihnen, daß davon keine Rede sein kann«, sagte Malte. »Erlauben Sie, bitte!« Er trat zur Seite und ging schnell davon.

Aber sie blieb neben ihm. »Ich komme wieder und bitte: Schicken Sie mich nicht fort«, sagte sie. »Es würde nichts nützen, denn ich käme doch wieder und käme so oft, bis ich vorgelassen bin. Verlassen Sie sich darauf!«

Der Platz an seiner Seite war leer. Er atmete auf, als sei er einer Gefahr entronnen, bog nach einigen Schritten ab und blickte zu den Fenstern seines Hauses auf, um zu sehen, ob von dort aus Frauke Zeugin dieser Begegnung gewesen sei. —

Am folgenden Tage zögerte Häberle wieder vor dem Hinausgehen. Malte tat, als bemerke er nichts. Als er aber das Haus verließ, stand die Frau wieder an der Tür. Sie stand am Abend dort, sie erwartete ihn früh am Tage. Sie schritt vor dem Hause auf und nieder; er hörte ihre Schritte auf dem Pflaster, hielt sich die Ohren zu und vernahm sie doch. Er dachte daran, die Hilfe der Polizei anzurufen, gab aber den Gedanken sofort wieder auf. Man trieb sie fort, aber keiner konnte diese Beharrlichkeit tilgen, die neue Wege finden würde. Am dritten Tage war sein Trotz gebrochen. Er konnte sich nicht überwinden, sie rufen zu lassen, doch als er ihre Stimme vor seiner Tür hörte, wie sie Häberle zum ungezählten Male bat, sie zu melden, ging er hinaus und winkte.

Er preßte die Lippen fest aufeinander, als sie eintrat; er war mit Zorn bis zum Überlaufen angefüllt. Er, der jeder Dienstmagd den Sitz geboten hätte, ließ sie an der Tür stehen. Er hielt sich weit von ihr entfernt. »Ich will diese Komödie beenden«, sagte er. »Was wollen Sie? Aber, bitte, kurz!«

Sie nickte. In dem kalten Morgenwind, der über den Markt strich, mußte sie gefroren haben, denn ihre Hände waren rot und sie barg sie unter dem eng angezogenen Tuch. »Es ist mir damals [S. 105] eine Abfindungsumme gerichtlich ausgesetzt, die ich nicht annahm. Ich habe mich ohne sie durchgebracht. Ich würde auch heut nicht danach fragen, wenn ich allein stände und die Zeit nicht so drückend wäre. Ich habe keine Möglichkeit zu verdienen mehr.«

»Sie haben das Recht darauf verwirkt.«

»Man hat mir das bereits gesagt. Ich suche auch bei Ihnen nicht mein Recht, aber vielleicht geben Sie der Notleidenden, was Sie der Frau Ihres Vaters ...« Sie verstummte vor der heftigen Gebärde Maltes.

»Davon kein Wort, bitte, wenn Sie nicht wollen, daß dies Gespräch sofort beendet sein soll«, rief er.

»Der Haß sitzt sehr tief bei den Treß,« sagte sie; »so tief, daß sie selbst unumstößliche Tatsachen tilgen könnten.«

Malte zog ein Schubfach auf und entnahm ihm eine Brieftasche.

»Lassen Sie das!« sagte sie rauh. »Ich will kein Almosen! Ich erwarte von Ihrem Gerechtigkeitgefühl, daß Sie mir das zubilligen, was Ihr Vater zu geben für nötig fand.«

Malte wollte etwas entgegnen, doch er hielt an sich. Er mochte die letzten Worte seines Vaters vor ihr nicht preisgeben.

Die Frau lockerte ihr Schultertuch und zog eine Rolle von Papieren hervor. »Ich lasse auch nicht mit mir handeln«, fuhr sie fort. »Ich weiß, Sie haben mich gehaßt von dem Augenblick an, da ich den Treßhof betrat. Ich habe es dem Jungen, der das Andenken an seine tote Mutter damit zu ehren glaubte, nicht verdacht. Damit Sie aber jetzt verstehen, wie alles kam, wollte ich es Ihnen erzählen. O, ich weiß, Sie haben für dergleichen Dinge keine Zeit, deshalb hab' ich hier den Hergang aufgeschrieben. In den kommenden Feiertagen werden Sie Zeit zu lesen finden. Am Tage nach Ostern hole ich mir die Schrift ab und erwarte Ihren Bescheid.« Sie legte die Rolle auf seinen Schreibtisch und zog das Tuch um die Schulter.

»Bemühen Sie sich nicht,« sagte Malte; »ich habe andres zu tun, und vorlassen werde ich Sie nicht wieder.«

»Sie werden lesen und Sie werden sich sprechen lassen«, sagte sie bestimmt. »Glauben Sie mir, wer so weit in das Elend kam wie ich, dem ist es gleich, wenn er nach tagelangem Warten auf dem [S. 106] Pflaster umfällt.« Sie grüßte mit einer hastigen Kopfbewegung und ging.

Malte wollte sie zurückrufen, sie bewegen, daß sie die Schrift mitnahm, doch das war zu spät. Sollte er sie ihr nachsenden? Aber er wußte ihre Wohnung nicht. Mochte sie uneröffnet liegen, bis sie sie abholte; lesen wollte er sie nicht. Mit spitzen Fingern ergriff er die Rolle und verschloß sie in seinem Schubfach. —

Seltsam! Es war Malte, als sei ein Fremdes in seinem Zimmer, wenn er allein war. Er empfand die Gegenwart eines andern, wie man sie fühlt, wenn jemand ungesehen in den Raum getreten ist. Das leise Rauschen einer Kleiderfalte, das Wehen eines Atemzugs! Mitten im Schreiben eines Wortes blickte er auf. Sahen von dort, aus dem Dunkel neben der Tür, nicht zwei Augen auf ihn?

Nervenüberreizung, sagte er sich und fuhr in seiner Arbeit fort. Doch das spukhafte Gewißsein einer fremden Gegenwart blieb. Er war endlich überzeugt, daß ihn die Papiere in der Lade erregten, und wußte doch, daß er sie nicht loswerden konnte. —

Den Stillen Freitag hatten die Geschwister im Treßhof zugebracht. Es waren seltsam gehaltene Stunden gewesen. Man hatte von Jörg gesprochen, dessen Wirksamkeit Aufsehen zu erregen begann, trotzdem er sich noch immer als ein Lernender bezeichnete. Dann — wie war es nur dahin gekommen? — hatte Marfa begonnen, Lieder ihrer baltischen Heimat, die sie in das Deutsche übertragen, mit leiser müder Stimme zu singen. Eins hatte Malte unerträglich schwermütig geklungen:

Wenn ich sterbe, werden keine
Klageglocken um mich gehn,
Wird an meinem Grab nicht eine
Seele weinend stehn.

Auch Harro war von der trübseligen Stimmung dieses Liedes angesteckt worden. »Laß das, Marfa!« hatte er unwirsch gesagt. »Wir haben genug, was unsre Stimmung verdüstert.«

Erschrocken hatte Marfa abgebrochen, und Frauke hatte bald danach Malte zum Aufbruch gemahnt.

[S. 107]

Der Ostersonnabend verging in der üblichen Unruhe und Arbeitsunlust derer, die an die Vergnügen der Festtage denken. Malte sah das rege Treiben auf der Straße, hörte die Glocken, die das Fest einläuteten. In den Schmuckrosen des Rathausgiebels verglomm das Abendrot des Frühlingstages. Er erschien sich so verloren, so ausgeschlossen von der geringen schalen Freude, die den Menschen da draußen trotz aller Not verblieben war. Solche stimmunghaften Stunden taugten nicht für ihn. Mit dem Entschluß, zu arbeiten, ging er, als Frauke sich zur Ruhe zurückgezogen hatte, noch einmal hinab.

Aber da war wieder dieses unhörbare Atmen der fremden Gegenwart. Er kämpfte dagegen an und wurde doch des unbehaglichen Gefühls nicht Herr. Endlich, da es schon auf Mitternacht ging, schob er die Hefte zurück, entnahm dem Schließfach das Bündel und begann zu lesen:

Ich habe mich entschlossen, aufzuschreiben, wie alles kam. Wenn es andern nichts nützt, so gibt es vielleicht mir Klarheit und dient ihnen, ihr Urteil über die Verlorene zu mildern.

Ich habe nichts von Glück oder dergleichen erwartet, als ich verheiratet wurde. Im Gegenteil. Aber für die Neunzehnjährige war das Elend zu Hause unerträglich, und da es aus ihm keinen andern Ausweg gab als die Heirat, so griff ich zu. Unter welchen Bedingungen die Verbindung zustande kam, wußte ich freilich nicht. Mein Mann war der reiche Treß, das genügte. Er war bürgerlich — das war mir gleich; er war fünfundzwanzig Jahre älter als ich — damit hoffte ich mich abzufinden. Jedenfalls besaß er jugendliche Frische, war Kavalier und maßlos verliebt. Dies schmeichelte mir so, daß ich darüber vergaß, wie mein Herz andre Wege gegangen war. Was wußte ich denn damals von Welt, Menschen und ihren Herzen!

Mein erstes Ehejahr — ja, davon muß ich jetzt reden. Es gefiel mir eigentlich recht gut. Um die Kinder, besonders um die kleine Myrrha, durfte ich mich nicht kümmern, überhaupt an nichts rühren, was an die verstorbene Frau meines Mannes erinnerte. Doch das wollte ich ja auch nicht. Ich sollte mich putzen, mich vergnügen [S. 108] und ihn vergnügen, wenn er kam, um mit mir zu spielen. Das war im Anfang häufig, dann seltener. Als es seltener war, gefiel es mir besser. Denn obwohl mein eitles, unerfahrenes Herz daran Gefallen fand, merkte es doch unbewußt, daß ich wie eine Puppe gehalten wurde, die man aus der Hand legt, sobald es an ernsthafte Dinge geht. Wäre mein Mann zu mir wie ein Vater gewesen — es hätte mir vielleicht anfangs weniger behagt, aber ich wäre später nicht so leer dagestanden, als ich nach meiner Empfindung entscheiden sollte.

Das trat bald genug ein. Nach einem Jahre war ich einmal widerspenstig. Mein Mann wollte mich bestrafen und verreiste. Vor seiner Abreise kam er zu mir und sagte mir den Grund.

»Ich hoffe, du bist zur Vernunft gekommen, wenn ich nach einer Woche wiederkehre«, sagte er weiter. »Denke über dich nach. Willst du deinen Vater besuchen, so habe ich nichts dagegen.«

Er ging und ließ mich wie ein ausgescholtenes Kind zurück. Zu meinem Vater hatte mich während des ganzen Jahres nichts gezogen, dort erinnerte zuviel an eine freudlose Jugend. Doch als ich mich am zweiten Tage langweilte, lockte mich der Gedanke, es sei vielleicht recht hübsch, meinen Glanz im Lichte meiner früheren Umgebung zu spiegeln, und ich fuhr nach Hanneshof.

Es war das alte liederliche Treiben dort, dem entrückt zu sein eine Tante mich glücklich gepriesen hatte: mein Vater befand sich viel auf der Jagd; war er im Hause, so fanden sich Kumpane zu Trunk und Karten ein. Die Wirtschaft war jedoch wie früher in gutem Stand.

An einem Abend waren wir allein. Mein Vater begann von meiner Ehe zu sprechen. Ich glaubte, er wolle mich über das Verhältnis zwischen mir und Treß ausfragen, und malte meine Tage in glänzenden Farben. Aber das war es nicht. Schließlich kam es heraus: ich sollte bei meinem Mann für die Dargabe von Geld an meinen Vater eintreten.

Entrüstet lehnte ich ab und erregte den Vater, der ohnehin getrunken hatte. Er befahl, ich widersprach. Er wurde maßlos heftig, und nun sagte er es: er habe mit meiner Heirat ein gutes Geschäft gemacht.

[S. 109]

Der Gedanke, verkauft zu sein, weckte in mir Ekel und Abscheu, Ekel vor dem Verkäufer, Abscheu gegen den Mann, der es gewagt hatte, mir eine Kaufehe zuzumuten. Ich stand auf und bestellte selbst den Kutscher, daß er anspanne. Ich wollte in die nächste Stadt und in einem Gasthause die Nacht zubringen.

Als ich dort eintraf und dem Kellner meinen Auftrag gab, erblickte ich durch die Spalte einer halbgeöffneten Tür den Baron Usfeldt, der dort einsam bei der Flasche saß. Ich wich zurück, doch er hatte meine Stimme erkannt und stand plötzlich neben mir.

»Bekomme ich keine Hand?« fragte er.

»Rühren Sie mich nicht an, Muck!« sagte ich. »Ich weiß jetzt, daß ich verhandelt bin.«

»Ich weiß es lange und habe Sie darum nicht einen Augenblick lang geringer geachtet«, erwiderte er. »Nehmen Sie, wenn Sie durchaus einen Sündenbock brauchen, mit mir vorlieb, Tessi; denn hätte ich Mut genug besessen, trotz meiner verzweifelten Lage um Sie anzuhalten, so wäre dies alles nicht über Sie gekommen.«

Er führte mich an seinen Tisch und schloß die Tür. Ich war wie betäubt, hatte nur den Wunsch, mich mit einem Menschen, der mich verstand, aussprechen zu können und bedachte nichts. Nein, ich hätte es nicht tun sollen; aber was weiß ein ungeschultes Herz in solchen Stunden! An jenem späten Abend lernte ich das erstemal die alle Not betäubende Wohltat des Rausches kennen.

Das Gerücht traf vor mir im Treßhof ein. Wäre ich reuig gewesen, was in diesem Falle klug heißt, vielleicht daß sich alles anders gewendet hätte. Aber ich wollte nicht. Mein Stolz forderte das ganze Leben heraus.

Ich ging nach Westdeutschland; eine Freundin hatte mich, während meine Ehe geschieden wurde, zu sich eingeladen. Ich blieb dort kaum so lange, bis die Trennung ausgesprochen war. Ihres Gatten Blicke gingen mir oft sonderbar nach, ich duldete das. Ich duldete auch, daß er mich zur Vertrauten seiner Nöte machte: er war nicht glücklich.

Am nächsten Tage reiste ich ab.

Was blieb mir übrig? Ich mußte verdienen. Also trat ich in ein Geschäft, wo ich vornehmen Käuferinnen ihre Kleider vorführen [S. 110] durfte. Der Chef hatte mich lange gemustert und dann zufrieden gelächelt. Mir graute, aber es gab keinen andern Weg. Sollte ich Klavierstunden erteilen, Puppen ausstopfen oder Blumen auf Gläser malen? Die Auswahl war nicht groß, und vielleicht saß ich doch noch eines Tags an einem der langen Tische, an denen zwanzig Mädchen Fäden zupfen oder Federn sortieren. Vorläufig trug ich noch seidene Kleider, die andre kauften, und wohnte in einer Dachkammer.

Die Freude dauerte ein Jahr. Da verließ die erste Verkäuferin das Geschäft, und eine Woche später ließ mich der Chef in sein Zimmer rufen.

»Ich glaube, Sie verdienen hier nur recht wenig«, sagte er. Merkwürdig, daß ihm dies plötzlich einfiel!

»Sie können sich besser stehen, wenn Sie wollen«, fuhr er fort.

Ich schwieg und wartete. Plötzlich griff er nach meiner Hand.

»Nein!« schrie ich und riß mich zurück. Damit ging ich.

Einen Monat darauf stand ich wieder auf der Straße. Menschenströme liefen an mir vorüber, ich aber war allein, wußte nicht, wo aus noch ein. An diesem Abend betrank ich mich wieder bis zur Bewußtlosigkeit.

Wie viele Sprossen hat die Leiter, auf der man abwärts steigt, in das Dunkel, tiefer, immer tiefer? Ich habe sie nicht mehr gezählt, aber ich weiß, daß der Abstieg endlos ist. Ich saß nach nicht allzu langer Zeit wirklich mit neunzehn Mädchen an einem Tisch und falzte Papiere. Ekelhafte Luft, erniedrigende Reden, der ganze Brodem einer gärenden Lebenszone schlug mir Tag für Tag entgegen. Ich atmete ihn und stumpfte allmählich völlig ab, wurde eine andre und vergaß ganz, was ich gewesen war und wie ich hieß.

Aber eins hielt mich, daß mir der Schlamm nicht bis ans Herz stieg: der felsenfeste Vorsatz, meine Brotrinden mit meiner Hände Arbeit zu verdienen. Nicht mehr wollte ich, als satt werden. Alles andre war käuflich: Vergnügen, Ehre, Stellung, man mußte nur zahlen können.

Seit jenem Tage, da meine Ehe in die Brüche gegangen war, haßte ich das Geld, und jeder Tag hat es mir bestätigt, daß die [S. 111] Geldherrschaft der größte Fluch ist, der jemals über die Menschheit gekommen ist; daß die wahnsinnigen Eroberer, die Millionen Menschen opferten, und die großen Pestzeiten nicht halb so verderblich gewesen sind wie der Mammonismus. Es ist nicht wahr, daß er die Triebfeder von Arbeit und Kultur ist. Er züchtet die Genußsucht, den Zerfall und verdirbt jede Arbeit, weil er ein Geschäft daraus macht!

Das sage ich, Therese Jobst, Frau des schwindsüchtigen Monteurs Jobst, verehelicht gewesene Frau Treß, geborene Freiin Horn, die durch alle Schichten des Lebens ging und keine, keine sah, die Erlösung bot.

Während des Krieges trug ich Zeitungen aus, half in Hausständen, flickte, nahm an, was sich fand. Dabei lernte ich meinen Mann kennen, als er auf Urlaub heimkam. Er war ein edler Mensch. Als er mir die Ehe mit ihm antrug, war ich gewiß, daß er es nicht seinetwegen tat, sondern um mir zu helfen. Was hätte er sonst an mir gefunden! Solche, die ihm Kartoffeln kochten und das Arbeitzeug flickten, hätte er in Menge haben können.

Ich schenkte ihm ein Mädchen, und dies Kind wird, wenn er längst nicht mehr ist, für mich die Erinnerung an die schönste Zeit meines Lebens sein.

Nun habe ich ausgesprochen, wie alles wurde. Vielleicht sind Lücken da, daß nicht jeder alles versteht, aber das ist nicht schade. Wer noch Ohren hat zu hören, der wird mich verstehen und auch das Leben dieser Zeit, von dem ich nur ein winziges Bruchstück bin. — —


Kling! sagte die Glocke der alten Uhr. Der Arm des Mannes, der die Hippe trug, fiel herab und hob sich wieder. Es war ein Uhr.

Malte faltete die Bogen zusammen und lehnte sich in den Stuhl zurück. Durch die Osternacht ging ein Wind aus West, der strich hörbar an den Scheiben vorüber. Malte legte die Hand über die Augen, die vom Lesen brannten und das blendende Licht nicht vertrugen.

[S. 112]

Was nun? Es war etwas in diesen Zeilen, das an sein Herz griff: ein Mensch, der redlich gerungen und in harter Fron seine Fehler und Schwächen gesühnt hat. Was sie hier geschrieben, war wohl ein echtes Bekenntnis, das keine Pose entstellte. Aber sie war nun einmal das Skelett im Hause, und das durfte man nicht durch Verbindlichkeiten an sich fesseln.

Und noch eins: das väterliche Gebot! Wie war es doch gewesen?

In den letzten Tagen vor seinem Ende hatte ihn der Vater zu sich beschieden. Alle andern hatten das Zimmer verlassen müssen, auch Güldenfey, die er sonst nicht von seiner Seite ließ. Irgendeine dringliche geschäftliche Verfügung! hatte Malte gedacht; doch es kam nichts von Geschäften.

»Pastor Thomasius wird heut nachmittag kommen, Malte, du weißt! Was ich ihm nicht sagen kann, will ich dir, meinem Ältesten und Nachfolger, beichten. Ich habe gegen euch und eure liebe Mutter ein schweres Unrecht begangen, als ich so bald nach ihrem Tode diese — Person in das Treßhaus führte.«

»Es ist ja alles gut geworden, Vater,« hatte Malte gesagt; »du hast darunter genug gelitten und gesühnt.«

»Gelitten, ja; ob gesühnt, das weiß ich nicht. Es quält mich jetzt wieder stündlich. Wie konnte ich als ein reifer Mann einen so unbegreiflichen Schritt tun! Ich suche meiner Kinder Verzeihung, mein Sohn!«

Malte hatte die unruhigen Hände gefaßt und ihm trostreich zugesprochen, doch der Vater war danach nicht ruhiger geworden.

»Versprich mir noch eins!« hatte er weiter gesagt. »Ich mußte die Folgen meines Leichtsinns tragen, aber mit mir soll es begraben sein; ich will nicht, daß ihr noch darunter leidet. Wenn jemals jene Frau wieder auftauchen, sich an euch drängen sollte — versprich mir, daß du nichts tust, was die Erinnerung an jene schmachvollen Tage wieder weckt. Laß tot sein, vertilge alles, was unsern Namen verunehrte.«

Es war ein heftiges Flackern in den Augen des Sterbenden gewesen, das war mehr als Selbstanklage, das war Haß. Sein war die Leichtfertigkeit, die ein unfertiges Mädchen zur Gattin wählte, [S. 113] aber jene hatte den ihr angetragenen alten Namen durch den Schmutz geschleift. Sie hatte recht: der Haß saß tief in den Treß. Weh dem, der ihn weckte!

Malte hatte in jener Stunde dem Vater alles gelobt, was er verlangte. Er verstand ihn so gut. Nun aber saß er hier, ein Richter, in dessen Brust die Ehrfurcht vor dem, was er versprochen, sich mühsam gegen die Menschlichkeit behauptete. Was sollte er tun? —

Als am ersten Werktag nach dem Fest das Nötige mit dem Prokuristen besprochen war, sagte Malte: »Herr Häberle, es könnte sein, daß jene Frau wiederkommt, die uns seit Tagen belagert.«

»Sie steht schon draußen vor der Tür, Herr Konsul.«

Schon? Sie war seiner sehr sicher, nachdem er sich einmal nachgiebig gezeigt hatte. »So lassen Sie sie eintreten.«

Häberle ging. Lächelte er nicht? Malte schämte sich seiner schnellen Bereitwilligkeit, die dem andern auffällig war. Sein Stolz versteifte sich. Er nickte hochmütig, als die Frau grüßend eintrat, und sah an ihr vorüber.

»Setzen Sie sich!« Seine Hand wies flüchtig auf einen Stuhl, der in der Nähe der Tür stand.

»Heute bin ich noch nicht ermüdet«, entgegnete sie.

Er wiederholte die Aufforderung nicht, so standen sie sich wieder räumlich getrennt gegenüber. Malte hatte ihre Blätter sorgsam gebündelt, man sah ihnen nicht an, daß er darin gelesen hatte. Mit einer Handbewegung schob er ihr die Rolle entgegen. »Sie geben selbst zu, daß Sie ein Recht, zu fordern, nicht haben«, sagte er. »Eine Forderung würde ich auch stets unbeachtet lassen. Was ich Ihnen sage, gilt nur Ihrer bedrängten Lage.«

Sie blickte ihn unentwegt an, und unter ihren Blicken wurde es ihm unbehaglich. Was redete er nur, wo jemand auf Brot wartete!

»Ich will Ihnen, der Frau Jobst« — er hob das Wort bedeutsam —, »eine einmalige Unterstützung zuwenden, wenn Sie sich vertraglich verpflichten, auf meine Forderungen einzugehen.«

»Bitte«, sagte sie kurz.

»Sie versprechen auf ... Sie versprechen vertraglich sich nie wieder an mich oder an ein Glied meiner Familie mit einem Anliegen [S. 114] zu wenden oder sich auf alte Beziehungen zu berufen. Sie versprechen ferner, niemandem gegenüber Ihres früheren Zusammenhangs mit dem Hause Treß Erwähnung zu tun.«

Der Schein eines Lächelns glitt um ihren Mund, aber sie schwieg abwartend.

»Sie verpflichten sich weiter, die Stadt unverzüglich zu verlassen.«

»Das ist unmöglich«, sagte sie. »Mein Mann ist schwer krank, und ich verlasse ihn nicht. Und selbst wenn das nicht wäre — wer nimmt uns denn auf? Jeder ist froh, wenn er einen Raum hat, wo er bleiben kann. Wenn ich ginge — jedes Wohnungsamt ist imstande, meinen leidenden Mann auf der Straße umkommen zu lassen.«

Malte zuckte die Schultern: »Das ist das, auf das es mir eben ankommt.«

»Sie wissen genau, daß Sie Unmögliches fordern«, sagte sie. »Sie lassen mir die Wahl zwischen dem Hungertod und dem Tod im Gassenwinkel. Was soll ich tun? Wenn ich allein stände, gäbe es für mich kein Besinnen. Ich bin ja auch nur in diese verwünschte Stadt zurückgekommen, weil es für meinen Mann einst keine andre Verdienstmöglichkeit gab.«

Ihre Stimme zitterte unter Tränen. Malte sah verlegen vor sich nieder. Er wußte, daß diese Forderung ihr Pein bereiten mußte. Dennoch wollte er darauf bestehen. Es galt, sie dem Gesichtskreis der Seinen ein für allemal zu entrücken.

»Ich würde mich für Ihr Unterkommen an einem entfernt gelegenen Ort verwenden«, wandte er ein.

»Vor dem Wesen oder Unwesen von heute gilt das Wort des Konsuls Treß nichts mehr«, entgegnete sie schneidend. »Und wenn es etwas gälte — ich kann einem, der nicht fern vor der letzten Reise steht, keinen Umzug zumuten. Oder geben Sie mir — bis dahin Frist?«

»Sie müßten sofort gehen. Verstehen Sie mich: Sie allein!«

Sie stand unschlüssig im Widerstreit der Gedanken. Plötzlich ging es wie ein Aufzucken durch ihren Körper. Sie trat auf ihn zu. »Geben Sie mir meinen Brief!« sagte sie hart.

[S. 115]

Malte blickte sie erstaunt an.

»Geben Sie mir den Brief wieder! Ich sehe, es ist vergeblich. Vielleicht findet er auf einer Behörde mehr Verständnis als bei Ihnen. Oder ich stehe morgen mit ihm an der Rathaustür, um zu betteln. Es lohnt nicht, zu verhandeln, während Menschen Hungers sterben.«

Sie nahm die Rolle und hielt sie hoch. Malte blickte sie jetzt wie gebannt an. Nun, da eine Glut sie durchströmte, erschien sie wie mit einem Schlag verändert; diese welken Gewänder ihres ärmlichen Aufzugs verschwanden völlig unter dem Glanz, der von ihrem Gesicht ausging. Das stolze Blut ihrer Ahnen war in der Dienenden aufgestanden und verschönte sie auf eine eigene Art. Mit der herrischen Gebärde einer aus dem Kerker kommenden Königin warf sie den Arm gegen Malte.

»Bisher war ich Ihre Schuldnerin, jetzt sind die Treß meine Schuldner!« rief sie. »Sie werden mich nicht wiedersehen, deren Freiheit Sie kaufen wollten, aber diese Stunde wird Ihnen keine Ruhe lassen, nie, nie, nie Ruhe lassen. Hier draußen auf dem Pflaster wird es auf und ab gehen, täglich, und wenn Sie glauben, das Glück, Ihr Glück zu ergreifen —«

Sie schwieg plötzlich. Eine Hand legte sich leise auf ihren Arm. Auch Malte war so benommen, daß er erst jetzt bemerkte, wie Güldenfey neben ihr stand.

»Bitte, sagen Sie ihm nichts Böses«, sprach Güldenfey. »Um Ihretwillen! Flüche fallen immer auf den zurück, der sie ausschickt.«

Beklommenes Schweigen.

»Malte, wer ist diese arme Frau?« fragte Güldenfey. »Können wir ihr nicht helfen?«

Sie erhielt keine Antwort. Malte hob wie abwesend die Schultern.

»Sagen Sie mir doch, ob ich etwas für Sie tun kann«, bat Güldenfey. »Wir haben uns schon einmal gesehen, ich erkenne Sie wieder.«

Die Frau starrte sie wie eine fremdartige Erscheinung an. Güldenfey lächelte ihr ermutigend zu. Und dieses ängstlich-herzliche [S. 116] Lächeln, das wie ein Geschenk war, zerschmolz Zorn und Starre zu gleicher Zeit.

Die Fremde wandte sich Güldenfey voll zu, beugte sich tief, tief vor ihr, wie man sich vor priesterlichen Menschen neigt, ergriff den Saum ihres Kleides und hob ihn an ihre Lippen.

Dann, ehe die Treßkinder sich ihres Erstaunens bewußt wurden, war sie verschwunden.


Der vergessene Garten

»Ose, ach, Ose!«

Die Alte stand unter leeren irdenen Töpfen und Glashäfen und bedachte, wie geringe Vorräte man in dieser Zeit habe und wie wenig im kommenden Sommer eingemacht werden könne. Da trat Güldenfey ein. Ose hörte es im Schwingen der hohen Stimme, sie sah es an der Röte auf des Kindes Wangen: es mußte Außerordentliches geschehen sein. Sie winkte gegen den Hinterraum der Kammer zu, wo ein Mädchen hantierte, band die Schürze ab und verließ mit Güldenfey den Vorratsraum.

»Was ist geschehen?« fragte sie.

Aber Güldenfey führte sie in ihr Zimmer und schloß hinter sich die Tür. »Die Frau!« sagte sie. »Ich traf sie bei Malte. Sie wollte etwas Schlimmes sagen, aber ich bat sie, es nicht zu tun.«

»Es geht ihr nicht gut«, murmelte Ose erschrocken.

»Und nun will ich wissen: Wer ist sie?«

Ose kniff die Lippen zusammen. Die kleine, sanftmütige, stets bittende Güldenfey, wie selbstbewußt und fast zornig stand sie da!

»Dein Bruder Malte kam aus deines Vaters Sterbezimmer zu mir«, sagte Ose. »Da hab' ich's ihm hoch und heilig versprechen müssen, daß ich es dir nie sagen werde.«

»Das ist nichtig!« rief Güldenfey. »Ich bin ja Zeugin gewesen von dem, was sie gesprochen haben. Sollen meine Ahnungen mehr sagen, als in Wirklichkeit geschehen ist? Und dann: Ich habe Malte bedrängt, es mir zu sagen, und Malte hat mich an dich gewiesen.«

[S. 117]

»So, das hat er getan?« sagte die Alte. »Und was wird, wenn ich nicht will?«

»Dann, Ose,« sagte Güldenfey und hob die Hand, ihre Worte bekräftigend, »dann suche ich so lange durch die Stadt, bis ich sie gefunden, und frage sie selbst. Es ist etwas Dunkles da, das geht uns nach, und ich weiß jetzt, daß es mit ihr zusammenhängt. Ich will es sühnen.«

Ose wußte: wenn sie so spricht, dann gibt es kein Entrinnen. War die Stunde da, die die Erfüllung bringen sollte? Sie blickte lange durch das Fenster in den blauenden Himmel.

»Sie ist deines Vaters zweite Frau gewesen«, sagte sie dann im Flüsterton.

Güldenfey sah sie sprachlos an. Sie hatte immer auf dem Weg hierher die Furcht vor Schreckhaftem gehabt, dies hatte sie nicht erwartet, und sie erlag ihm. Langsam sank die erhobene Hand nieder und tastete nach der Lehne des nächsten Sessels. Ihr geliebter Vater! Wann war das geschehen? Doch vor der Zeit, da ihr Denken begann. O Mutter!

Ose kniete vor der Sitzenden und umschloß Güldenfeys Hände, die kalt wurden, mit den ihren. »Kind, Kind, nimm es nicht so arg, es ist ja längst Vergangenes! Du kennst die Männer noch nicht. Gerade jene, die am glücklichsten in der Ehe waren, sind nach dem Tod der Frau hilfloser und verwaister als die Lebensklugen. Sie können sich nicht zurechtfinden, lassen sich betören und werden unglücklich.«

»Ja, ja«, sagte Güldenfey langsam. »Nun, erzähle, Ose.«

»Ach, Kind, da gibt es viel zu sagen. Du sollst aber nicht denken, daß dein Vater das Andenken der lieben Mutter nicht geehrt hat. Er verzehrte sich völlig darin, ging täglich nach dem Friedhof, konnte sich nicht genugtun, ihre Briefe zu lesen und in ihrem Zimmer zu sitzen. Wir sorgten uns um ihn, wir dachten, er würde daran zugrunde gehen. Aber wir wissen alle wenig voneinander. Was Trauer heißt, ist oft nur aufgesammelter Lebenshunger.«

»Sprich doch weiter, Ose!«

»Ja. Du warst noch nicht ein Jahr alt, als er eines Tages sich ganz erregt zu Tisch setzte. Ich bekam einen großen Schreck, dachte: [S. 118] Um Gottes willen, er wird doch nicht anfangen, zu trinken! Es war wie ein Rausch über ihn gekommen. Später hat mir Mellin erzählt, wie alles gekommen ist und was an jenem Tage begann. Es kam damals fast täglich der Baron Usfeldt in die Stadt, ein Spieler und Abenteurer, dessen wilde Streiche im ganzen Lande erzählt wurden. Für nichts hatte er Sinn als für Pferde, und so fuhr er denn seine glänzenden Gespanne in unsern Straßen zur Schau. An diesem Tage kutschierte er auch wieder hier herum, und neben ihm auf dem hohen Selbstfahrer saß die junge Baroneß Horn. Es ist viel gesprochen worden von ihr und ihm und ihr und ihrem Vater. Ich weiß nichts mehr, hab' auch damals nicht darauf geachtet. Was gingen uns die fremden Leute an!

An jenem Tage begegnete ihnen dein Vater und muß von Stund an behext gewesen sein. Sie hatte rotes Haar, und wenn sie lachte, dann glitzerte etwas in ihren Augen, das war nicht von dieser Erde. Engelke hat gesagt ... Doch das gehört nicht hierher. Kurz, dein Vater war wie von Sinnen. Auf der Straße ist er stehengeblieben, sie hat ihn angelacht, und er hat dem Wagen nachgestarrt. Dann ist er in die Krone gegangen, wo der Muck Usfeldt ausspannte, hat sich mit ihnen in der Weinstube bekannt gemacht; danach ist er, den Kopf voll wirrer Gedanken, nach Haus gekommen.

Einige Tage ist er zerstreut umhergegangen, jeder von uns war daran gewöhnt und fand nichts dabei. Aber dann hat er sich aufgemacht nach Hanneshof zum alten Baron Horn. Dort hat er leichtes Spiel gehabt, denn es hat nicht acht Tage gedauert, bis er versprochen war.«

»Der arme Vater«, sagte Güldenfey. »Aber das Ende, Ose.«

»Das kam schnell genug, Kind, nach kaum einem Jahr. Sie taugte nichts. Vielleicht wäre sie an anderm Platz etwas Rechtes geworden. Bei uns war sie nicht am Platz. Der Reiz, daß der erste Mann der Stadt um ihretwillen sich und andres vergaß, verflog bald. Laß es genug sein!«

»Doch dies, dies!« sagte Güldenfey. »Sie ist arm und elend.«

»Sie hat geerntet, was sie gesät«, entgegnete Ose hart.

[S. 119]

»Nein, das ist es nicht, Ose. Du kennst soviel vom Leben und bist doch so hart. Du solltest sie sehen, und du würdest Mitleid mit ihr haben.«

Die Alte schüttelte den Kopf. »Mitleid? Es gibt viel unverschuldetes Elend heute, das man bemitleiden muß. Diese aber, die sich für Geld verkaufte —«

Güldenfey erhob sich und nötigte Ose damit, auch aufzustehen. »Jörg hat mir einmal geschrieben: Wessen Liebe völlig sein soll, der darf nicht richten«, sagte sie leise. »Wenn sie sich verkaufte, so wurde sie auch gekauft. Und wir alle ... Ach, Ose, mir ist zuweilen so bang um uns! Wie oft Malte sich wohl verkauft und Harro und alle von uns, die ihre Geschäfte machen. Ich glaube, es ist viel Schuld da, nicht nur von alter Zeit — du weißt, Balzer Treß, der fliegende Holländer! —, sondern auch aus jüngster Zeit, von Großvätern, Vätern und uns. Und das schwärt nun in dieser bösen Zeit aus.«

»Ja, ja«, sagte Ose. »Wolle Gott uns gnädig sein!«

»Ach, Ose, das sagen sie jetzt alle und seufzen und ringen die Hände. Aber das allein tut's nicht.«

Die Alte öffnete die kleinen Augen weit und blickte Güldenfey lange an. Ihr schien, als sei das Kind gewachsen und sei eine ganz andre, als sie vor kurzem war. »Was soll man tun?« fragte sie. »Was willst du tun?«

»Ich?« antwortete Güldenfey. »Ich werde gehen und die Frau suchen. Ich weiß nicht, was sie von Malte wollte, aber wer so ausschaut wie sie, der ist in Not.«

Ose hatte Einwände. Man müsse vorher Malte fragen; man dürfe sich jener nicht aufdrängen; sie sei es vielleicht gar nicht wert. Güldenfey käme in unliebsame Berührung. Endlich machte sie geltend, daß man doch nicht Haus bei Haus absuchen könne. Und den Namen der Frau? Ja, sie habe ihn wohl gehört, aber sie könne sich nicht besinnen.

Güldenfey schüttelte zu allem den Kopf. Sie fürchtete nichts, sie sah nur auf ihren Weg. —

Wenig später stand sie drunten in Mellins Wohnung. Der Packmeister stellte schnell die Pfeife, die er sich vor Tisch vergönnte, aus [S. 120] der Hand. Aber als Güldenfey die entscheidende Frage an ihn richtete, blinzelte er unsicher und gab vor, von nichts zu wissen. Um Dinge, die die Herrschaft angingen, kümmere er sich grundsätzlich nicht. Telge zu fragen, war nicht nötig. Aber Engelke! Doch auch Engelke versagte. In ihre klösterliche Abgeschiedenheit war wohl auch kaum etwas von diesen Ereignissen des Treßhauses gedrungen.

Aber als Güldenfey beim Fortgehen unter dem Torbogen des Heiligen Geist stand und etwas bänglich auf die volkreiche Straße am Binnenhafen hinaussah, kam ihr plötzlich das Gedenken an jenen nebelerfüllten Abend, da sie mit Engelke die Versammlung der Gemeinschaftsbrüder besucht hatte. Hanna Wilkens!

Sie fragte in dem Geschäftshaus, in dem die Näherin arbeitete, nach ihr. Nein, die Wilkens war hier nicht mehr tätig, doch man wußte ihre Wohnung. In einer halben Stunde hatte sie sie gefunden und ihr Anliegen vorgebracht.

Ja, die Blasse wollte ihr helfen und wußte auch sofort Rat. Die Straßenbahnverwaltung! Und dort sagten sie Güldenfey Namen und Wohnung der entlassenen Schaffnerin, auf die die Beschreibung zutraf.

Einkaufen, vieles einkaufen! dachte Güldenfey. Aber sie verwarf den Gedanken gleich wieder. Gab das nicht zu Mißdeutungen Anlaß, wenn sie als Spenderin mit gefüllten Armen eintrat? Sie wollte zuerst Vertrauen gewinnen.

Als sie klopfenden Herzens die unsaubere Stiege des von häßlichen Küchendüften erfüllten Hauses emporstieg, lehnte sich eine Frau in unordentlichem Anzug über das Geländer und musterte sie in aufdringlicher Neugier.

»Nicht wahr, hier wohnt Frau Jobst?« fragte Güldenfey freundlich.

Die Musternde wurde zugänglich und gab mit lauter Geschwätzigkeit Bescheid. Die Jobsten! Ja, ja! Noch wohne sie hier. Ob sie zu Haus sei, wisse man nicht, sie habe seit gestern wieder eine Stelle. Aber der Jobst sei da und das Kind.

Güldenfey hielt dem Redestrom tapfer stand und blickte die Frau ruhig an. In ihr krampfte sich etwas zusammen. Wie roh [S. 121] die Gesichtszüge waren, wie rauh die Worte und wie wüst das armselige Haar! Das waren die Hausgenossen der Frau, die einst mit glänzendem Gespann durch die Straßen fuhr und im Treßhof ein und aus ging, die erste Dame der Stadt!

Sie dankte und tappte in den dunklen Gang, den jene ihr gewiesen. Es waren viele Türen hier. Auf gut Glück pochte sie an eine, hinter der ein lang anhaltendes hohles Husten hörbar war. Eine zerbrochene Stimme sagte etwas, dann näherten sich trippelnde Kinderfüße der Tür.

»Wohnt hier Frau Jobst?« wiederholte Güldenfey ihre Frage.

Das Kind führte den Finger zum Mund und sah den Besuch unschlüssig an. Aus der Tiefe des Raumes drangen wieder Laute der zerbrochenen Stimme.

»Darf ich wohl eintreten?« fragte Güldenfey und schob sich durch den Türspalt in die Stube.

Daß es Gott erbarm! Der Raum war kalt und wirkte darum in seiner Kahlheit noch frostiger. Zwei Stühle, ein Tisch, ein Bett, ein Gestell, das wohl zur Herrichtung eines zweiten Lagers diente. Kisten, in denen einiges Geschirr aufgestapelt war. Von einem Kochofen stieg ein seltsamer Brodem auf. Durch kahle Fenster sah der blaue Frühlingstag.

Auf dem Bett lag ein Mann mit wirrem blondem Kopf- und Barthaar. Seine dürre Hand hielt ein blau und weiß gestreiftes rauhes Hemd über der Brust zusammen. Auf dem Stuhl am Bett stand ein Trinkgefäß mit braunem Trank gefüllt.

»Ich suche Frau Jobst«, sagte Güldenfey, als sich ihr das wächserne Gesicht fragend zuwandte. Es kostete sie Mühe, mit ihrer Stimme die Lasten der Beklemmung zu heben, die dieser Anblick auf sie legte.

Der Mann machte eine bedauernde Gebärde. »Meine Frau ist auf Arbeit gegangen«, sagte die zerbrochene Stimme mühsam. »Sie wollen sie wohl zur Aufwartung. Das ist unmöglich. Sie ist fast den ganzen Tag über fort, und die Zeit, die ihr übrigbleibt —«

Eine Handbewegung deutete auf die kärgliche Umgebung und das Kind. Ein Hustenanfall riß wütend die ausgehöhlte Brust auf und [S. 122] nieder. Und dich, du Armer, begreift deine Gebärde nicht einmal mit ein, dachte Güldenfey. Sie wartete, bis er Ruhe fand, sie anzuhören. Etwas in ihr warnte sie, zu sagen, warum sie gekommen sei.

»Kann man denn nichts für Sie tun?« fragte sie.

Er gab weder durch Gebärde noch Miene Antwort. Sein Schweigen war durchaus abweisend: Laß mir meine Ruhe und frage nicht!

»Ich hätte Ihre Frau gern gesprochen«, begann sie zaghaft aufs neue. »Wann könnte das wohl sein, wann darf ich wiederkommen?«

»Heute nicht«, sagte der Kranke.

»Also morgen! Gut, ich komme morgen. Und um welche Zeit? Bemühen Sie sich nicht mit Reden. Nicken Sie nur, wenn es zutrifft. Mittags? Nein, schön! Nachmittags etwa gegen fünf Uhr? Auch nicht! Also des Abends?«

Jobst wandte plötzlich das Gesicht Güldenfey zu; aus seinen erlöschenden Augen traf sie ein forschender Blick. »Schreiben Sie Ihre Adresse auf«, sagte er. »Meine Frau wird sich schon bei Ihnen melden.«

O nein, sie würde nie kommen; in den Treßhof würde sie nimmermehr gehen!

»Es ist besser, ich komme morgen selbst wieder«, sagte Güldenfey hastig. »Ihre Frau ist am Abend müde und findet hier mancherlei zu tun. Ja, morgen abend komme ich und wünsche herzlich, daß es Ihnen bis dahin besser gehe.«

Ihre Augen grüßten; mit unbeschreiblich lieber Bewegung neigte sie sich zu dem Kind und streichelte es. Ach, was alles ihm fehlte! Dann ging sie.

Und dann kam ein Tag voll aufgeregten Wartens, voll guter Vorsätze und heimlicher Pläne. Was sich Güldenfey alles ausdachte, und wie ihr Herz einem gesegneten Brunnen im Frühling glich, der seine Wasser von einer Schale in die andre sprudeln läßt! Malte? Nein, sie ging nicht zu ihm, sie wollte ungehemmt alles allein tun. Auch Ose teilte sie sich nicht mit.

Aber dann kam die Enttäuschung.

[S. 123]

Als sie am Abend vor dem Hause eintraf, das ihre Gedanken während des ganzen Tages umkreist hatten, stand da vor der Tür ein kleiner Wagen, mit einem müden Pferdchen bespannt, von dem Leute einen geringen Hausrat abluden. Kinder schleppten vor ihr her Besen und Eimer die Treppe empor und in den dunklen Flur hinein. Auf dem Treppenabsatz stand mit einer andern schwatzend die unordentlich gekleidete Frau, zottig wie gestern, obschon es spät am Tage war. Güldenfey grüßte und schickte sich an, den Gang zu betreten.

»Jobstens sind fort«, rief ihr die Frau zu.

Güldenfey blieb stehen. »Fort?« fragte sie staunend.

»Sie sehen ja. Es ziehen doch schon andre ein.« Die Auskunft wurde fast kränkend hingeworfen.

»Ja, aber ... Wo sind sie denn hingezogen?«

»Das kann ich nicht wissen.«

Es war augenfällig: sie waren vor ihr geflohen, sie wollten nichts mit ihr zu schaffen haben. Am Vormittag mußte es geschehen sein, und schon nahmen andre von dem traurigen Raum Besitz. Güldenfey sprach auf die Frau ein, aber die wiederholte in ihrer derben Art, daß sie nichts wisse. Also vergeblich! Güldenfey blickte in das unwohnliche Zimmer. Einige Burschen standen dort und ließen die Flasche kreisen.

Der Wirt konnte keine Auskunft über den Verbleib der Familie Jobst erteilen, auch die Polizei konnte es nicht. Güldenfey war enttäuscht. Was hatte sie geben wollen! Und man nahm es nicht an, man zeigte, daß man trotz alles Elends der Hilfe nicht bedürfe, die so spät kam.

Und dennoch sollte sie ihnen kommen! Güldenfey beschloß, so lange zu suchen, bis sie gefunden hätte. Hanna Wilkens mußte ihr helfen. Und sie ging und fragte unermüdlich und fand mehr als sie suchte.


Was für ein furchtbares Gesicht war es doch, in das Güldenfey blickte! War dies das Antlitz des deutschen Volkes? Wie Metalle [S. 124] in der Erde die Gewächse des Bodens in Form und Farbe anders gestalten, so hatte die Not verändernd auf das Gepräge der Menschen gewirkt. Die Starre war da, das Seelenlose.

Stieg Güldenfey, einer gewiesenen Spur folgend, die düstere Stiege eines Hinterhauses in der Sachsenvorstadt empor, dann grinste es sie teuflisch an.

Aus der Tiefe des Treppenschachtes drangen die rauhen Laute eines Zwiegesprächs bis zu ihr empor, während sie Atem schöpfend vor einer Tür stand.

»Kommst du morgen mit uns?«

»Nein. Am Sonntag muß ich die Papierhaufen durchzählen, die ich in der Woche verdient habe.«

Ach ja, sie trugen den Verdienst in Geldbündeln, mit denen sie die Taschen vollstopften, heim, warfen es für Nichtigkeiten wieder aus und lebten in den Tag hinein.

»Mach, daß du es los wirst«, riet die erste Stimme. »Wer weiß, was es am Montag noch gilt!«

Eine grelle Musik setzte ein. Im Untergeschoß befand sich eine Filmbühne; in dem Saal des Nachbargrundstücks wurde getanzt. Die Melodien der beiden Spielbanden schrien widereinander; dazwischen das jauchzende Aufkreischen einer Frauenstimme.

Güldenfey klopfte an. Schlurfende Schritte; dann wurde geöffnet.

»Können Sie mir wohl sagen, ob eine Frau Jobst hier im Hause wohnt? Der Mann ist krank, ein kleines Mädchen gehört zu ihnen.«

Wie oft hatte sie diese Frage getan!

Der bärtige Mann schob den Kopf vor, um die Fragende zu mustern. »Kenne ich nicht!«

Güldenfey gab genauere Angaben: der Mann sei Monteur, das Kind trage einen blonden Zopf.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Machen Sie um diese Zeit noch Nachfragen, Fräulein? Lassen Sie das lieber! Wenn Sie auch von der Fürsorge sind, es könnte Ihnen was passieren.«

Güldenfey dankte und ging. Die Tür wurde geschlossen. Im Hinabsteigen blieb sie an dem Treppenfenster stehen und blickte in [S. 125] den schmutzigen Hof hinab. Tanzmusik und Bühnenmusik schrillten noch immer widereinander. Die Hinterwand des Hauses stand buntscheckig wie ein Bühnenstück unter dem erlöschenden Abendhimmel: der Verputz war in großen Stücken abgebröckelt, und keine Hand hatte sich gerührt, die großen Wunden der Wände zu verstreichen.

Und was zerbröckelte erst hinter den Türen dieser vielen Wohnungen, in die jetzt Güldenfey so oft schaute! Ja, wäre es nur der Hausrat allein gewesen! Doch die seelischen Werte, die verloren gingen, zu zählen, fand sich keiner. Die Starre, das Seelenlose nahm überhand, das Leben wurde mechanisiert.

War das der Giftodem des Tieres, das aus dem Meer stieg? Die große Lüge, von der die Schreier selbst glaubten, daß es die Sorge um das Wohl eines entrechteten Standes sein sollte, war nichts als Gottesfeindschaft und Streit wider den belebenden Geist?

Traurig kam Güldenfey an jedem Abend heim, wenn sie wieder nicht gefunden hatte, was sie suchte. O, sie wußte wohl, daß sie trauriger wurde durch das, was sie fand.

Einmal traf sie Oberst Helf auf der Straße. Er trug eine Blechkanne und war ausgegangen, um für seine kranke Frau etwas Milch zu kaufen. Er war von einem Laden in den andern gewandert und hatte nichts erhalten. Da, wo Milch vorrätig gewesen, hatte man unerschwingliche Preise gefordert.

»O kommen Sie mit mir, wir wollen sehen«, sagte sie, fühlte in ihrer Tasche, ob die Geldmappe darinnenstak, und erwog, ob Ose wohl Milch übrig hätte, wenn sie nicht fänden.

Sie suchten, und nach einer Stunde hatten sie ein wenig Milch eingehandelt und sie sogar bezahlen können. Der Oberst war glücklich und trug seine Kanne so stolz, als sei sie eine erbeutete Standarte.

»Nun darf ich mit Ihnen gehen und Ihrer Kranken einen guten Tag wünschen«, bat Güldenfey. Im stillen hoffte sie, daß sie Gelegenheit finde, ihm zu helfen.

Der freundliche alte Herr lehnte das Anerbieten nicht ab, aber die Blechkanne, die sie ihm abnehmen wollte, gab er nicht her. [S. 126] »Welche liebenswürdige Miene hat dieser Tag dadurch gewonnen, daß ich Sie traf!« sagte er. »Es fing heute morgen so verheißunglos an.« Und er erzählte, daß er unlängst ein Möbelstück verkauft habe, was man ja von Zeit zu Zeit tun müsse, um das Dasein zu fristen. Aber da sei das Steueramt gekommen und habe seinen Anteil an dem geringen Erlös gefordert. Heute morgen sei er dort gewesen, um vorzustellen, daß er das Geld nötig zu einer Anschaffung brauche; es war vergebens gewesen, man hatte ihm den Anteil entrissen.

Er blieb an einer Straßenecke stehen. »Lassen Sie mich hier Ihnen danken und Lebewohl sagen«, fuhr er fort. »Ich darf Sie doch nicht bitten, uns um diese Zeit zu besuchen. Meine Frau würde es vielleicht peinlich empfinden, weil noch nicht fertig aufgeräumt ist. Solange sie krank ist, muß ich für Ordnung sorgen, und da ich früh fortgegangen bin ...«

Güldenfey dachte: Welche Not spricht er mit diesen paar Worten aus! Ihr Herz lag ihr schwer wie Bergeslast in der Brust. »Wann werden diese Zeiten enden?« fragte sie.

Der alte Herr lächelte: »Weltnebelspanne, wissen Sie, was das ist? Das ist die Epoche des Drucks und der Pressung, in der sich im Weltenraum ein neuer Himmelskörper bildet. So vollzieht sich wohl jetzt eine Neubildung der Menschheit. Was tut es, daß wir wenigen den Wechsel mit unserm Herzblut bezahlen? Wir müssen glücklich sein, wenn wir ein bißchen Freude am Wege finden, wie ich sie heute durch Sie finden durfte.« Er verneigte sich ritterlich vor ihr, wie ein Junger vor der Dame seines Herzens: »Tragen Sie Ihr köstlich Gut weiter, Fräulein Treß. Bringen Sie auch andern noch ein bißchen Freude.«

Ein Kraftwagen fuhr schnell durch die Straße, hart am Fußgängersteig entlang. Die Pfeife schrillte brutal die Menschen an: Platz, Platz für mich! Der Wagen stieß an den Oberst, der ihn nicht sah; um ein weniges hätte er den alten Herrn umgeworfen.

Der Mann am Steuer warf das Gefährt herum und brachte es zum Stehen. »Zum Donnerwetter! Können Sie nicht aufpassen?«

[S. 127]

Alle Männer im Wagen, die die Ledermütze in den Nacken geschoben und ihre Pelzmäntel geöffnet trugen, schalten auf den Mann, der ihre Fahrt verzögerte. Dann fuhren sie weiter.

Der Oberst sah ihnen still nach. Womit wucherten jene, die sich so breitmachten und die Straße für sich allein begehrten, mit Zucker oder mit Fetten? Oder verschoben sie Vieh? Es lohnte nicht, zu fragen, auf welche Art die Leute in dieser Notzeit reich wurden. — Geschmeiß!

»Wir werden kein Volk mehr sein, wenn es so fortgeht, nur eine Masse«, sagte der alte Herr. »Aber trotzdem« — und nun verklärte das freundliche Lächeln wieder sein im Schreck erbleichtes Gesicht —, »trotzdem tragen Sie ein wenig Freude weiter aus, mein liebes Fräulein!«

Ja, das wollte Güldenfey, und sie suchte weiter und ließ ihren Mut nicht verkümmern, als Woche um Woche verging, ohne daß sie Frau Jobst gefunden hatte. Sie würde sie schon entdecken, und es lag ja so viel am Wege, was auch des Findens wert war. Nur ein bißchen Freude! wiederholte sie täglich, wenn sie am Morgen ausging.

Es wurde ihr schwer, die Stadt auf einige Wochen im Sommer zu verlassen und nach Heilisoe überzusiedeln. Aber Harro hatte sie gebeten, Marfa zu begleiten. Er reiste in einer politischen Sendung nach Norden, und Marfa war stiller als je. Es war undenkbar, daß man sie allein auf der Insel gelassen hätte, das sah Güldenfey ein.

Doch Heilisoe bot ihr nicht die Ruhe wie einst. Nein, gewiß nicht, sie schaute nicht nach den gewaltigen Türmen aus, die an sonnenhellen Tagen im Süden aus dem Dunst der Ferne auftauchten; sie bemühte sich, nicht an ihre Armen dort zu denken, und war um Marfa eifrig bemüht. Doch alles, was sie einst so erfreut und was ihr Jörg gedeutet hatte, weckte in ihr die Sehnsucht nach dem Bruder, der seit drei Jahren nicht heimgekommen war.

Was hatte er an dieser Stelle gesagt, wo sich die blauen Glockenblumen über den Rand der narbigen Dünenwand neigten und die silbergrünen Ölweidenbüsche sich fest an den Abhang klemmten? [S. 128] Und hatte er nicht die Insel mit einer Brücke, aus der Zeit in die Ewigkeit führend, verglichen, als sie am Abend droben auf den Königsgräbern standen und das unruhige Zucken des Blinkfeuers über das Land huschte? Und die Käuzchen schrien um die Dämmerungzeit wie damals, und der Wind griff wieder mit lichtfrohen Händen in das Gewölk und zerrte den grauen Flaus, den er zerrissen, auseinander.

Ja, es war alles wie einst, aber es fehlte Güldenfey der Mund, der diese Sprache gedeutet hätte. Es wäre so gut gewesen, wenn sie das, was sie empfand, hätte ausdrücken können, schon um Marfas willen, die so schweigsam wurde.

Marfa liebte nicht den nördlichen Strand, wo sich die hohen zerrissenen Dünenwände gegen die brausende Flut stemmten, von wo aus man in die ungemessene Ferne blickte, aus der vor vielen Jahrhunderten auf hochgeschnäbelten Schiffen die Väter gekommen waren. Marfa suchte viel lieber das südlich gelegene Flachland auf, um das der Gesang des Meeres gedämpfter klang.

Da war die Heide, deren Färbung, blaßviolett wie in der Sonne verblichener Samt, dem Lande ein kränkliches und doch ehrwürdiges Aussehen verlieh. Wo die Narbe des dürren Pflanzenwuchses fehlte, schimmerte grell der weiße Sand, von harten silbernen Gräsern gesäumt. Oder es blinkten wie verschlossene Augen tintenschwarze Wassertümpel aus dem Binsenkranz. Ganz vereinzelt drückten sich in Sandmulden zwerghafte verbogene Föhrenbüsche oder winzige Weiden, die wie silberne Myrten erschienen, und denen der immer hastige Wind kein Wachstum gestattet, sondern nur ein bescheidenes Vegetieren.

Hier fühlte Marfa sich wohl, hier konnte sie tatenlos liegen und in die Ferne schauen. Iphigenie! dachte Güldenfey.

Und an dem Ufer steh' ich lange Tage,
Das Land der Griechen mit der Seele suchend.

War das immer noch ungestillte Sehnsucht nach dem Manne, den sie in dieser Fremde gewonnen hatte und doch nicht besaß? Güldenfey erschien es zuweilen, als sei dies Verlangen nach Harro [S. 129] nur der Name für Tieferes, Unausgesprochenes, was die Seele dieser Frau in sich barg.

Es war gut, daß Hanna Wilkens da war. Ja, das hatte sich Güldenfey ausbedungen: dieses kleine verblichene Nähmädchen sollte zu seiner Erholung einige Wochen in Sonnenschein und Seewind gebadet werden. Malte hatte Bedenken geäußert, aber Frauke hatte in ihrer Art die Schultern gehoben und gesagt: »Warum nicht?« Damit war es entschieden gewesen.

Hanna Wilkens blühte auf, daß es eine Freude war. Sie wollte durchaus etwas arbeiten, doch das litt Güldenfey nicht; sie sollte stilliegen und höchstens Güldenfey Rat erteilen, was man tun könne, um den Armen in der Stadt zu helfen.

»Die Armen!« sagte sie. »Ach, die wohnen nicht allein in den Häusern der Sachsenvorstadt, die Sie aufsuchen, Fräulein Treß. Aber die alten Stiftsdamen in den Klöstern und die Weiblein und Männlein in ihren verräucherten Stuben leiden bittere Not. Sie leiden vor allem darunter, daß niemand sich um sie kümmert.«

Güldenfey hob beide Hände: »Ich wollte ihnen allen helfen, aber ...«

»Sie, Fräulein Treß?« sagte Hanna und sah Güldenfey gläubig an. »Sie dürfen nur lächelnd und mit einer Blume zu ihnen ins Zimmer treten, und alles ist gut.«

Ein wenig Freude! dachte Güldenfey. Und sie dachte an den Garten hinter der Mauer. Hatte sie nicht schon früher die Blumen in ihm für arme sonnenlose Zimmer gepflückt? Sie konnte es kaum erwarten, bis die Stunde schlug, in der Telge mit dem Boot kam, um sie abzuholen.


Sie nannten ihn den vergessenen Garten, weil er, von wenigen gekannt, in einem abseitigen Winkel der alten Stadt lag. Gegen das Meer zu deckte ihn der Rest der wehrhaften Stadtmauer, und der Chor der alten Klosterkirche St. Johannes Evangelist sah von [S. 130] der andern Seite aus altersdunklen hohen Fenstern auf ihn herab. Dann war noch eine Hauswand da, aber von Süden her hatte die Sonne ungehindert Zugang zu ihm.

Wer ihn aufsuchen wollte, mußte die Winkelgänge des alten Klostergebäudes kennen und sich in dem Gewirr der Stiegen und Häuschen zurechtfinden, die willkürlich und nach jeweiligem Bedarf hier errichtet waren. Der Großvater Treß hatte ihn von der Stadt übernommen; keiner hatte sich um ihn gesorgt, bis Güldenfey ihn entdeckt und als Ziergarten mit Mellins Hilfe hergerichtet hatte.

Mellin, der etwas von der Gärtnerei verstand, wirkte hier unermüdlich. Zwar war er in den mageren Jahren wiederholt an Güldenfey mit dem Vorschlag herangetreten, man müsse Gemüse bauen. Doch dann hatte sie ihn nur angeblickt.

»O, Mellin, meine Blumen, meine Freude!«

Im Frühling, wenn die Sonne die Höhe ihrer Bahn noch nicht beschritten, war das Blühen in dem vergessenen Garten spärlich. Aber welche Zier begrüßte Güldenfey, als sie von Heilisoe zurückkehrte! Das wilde, inbrünstige Blühen des Sommers war zu ihrem Empfang bereit: Löwenmäuler schwefelgelb, purpurn und elfenweiß; Strohblumen von tiefem Blutrot; Rudbeckien, Astern und Georginen schufen ganze Wolken von Bunt um den violenfarbenen Phlox; Stiefmütterchen, späte Rosen und besondere Veilchen blühten, und die zarten Lackfarben der Gladiolen schimmerten wie fließendes Wachs.

In der tauigen Frühe des Sonntagmorgens war Güldenfey schon dort. Sie hatte sich Hanna Wilkens und eine ihrer Schwestern bestellt, die die Sträuße binden sollten, die man später austragen wollte. Sie selbst schritt wählerisch unter ihrem Reichtum umher und schnitt Verbenen, Zinnien und Studentenblumen, dunkelblauen Eisenhut und Honiggold. Und jede Blume, die sie schnitt, empfing einen Wunsch, den sie weitertragen sollte.

»Hanna, hier müßten Sie noch eine brennend rote Salvie dazutun, damit es leuchtender wirkt. Und dieser Levkoienstrauß sollte noch ein paar Kosmeen oder Geißblumen tragen.«

[S. 131]

Kresse, Astilben und die Wicken am Zaun, deren bunte Blüten wie Schmetterlinge in der Luft schwebten, gaben unerschöpfliche Reichtümer her.

Dann gingen die Mädchen, und Güldenfey blieb allein, während das Geläut der Glocken wie Bienensummen über die Stadt zog. Nur die Klänge von St. Johannes sanken hallend auf die Blumen des vergessenen Gartens und überließen sich hier erst dem Wind, der von der See kam.

Der vergessene Garten! Güldenfey setzte sich auf die Bank und sann. Dort oben hinter den Fenstern der Häuschen und der Klosterräume wohnten die alten Männer, deren Leben lautlos verrann. Einige von ihnen erhoben sich noch am Morgen von ihrem schlaflosen Lager, rückten den binsengeflochtenen Stuhl zurecht und strickten Strümpfe und Netze. Andre aber zogen die Ärmelweste an und saßen, ihre Arme auf die Knie gestützt, den Tag über auf dem Bettrand, und während sie das bärtige Gesicht in den Falten ihrer schwieligen Hände verbargen, warteten sie auf den Tod. Zuweilen erhoben sie sich und schauten mit unbewegten Mienen in den blühenden Garten hinunter, der ihnen seine Düfte und Farben entgegenhob. Was an Gedanken mochte durch diese altersweißen Köpfe gehen? Oder ob sie mehr nicht dachten als das eine, daß der Tod sie vergessen habe, wie das Leben diesen blühenden Gartenfleck?

Und ergraute Damen waren dort drüben mit Löckchen vor den Ohren, dünnen Ringen, die verschlissene Türkisen faßten, auf den welken Fingern und mit erloschenen Augen. Das Alter hatte ihren Gestalten die Zierlichkeit jugendlicher Jahre wiedergegeben, aber die Not der Zeit hatte ihre schwarzen Abendmahlsgewänder fadenscheinig und grau gemacht. Und auch sie saßen, wenn der Wind vom Meer nicht durch die morschen Rahmen blies, auf ihrem Fensterplatz, und an warmen Sommerabenden öffneten sie einen Flügel und lehnten sich ein wenig hinaus, um in ihr welkendes Dasein etwas von dem Nelkenduft ihrer blumigen Mädchenzeit fließen zu lassen. Aber sie waren wie die rostigen Schlüssel der weihnachtlichen Bescherungstuben, die man von außen verschließt: [S. 132] sie sehen, wenn sie in das Schlüsselloch gesteckt werden, alle Herrlichkeiten dort innen und kommen doch selbst nicht hinein. Wenn die Sonne sank, schlossen sie das Fenster wieder, wanden die Gewichte ihrer Uhren auf und lauschten auf die blechernen Schläge bis Mitternacht. Und vielleicht kam dann zögernd der Schlaf und schenkte ihnen einen Traum.

Es ist alles nur ein Warten, dachte Güldenfey, bei diesen und jenen, bei Marfa und den hungernden Menschen. Auch bei mir? Nur ein Warten?

Güldenfey horchte auf. Kamen da nicht Schritte, und hatte die Pforte nicht geknarrt? Als sie den Kopf wandte, erkannte sie Thomasius, der hell und grüßend auf sie zukam.

»Störe ich auch nicht Ihre Sonntagsfeier?« fragte er.

»Aber Sie?« fragte Güldenfey. »Es ist doch die Zeit des Gottesdienstes!«

Er erklärte, daß er heute frei sei und die Alten besucht habe, denen der Gang zur Kirche beschwerlich war.

»O das ist schön!« rief sie. »Gerade habe ich an die Altersschwachen gedacht und was ihnen das kümmerliche Lebensrestchen noch bedeutet. Wir haben für sie die Blumen dieses vergessenen Gartens gebunden.« Sie deutete auf die Sträuße, die im beschatteten Gras lagen.

Thomasius sah nicht die Blumen, er blickte Güldenfey an, und in seinem bewundernden Blick war etwas, das sie verwirrte. Was er nicht aussprach, das sagten seine Augen: Du selbst bist der vergessene Garten, aus dem vielen eine reiche Labe fließt. »Ich besitze etwas, das ich Ihnen bringen wollte«, sagte er. »Nun sah ich Sie hier vom Fenster aus und dachte, es Ihnen gleich zu geben. Es ist mir eine Genugtuung, der Freudespenderin einmal auch Freude machen zu können.« Er entfaltete ein Zeitungsblatt und reichte es ihr. »Von Jörg Treß wird über sein letztes Konzert berichtet. Lesen Sie, wie warm und anerkennend!«

Er beobachtete heimlich ihr Gesicht, während sie las. Die rote Welle der Freude stieg in ihre Wangen und höher, bis an die Wurzeln ihres lichten Haares. Es war, als teile sich ihm ihre [S. 133] Empfindung mit und ziehe seine Seele an die ihre. Du Feine, du Güldene! dachte der Mann.

Als sie am Ende war und tief atmend aufblickte, nahm er das Blatt und wandte es um. »Noch etwas«, sagte er.

Ein Artikel: Vom ungelebten Leben! Und Jörg Treß zeichnete als Verfasser.

Ja, sie wußte darum, wie Jörg seine Kunst ausübte; aber hier sprach er es klar und schön aus und stellte es allen als sein hohes Ziel vor: Keine Folge blendender Musikvorträge in den Konzerten, bei deren Anhören sich einige etwas, die meisten nichts dachten, sondern die Perlen großer Meister ausgereiht auf das vermittelnde und bindende Wort des Vortragenden in gewählter Form. Erst wenn die Kunst wieder gottesdienstliche Handlung wird, erst dann werden wir ihr Wesen erleben.

»Wie wahr ist alles, was er sagt!« rief Güldenfey. »Er hat große Gedanken und ein reines Herz. O, ich liebe ihn!«

Sie sagt es inbrünstig wie eine Braut, dachte Thomasius, und eine kleine eifersüchtige Regung schwoll in ihm auf. »Sagen Sie das nicht«, bemerkte er lächelnd.

Sie blickte ihn verwundert an.

»Es könnte eines Tages jemand des Weges kommen,« fuhr er ohne scherzenden Beiklang fort, »der stillsteht, wenn er Sie sieht, und anklopft. Ich glaube, er wäre traurig, wenn er die Tür verschlossen fände, in die er einzutreten wünscht.«

Güldenfey sah in ihren Schoß. An ihrem Kleid haftete noch ein Stiefmütterchen; sie nahm es und drehte den Stengel zwischen ihren schlanken Fingern. Dann schaute sie auf und erkannte, daß seine Worte bedeutsam waren. »Wer glaubt, hier anpochen zu müssen,« sagte sie ruhig, »wird wissen, daß er alle, die schon darinnen sind, nicht ausweisen darf.«

»Nicht ausweisen!« entgegnete er zögernd. »Aber —«

Sie wiegte langsam den Kopf. »Es hieße an dem Reichtum der Liebe zweifeln.«

»Sie haben völlig recht!« sagte er überzeugt. »Wollen Sie mir das Stiefmütterchen wohl schenken?«

[S. 134]

Güldenfey reichte ihm die Blume und erhob sich. Sie ging den Gartensteig entlang und bückte sich nach den Sträußchen. Dann kam sie wieder zurück. Seine Blicke umfingen zärtlich diese schlanke, lichte Mädchengestalt, die voll reifen Frauentums war.

»Ich muß jetzt gehen«, sagte sie, und er erhob sich, um sie zu begleiten.


Advent

So voll Sorge und Bangigkeit war noch kein Winter gewesen wie dieser, der jetzt anhob, auch jener nicht, da deutsche Heere in bitterem Streiten vor dem vielköpfigen Feind lagen und die in der Heimat Darbenden von Rüben lebten. Es war jetzt alles unsicher, und keiner konnte von heute auf morgen sehen, weil ein Dunkel, ärger als der dickste Nebel, die nächste Zukunft verbarg.

Und trotzdem nahte Weihnacht, und ein zaghaftes Gefühl der Hoffnung schlich sich schüchtern in die trostlose Welt; ein ferner Glanz aus alten Weihnachtstagen kam und hängte sich an die Ketten aus Silberschaum in den Schaufenstern, und der deutsche Wald sandte seine jungen Bäume, daß sie am Lichterfest in den Stuben dufteten, und die Glocken ließen ihr Klingen über die Stadt gehen, arm und einstimmig, aber doch in der alten Weise.

Der vergessene Garten lag unter Frosthauch und Schnee und gab nichts mehr her, was Güldenfey hätte in die Stübchen der Alten tragen können, in denen sie nun dicht vermummt neben dem kalten Ofen saßen, und wo der Hauch am Mund gefror. Wärme und Licht, ja, das schuf sie ihnen, soweit ihre schmalen Mittel reichten. Aber ein wenig festliche Freude!

»Was könnten wir ihnen bringen?« fragte sie Hanna Wilkens.

Doch die kleine Näherin wußte keinen Rat. Es ging alles nur auf die Geldmittel, die schon für den nötigsten Bedarf nicht zureichten.

Plötzlich kam Güldenfey ein glücklicher Gedanke, der sie mitten in der Nacht vom Lager auftrieb. Sie hatte wach gelegen und auf [S. 135] das Heulen des Windes gelauscht, der in dem Speicher rumorte. Wie wäre es, wenn wir ihnen etwas singen könnten? Es hatte sich um Hanna Wilkens ein Kreis Jugendlicher gebildet, der die alten Weihnachtlieder übte, um sie bei der Bescherung vorzutragen. Sollten sie nur einmal gesungen werden?

In der Frühe der beiden letzten Adventsonntage zog durch die Straßen der Stadt ein seltsamer Zug: sechs verhüllte Gestalten, von denen eine die buntfarbene Laterne trug; die andern hielten Tannenzweige wie Palmenwedel in den Händen. Der Zug ging trotz der Schneewehen, die der Wind aufgehäuft, durch Düsternis und heimliches Grauen durch die Stadttorbogen dahin, wo die verbogenen Häuschen der Armen standen, und machte an einer Ecke halt. Plötzlich klang es von jungen Stimmen gesungen:

In dulci jubilo ,
Nun singet und seid froh!

Zwischen den hohen Häusergiebeln kreischte und stöhnte der Wind, der Kreuzgang von St. Johannes war erfüllt vom Rauschen des Meeres. Aber die Stimmen, die den alten Christgesang trugen, waren stärker und füllten die Straße.

Es war ein staunendes Horchen hinter den Fenstern; dann tastete eine Hand nach dem Zündholz, eine schwache Kerze flammte auf, und während vorsichtig der Vorhang des Fensters zurückgeschoben wurde, erschien ein greiser Kopf zwischen den Spalten, spähte in das Dunkel, wo ein bunter Laternenschein zwischen dunklen Wesen glomm, und verschwand wieder. Die Kerze erlosch, der Ruhende kroch wieder in das wärmende Bett. Hände falteten sich, Augen flossen über.

Ubi sunt gaudia?

Dann zogen sie weiter, zum Heiligen Geist, zum Kronswinkel, zum Kurhof, und überall, wo sie standen, sangen sie von Marienweh und dem Trost, den der bringe, der in der Weihnacht als unscheinbares Reis einer großen Gnade entsproß. Es kamen Prasser, die die Nacht an den Zechtischen zugebracht hatten, des Weges; [S. 136] aber das trunkene Wort wollte nicht von ihren Lippen; sie gingen im Bogen um die singende Schar. Es kamen Schichtarbeiter, die die Arbeit schon zeitig in ihr Gewerk trieb: sie blieben stehen und holten die Versäumnis in schnellerem Gehen ein und nahmen ein wenig Blankes in der Seele mit.

In den Mauervorsprüngen der Gassen kauerte noch die Nacht, die Strebepfeiler von St. Niklas griffen wie erstarrte Arme in die Luft und stemmten sich gegen das Gewände des Mittelschiffes. Im Osten stieg der späte Wintermorgen in einem fahlen Lichtstreifen herauf. Er brachte nur die Dämmerung der nordischen Sonnenwendzeit. Jene aber, die jetzt mit leisen, vom Schnee gedämpften Tritten heimwärts gingen, das Licht in der farbigen Laterne ausbliesen und ihre Zweige an die Türklinken der Häuser steckten, hatten Kerzen entzündet, die noch lange flammten.


Es war der vierte Advent. Thomasius redete mit besonderem Eifer heute: Tröstet, tröstet mein Volk! Güldenfey, die etwas fröstelnd in dem goldenen Präsentierteller saß, blickte verstehend zu ihm auf. Es erschien ihr zuweilen, als rede er nur zu ihr. Doch das empfand sie nicht als etwas Besonderes, denn er pflegte seit einiger Zeit sich beim Sprechen dem goldenen Präsentierteller zuzuwenden.

Als sie die Kirche verließ, schritt sie über den Markt, wo wenige Verkaufsstände das Überbleibsel eines Weihnachtmarktes andeuteten. Einige große Schirme über Kramtischen glichen riesigen weißen Pilzen. Der Wind hatte nachgelassen, der eindringende Nebel war gefroren, Häuser und Türme erschienen wie wunderbares Zuckergebäck.

Sie müßten doch einen Pfefferkuchen haben, dachte Güldenfey, als sie die Kinder bemerkte, die um die Buden strichen. Im Treßhof duftete es schon seit acht Tagen nach dem würzigen Backwerk, und wenn auch Ose an Mandeln, Rosinen und Honig sparte, es wurde zur Weihnacht doch gebacken, und der Duft war da, der von dem Harzgeruch der Tannen unzertrennlich ist. Aber diese —!

[S. 137]

Sie griff schon in die Tasche; ja, sie hatte etwas Geld bei sich, zu wenig, um alle lüsterne Mäulchen zu stillen, aber genug, um den guten Willen zu zeigen. Und siehe, sie bekamen alle und wurden satt und zufrieden, wenn auch keine Brocken übrigblieben.

Also hatte Güldenfey ihre Adventfreude. Und wenn sie auch am liebsten die Schar mit sich genommen und ihnen die Vorräte des Treßhofs vorgesetzt hätte, sie hatte das Tröpflein auf dem heißen Stein doch zischen gehört. Leise summte sie das Lied, das sie in der dunklen Frühe des Tages mitgesungen, als sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinanstieg: Ubi sunt gaudia? Mellin kam hernieder, staunte sie an und grüßte.

»Sind Sie nicht auch ein wenig froh, Mellin?« fragte sie. »Ich hörte, Ihr Mariechen kommt mit den Kindern. Und denken Sie doch: Weihnachten!«

Mellin strich gedankenlos durch seinen Bart. »Ach, gnädiges Fräulein, Weihnachten und diese Zeit, wie paßt das zusammen!«

»Doch, doch, es paßt schon, Mellin. Wissen Sie, am dritten Feiertag muß Mariechen mit den Kindern bei uns Kaffee trinken.«

Mellin lächelte geschmeichelt und bedankte sich.

Ich werde ihn schon dahin bringen, daß er sich freut, dachte Güldenfey.

Das blasse Licht des Mittags wurde von Graugewölk verdunkelt, hinter dem die lange Nacht, die kaum gegangen, schon wieder harrte. Marfa hatte sich nach dem Mahl zurückgezogen, und Güldenfey, die früher als alle aufgestanden, wollte es sich in ihrem Zimmer für ein Stündchen behaglich machen. Plötzlich horchte sie auf.

War das ein Geräusch? Nein, kein Geräusch, vielmehr ein Seufzen. Doch wer sollte geseufzt haben, den sie nicht hätte sehen können? Sie blieb stehen und lauschte. Es war nichts. Und doch, da hörte sie es wieder. Kam der Laut aus ihrem Inneren?

Leise öffnete sie die Tür, die die Treppe zum Beratungzimmer vom Flur abschloß, und stieg hinab. Als sie sich über die Brüstung lehnte, sah sie einen Mann am Tisch sitzen. Die Dämmerung in dem Raum war schon so vorherrschend, daß sie ihn, der ihr den Rücken zuwandte, nicht erkannte. Er hatte den Kopf in die linke [S. 138] Hand gestützt, die andre hielt ein Blatt aus der geöffneten Mappe, die auf dem Tisch lag, zur Betrachtung vor das Gesicht. Es war die Zeichnung, die Jörg am Abend der Testamentsverlesung entworfen: das Tier, vor dem sich alle Stände neigten. Sie blieb lautlos stehen.

Da stieg wieder jenes schmerzliche Seufzen auf, und nun wußte sie, wer es war. Sie eilte hinab. »Malte, wie kommst du um diese Stunde hierher?«

Er fuhr erschreckt empor und wollte sich erheben, sie setzte sich schnell an seine Seite. Wirr und etwas verlegen blickte er sie an. »Ich?« fragte er. »Ich bin spazierengegangen, ich mußte an die Luft. Und da ging ich hier vorüber und trat ein. Es ist zuweilen so sonderbar; die alten Erinnerungen ...«

»Ja, jetzt in der weihnachtlichen Zeit«, sagte Güldenfey.

Er machte einen Versuch, zu lächeln, doch der mißlang. Und in diesem Augenblick erkannte Güldenfey, wie anders Malte geworden war. Das schöne Gesicht mit den edlen Zügen hatte sich gänzlich verändert, der Ernst war zur Schärfe geworden, und um die Augen, die so gütig blicken konnten, lag die Düsternis langer Winternächte. Nur seine Blässe war ihm verblieben und leuchtete wie Marmor in dem verschatteten Raume. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Malte, sag' doch, was fehlt dir?«

»Nichts! Ich habe ja alles, was ich brauche.« Wieder brach sein Versuch, zu scherzen, zusammen. »Nur, ich sagte schon, die Erinnerungen.«

Er wollte sich verschließen. Nein, auf diese Weise konnte sie ihm nicht helfen. »Ich weiß, du denkst an die Kinderzeit«, sagte sie sanft. »Ja, damals, als der Vater vor uns so geheimnisvoll tat und es ein Verstecken und Tuscheln und bei jeder Gelegenheit bedeutungvolle Blicke gab. Aber, weißt du noch, hier durften wir ein paar Tage vor dem heiligen Abend stets sitzen und die Fäden an Kringel und Zuckersterne für den Baum befestigen. O welch ein Berg süßer Herrlichkeit da vor uns aufgeschüttet lag! Und Jörg verstand es so gut, die Netze aus Goldpapier zu schneiden. Er war schon damals ein Künstler.«

»Es kam anders, ganz anders«, sagte Malte.

[S. 139]

»Und wir wurden andre, Malte.«

»Das weiß Gott, Güldenfey. Das heißt: du nicht! Du bist das unbesorgte Kind geblieben. Du könntest noch heut Zuckersterne auf Fäden ziehen.«

»Du nicht?« fragte sie gläubig. »Wenn hier der große Berg vor dir aufgeschüttet läge, du nicht?«

»Ich glaube nein«, sagte er. Seine Stimme bekam einen weichen Klang. »Der Kinderglaube und die Freude jener Jahre ... Ach, Kind, zuweilen möchte ich das alles aussprechen dürfen, was über einen dahingeht; ich wünschte nicht mehr als dies, vor einem sitzen zu können, der mich anhörte, oder wenn das nicht möglich ist, nur mich an irgendwen lehnen zu können und vor ihm zu schweigen. Bewußt sich vor jemandem ausschweigen, das ist auch eine Wohltat. Das hat mich in unser altes Haus getrieben.«

Und Frauke? dachte Güldenfey. Doch sie sprach es nicht aus. Sie legte ihre Hand auf seine und ließ sie da liegen.

»Es gibt etwas Merkwürdiges,« fuhr er fort, »eine Kühle, eine Leere, oder wie soll ich es nennen; es ist nur ein winziger Punkt, aber er wächst sehr schnell, und was man anfangs die Regung eines Stolzes nannte, ist plötzlich eine weite Wüste, und man ist so allein.«

»Warum kommst du nicht zu mir, Malte?«

»Ach, du liebe kleine Güldenfey!« sagte er. »Ich wäre wohl dazu da, dich vor allem Rauhen zu beschirmen, nachdem Vater dich mir so an das Herz gelegt hat. Und nun soll ich gar zu dir kommen. Aber es ist zuviel, es ist zuviel, und zuweilen mein' ich, es sei gar nicht zu schaffen.«

Wie ein großer Junge, den seine Schulaufgaben quälen, dachte Güldenfey, und tröstend strich sie über seine Hände. »Mußt dir nicht so viele Sorgen machen, Malte. Wir haben doch genug, und wenn wir wenig haben, so schadet's auch nicht. Wir sind ja alle zufrieden, wenn unser großer Bruder nur froh ist.« Sie strich an ihm auf und nieder, und er, Malte, saß still da und ließ es sich gefallen.

Wie gern hätte Güldenfey ihn bewogen, sich alles von der Seele zu sprechen, doch sie wußte, daß behutsames Abwarten das beste Mittel sei. Vielleicht wollte Malte ...

[S. 140]

Doch die weiche Regung war schon vorüber. Sein Blick fiel auf das Blatt, das auf dem Tische lag, und er richtete sich auf. »Verzeih, Güldenfey!« sagte er. »Da komm' ich nun und mache dir das Herz schwer mit dem, was ich da schwatze, nicht wahr? Was für sentimentale Anwandlungen es doch gibt!«

»O Malte, es war ja so gut!«

Doch er war schon weit fort, und dieser Ton berührte ihn nicht mehr. »Laß es gut sein, Kind,« sagte er, »du darfst dich nicht sorgen, denn es ist alles vortrefflich.«

Sie geleitete ihn bis zur Tür und sah ihn davongehen, aufrecht, stolz in dem Gefühl, der ersten einer in dieser alten Stadt zu sein und der argen Zeit die Stirn bieten zu dürfen. Langsam ging sie auf ihr Zimmer.

Was hatte diese beiden Menschen zusammengehen heißen? Er, der die Überlieferung eines alten Hauses trug, ob sie schon nichts mehr galt, und sie, die Frau dieser Zeit mit dem heimlichen Rauschen und Klirren der Seide und edler Metalle; er, gehalten und in Wort und Handlung das Wesen des königlichen Kaufherrn ausprägend und doch dabei immer ein wenig unsicher auf seine Frau schauend, ob seine Haltung ihr gefalle. Was hatte diese verschiedenen Menschen verbunden?

Der Vater hatte diese Verbindung einst willkommen geheißen. Der Name Poppelmann klang wie Gold. Und doch — Güldenfey glaubte nicht, daß Malte aus rein rechnerischer Erwägung um Frauke angehalten habe. Es war etwas in dieser Frau mit den hochmütigen Augen, die grau wie Seewasser im Wind waren, das ihn immer aufs neue anzog und fesselte. Vielleicht dies, daß sie nicht wie ein aufgeschlagenes Buch vor ihm lag, sondern sich verschloß und Rätsel aufgab.

Und Frauke? Sie hatte keine gute Meinung bei den Brüdern genossen. Warum galten ihr die Treß nichts? Warum war ihr drittes Wort Harvestehude? Nicht laut ausgesprochen. O nein, dazu war sie zu vornehm; aber doch mit jeder Gebärde unterstrichen. Eigentlich machte sie nur vor Güldenfeys natürlicher Sicherheit halt, und Güldenfey wußte, daß sie anders war als das, was sie zu sein vorgab: weit mehr Verstehen, weit mehr Güte.

[S. 141]

War das ein Verhängnis der neuzeitlichen Frau, verkannt zu werden, weil sie ihr Wesen verleugnete und ihre natürliche Tonart mit der Melodie des Überlegenen vertauschte? Ach, dieses Scheinenwollen dessen, was gar nicht war! Wieviel Falsches kam doch damit in die Welt! Gewiß, das war die große Leere, die frostige Kühle, in der die Menschen einsam litten und verdarben. Was nützte es Malte, wenn er diese Leere sah und sie doch nicht überbrücken konnte!

Güldenfey hatte nicht gehört, daß an die Tür gepocht war. Sie wandte sich um, als sie das Mädchen auf der Schwelle sprechen hörte. Das Zimmer war ganz in das Dämmergrau des Abends getaucht, und nur durch die Fenster drang die Schneehelle. Güldenfey wollte fragen, da sie das Mädchen nicht verstanden hatte, da hörte sie die Stimme Thomasius'. Er stand schon in der Tür, und sie erhob sich, um das Licht einzuschalten.

»O nein!« bat er. »Wollen Sie mir, wenn ich recht sehr bitte, das Geschenk einer Dämmerstunde machen? Ich kann nicht sagen, wie lange ich sie habe entbehren müssen, und heute ...«

Thomasius fand seinen Platz in dem Ohrenlehnstuhl, Güldenfey saß auf dem hochlehnigen Sofa. Sie sahen einander kaum, nur die Umrisse ihrer Gestalten hoben sich aus dem Dunkel. Aber ihre Stimmen, die gedämpft klangen, trugen hin und her, was das unsichtbare Fluidum zwischen ihnen vermittelte. Wie eigen das war!

»Sie fahren schlecht bei diesem Zwiegespräch im Dämmerlicht«, sagte Güldenfey. »Hätten Sie mir erlaubt, Licht zu machen, so würde ich Ihnen wahrscheinlich Äpfel und Nüsse angeboten haben.«

»Das ist bedauerlich«, erwiderte Thomasius heiter. »Ich bin gerade gekommen, um Nüsse zu knacken, doch ist es so besser. Vielleicht erlauben Sie trotzdem, daß ich mir einen Paradiesapfel mitnehme.«

»Wenn Sie die Dämmerstunden so lieben, warum verschaffen Sie sich solche nicht in Ihrem Pfarrhause?« fragte Güldenfey. »Es ist so alt wie der Treßhof und voll spukhafter Winkel.«

»O Fräulein Güldenfey,« sagte er und nannte sie damit das erstemal mit ihrem Rufnamen, »es liegt das nicht am Gebäu, in [S. 142] dem man sich aufhält, es ist eine innere Angelegenheit des Träumenden. Sie freilich sind wohl von guten Geistern besonders gern heimgesucht. Wissen Sie, ich fand Sie schon einmal so in dem vergessenen Garten, und heut wieder im Dämmerlicht dieses Stübchens. Aber allein in dem großen Pfarrhause? Nein, mich würde dort kein Traum besuchen. Ich muß Zwiesprache halten dürfen mit guten, lieben Genossen. Früher ...«

Plötzlich war er in seiner Jugend und sprach von seinem Elternhause. Der Vater war ein namhafter Gelehrter gewesen und früh verstorben, die Mutter war mit sieben Kindern in Dürftigkeit zurückgeblieben. Die vier Jungen besaßen einen Wintermantel und zwei Sonntagsanzüge. Sie mußten sich abwechselnd je nach Bedürfnis darin teilen. Und die Mahlzeiten? Oft genug nur Kartoffeln in Salz getunkt. Aber alle waren in diesem kärglichen Leben rotwangig und frisch und vor allem heiter. Das lag an der Mutter. Ja, welche Mutter war das, die sich für das Wohl der sieben Raben verzehrte und aus einem schier unerschöpflichen Lebensquell immer noch darzureichen fand! Seine Stimme war voll verhaltener Zärtlichkeit.

Wie glücklich muß er sein! dachte Güldenfey. Er hatte eine Mutter lieb.

»Glauben Sie mir,« fuhr er fort, »das Darben in unserer Zeit fällt dem nicht schwer, der durch diese Schule schon so früh schritt. Und wenn mich zuweilen die Verzagtheit packen will, dann denke ich nur an die Dämmerstunden daheim. Die ließ sich die Mutter nie nehmen. Wir saßen um den grünen Kachelofen, und sie sagte uns unvergeßliche Worte. Keiner durfte sich schämen, denn das barmherzige Dunkel war da und bedeckte unsere Gesichter, und der gütige Liebestrom der mütterlichen Rede umfing alle. Nicht wahr, nun begreifen Sie, warum mir diese Zwielichtstunden so wert sind?«

Ja, Güldenfey begriff es.

Thomasius sprach weiter, von seinen Plänen und seiner Arbeit und wie ihn das Alleinsein hindere, sein Bestes zu geben. Mit wem konnte er sprechen? Die Freunde waren weit. Und wer half ihm hier nicht nur mit Rat, sondern mit der Tat! Es gab so vieles, [S. 143] dem er nicht näher kam, weil nur weibliches Empfinden das durchdringen konnte, was männlicher Tatkraft sich versagte.

Güldenfey fühlte es auf sich zuschreiten, bittend, werbend, mit ausgestreckten Händen. Sie wußte, daß alle Worte ihr galten und hinter ihnen die große Bitte des Lebens stand: Sei mein! Es erregte sie nicht, sie blieb ganz ruhig, und nur die warme Freude an neuen blühenden Feldern war stärker in ihr.

Er hat der Armut zu Füßen gesessen, dachte sie, er wird mich verstehen.

Thomasius blickte auf die Stelle im Raum, wo im Kranz des hellen Haares das Gesicht schimmerte, dessen Züge er nicht erkannte. Aber er fühlte es, wie man die in den Gewändern haftende Wärme spürt, daß sie sich ihm zuneigte. Er war glücklich. Dieser Feinen nahte sich keiner damit, daß er die roten Wellen ihres Blutes beschwor. Man mußte den silbernen Nachen der Seele besteigen, der auf der warmen Flut ihres Lebens schwamm, um bei ihr landen zu können.

Langsam glitten ihre Seelen zueinander, näher, näher; es war nur noch eines Wortes schmaler Raum, der ihre Hände trennte.

Doch, noch eins! dachte er.

»In der Frühe der Sonntagmorgen haben junge Menschen die alten Lieder gesungen; ist es wahr, daß Sie auch unter ihnen waren?« fragte er. Und als sie fröhlich bejahte, fuhr er fort: »Ich wollte Sie doch warnen, zu vertrauend zu sein. Es gibt da so viel Häßliches, das fern von Ihnen bleiben muß.«

Sie sah überrascht aufhorchend in die Richtung, wo er saß.

»Man kann sich auch in der Liebe verschwenden«, setzte er ratsam hinzu.

»Wäre das nicht zu loben?« fragte sie.

»Vielleicht nicht, wenn diese Verschwendung dem Nächsten nähme, was seines ist«, sagte er.

Seine Worte waren gut und zärtlich, doch Güldenfeys feines Ohr vernahm den leisen eifersüchtigen Beiklang, der ihnen anhaftete. Hatte sie den nicht schon einmal aus seinem Munde vernommen? »Meinen Sie wirklich, daß einer dadurch entbehren müsse, weil dem andern reichlich gegeben wird?« fragte sie heiter.

[S. 144]

Thomasius erkannte nicht, daß Güldenfey stutzte. Er war von denen, die die Stärke einer Liebe darum schätzen, weil sie hoffen, sie ausschließlich, uneingeschränkt besitzen zu können. »Es gibt vieles, was Sie unbedenklich tun können«, sagte er. »Doch da Sie nun einmal das Fräulein Treß sind, ist auch vieles da, von dem Sie sich fernhalten müssen, zum Beispiel dieses Ziehen von Haus zu Haus. Auch unser Name kann uns verpflichten!«

Güldenfey schwieg, denn was er da sagte, verstand sie nicht. Sie würde Malte ohne Scheu bekannt haben, was sie getan, und sich durch seinen Einwurf nicht haben hemmen lassen. Was sollte ihr nun das Wort von Thomasius bedeuten? Wollte er ihr sagen, was er von ihr erwarte? Liebe, wie er sie maß?

Und während sie dem nachdachte, erschien es ihr, als kämen seine Worte aus größerer, immer größerer Ferne. Sie sah ihn vor dem Altar stehen, wie er das Buch gleich einer Waffe hob; sie sah sein freundliches Schaffen, das ihn in die armseligen Stübchen der Armen trieb. Und doch, und doch ...! Rücksicht auf den Namen, Beschränkung auf eine unanstößige Art der Hilfeleistung? Nein, wer das tat, das war keiner von den geistlich Armen, die das Himmelreich ihr nennen!

Der schmale Raum von eines Wortes Breite hatte sich erweitert. Ihre Seelen glitten voneinander, weiter und weiter. Etwas Fremdes hatte sich in diese Stunde einer Gnade gemischt und sie verdorben.

Auch Thomasius spürte es jetzt. Er sprach noch mit Menschen- und Engelzungen und wußte doch, daß er der Liebe nicht mehr mächtig war. Plötzlich verstummte er. Das Schweigen in dem Zimmer, das soeben noch voll von gedämpfter Zärtlichkeit war, wirkte wie der Luftzug, der von einem geöffneten Fenster in die Wärme bläst: erkältend. Eins blickte dahin, wo das andre saß, und erkannte es nicht mehr.

»Wie völlig dunkel es doch geworden ist!« sagte Güldenfey. Sie rührte den Knopf der Lampe an, der elektrische Strom kreiste, und das Zimmer war voll Helle. Sie schauten einander an, geblendet von dem grellen Licht, ein wenig verlegen lächelnd, und wußten, [S. 145] daß die soeben zerronnene Stunde nie wiederkehren würde. Güldenfey trat an das Fenster und zog die Vorhänge zu. Die Glocken, die zur Adventandacht riefen, begannen zu tönen.

Thomasius straffte sich. Das Amt forderte ihn. »Haben Sie herzlichst Dank für die Dämmerstunde, Fräulein Treß«, sagte er und bot ihr die Hand. War er wirklich so bleich, oder erschien er ihr in der Helle so?

Sie wollte ihm etwas sagen, was in das Gewohnte eine Brücke schlug, und fand das Wort nicht. Suchend ging ihr Blick durch das Zimmer und traf die Schale, die mit rotwangigen Äpfeln gefüllt war. Sie reichte sie ihm dar.

»Der Paradiesapfel«, sagte er. »Sie aßen ihn und mußten den Garten Eden darum verlassen! Es trifft zwar nicht ganz zu, doch in etwas. Danke; heute abend werde ich ihn allein verspeisen.« —

Die Tür schloß sich hinter ihm, Güldenfey war allein. Nein, nicht jetzt allein sein! Marfa würde sie erwarten. Sie schickte sich an, das Zimmer zu verlassen, als das Mädchen wieder eintrat und ihr eine Depesche übergab. Es war die Nachricht, daß Jörg morgen eintreffen werde.


War die Luft erregt vom Rufen der Kinder, die Weihnachtsschäfchen feilboten, vom Schnarren der Knarren und vom Summen der Waldteufel? Nein, dies alles war es nicht, und war doch so viel Musik in ihr. So erschien es jedenfalls Güldenfey, als sie zum Bahnhof ging, um Jörg abzuholen. Malte hatte ihr den Wagen zur Verfügung gestellt, aber nein, das wollte sie nicht. Sie allein mußte den Heimkehrenden ohne Prunk empfangen.

Der Marienturm ragte wie der Arm eines Riesen in den grünen Abendhimmel, der Tritt klang hell auf dem frostharten Boden der Fußsteige in den Anlagen, die Luft war gesättigt von Freude und Erwartung. Es war eine Lust, durch die stahlscharfe Kälte zu wandern.

Der Bahnhof war gefüllt von erregten Menschen. Kommende und Fortstrebende drängten aneinander vorbei. Was sich sonst [S. 146] scheu verborgen hielt, das zeigte sich in diesen Tagen: ein Lachen, ein freudiger Zuruf, wenn Harrende den Erwarteten trafen. Güldenfey preßte die Hand mit dem Pelzmuff gegen die Brust, als der Zug einfuhr. Wie ihr Herz klopfte! Der Menschenstrom floß an ihr vorüber. Grüße hin und her; etwas erkältete in ihr: Jörg war nicht gekommen!

Ein Beamter tröstete sie, es werde bald ein zweiter Zug eintreffen. Wirklich? In dieser Zeit der Verkehrsnot? Güldenfey wartete. Der zweite Zug kam, ein Arm winkte, eine Stimme rief hörbar durch das Brausen: »Güldenfey!« Ihr zaghaftes Herz strömte in Jubel über.

Er sprang aus dem Wagen und hielt sie mit beiden Armen umfaßt, und sie preßte sich an ihn. Verwunderte Blicke Vorüberhastender fragten: Habt ihr Liebenden euch so lange nicht gesehen?

»Also wirklich, wirklich hier, Jörg?«

»Wahr- und leibhaftig.«

»O welche Freude! Nun erst ist Weihnacht.«

Arm in Arm schritten sie dem Ausgang zu. Da stand Telge, der das Gepäck besorgen wollte, und verzog im vergnügten Lachen das bärtige Gesicht.

»Wolltest du fahren, Jörg?«

Er wehrte lächelnd ab, und nun schritten sie die Straße zwischen den Teichen entlang, lachten, schwatzten und schwiegen. Es war so seltsam, nach so langer Zeit wieder heimzukommen. Güldenfey sah einige Male, Gewißheit suchend, ihn an. War er es denn wirklich? Er erschien ihr so anders. Nein, gewachsen war er nicht mehr, aber soviel sicherer und selbstgewisser geworden.

Plötzlich fragte er sie: »Verzeih, Güldenfey, bist du noch immer nicht versprochen?«

»Nein«, sagte sie und fühlte jetzt, daß sie weniger befangen geantwortet haben würde, wenn jene Dämmerstunde vor ein paar Tagen anders geendet hätte.

»Die Männer hierzulande haben keinen Geschmack«, sagte er, und sein Arm drückte den ihren. »Ah, unser alter Treßhof!« Er blieb vor der Torfahrt stehen und hob seine Arme in grüßender Gebärde, [S. 147] und dann stiegen sie hinauf. Ose stand oben auf der Treppe. Und wer war das? Wahrhaftig, Engelke war aus dem Heiligen Geist herübergekommen, um die Kartoffelkuchen auf ihre Art zu backen. Und auch Marfa war da, und ihr verschlossenes Gesicht war hell, denn morgen würde sie ja Harro abholen! —

Am Morgen des nächsten Tages führte Malte den Bruder durch die neuen Räume des Hauses am Markt. Er tat es mit einer Beflissenheit, daß Güldenfey staunte. Aber Malte hatte nicht nur den Verdruß vergessen, den ihm des Bruders Berufswahl bereitet, er empfand Respekt vor der sicheren Art, die Jörg zeigte.

»Nun, wie gefällt es dir hier?« fragte Malte zuletzt und deutete auf die Räume, in denen es wie in einem Bienenstock zur Lindenblüte summte.

Jörg lobte mit einigen Worten, die aber nicht bedingunglos klangen.

»Du machst einen Vorbehalt, Jörg!«

Jörg zögerte. »Wenn du es wissen willst, Malte, ich glaube, du bist kein — wie soll ich es nennen? — kein Wirklichkeitgewahrer.«

Maltes Lippe kräuselte sich. »Ich? Du meinst, ich verstehe nicht, was um uns vorgeht?«

»Das Gegenteil«, erwiderte Jörg. »Du siehst nur das, was um dich ist, darum weißt du nichts von dem, was in dir ist. Ein Wirklichkeitgewahrer setzt seine innere Neigung mit der Außenwelt in das geziemende Gleichgewicht. Sage, fühlst du dich wahrhaft glücklich hierbei?«

Malte zuckte die Schultern. »Du verlangst zuviel. Glücklich, wer ist das? Ihr alle werdet mir hoffentlich Dank zollen, daß ich in dieser schwankenden Zeit euer Vermögen und unsers Namens Bestand gerettet habe.«

Malte dachte über das Wort nach, während Jörg droben bei Frauke war. Ein seltsamer Mensch, dieser jüngste Treß! Doch vermochte er darum nicht wie einst gering von ihm zu denken. —

Die Festtage waren voll Glanz und Freude, wie sie das Treßhaus lange nicht gesehen. Nicht nur, weil Lichter brannten und der Tisch wohlversorgt war. Mit Jörg war eine andere Luftschicht eingezogen. [S. 148] Er beherrschte das Gespräch und schuf Stimmung, und alle ordneten sich ihm willig unter. Harro war weniger laut und Frauke weniger schweigsam. Überhaupt Frauke! Wer hatte diese kühle Frau so angeregt und warm über die Kunst reden gehört? Wer hätte von ihr erwartet, daß sie so lange zuhören konnte? Immer aufs neue regte sie Jörg an, von seinen Lehr- und Wanderjahren zu erzählen, und er, der sich gegen Frauke bisher ablehnend gezeigt, willfahrte ihr gern; nur in einem nicht: er war nicht zu bewegen, vor ihnen allen zu spielen.

Auch Marfa, die gewöhnlich nur für Harro da war, gab sich jetzt ganz dem Zauber hin, den Jörgs Wesen ausübte, und ließ wieder seit langem ihr schüchternes Lachen hören. Es war eitel Freude im Treßhof.

Nur einmal ... Während sie alle beisammensaßen, erschien Ose im Zimmer. Sie zeigte ein verstörtes Gesicht, doch das bemerkte außer Jörg keiner, da sie sich, nachdem sie den Kreis der Versammelten überblickt, schnell etwas zu schaffen machte und das Zimmer gleich wieder verließ. Als Jörg darauf unter einem Vorwand sich erhob und ihr folgte, fand er sie verstört auf dem oberen Flur.

»Ist etwas geschehen, Ose?«

Sie blickte ihn einen Augenblick zögernd an, dann sagte sie: »Hörst du, Jörg? Sie knarrt wieder.«

Die Diele unter ihrem Fuß gab einen seltsam klagenden Laut von sich.

»Und was bedeutet das, Ose?«

Sie wollte nicht sprechen, und er mußte seine Frage wiederholen.

»Kind, laß dir vor ihnen nichts merken, aber denk' an mich! Es ist wieder einer zuviel hier im Hause.«

»Narretei!« sagte er und kehrte zu den andern zurück. Doch es war gut, daß die Geschwister so eifrig sprachen und seine Bestürzung nicht merkten. Scheu sah er auf sie. Wer sollte der Gehende sein? Einer der Brüder? Plötzlich fiel sein Blick auf Marfa, die seltsam verloren vor sich hinschaute. Er setzte sich an ihre Seite, und während er freundlich wie ein Bruder mit ihr sprach, vergaß er Ose und ihr Sibyllenwort.

[S. 149]

Das Schönste für Güldenfey kam, als alle gegangen waren. Da saß sie mit Jörg in dem oberen Saal. Die niedergebrannten Kerzen des Christbaums verbreiteten ihren Duft, und knisternd rührte sich im Wipfel der Tanne das Rauschgold. Die Lampe im Winkelplatz schuf ein sanftes Licht, einen kleinen Kreis, dahinter lag unbegrenzt das Halbdunkel, aus dem von einem Tisch her ein silbernes Gerät aufblitzte.

»Nun will ich spielen«, sagte Jörg.

»O Jörg, für mich?«

»Ja, Güldenfey, für dich allein.« Er trat vor sie hin und legte seine Hände zärtlich um ihren Kopf. »Für dich ganz allein«, wiederholte er. »Wirst du mich verstehen? Wenn du es nicht kannst, kann es niemand.«

»Ich bin so einfältig«, sagte sie zu ihm aufblickend.

Er beugte sich nieder und küßte andächtig ihre Stirn. »Du weißt nicht, ein wie hohes Lob du dir damit erteilst, du Einfältige unter Zwiefältigen«, sagte er. »Es hat einst der Schuster Jakob Böhme, der doch ein großer Mann war, das Wesen des Göttlichen gefunden, als er die Sonnenspiegelung in einem Zinngefäß beobachtete. So hab' ich es entdeckt, als ich es in deiner liebevollen Art sich spiegeln sah.«

Güldenfey traten plötzlich die Tränen in die Augen. Wie kam es, daß sie jetzt an die Frau denken mußte, die sie noch immer suchte und nicht fand. Sie erzählte Jörg, was sie wußte und wollte.

Als sie geendet hatte, trat er still an den Flügel und spielte. O ja, Güldenfey verstand ihn. Es war eitel Trost, was die Töne ihr sagten. Sie wußte, daß sie finden würde.

Die Töne verklangen leise wie ferne Glocken. Dann erhob er sich und empfing ihre beiden Hände, die sie ihm entgegenstreckte. »Weißt du es nun, Güldenfey?« fragte er.

»Ja, ich weiß.«

»Ich glaube, wir Treß tragen schwer an alter Schuld ...«

»Ja, Jörg.«

»Aber mir ist nicht bange, solange ich weiß, daß das Gallion am Schiff des Fliegenden Holländers unsere Güldenfey ist. Und nun will ich dir noch eins verraten: Im Frühjahr gebe ich hier in unsrer Stadt mein erstes Konzert, und was ich dann spielen werde, das hast du soeben gehört.«


[S. 150]

Das letzte Warten

Schlaf, du Arzt aller Belasteten, wo bleibst du?

Malte Treß konnte nicht mehr schlafen. Er lag auf seinem Lager; bis ihm die Augen vor Müdigkeit zufielen, las er, aber er fürchtete sich, die Hand nach der Lampe auszustrecken und das Licht zu löschen. Sobald das Dunkel ihn umgab, stürzten sich die Gedanken feindlich auf ihn und nagten mit scharfen Zähnen: Kurse, Wechseltermine, Verbindlichkeiten, der Ring — Usadel.

Seine Seele wurde im Dunkel zu einem weiten Hohlraum, in dem alle Geräusche des Tages schrecklich widerhallten, vor dessen gläsernen Wänden fratzenhafte Gesichter drohend auf und nieder tanzten. Es half nicht, sie zu beschwören: Was wollt ihr? Alles ist geregelt, und was noch nicht im Gleichmaß ist, wird es morgen sein. Sie kamen und quälten und mürbten.

Also wieder Licht machen, wieder die Gedanken in die Fährte eines spannenden Buches hetzen, wieder der dumpfen Erschöpfung verfallen! Und wieder begann im Finstern das boshafte Spiel. Es mußte die horizontale Lage schuld sein; das Blut bedrängte das Gehirn. Er erhob sich, kleidete sich an und ging in sein Arbeitzimmer hinab.

Wie ein in langer Verfolgung Gehetzter sank er in seinen Stuhl. Doch die auf dem Tisch gehäuften Schriftstücke widerten ihn an. Ja, Arbeit in froher morgendlicher Frische! Doch dieses Schleppen von Seite zu Seite, dieses verdrossene Blätterwenden schaffte nichts. Der Schlag der Uhr ging durch das Gemach, der Arm mit der Hippe sank herab. Carpe diem. Ach, der nur konnte den Tag wahrnehmen, dem die Nacht den sänftigenden Mohntrank gereicht hatte.

Was war das? Schritte in der Nacht. Nicht Schritte derer, die nach Hause eilen, oder tappende Schritte später Zecher; es waren zögernde Schritte, hin und her, hin und her, Schritte eines Wartenden. Der Wächter? Nein, der ging durch Hof und Flur. Malte wußte, welche Schritte das waren.

[S. 151]

Er zog den Mantel an und trat hinaus: es war niemand zu sehen. Malte ging auf den Markt, ging durch die Straßen, war auf der Flucht vor sich selbst.

Eine kleine Wolke hatte eine feine Schneeschicht auf die Dächer und das Pflaster ausgebreitet, zwischen weißen Wölkchen und Sternensplittern stand der volle Mond. Wie schlafende Ungetüme lagen die zackigen Schatten der Giebel auf dem weißen Straßendamm, und das Dunkel barg sich in die Pfeilernischen der Mauern. Über dem stumpfen Turm St. Jürgens spannte sich wie ein funkelnder Kronenzirkel der gelbe Lichtrand, der die Mondschale umgab, und ein bläuliches Licht spielte um die Särge im Schaufenster des Tischlers.

In der friedlichen Helle der Straßen wurde Malte ruhiger. Das Leben selbst war nicht so arg wie sein Spuk. Aber er mußte auch wieder durch dunkle Nächte wandern, Nächte, in denen die Wolkensäume über die Häuserfirste schleppten, in denen das einsame Licht auf dem Molenkopf des Hafens fast von der Finsternis verschluckt wurde und die Stimmen des Dunkels schaurig vom Meer herüberdrangen.

Kam Malte nach diesen nächtlichen Gängen heim, fühlte er seine Glieder, als seien sie zerbrochen. Er zerrte seine Kleider vom Leib und warf sich nieder. Doch der herbeigezwungene Schlaf lähmte ihn mehr, als daß er erfrischt hätte, und bleicher noch als gewöhnlich, mit schmerzhaft brennenden Augen erschien er am nächsten Morgen in der Schreibstube.


Auch im Treßhof lag eine, die der Schlaf floh. Harro war verstimmt abgereist und hatte sie in Unfrieden zurückgelassen. Zerpflückter als je war er zum Weihnachtfest gekommen, und Marfas Zärtlichkeit hatte nichts von Wärme in ihm geweckt. Warum mußte sie, da sie ihn in diesem Zustand sah, auch mit ihrem Wünschen nahen!

»Harro, eine Bitte; die erste! Nimm mich mit dir, laß mich bei dir sein. Ich ertrag' das Leben hier nicht mehr. Dieses alte furchtbare [S. 152] Haus, und immer fern von dir. Ich lebe ja nur scheinbar von einer Rückkehr zur andern. Eigentlich bin ich abwesend, und nur, wenn du kommst, erwache ich.«

»Sind sie unfreundlich zu dir?«

»Alle sind sehr, sehr gut. Aber ist das Ersatz?«

»Du lebst hier angenehm. In der Hauptstadt müßtest du sehr vorliebnehmen.«

»Was bedeutet das mir?«

»Ich bin oft auf Reisen.«

»Ich werde dich begleiten.«

Marfa hatte ihn daran erinnert, wie wenig sie verlange. Seine schon lange pochende Ungeduld hatte die Fesseln abgeworfen, er war heftig geworden. Was half es, daß sie sich ergab und demütig um Verzeihung bat! Es blieb ein bitterer Rest: Unwille über unmögliche Ansprüche bei dem einen; Trauer darüber, daß sie nicht verstanden werde, bei Marfa.

Nun lag sie Nacht um Nacht wach und sann und sann. Sollte sie ihn auch verlieren, den Einzigen, den sie noch auf der weiten Welt besaß? Oder hatte sie ihn schon eingebüßt? Der Bruch ihres Lebens, der sich nie ganz geschlossen, klaffte in ihr auf, ihre Seele blutete.

Ihre ganze Vergangenheit wurde in harter Deutlichkeit lebendig, vor allem das Entsetzliche, das sie wie eine offene Wunde mit sich trug. Dagegen half kein Vergessen.

Und dieses Haus mit seinen schreckhaften Geräuschen störte alles in ihr wieder auf: das von den Speichern rieselnde Tauwasser, die Klagelaute des Katers Murr, das Ächzen und Pfeifen der Winde, der ganze von Alter und Spuk gesättigte Dunstkreis dieses Gemäuers mit seinen düsteren Böden und Gängen und Winkeln. —

Einmal erwachte Güldenfey und erhob sich, um aus dem Fenster zu schauen. Es war eine jener Januarnächte, von denen man glaubt, daß sie nie enden, weil ihr Dunkel zu schwer auf der Erde zu lasten scheint, als daß es die ferne Sonne verdrängen könnte. In die Finsternis grub sich eine Lichtbahn, die von Marfas Fenster ausging.

[S. 153]

Güldenfey blickte auf die Uhr; es war die vierte Stunde nach Mitternacht. Ob Marfa etwas zugestoßen sein konnte? Sie warf ihr Morgenkleid über und pochte an Marfas Tür.

Diese lag mit völlig wachen Augen da, hatte die Hände ergeben gefaltet und versuchte zu lächeln. Güldenfey erklärte ihr Kommen und fragte nach Marfas Befinden.

»Nein, ich habe noch nicht geschlafen.«

»Aber es ist bald Morgenzeit.«

»O, wenn ich nur vor dem Morgen noch eine Stunde Ruhe finde, bin ich zufrieden.«

»Aber liebes Herz!« Güldenfey kniete an Marfas Lager nieder, strich über die fiebrig heißen Wangen und liebkoste das dunkelbraune Haar, das in zwei schweren Flechten auf den Kissen lag.

»Ich wollte so gern schlafen und kann nicht.« Marfas Gesicht verzog sich wie das eines weinenden Kindes.

Güldenfeys Hände gingen beruhigend über die Stirn der Klagenden. Wie war das schrecklich! Man lag ruhig und unbekümmert Nacht für Nacht, und hinter der Wand war jemand das Opfer quälender Gedanken. Wie da alles Unwirkliche wirklich werden und jeder Gedanke sich drohend in bleichem Nachtlicht gestalten mußte! Güldenfeys Ahnungsvermögen ergründete bereits die ganze Tiefe dieser Not. »Was ist denn, Liebste?« fragte sie. »Harro ...«

»Nein, nein, nicht Harro«, wehrte Marfa ab.

»Also was? Sag' es mir, mein liebes Herz! Wenn du es aussprichst, bist du erleichtert.«

Mit zärtlichen, geduldigen Worten entrang Güldenfey es Marfa: es war die erwachte Vergangenheit, die sie ängstete. Sie hatte nie davon zu ihr gesprochen, sie fürchtete, damit die schrecklichen Gesichte heraufzubeschwören. Nun aber waren sie doch ohnedies gekommen, und Marfa fühlte, daß vielleicht das Sprechen sie erlösen könne.

Dieser Kasernensaal im obersten Stockwerk, durch dessen Fenster die Sonne während der Mittagsstunden bis in den fernsten Winkel stach! Diese rohen, betrunkenen Weiber, die den gefangenen Frauen als Hüterinnen gesetzt waren, und dieser Mann im Mantel, der nächtlich an das Tor pochte. Und Gänge ohne Ende, und Mauern ohne Tor.

[S. 154]

»Das ist ja nun alles überwunden«, sagte Güldenfey zart. »Du bist bei uns, und nichts darf dich anrühren.«

Sie tröstete, wie eine Mutter ihr Kind tröstet; sie wußte: Hier helfen nicht verständige Reden, sondern nur Erweise völligen Hingegebenseins. Die Kälte stieg in ihr hoch, sie schlug eine Decke um ihre Schulter und blieb vor dem Lager in ihrer knienden Lage. Und Marfa wurde still.

»So,« sagte Güldenfey, »jetzt versuchen wir es noch einmal, ob der Schlaf nicht kommen will. Hier — warum hab' ich nur nicht eher daran gedacht! — ist der Amethyst mit unsrer Mutter Segen, den trägst du auf der Brust, wie schon einmal. Jeden Abend will ich zu dir kommen und ihn dir umhängen.« Sie löste das Kettlein von ihrem Hals und streifte es Marfa über, dann löschte sie das Licht und suchte ihr Lager auf. Aus dem Landhause von jenseits des Teiches ertönte der erste Hahnruf.

Haftete der mütterliche Segen so sichtbar an dem blauen Kristall, den Marfa jetzt während der Nacht und Güldenfey am Tage trug, daß er auch der Zugewanderten half? Marfa fand von nun an die entbehrte Ruhe wieder.

Nachdenklich betrachtete Güldenfey den Stein, den sie doch schon so oft beschaut. Wie weißes Moosgeflecht, das mit goldigem Gekörn bestreut war, wuchs der Bergkristall, der die veilchenfarbenen zehn Blüten trug. Wo war der geheime Sitz der Kraft, die sich dem Träger mitteilte?

An einem Abend, da Güldenfey ihn wieder auf Marfas Zimmer trug, weigerte diese sich, ihn zu nehmen. Sie sah heiter und glücklich aus. »Laß ihn jetzt wieder an deinem Herzen ruhen«, sagte sie. »Wenn ich seiner bedarf, bitte ich um ihn.«

»Aber wenn es nun heute wiederkommt?« sagte Güldenfey.

Marfa zog sie an sich und sagte geheimnisvoll: »Vor den Schrecken hat er mich nicht bewahrt, aber ich habe, seit ich ihn trug, eine seltene Kraft in mir wachsen gespürt.« Sie zog Güldenfey an sich und sprach dicht an ihrem Ohr: »Weißt du, was allem Bösen von außen in mir keinen Widerstand bot, das war das Bewußtsein meines unfruchtbaren Lebens: viel gelernt haben und es nicht verwerten [S. 155] können; viel erduldet haben und nicht trösten dürfen; Mutter geworden sein und kein Kind besitzen; einen Mann mein nennen und immer fern von ihm sein — ist das nicht ein Dasein ohne Frucht und Ernte? Ach, wie bitter haben mich immer meine gebundenen Hände geschmerzt! Und durfte sie doch nicht regen.«

»Ach, Marfa, wir können nicht alle so regsam sein wie Malte und Harro, und vielleicht ist das nicht einmal gut«, sagte Güldenfey.

»Nein, das ist gewiß nicht gut; aber unfruchtbar sein ist etwas andres, Güldenfey! Denke nur, hingehen müssen mit der Gewißheit: Du hast nichts vollbracht! Ich habe nicht allein an mich gedacht, auch an die vielen Helden, die im Kriege gefallen, an die vielen frühverstorbenen Kinder. Warum? Warum?«

»Ach du armes gequältes Herz!« rief Güldenfey.

»Ja, aber nun bin ich so fröhlich und dankbar, daß ich die Antwort erhalten habe. Du kennst doch das Lied, das Harro nicht leiden mochte:

Wenn ich sterbe, werden keine
Klageglocken um mich gehn ...

Das sing' ich nun nie mehr!«

Güldenfey sah Marfa überrascht an. Welcher jubelnde Ton trug plötzlich ihre Stimme! »Und das gab dir der Stein, unser Stein?« fragte sie.

»Seit ich ihn trug, bin ich ruhig geworden, und in der Ruhe ging mir auf, was mir Trost gab. War es ein Traum, war es ein Gesicht? Ich weiß es nicht. Aber ich stand drüben am Teich und sah auf das dunkle Gewölk, das den Himmel bedeckte und ahnungschwer über der Erde lag. Mit einem Male tat es sich auf wie ein großes Tor, und ein langer Zug von Erntewagen, die hoch mit Garben beladen waren, fuhr heraus. Jeden der Wagen lenkte ein Soldat, der eine Wunde trug, und kleine Wägelchen voll Frucht kamen, die wurden von kleinen blassen Kindern geführt. Der Zug wuchs und dehnte sich unabsehbar, und der Wagen waren so viele, daß es nicht zu sagen ist.«

»Und dann?« fragte Güldenfey.

[S. 156]

»Sie fuhren alle bis zu einem Platz; dort begannen sie ihre Garben abzuwerfen. Eins half dem andern, und sie schichteten einen Ernteschober so hoch, daß ich noch jetzt nicht weiß, wie es möglich war, daß meine Augen eine solche Höhe absehen konnten. Und dann, ja, dann begannen die Körner zu rinnen, ohne daß eine Hand den Dreschflegel rührte, und sie rannen wie ein weizengelber Strom. Und allmählich ward der Fluß weiß, und ich erkannte, daß das Korn sich in Mehl gewandelt hatte. Ganz am Ende aber regten sich Hände, die formten daraus Brot, wundervolles edles Brot, Güldenfey, wie wir es heute nicht mehr genießen. Und andre Arme waren da, die reichten das Brot der Erde. Dort aber strömten die Darbenden zuhauf und empfingen die kostbare Labe und aßen und wurden satt und froh.«

Es war ganz still in dem Zimmer, als Marfa schwieg. Die Hände der beiden Frauen lagen ineinander. Nach einer Weile näherte Marfa ihr Gesicht Güldenfeys Ohr. »Mein kleines Kind hab' ich auch gesehen«, flüsterte sie. »Ich wußte, daß es meins war. Es konnte seine schweren Garben nicht abwerfen, da half ihm ein Soldat, der eine Herzwunde trug.« —

Von diesem Tage an war Marfa heiter. Sie ging mit Güldenfey in die Stadt und hatte Teilnahme für alles, was ihr begegnete. Frauke zeigte erstaunte Augen, als Marfa sie in dem Hause am Markt besuchte.


Es war Tauwetter eingetreten. Ose stand am Fenster und sah besorgt auf die Teiche, wo, unbekümmert um die Risse im Eise, die Jugend fortfuhr, auf Schlittschuhen zu laufen.

»Sie treiben es wieder so lange, bis sich der Teufel sein Opfer geholt hat«, sagte sie.

»Nicht doch, Ose!« bat Marfa.

»Ich treibe keinen Spott mit so ernsten Dingen, Frau Doktor«, sagte die Alte und wandte sich um. »Sie kennen das nicht, aber das ist gewiß, er muß jedes Jahr sein Opfer haben.« Als sie Marfas ungläubige Miene erblickte, begann sie zu erzählen. »Vor vielen [S. 157] hundert Jahren hat der Böse in St. Niklas rumort. Da haben ihn die Priester mit ihren Weihwedeln in den Teich gebannt. Aber bevor er untertauchte, hat er gedroht, sich jährlich einen Menschen herabzuziehen, und das hat er treulich gehalten. Jetzt haben wir schon Mariä Lichtmeß, das ist die schlimmste Zeit.«

Güldenfey holte Marfa ab, die über einem Brief an ihre Tante Honterus saß.

»Ich werde ihn später beenden«, sagte sie und erhob sich.

Der Rauhreif hatte Büsche und Bäume geziert, fern über Heilisoe ballte sich Gewölk, das Schnee verhieß.

»Ich begleite dich heute auf deiner Suche«, sagte Marfa. »Wir müssen uns wieder einmal nach Frau Jobst umtun.«

»Ach, Marfa, das ist nichts, was dir Freude macht«, entgegnete Güldenfey. »Diese Gassen in der Sachsenstadt! Und wir finden sie doch nicht. Du glaubst nicht, wie verzagt ich bin.«

Aber Marfa sprach ihr so freundlich zu, daß Güldenfey wieder Mut faßte, und sie suchten Häuser auf, in denen Güldenfey noch nicht gewesen war.

Es war vergeblich. Überall die gleiche nichtssagende Auskunft, das gleiche stumme Verneinen.

»Sie wohnt wohl gar nicht mehr in der Stadt«, klagte Güldenfey. »Aber auf den Ämtern wissen sie auch nichts.«

»Nun, du wirst sie finden«, tröstete Marfa. »Laß uns jetzt noch zu Engelke gehen.«

Auf dem Heimweg erzählte Marfa, was Ose ihr von dem Opfer, das der Teich jährlich fordere, mitgeteilt hatte.

Güldenfey, die jetzt, da sie Marfa froh sah, so gern lachte, wurde ernst. »Die Gefahr, die den Leichtfertigen von den Teichen droht, muß schon lange bestehen, sonst wäre jene Sage nicht entstanden«, sagte sie. »Wirklich verunglücken hier jährlich Menschen.«

Sie schritten durch die Anlagen, die den Stadtteich umgaben. Ein Sicherheitwachmann ging, die Hände auf den Rücken gelegt, in gemessenem Schritt vor ihnen her. Als sie den Mann erreichten, blieb dieser plötzlich stehen und spähte scharf auf den Teich hinaus. »Also da haben wir das Unglück«, sagte er laut.

[S. 158]

»Welches Unglück?« fragte Güldenfey, gleichfalls stehenbleibend.

»Ein Junge ist eingebrochen«, sagte er ärgerlich. »Da sind nun ein Dutzend Warnungtafeln ausgehängt, und trotzdem müssen sie auf das brüchige Eis gehen. Schadet ihnen gar nicht.«

Auf dem Eise liefen die Leute zusammen und umstanden die Stelle, von der aus jetzt klägliche Hilferufe ertönten; keiner aber wagte sich dem Spalt zu nähern, in den der Verunglückte geglitten war. Man sah ihn, wie er sich an den Rand des Eises klammerte.

»Helfen Sie doch«, bat Güldenfey dringlich.

Der Mann blickte sie strafend an und schüttelte den Kopf. »Das ist nicht meine Aufgabe«, sagte er. »Überdies, helfen kann da keiner.«

War denn unter dem Beamtenrock keine menschliche Regung mehr? Güldenfeys Gesicht rötete der Zorn. »Es ist ein Mensch in Not, und Sie können fragen, ob es Ihres Amtes ist, ihm zu helfen? Schämen Sie sich!«

Der Mann sah an sich nieder. Es war nicht Scham; er erwog wohl, ob er seine Uniform der Möglichkeit, naß zu werden, aussetzen könne. Aber er verharrte in seiner Untätigkeit.

Als Güldenfey sich von ihm abwandte, sah sie Marfa nicht mehr an ihrer Seite; sie war die Uferböschung hinabgestiegen und lief jetzt über das Eis der Unfallstelle zu. Güldenfey folgte ihr, sie rief ihren Namen, doch Marfa hörte nicht. Immer eiliger strebte sie fort. Himmel, sie würde doch nicht ...!

Da Güldenfey in den Kreis der Gaffer trat, sah sie Marfas Hut und Mantel auf dem Eise liegen, sie selbst schob sich kriechend dem Knaben zu, dessen erstarrte Hände den Kopf mühsam über Wasser hielten.

»Halt aus, ich komme!«

Die umherstehenden Menschen rührten sich nicht. Aber plötzlich schrien sie auf und wichen erschreckt zurück. Das Eis war geborsten und die Retterin in das Wasser gestürzt. Der Knabe war verschwunden.

Jetzt vollzog sich alles blitzgleich. Marfa tauchte wieder auf, sie hatte den Knaben im Arm, sie stieß sich auf das Eis zu. Aber sie [S. 159] hatte sich und das Kind zu halten. Wie lange sollte das währen? In Güldenfeys Herz preßte sich alles Blut zusammen.

»Marfa!« rief sie. »O Marfa!«

Sollte dies das Ende sein? Noch nicht. Es vollzog sich jetzt für Güldenfey alles wie hinter Schleiern. Ein Brett, ein beherzter Mann, ein Arm streckte sich. Das Eis hielt, gottlob, es hielt. Der Knabe erschien. Wie lange es währte! Jetzt wurde auch Marfa heraufgezogen.

Man legte sie dahin, wo das Eis fest war, und deckte den Mantel über sie. Zwei Augenblicke lag sie wie bewußtlos, nur schwer keuchend, dann sprang sie auf und schüttelte das Wasser von sich. »Der Knabe!« sagte sie. Sie ergriff ihn, hob ihn in ihren Arm, und in triefendem Haar und schleppendem Kleid trug sie ihn an das Ufer. Güldenfey ging an ihrer Seite. Nach Hause, dachte sie, nur schnell nach Hause! Doch Marfa schien die Kälte der durchnäßten Kleider nicht zu spüren.

Am Ufer stand der Wachmann, sein Schreibbuch in der Hand haltend. In seiner Dienstanweisung war wohl gefordert, daß er den Vorfall mit den Namen der Beteiligten zu verzeichnen habe. Der Zuschauer wollte sich plötzlich im Mittelpunkt wichtig fühlen.

»Gehen Sie!« sagte Güldenfey. War es das Wort, war es ihr Blick — der Mann trat bestürzt zurück und steckte sein Buch ungenützt ein.

Endlich, endlich lag Marfa in den Kissen. Ose lief mit Wärmbecken und Teetassen ab und zu, und Güldenfey rieb und bürstete unaufhörlich das feuchte Haar. Draußen läutete es: Blumen wurden hereingebracht, Grüße gesagt. Im Vorzimmer stand Malte und wartete auf den Bescheid, ob er Harro benachrichtigen solle. Nein? Güldenfey würde ihm gleich schreiben? Gut; es war ja alles glücklich abgelaufen. Weshalb Harro beunruhigen?

»Sieh, Liebste«, sagte Güldenfey und wies ihr einen prunkenden Strauß. »Von Olrogges.«

Marfas Hand glitt zärtlich über die Blumen. »Komm nahe«, bat sie, und da sich Güldenfey zu ihr neigte: »Was meinst du, werde ich jetzt wohl auch einen Erntewagen fahren dürfen?«

[S. 160]

»Einen großen und sehr vollen,« erwiderte Güldenfey; »doch dein Korn ist ja noch lange nicht reif.«

»Glaubst du nicht?« fragte Marfa. Und nun ging ihre fast übermütige Heiterkeit, die sie seit ihrer Tat gezeigt, in ein sinnendes Schweigen ein. —

Sie wunderten sich, daß Marfa am nächsten Tage nicht aufstehen mochte. Es hatte begonnen zu schneien; sie lag, ohne zu sprechen, und sah in die langsam niedersinkenden Flocken. Am Abend brannte ihr Leib im Fieber. Der Arzt kam und ging. Der folgende Tag brachte die Gewißheit, daß die entzündete Brust nicht mehr genug Lebenskraft hergeben konnte.

Frauke kam und stand mit weiten Augen auf der Schwelle. So sah es also aus, das Sterben! Als Marfa ihr winkte, kam sie zögernd näher und setzte sich neben dem Krankenlager nieder.

»Ihr waret alle so freundlich zu mir«, sagte Marfa leise. »Jeder wollte mir helfen, jeder mir Gutes tun. Wieviel Unleidliches habt ihr liebevoll übersehen! Ich danke euch.«

Frauke nickte und wußte nichts zu entgegnen. Wann wäre sie wohl so freundlich gewesen, daß es eines Dankes wert war! Sie hatte Marfa eine beobachtende Teilnahme geschenkt; sie wollte erkennen, wie sich die Fremde, die wie sie aus ganz andrer Lebenszone in diese Familie gekommen, mit ihrem Los abfinden werde. Das Ergebnis war für Frauke tröstlich gewesen: auch Marfa war vereinsamt geblieben. Das freilich hatte Frauke in ihrer Gleichstellung vergessen, daß die andre eine Wunde trug, von der sie, die vom Glück Verwöhnte, nichts wußte, und daß jene nach anderm verlangte als sie.

Frauke sprach einige Worte, wie man sie zu Kranken spricht: es werde bald besser werden. Marfa lächelte geheimnisvoll.

Als Frauke gegangen war, setzte sich Güldenfey wieder zu der Kranken. Langsam, leise fiel der Schnee.

»Wir haben Harro gerufen, liebstes Herz, er wird bald hier sein.«

Marfa lächelte wieder. Wie kam ihr nur dieses seltsame Lächeln? Warum fragte sie nicht einmal nach dem Mann, ohne den sie bisher nicht einen Tag leben zu können vermeinte? »Ich warte [S. 161] jetzt mein letztes Warten«, flüsterte sie. »Aber ... Pastor Thomasius ...«

Telge trat bekümmert zu Frau Mellin ein und berichtete, nun sei es ganz gewiß, daß Frau Doktor sterbe; man habe schon nach dem Pastor geschickt. Dann ging er in seine Stube und sah trübselig in die Lampe. Wie lange war es her, daß sie noch so herzlich gelacht, als er auf Heilisoe gesprungen hatte: Juchhe Panitzenschauh, juchhe Panitzenschauh! Ach, was war doch das Leben!

Droben im Krankenzimmer war der Tisch für das letzte Mahl gedeckt. Die Kerzen brannten, und die Ahnung von der Gegenwart des Größten heiligte den Raum. Thomasius, der das nahe Ende voraussah, blieb bei der Wartenden. Am Bett kniend, sprach er von Zeit zu Zeit ein Wort des Unvergänglichen.

Marfa lag ergeben und heiter da. Sie war zu gehen bereit. Die alten Worte kamen wie Kindergespielen, die ihre Hände faßten. Wie war das Land ihrer Jugend ihr so nahe gerückt: die runde Kirche mit dem nüchternen Gestühl, in der sie eingesegnet war; der Weg mit den Kopfweiden zur Frühlingszeit. Dufteten da nicht Veilchen?

Ein Geistchen, eine der grasgrünen Florfliegen, wie sie in den Zimmern überwintern, flog herbei und ließ sich auf ihre Hand nieder. »Ei, wie lieb!« Und wie treu diese Guten sie alle umgaben! Güldenfey, Ose, Thomasius. Er betete:

»Wann endlich ich soll treten ein
In deines Reiches Freuden ...«

Als er innehielt, winkte Marfa Güldenfey zu sich. »Liebste, deinen Stein, bitte.«

Und Güldenfey nahm den Amethyst von ihrem Halse und legte ihn auf Marfas Brust.


Harro trifft nach einer Nacht, die er im Zuge zugebracht, in Berlin ein und betritt müde seine freudlose Wohnung. Ein ansehnliches Häuflein Postsendungen erwartet ihn. Die Durchsicht muß [S. 162] warten, bis er ausgeruht ist. Aber die Depeschen. Er öffnet eine, liest, erschrickt, öffnet die andern und zuckt zusammen.

In diesem Augenblick schellt es. Er geht selbst und erfährt jetzt, daß es höchste Zeit ist.

Der Zug steht schon zur Abfahrt bereit, als er den Bahnhof keuchend erreicht. Wird er genügend Geld bei sich haben? Die Preise schnellen von Tag zu Tag in die Höhe. Ein Bruchteil fehlt, und der Mann am Schalter will ihm die Karte nicht aushändigen.

»Bitte, ich muß zu einer Sterbenden.«

Der Mann hinter dem Glas zuckt bedauernd die Schultern. Eine unsagbare Bitterkeit steigt in Harro auf. Zurück? Dann erreicht er den Zug nicht mehr. Und wer leiht in dieser Zeit einem Fremden?

»Meine Frau!« stammelt er.

»Ihre Frau?« fragt eine Stimme hinter ihm, und ein Herr erbietet sich, ihm auszuhelfen. Nie sind Dankesworte inniger gewesen.

Mit schmerzendem Kopfe sitzt er im Zuge und schließt die Augen. O dieses langsame Kreisen der Räder! O diese sich endlos hinzögernden Aufenthalte! Er muß sie noch lebend treffen, er muß! Wenn es wahr ist, daß es eine Fernwirkung der Gedanken gibt, so wird sein Wille das entrinnende Leben aufhalten können. Oder ist es vielleicht so, daß jene in übertriebener Ängstlichkeit ihre Nachrichten sandten? Eine Ahnung sagt ihm, daß er Grund habe, sich zu eilen.

Hätte er doch Marfa erhört und sie mit sich genommen, als sie ihn darum bat! Dann wäre ihr dies nicht widerfahren. O über diese kleinliche Art, die wägt, mißt und zählt und dabei das Eigentliche übersieht!

Leise fällt der Schnee. Zu beiden Seiten des Bahndamms wachsen die Schanzen. Und die Nacht dunkelt. Um alles in der Welt, man wird doch nicht einschneien! Auf der nächsten Haltestelle ruft Harro den Zugleiter an. »Werden wir wohl durchkommen?«

Der Mann gibt eine verheißende Zusicherung. Wieder weiter, wieder die Kreuz-und-Quer-Hetze der Gedanken. Wie sich die Stunden dehnen! Harro blickt unaufhörlich nach der Uhr. Jetzt ist der trennende Zwischenraum nur noch zwanzig Kilometer weit, [S. 163] jetzt fünfzehn, jetzt zwölf. Er erhebt sich und holt den Koffer aus dem Netz. Da steht der Zug mitten auf freiem Felde, nein, rechts und links wachsen die Wände eines Hohlweges auf. Die Zugbeamten rennen hin und her, kostbare Zeit verstreicht. Endlich der Bescheid, daß man unrettbar festgefahren und ein Aufenthalt von mehreren Stunden unvermeidlich sei.

Äfft ihn das Schicksal auf diese Art? Was nun beginnen? Harro kennt sich in der Gegend aus. Drüben flimmern Lichter. Ein Gutshof. Er schultert sein Gepäck und geht querfeldein, versinkt in schneegefüllte Gräben, wird von Gebüsch zerfegt, gleitet, erhebt sich wieder und kommt schweißgebadet an sein Ziel.

Als er, das aufwartende Mädchen überholend, in den Familienkreis tritt, der um die Lampe sitzt, starren ihn alle wie einen Unterweltlichen an. Sein Aussehen muß erschreckend wirken.

Er erklärt stammelnd dem Hausherrn seine Umstände und bittet um einen Schlitten.

Aber natürlich. Er ist ja bekannt, Bruder des Kornkaufherrn Treß und nennenswerter Politiker. Es wird sogleich angespannt. Harro beantwortet die teilnehmenden Fragen der Hausfrau wie im Traum, schüttet etwas Heißes herab wie im Traum, läßt sich in Pelze und Decken hüllen, hört gutmeinende Wünsche hinter sich dreinrufen.

Die Schellen läuten durch die Winternacht, und der Schnee fällt. Die Pferde haben schwere Arbeit, sie dampfen bald, und der Dunst zieht wie eine Wolke vor den knirschenden Kufen her. Neben dem Kutschersitz flackert das Licht einer Laterne. Wie seltsam rot das leuchtet!

Schwebt dort nicht ein Seelchen vor ihm hin? Er müht sich ihm nach und kann es nicht erreichen, er streckt stöhnend die Hand aus, und immer wieder entgleitet es ihm. Er bittet: Warte noch ein Weilchen! Doch es läuft unfaßbar vor ihm her, weiter, immer weiter.

Harro fährt aus dem Schlaf auf. »Kutscher, haben wir noch weit?«

»Eine gute halbe Stunde, Herr.«

[S. 164]

Ach, dieser endlose Raum! Wie er sie das erstemal sah drunten am Hafen, vereinsamt, verstört, von Räuberhänden ausgeplündert, nichts besitzend als ein geborstenes Leben. Wie er mit ihr auf Heilisoe weilte; sie aufglühend in der Glut hingebenden Frauentums, er nehmend und immer nehmend und voll dankbarer Vorsätze! Wie er sie in seine Arme schloß bei dem Wiedersehen nach jener schreckvollen Nacht, die ihr das Kind und die Hoffnung auf Mutterschaft raubte. Von jetzt an will ich ihr mehr gehören, ihr besseren Ersatz bieten. Vorsätze, nichts als Vorsätze. O dieses verfluchte Parteitreiben! Marfa, vergib!

»Kutscher, geben die Pferde nicht noch mehr her?«

»Herr, wir fahren schnell, sind auch gleich da.«

Endlich die Lichter der Stadt, die ersten Häuser, dunkle Straßen, bernsteingelbe Lichter hinter den Fenstern. Die Schellen läuten, der Schnee fällt.

Der Treßhof. Droben gedämpftes Licht.

Er hat sich längst ausgeschält und stürzt hinauf. Keiner begegnet ihm. Er tritt in das Zimmer. Güldenfey richtet sich auf und hebt die Hand.

Auf dem Lager zwei blasse Hände, die ruhen; ein lächelndes Gesicht zwischen dunklen Flechten. Er weiß alles.

»O Marfa!«


Der Mord des Gewissens

Malte saß an seinem Schreibtisch, schrieb Ziffern zu Summen, die keiner, ohne zu stocken, lesen konnte, legte den Stift aus der Hand und sann. Er erwartete Häberle zum Bericht, aber es war ihm lieb, daß er noch aufgehalten wurde.

Die Zeit geriet ins Gleiten, und mit ihr glitt alles, aber auch alles, was Menschen, die geordneten Zeiten entwachsen waren, als unumstößlich gegolten hatte: Geld, Verdienst, Vermögen, Treue, Vertrauen.

Das Leben erschien von jeder Wirklichkeit losgelöst. Die kühnste Phantasie hätte den Zustand nicht ersinnen können, der jetzt eingetreten [S. 165] war. Das ganze Volk, die gesamte Menschheit schien von unbekanntem Gift durchseucht zu sein. Wo nahm es seinen Ausgang? Wer spielte auf zu dieser Orgie, die Verzweiflung und Hybris feierten?

Waren es die großen Zerstörer, die sich die Aufbauer nannten? Nun, wahrlich, das Heil Deutschlands konnte von jenen nicht kommen. Jeder Tag vergrößerte die Strecke derer, die am Wege fielen; Frauen sanken, von Hunger und Entbehrung erschöpft, auf der Straße um; Heilstätten verschlossen den Siechen ihre Türen; man wußte nicht, wie man die Toten beerdigen sollte. Man fluchte dem Mammon und hetzte doch wie gebannt hinter ihm drein.

Immer wieder tauchte in Maltes Erinnerung die Zusammenkunft mit Usadel auf. Man müßte das Gewissen totschlagen! War je ein solches Wort im Beratungzimmer der Treß gesprochen worden? Nun erlebte man diesen frevelhaften Mord und schwieg und tat mit.

In diesem Augenblick trat Häberle ein. Sein Gesicht trug die Spuren einer Erregung. Sie erledigten die täglichen Posteingänge, soweit Malte es für nötig hielt.

»Hatten Sie Ärger, Herr Häberle?«

Der Prokurist zögerte, zu antworten, dann faßte er sich zusammen. »Es ist nicht der Rede wert, Herr Konsul«, sagte er. »Ich habe auf meine Verantwortung den Lewrenz entlassen. Es ist festgestellt, daß der Jüngling auf eigne Hand spekulierte. Verschiedene andre auch, doch er vor allen. Ein Beispiel zu geben war nötig.«

»Lewrenz war ein tüchtiger Arbeiter«, sagte Malte nachdenklich.

»Gewiß, Herr Konsul, einer von denen, die gut schaffen und toll genießen. Da es zu letzterm nie langt, wird spekuliert, und geht dies einmal fehl ...« Eine Gebärde vollendete und ließ unabsehbare Möglichkeiten ahnen.

»Sie haben wohl recht getan«, sagte Malte. »Und doch ... diese Zeit ... Sagen Sie, Herr Häberle, spekulieren Sie nicht?«

»Ich, Herr Konsul?« Häberle trat einen Schritt zurück. »Ich halte das für unvereinbar mit meiner Stellung.«

[S. 166]

Malte begütigte ihn schnell, er wußte, daß Häberle strenge Grundsätze hatte, das war bei einem Beamten schätzenswert. Jedoch ... Der Zweifel stand merkbar hinter Maltes Worten. »Sie sind doch ein tüchtiger Kaufmann, Herr Häberle.«

»In dieser Zeit aber höre ich auf die Stimme hier innen, Herr Konsul. Geld bedeutet kein Abgelten der Arbeit mehr und erlaubt vor allem kein Umsetzen toter Werte in ideelle. Wo das aufhört, fängt der Abgrund an.«

Malte sah ihn scheu an, sein Blick flüchtete von dem redlichen Gesicht des Mannes zu irgendeinem Gegenstand im Zimmer. Ein unbehagliches Gefühl quälte ihn. »Bitte, setzen Sie sich doch. Wie denken Sie sich den Ausgang?«

»Sie erlauben mir, meine besondere Meinung zu äußern, Herr Konsul. Nun, unsre Verbindung mit dem Ring gefällt mir nicht. Uns ist eine böse Rolle von jenem zuerteilt. Dieses Lauern von einer Ernte auf die andre, in dem wir den ehrlichen Makler abgeben, ist ein Verbrechen. Tausende können nicht das Geld für Zichorie, Gerstenkaffee oder gar Brot aufbringen, und die Getreidebörse spielt mit dem Allernotwendigsten. Daß sich die Menschen dies Spiel internationaler Federstriche gefallen lassen, zeugt von ihrer Verdummung, und auch das, daß sie den Bauern dafür hassen. Als ob der schuld hätte!«

»Sie sprechen sehr kühn«, sagte Malte. »Wollen Sie nicht mehr mitmachen?«

»Ich diene dem Hause Treß«, entgegnete Häberle einfach. »Und weil ich das aufrichtig tue, so würde ich es wie keiner bedauern, wenn die Beteiligung an diesem Spiel uns unglücklich machen sollte. Besser, sich zeitig zurückziehen, als plötzlich ausgeschieden werden.«

Malte horchte auf, als Häberle von einer Handlung berichtete, die dem großen Ring angeschlossen gewesen sei und die man unter einem nichtigen Vorwand abgelöst hatte. Er spürte alle Bedenken, die ihn nachts umtrieben, sich regen. Doch nur einen Augenblick gewann der nächtliche Spuk über ihn Gewalt. Balzer Treß! dachte er. Überhaupt wir Treß! Verzagtheit ist der Vorläufer der Niederlage. [S. 167] Er straffte seine Gestalt. »Es besteht wirklich kein Grund zur Sorge«, sagte er fest. »Sie sind ein Schwarzseher, lieber Häberle. Geben Sie acht: wenn Sie aus Ihrem Urlaub zurückkommen, werden Sie anders denken.«

Häberle dankte und erhob sich. »Ich mußte meine Bedenken aussprechen«, sagte er. »Im übrigen werde ich meine Pflicht tun wie bisher.«

Malte blickte lange auf die Tür, die sich hinter dem Treuen geschlossen hatte. Die Gedanken zerrten an ihm. Da hörte er über sich den leichten Schritt Fraukes. Er tauchte die Feder ein, um den angefangenen Brief zu beenden. Es gab kein Zurück mehr.


»Kind,« sagte Ose zu Güldenfey, »drunten bei Mellins sind sie in Aufregung. Es ist irgend etwas bei ihrem Mariechen nicht in Ordnung. Wolltest du nicht hören, wo es fehlt?«

Mellin erhob sich aus seinem Stuhl, als Güldenfey eintrat. Er strich unaufhörlich seinen langen Bart, was bei ihm ein Zeichen war, daß er den Sturm seines Inneren besänftigen wolle.

Frau Mellin kam herbei und nahm Strickstrumpf und Wollknäuel vom Sofa, um für den Gast Platz zu schaffen. Also Fräulein Fink hatte es oben schon erzählt. Es war ihr lieb, daß das gnädige Fräulein kam, so hatte sie doch eine Bundesgenossin gegen den Mann.

Mariechen war krank. Ein verjährtes Leiden war zum Ausbruch gekommen; der Arzt verlangte schnelle Überführung in das Krankenhaus. Es war ein gefährlicher Eingriff nötig. Die alte Frau weinte in ihre Schürze.

»Aber was ist denn dabei zu bedenken?« fragte Güldenfey. »Trauen Sie den Ärzten nicht, Mellin?«

Mellin winkte abwehrend mit beiden Händen, und seine Frau fuhr jammernd fort: »Es ist wegen des Geldes«, sagte sie. »Mariechens Mann kann es nicht beschaffen. Ich bitte Sie, gnä' Fräulein, ein Beamter, und in dieser Zeit! Und nun hat er das alles geschrieben und uns vorgestellt, und Mellin hat doch gespart, und es liegt auf der Kasse.«

[S. 168]

»Aber Mellin, bedenken Sie doch!« sagte Güldenfey. »Es handelt sich ja um Ihre Marie und scheint doch gefährlich zu sein.«

»Gnädig Fräulein,« sagte der alte Packmeister, »die Sache ist nicht mit einem Wort abgetan. Für meine Marie geb' ich alles, was ich habe, auch meine Glieder und mein Leben, wenn es not tut. Solche Ausgaben wie diese gehören aber zu den laufenden, und dafür muß der Mann sorgen. Ich habe für unser Kind gespart, daß es, wenn wir tot sind, Vermögen besitzt. Das ist mein Stolz, dafür hab' ich gelebt, und das wird mich im Tode trösten, daß unser Mariechen es einmal besser hat als ich.«

Was sollte Güldenfey darauf entgegnen? Sie kannte den Stolz Mellins. Deshalb hatte der Beamte um das Mädchen angehalten, weil er wußte, daß es in bescheidenem Sinne vermögend war; deshalb hatte Mellin die genehme Werbung zögernd angenommen, weil er wußte, daß die Ersparnis sein Kind in den Augen der Freier erhöhte. O, sie verstand ihn. Aber zugleich fühlte sie die Augen der Frau hilfewerbend auf sich gerichtet.

Sie trat an den Glasschrank, der die Wunder ihrer Kindheit barg: die verblaßten Ostereier mit den farbigen Seidenbändern, die gläsernen Hirsche und die zierlichen Schweizerhäuschen. »Mellin,« sagte sie, »wissen Sie noch, wie wir Kinder vor diesen herrlichen Dingen standen und uns freuten? Glauben Sie, es ist besser, Mariechen freut sich an diesem, wenn sie gesund wieder einmal herkommt, als daß sie siech wird oder gar der Krankheit erliegt?«

»Gott bewahr' uns!« rief die Frau.

Mellin blickte Güldenfey unsicher an. Seine Hand fuhr erregt durch den Bart. Jetzt machte er eine energische Bewegung. »Gut!« sagte er fast heftig. »Das Geld wird abgehoben.«

Warum erschrak Güldenfey plötzlich? Das Wort traf sie wie ein Stoß. Oder schlug sie ein jäh auftauchender Gedanke? Es gab so seltsam-fürchterliche Überraschungen in dieser Zeit. Wie kam ihr die Erinnerung an Frau von Ebel in diesem Augenblick? Das war doch ein ganz andrer Fall.

Sie war dem Oberst Helf gestern begegnet. Nein, er trug keine Milchkanne, aber er war sehr niedergeschlagen gewesen.

[S. 169]

»Sie haben eine so sichere Art, wohlzutun«, hatte er nach einigen Worten gesagt. »Wollen Sie einer Bedrängten nicht helfen? Denken Sie, die arme Frau von Ebel! Man hat sie wegen ihres leidenden Zustandes in die Schweiz geschickt. Als sie nach etlichen Wochen abreisen will, sind die Fahrpreise derart gestiegen, daß das Geld für die Heimfahrt nicht ausreicht. Freundliche Schweizer leihen es ihr. Als sie nach einer Woche die Schuld abtragen will, ist der Marksturz so furchtbar geworden, daß sie ihr ganzes Vermögen gebraucht, um ihre Gläubiger zu befriedigen. Die arme Frau ist völlig vernichtet, denn sie weiß nicht, von was sie leben soll.«

Güldenfey war zu ihr gegangen. Sie hatte eine Verzweifelte gefunden. Warum mußte sie jetzt daran denken?

»Hören Sie, Mellin,« sagte sie, »bevor Sie das Geld abheben, sprechen Sie mit Herrn Konsul. Es gibt jetzt so eigne Bestimmungen.«

Mellin versprach es, und Güldenfey ging beruhigt nach oben.

Doch als am nächsten Morgen Mellin einen Blick in den Geschäftsraum schickte und das unruhige Treiben derer sah, die für nichts Zeit zu haben schienen, kehrte er um und betrat die Sparkasse.

Menschen aller Art drängten sich um die Schalter: dürftige Frauen in Umschlagetüchern; ergraute Herren in fadenscheinigen Röcken, in deren Aufschlägen das vertragene Ordensbändchen prangte; Männer, die ein Tuch um den Hals geschlungen hatten. Die Schreiber an den Pulten blätterten in gewaltigen Büchern, stießen die Federn in die Tintenfässer, daß es spritzte, und schrieben lange Zahlenreihen nieder. Der Mann am Kassenschrank trug eine Perücke über dem spitzen Gesicht; hinter ihm saßen einige Leute, die schmutzige Scheine zählten und bündelten. Eine schwerdunstige Luftschicht füllte den Raum.

»Wieviel?« fragte der Mensch, dem Mellin das Sparbuch reichte.

Mellin nannte die Summe. Der Mensch blickte in das Buch, sah den Langbärtigen an und begann in seinen Registern zu blättern.

»Wollen Sie nicht alles abheben?« fragte er.

Mellin schüttelte den Kopf: »So viel, wie ich sagte.«

»Es hat gar keinen Zweck«, sagte der Schreiber. »Morgen sind Sie doch wieder hier, und wir haben doppelte Arbeit.«

[S. 170]

»Ich dächte, das sei Ihr Amt«, sagte Mellin. »Übrigens werde ich morgen nicht hier sein.«

Der Schreiber hob die Schultern und schrieb. Mellin reihte sich in die Kette derer, die sich zur Kasse schoben. Es dauerte lange, bis er darankam; endlich stand er vor dem Zahltisch. Die brauenlosen Augen des Kassierers musterten ihn flüchtig, dann händigte er ihm Buch und Scheine aus.

Mellin verwahrte das Geld in seiner Tasche und trat tief Atem schöpfend ins Freie. Eigentlich dauerten sie ihn, diese armen Leute, die Tag für Tag von ihren Tischen aus den Andrängenden das Geld zuschoben. Ein unbefriedigender Beruf. Er schritt langsam die Hauptstraße hinab und blieb vor seinem Tabakgeschäft stehen. Der Pfeifenknaster ging auf die Neige, es wäre gut, den Vorrat zu ergänzen. Er trat ein und forderte seine Sorte.

Als der Verkäufer das Paket vor ihn hinlegte, nannte er eine Summe, die Mellin stutzig machte. Er hielt die Brieftasche geöffnet in der Hand und sagte, daß er mit dem Preise nicht gerechnet habe und sich erst mit Geld versehen müsse.

»Aber Sie haben ja genügend bei sich«, sagte der Verkäufer, der einen Blick in die Tasche getan hatte.

»Sie irren sich,« entgegnete Mellin; »das ist Vermögen, das ich eben von der Sparkasse geholt habe.«

Der Verkäufer sah ihn verwundert an, und Mellin verließ den Laden, ohne den Tabak mitzunehmen. Nach wenigen Schritten traf er seinen Freund, den Zimmermeister Baß. Sie gingen miteinander und sprachen von der elenden Zeit. Mellin erzählte, was er vorhabe und was ihm soeben begegnet war.

»Ja, was verstehst du eigentlich unter Vermögen?« fragte ihn Baß. »Geld ist Geld.«

Mellin erstaunte über des Freundes Auffassung, er erklärte ihm seinen Fall noch einmal. »Es ist doch ein Unterschied zwischen dem Papier, das man heute umherwirft, und dem Geld, das ich mir in dreißig Jahren sauer erspart und bei der städtischen Kasse zurückgelegt habe.«

»Aber dein Geld ist dir doch in den heutigen Papieren zurückgezahlt.«

[S. 171]

Es nützte nicht, daß Baß ihm die Lage erklärte; Mellin hielt an seiner Meinung fest. Als sie sich trennten, sah der Meister dem Freunde mit einem mitleidigen Blick nach. Mellin ging nach Hause, verschloß die Brieftasche in das oberste Schubfach der Kommode und zog den Straßenrock aus. Als er den Arm in den Werktagkittel steckte, hielt er inne und sann nach.

Vielleicht war es doch besser, die Angelegenheit sofort zu ergründen, als sich mit den quälenden Gedanken herumzuschlagen. Er zog den Rock wieder an, steckte das Geld zu sich und begab sich zur Kasse.

Der Mensch, der ihm geraten, den vollen Betrag abzuheben, stieß bei seinem Eintritt seinen Pultnachbar an. »Nun, Sie haben nicht einmal bis morgen gewartet«, sagte er, als Mellin ihm nahe kam. »Ich wußte es ja.«

Mellin antwortete nicht. Was ging ihn der vorlaute Mensch an? Er trat zur Kasse, wo der Spitzgesichtige die Geldscheinbündel häufte. »Ich bitte um Auskunft«, sagte er. »Sie haben mir soeben Papiergeld ausbezahlt, für das man mir ein Tabakpaket anbot. Meine Einzahlungen bestanden in gutem, ehrlich verdientem Geld. Ich verlange das wieder, was ich gab: mein Geld.«

Die nackten Augen sahen ihn kalt an. »Zeigen Sie mir das Buch. So, hier steht die Einzahlung fünfundzwanzigtausend, Sie wollten zehntausend, wie? Haben Sie die erhalten oder nicht?«

»Aber mein Geld ist ein Haus wert, euer Geld ein paar Pfund Tabak.«

»Darüber hab' ich nicht zu befinden«, erklärte der Perückenträger.

»Sie sind hier noch nicht lange angestellt,« sagte Mellin, »der Vorgänger kannte mich. Wo ist er? Er soll mir bezeugen, daß ich richtiges Geld einzahlte!«

»Ist überflüssig. Die Zeiten der Einzahlung ersehen wir aus dem Buche. Halten Sie uns nicht auf. Es sind noch andre da, die abgefertigt werden sollen.«

Mellins Gesicht färbte eine Röte. »Behandelt man auf diese Art alte Bürger dieser Stadt?« rief er. »Ich weiche nicht vom Fleck, bis ich mein richtiges Geld erhalten habe.«

[S. 172]

Der Kassierer hob die Schultern und wandte sich dem nächsten Wartenden zu.

»Bitte, ich bin noch nicht abgefertigt«, rief Mellin.

Jetzt wurde auch das Spitzgesicht heftig, und maßlos schalt er auf die Menschen, die seine Zeit stehlen.

Mellins Hand strich den langen Bart. »Begeben Sie sich, Herr«, sagte er hart. »Wenn Sie sich beklagen, daß man Ihre Zeit stiehlt, so vergessen Sie nicht, daß wir hier allesamt Bestohlene sind.«

»Beamtenbeleidigung!« sagte der Kassierer. »Mende, laufen Sie hinüber aufs Polizeibureau. Der Mann muß verhaftet werden.«

Unter denen, die der Abfertigung harrten, erhob sich ein Murren.

Mellin reckte sich in der Brust. »Verhaften? Mich, seit zweiundzwanzig Jahren in der Firma Treß als Packmeister beschäftigt, unbescholten, als Schöffe wiederholt tätig gewesen, vor Gericht als vereidigter Sachverständiger gestanden, desgleichen ehrenamtlich in der Gewerbekammer, im neunundsechzigsten Regiment bis zum Sergeanten gedient — mich wollen Sie verhaften lassen, weil ich fordere, was mir gehört?« Er nahm die Scheine und warf sie auf das Zahlbrett, das Buch daneben. »Hier, nehmen Sie zurück, sofort zurück! Ich will Ihr Geld nicht, ich verlange das meine. Stellen Sie den alten Stand wieder her. Mit Ihnen will ich nichts mehr zu schaffen haben, der Sie nach der Polizei schreien, sobald einer die Dinge beim rechten Namen nennt.«

Man erkannte, mit dem Manne war nicht zu scherzen; seine Fäuste waren wie Schmiedehämmer, und die andern ergriffen für ihn Partei. Die Polizei aber ...! Man beschwichtigte ihn am besten, indem man ihm den Willen tat.

Mellin steckte das Buch in die Brusttasche und verließ das Rathaus. Er ging über den Markt und trat in die Bank, wo er ohne weitere Fragen bis zu Herrn Häberle vordrang.

Häberle sah flüchtig auf, als Mellin zu ihm trat. »Einen Augenblick, lieber Mellin!«

Endlich war Häberle bereit. »Nun, Mellin?« Er rieb die arbeitmüden Augen. Was fehlte dem Alten? Er stand da, zitternd, bleich, [S. 173] verstört. Er wies auf den nächsten Stuhl. »Setzen Sie sich doch, Mellin. Was ist denn geschehen? Sie schauen ja aus ...«

Mellin, der stets auf Schicklichkeit Bedachte, der sich nie in Gegenwart Höherstehender gesetzt haben würde, wankte fast auf den Stuhl zu und ließ sich haltlos fallen. »Herr Häberle,« sagte er jämmerlich wie ein Kind, »helfen Sie mir doch. Man will mir drüben im Rathaus weismachen, daß ich umsonst gearbeitet habe.«

Es bedurfte großer Langmut, um von dem verstörten Manne den Sachverhalt zu erfahren. Häberle war erschüttert. Solche Fälle wiederholten sich täglich, die Verzweiflungausbrüche der Verratenen, Betrogenen brandeten mit wilder Gewalt auch wider ihn. Es gehörten Nerven besonderer Art dazu, um dem standzuhalten. Und nun auch dieser Brave, dem Ehrenhaftigkeit die tägliche Speise war! Und er sollte ihm die Gewißheit bringen. »Lieber Mellin,« sagte er milde und legte seine Hand auf ihn, als müsse er den Anprall seiner Worte lindern, »ich kann nur raten, heben Sie sogleich Ihr Geld ab und bringen Sie es her; ich will sehen, was noch mit ihm zu beginnen ist.«

»Aber sie geben mir doch andres Geld, nicht meins«, beharrte Mellin. »Ich verlange mein Geld zurück.«

Es kostete Häberle unbeschreibliche Mühe, das rechte Wort zu finden. Er setzte ihm so zart wie möglich auseinander, wie alles gekommen, daß alle Ersparnisse so gut wie verloren seien. Der einzige Trost sei, daß alle unter dies Verhängnis fielen.

»Sie wollen mir also die Behauptung des Fuchses dort drüben bestätigen, daß alles verloren ist?«

Häberle nickte.

Mit einem Ruck erhob sich Mellin. »Verzeihen Sie, Herr Häberle, ich habe alle Hochachtung vor Ihnen, doch das glaub' ich Ihnen nicht; nein, nein, das glaub' ich nicht. Das kann nicht sein. Ich darf wohl Herrn Konsul sprechen.« Seine Stimme splitterte wie Glas.

»Lieber Mellin, Herr Konsul ist beschäftigt. Er kann nur wiederholen, was ich gesagt ...«

»Herr Häberle, ich bin im Dienste des Hauses grau geworden ...«

[S. 174]

»Kommen Sie«, sagte Häberle. Er war aufgestanden und pochte schon an die Tür des Chefs.

Der gleiche Eindruck auf Malte, die gleichen Worte Mellins. Häberle gab seine Erklärungen. Maltes Blicke flohen wieder dies aschfarbene Gesicht, aus dessen Höhlen die blutunterlaufenen Augen zu quellen schienen. Diese Augen waren flehend und drohend zugleich auf ihn geheftet, schienen zu betteln und anzuklagen, waren Richter und Henker. Das Urteil konnte nur eins sein.

»Ihre Tochter ist erkrankt?« begann Malte, als die beiden schwiegen. Seine Stimme klang unwirklich, heiser. »Sie sollen keine Sorge um sie haben, Mellin, ich helfe Ihnen; die Angelegenheit ordne ich.«

Mellins Hand machte eine Bewegung, als schiebe sie etwas von ihm fort. »Herr Konsul ist sehr gütig, aber, Verzeihung, darum handelt es sich für mich im Augenblick nicht. Wollen Herr Konsul mir kurz und bündig sagen, ob meine Ersparnisse verloren sind oder nicht?«

»Ich fürchte, ja, Mellin.«

Es war gesagt. Was halfen nun noch Zweifel und Zögern! Mellin wendete ein paarmal die Mütze, die er in den Händen hielt, seine Blicke irrten durch den Raum. Das Schweigen war fürchterlich. »Danke!« sagte er und wandte sich um.

Er ging durch die Straßen wie ein Trunkener. In dieser Zeit, die aller Menschen Gedanken in ihren Fängen hielt, fiel der Anblick des verstörten Mannes doch so auf, daß sich viele nach ihm umwandten. Man kannte den Packmeister, man grüßte ihn. Er dankte nicht und sah keinen an. Hatte er getrunken? Er trug die Mütze schief im Nacken.

Telge, der den Wagen wusch, zeigte ein verwundertes Gesicht, als Mellin in den Hof wankte. Er streifte die Ärmel herab und ging auf ihn zu, wagte aber keine Frage, als er genauer in dies zerpflügte Gesicht blickte. Er ergriff Mellins Arm und leitete ihn die Treppe zu seiner Wohnung nieder. Frau Mellin erschien in der Küchentür, sie hatte einen Vorwurf auf den Lippen, das Essen werde kalt; doch auch ihr erstarb das Wort im Munde.

[S. 175]

Mellin fiel auf einen Stuhl. Sie wollten wissen, was geschehen sei. Ihre Angst entriß ihn endlich seiner Benommenheit.

»Mariechen muß sterben«, sagte er heiser. »Ich kann das Geld nicht schaffen, es ist alles verloren!«

Allmählich kam es in abgerissenen Erklärungen aus ihm heraus, was geschehen war. Telge redete in kräftigen Worten, die Frau rang die Hände.

Mellin saß stumm da. Erst als sie sich um ihn mühten, fand er die Sprache wieder. Ganz verändert wie ein klagendes Kind begann er zu reden. »Laßt doch, laßt! Ich passe nicht mehr in die Welt. Ich bin groß geworden zu einer Zeit, in der es hieß: Mit Gott fang an, mit Gott hör' auf; da man uns lehrte, daß es Gut und Böse gäbe, daß man das eine üben und das andre hassen müsse. Heute gilt nur noch eins: der Götze, die Gier, der Mammon; und wer ihm nicht opfert, der ist verloren. Ich tauge nicht mehr, ich gehe weg, mache Platz für die, die klüger sind als ich, der Dumme, der noch an Gut und Böse glaubt.«

»Mann, um Gottes willen!« rief die Frau. »Versündige dich nicht!«

Er sah sie aus leeren Augen an. Plötzlich erhob er sich, seine verronnene Kraft schien in den schlaffen Körper zurückzuströmen und ihn zu straffen. Er hob drohend die Hand. »Aber ehe ich gehe, verfluche ich das, was uns soweit gebracht hat. Ich verfluche die Schurken, die die Schätze der Erde an sich reißen, um die Beraubten zu knechten. Ich verfluche die Spekulanten, die uns Brot und Rock verteuern, damit sie sich mit dem Verdienst mästen. Und Fluch, dreimal Fluch auf die, die es zugelassen haben, daß der Fleißige um seine Spargroschen geprellt wird und im Alter verkommen muß. Ist das sozial, dann verflucht dieser Gedanke, der nichts als Schwindel ist!«

Seine Stimme war wie ein drohender tierischer Laut aus Urwäldern, sein ganzes Gebaren glich einem schrecklichen Brand, dessen Flammen der Sturm jagt. Telge und die Frau hingen sich erschreckt an ihn, suchten ihn zu beruhigen. Endlich sank er erschöpft zusammen.

[S. 176]


Das Gerücht lief um, der Packmeister sei fort. Keiner wußte, wo er geblieben war, aber jeder dachte bei sich das Ärgste und wagte es doch nicht laut werden zu lassen. Frau Mellin saß weinend in ihrer Stube: die Sorge um ihr krankes Kind, und nun der Mann!

Er hatte verweigert, zu essen und zu trinken, er hatte in dumpfem Brüten dagesessen. Als sie von einem kurzen Gang heimkehrte, war er verschwunden. Wohin? Telge hatte die Speicher und den Bodenraum abgespürt. Bei ihm stand es fest: Mellin hatte sich ein Leid angetan. Aber sein Suchen war vergebens gewesen, nirgendwo eine Spur. Man fragte, aber niemand wußte um den Vermißten.

Der Abend dunkelte herein, in Mellins Wohnung brannte während der ganzen Nacht das Licht: er kam nicht.

»Wir müssen gehen und ihn suchen«, erklärte Güldenfey am Morgen. »Sie, Telge, und wer frei ist. Ich gehe auch.«

Güldenfey suchte hilflos; sie fürchtete sich vor dem Finden, doch es mußte sein. Der Kirchenhof von St. Niklas mit seinen versteckten Winkeln neben den winzigen Häuschen, die ganz in Stille gebettet waren und um die immer ein dumpfes Dunkel war. Aber die helle Frühlingssonne leuchtete in jeden Winkel, und der Märzenwind blies hinein, und der Turm trug seine Krone aus feinstem Licht. Vielleicht der Räucherboden in Sankt Johannes! In der unermeßlichen Höhe des Dachraumes konnte sich verbergen, wer dem Leben abhold war, und die spähenden alten Frauen wußten vieles. Also dorthin!

Aber Friedchen Waterström wußte von nichts, und die andern hatten Mellin nicht gesehen. Sie standen jammernd, und Güldenfey mußte immer das gleiche wiederholen. Ja, diese furchtbare Zeit! Keiner konnte wissen, wie er noch enden würde. Dann fiel ein Wort: Der Hafen. Natürlich, der Hafen!

Güldenfey ging. Als sie an der Mauer vorüberschritt, hinter der ihr vergessener Garten lag, löste ihre Angst sich in Tränen. Welche Hand würde nun sorgsam in ihm walten? Auf den Kais standen Fischer, die die Hände in ihre weiten Hosentaschen vergruben. Sie fragte, und die Männer gaben dürftigen Bescheid. Nein, sie hatten keinen gesehen. Jawohl, sie kannten Mellin; wer würde den nicht [S. 177] kennen! Warum war er fortgegangen? Ach so! Ja, das konnte geschehen. Diesen Krippensetzern war nicht zu trauen. Jemand meinte, man müsse abwarten: nach drei Tagen kämen die Leichen ans Land.

Güldenfey langte um Mittag hoffnunglos zu Hause an. Sie schlich heimlich über den Hof, daß Frau Mellin sie nicht sähe, aber kaum, daß sie ein wenig gegessen, machte sie sich wieder auf den Weg. Wohin nun? In der Stadt suchte Telge. Es blieb ihr nur die Strecke gegen Westen zu, am Strand entlang.

Die kleinen Vorstadthäuser mit ihren Gärtchen lagen besonnt da. In den Bündeln welker Gräser zeigten sich jungfrische Halme, die ersten Maßliebchen waren da, und um die Stachelbeersträucher flimmerte es grün. Sollte es wirklich schon lenzen? Ach, wer konnte das glauben! Das Leben riß immer neue Lücken. Jetzt Mellin, und wer war der nächste?

Zur Schwedenschanze wollte Güldenfey, jawohl, zur Schwedenschanze. Wie eine Erleuchtung kam es über sie. Dort waren tiefe Schluchten, Gehölze und Erdfalten, und keiner kam um diese Zeit dahin. Das war so recht der Platz für Lebensflüchtige. Aber vielleicht konnte sie in einem der Häuschen nachfragen, ob man den einsam Gehenden gesehen hatte. Einer, der wie Mellin ging, fiel doch auf.

Sie trat in das nächste Haus ein und blieb im steingepflasterten Flur wartend stehen. Eine kleine Glocke lärmte unermüdlich durch das Haus. Eine Tür wurde geöffnet, eine Frau trat heraus. Güldenfey stockte das Wort: die vor ihr stand, war Frau Jobst. Sie erkannten einander zur gleichen Zeit, die Frau machte eine Bewegung, als wollte sie zurück, dann richtete sie sich kerzengerade.

»Frau Jobst?« sagte Güldenfey zaghaft und fast erschrocken. »O Himmel, wie hab' ich Sie gesucht und finde Sie nun, da ich Sie nicht suchte.«

Die andre sah sie abwartend an und erwiderte nichts. Das steigerte Güldenfeys Verlegenheit. »Sie wohnen hier. Darf ich wohl zu Ihnen eintreten?«

»Bemühen Sie sich nicht«, sagte die Frau und stellte sich abwehrend vor die Tür.

[S. 178]

»Ihr Mann —?«

»Den muß man auf dem Kirchhof suchen.«

»O! Und Ihr kleines Mädchen. Es war so lieb!«

»Meine Tochter ist nicht hier. Bemühen Sie sich nicht. Sie und wir haben nichts miteinander zu schaffen.« Sie sprach ruhig, aber jedes Wort bedeutete eine Absage.

Güldenfey trat einen kleinen Schritt vor. Sie streckte bittend eine Hand aus. »Ich weiß, mein Bruder Malte ... Er war ungerecht und hat Sie sehr verletzt. Ich konnte nicht dafür, es tat mir so leid. Ich wollte wieder gutmachen und suchte Sie. In der Sachsenvorstadt bin ich durch fast alle Häuser gegangen ... Es war so traurig, dieses vergebliche Suchen.«

»Es war gut«, sagte die Frau hart. »Ich wollte nicht gefunden sein. Ich beging eine Torheit, als ich zu Malte Treß ging ... Die Not ... Das ist nun vorbei.«

»Ach, das freut mich, daß Sie nicht mehr Not leiden«, sagte Güldenfey.

Die Frau strich mit einer undeutbaren Gebärde über ihre Stirn.

Güldenfey sah, sie war sauber gekleidet, doch die Dürftigkeit hatte ihren Rock gezeichnet. »Ich komme Ihnen heut nicht gelegen,« sagte sie, »und ich habe es auch eilig. Wie ich sagte, ich trat nur ein, um eine Frage zu tun. Doch nun, da ich weiß, wo Sie zu finden sind, darf ich —«

Die Hand, die schon einmal ins Leere gestreckt war, hob sich wieder, doch die Frau ließ sie wieder unbeachtet.

»Nein, Sie dürfen nicht«, sagte sie. »Kommen Sie nicht wieder, ich will es nicht. Ich will, daß das Vergangene vergessen wird. Würden Sie wiederkommen, so wäre das ein Grund, mich aus dieser Behausung ebenso zu verdrängen, wie es schon einmal geschah.«

Güldenfey war trostlos. Was wäre darauf noch zu sagen? »Begreifen Sie denn nicht, daß ich den Wunsch habe, Ihnen ein wenig zu helfen? Und daß dies Wiederfinden eine Fügung ist —?« Ihre Stimme zitterte und brach.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Ja, daß Sie Ihr Gewissen entlasten wollen, das versteh' ich. Nicht Sie, aber ...« Sie deutete nach [S. 179] der Stadt. »Doch ich will nichts annehmen, nichts, auch keine Freundlichkeit. Ich bin arm, und zufrieden, wenn man mich in Ruhe läßt. Sie sind reich. Wir passen nicht zueinander. Und nun ...« Sie machte eine Gebärde, die das Gespräch beenden sollte, und ergriff die Klinke.

»Ich will Sie gewiß nicht quälen«, sagte Güldenfey zart und voll verhaltener Traurigkeit. »Nein, wenn ich Ihnen weh tue ... Aber es könnte sein, daß auch ich einmal arm bin; nicht wahr, dann darf ich wiederkommen?«

Die Frau blickte sie starr und entwaffnet an. Güldenfey neigte den Kopf zum Gruß und ging. Die kleine Glocke läutete ungestüm hinter ihr drein.

Ihr Herz lag schwer wie Erz in ihrer Brust; sie wußte nicht, was sie vorhatte, und blieb einen Augenblick überlegend auf der Straße stehen. Ach ja, die Schwedenschanze!

Als sie dort ankam, stand die Sonne schon tief. Sie schritt in die Schluchten und Gänge, suchte mit den Augen und fühlte doch, daß ihre Seele weit von ihr fort war. Schälten sich dort nicht die Bäume unter dem Druck des brausenden Saftes? Hing es nicht im Birkengeäst wie eine Verheißung, und zogen nicht reihende Enten durch die Luft? Von fern kam der heisere Ruf der Reiher. Sie nahm das alles wie im Traum wahr. —

Dort! Güldenfey schrak zusammen. Dort unter dem Geäst niedriger Tannen, dicht an den Boden gedrückt, lag es dunkel und geballt. Ein Mensch? Nein, ein Bündel von irgend etwas Menschlichem, das ausgeworfen, verloren, vergessen sich hier verkrochen hatte. Sie blieb stehen, von Grauen geschüttelt. War er das? Sein langer Bart, seine Kleidung? Sie konnte nichts erkennen, denn vor ihren Augen bewegte sich ein Flimmerspiel.

Das Etwas rührte sich nicht. Der Reiherruf kam wieder vom Wasser her. Da erwachte Güldenfey, das Erbarmen war mächtiger als die Starre der Furcht. Sie trat näher. Ja, er war es. Leise rief sie: »Mellin!« Dann lauter, zuletzt wie in Angst: »Mellin!« Da rührte er sich.

Gottlob, er lebte. Und schon kniete sie neben ihm. Er hob den Kopf. O, dieses Gesicht! Der Tod hatte ihn nicht genommen, doch [S. 180] er mußte durch alle Grade des Sterbens gegangen sein und furchtbar gelitten haben.

»Mellin, was für Sorgen haben Sie uns bereitet!« sagte Güldenfey.

Er blickte sie abwesend an; nichts verriet, daß er sie erkannte.

»Aber jetzt ist alles gut, und wir gehen heim. Denken Sie doch an Ihre arme Frau! Können Sie sich aufrichten?«

»Nein!« Er schüttelte den Kopf, mühsam, wie heraufgestoßen klang seine Rede. »Ich will nicht mehr, ich mag nicht mehr. Lassen Sie mich doch umkommen.«

»Aber, Mellin!« Güldenfey wußte nicht, was sie sagte, sie dachte: nur auf ihn einreden, nur den Faden zerreißen, der ihn an das andre Ufer band. Und sie sprach von Mariechen und ihren Kindern; von der sorgenden Frau; sie sprach von ihm und dem Leben im Treßhof. Ach, was redete sie nur!

Sie wußte nicht, ob die Worte in den dunklen Grund seiner Seele fielen. Er hatte das Kinn auf die Brust gestützt, in Bart- und Haupthaar hafteten dürres Gezweig und grüne Baumnadeln, die Augen lagen blicklos wie versunken in ihren Gruben; aufgerissen klaffte der Rock.

»Mellin!« Ach, es war ganz gleichgiltig, was sie sagte. Aber das, was ihr die Worte eingab, war stärker als der Tod, dem er nachlief, das fand die irrende Seele und rief sie aus den Gefilden der Verzweiflung zurück. Sie sah es, er merkte auf, und dann kamen ihm die Tränen.

Durch die Dämmerung des zeitigen Frühlingsabends führte Güldenfey Mellin in den Treßhof zurück.


Das Konzert der Armen

Jörg also wollte kommen und spielen.

Alle, zu denen Güldenfey davon sprach, hatten abgeraten. Wie viele Künstler irrten von einer Stadt zur andern, zogen den schäbig gewordenen Frack an, lächelten, verneigten sich dankend, gaben ihr Bestes und zählten aus dem Ertrag nur so viel heraus, daß sie die [S. 181] Unterkunft und vielleicht noch die Weiterfahrt bezahlen konnten. Ihr Lächeln und Verneigen war nur die stumme Bitte: Laßt mich nicht verhungern! Doch satt wurden sie selten.

»Aber es ist ihm ja nicht um den Verdienst zu tun«, sagte Güldenfey zu Onkel Rolf, dem sie den Plan vorgetragen hatte, denn mit Malte, der mehr denn je in der Siedehitze der Geschäfte steckte, war davon nicht zu reden. »Bedenke doch, er will die Menschen erfreuen und beschenken!«

Onkel Rolfs Finger strich bedächtig das Kinn. Ein Künstler, der nicht verdienen wollte, war ein Unding. »Es hat jetzt keiner die Zeit, sich zerstreuen zu lassen«, entschied er. »Was macht ihr, wenn niemand erscheint?«

Ja, das war freilich zu erwägen. Am liebsten hätte Güldenfey allein gelauscht. Doch Jörg ...

Sie ging zu Klaus, der jetzt mit der Witwe verehelicht war und in der kleinen Villa an den Teichen nach flüchtigen Honigwochen und längeren Reisen das übliche Rentnerdasein dieser Zeit führte. Sein etwas mürrischer Rat war noch weniger tröstlich. Sie teilte ihre Besorgnisse Jörg mit.

Nach wenigen Tagen erhielt sie seine Antwort: er werde trotzdem kommen und das Cembalo mitbringen. Genaue Anweisungen waren beigefügt, und er bat Güldenfey, alles vorzubereiten. Güldenfeys Herz erglühte. Ja, das war Jörg! Und wie er es vorgeschlagen, so sollte es werden.

An einem Morgen trugen viele Straßenecken der Stadt eine gedruckte Bekanntmachung, zu der die Leute die Hälse aufreckten.

»Alle Armen und alle, die diese Zeit müde und traurig gemacht, ladet Jörg Treß zu einer ruhigen Feierstunde ein.« Zeit und Ort waren darunter bezeichnet.

Es ging ein Raunen durch die Stadt. Die Einladung lockte, begrenzte und schloß aus. »Schade!« sagte Frauke. »Ich hätte gern mitgemacht. Nun aber ...«

Malte verließ sein Haus, schritt über den Markt und las. Etwas in ihm empörte sich, aber er verschloß sich. Das da war keine ausgeklügelte Anpreisung, sondern ehrlich gemeint. —

[S. 182]

Der große Saal lag im Dunkel spärlichen Kerzenlichts, nur auf dem Chor vor der Orgel und auf der Erhöhung am andern Ende des Raumes war es hell. Hier stand ein Pult neben dem Cembalo. Es duftete nach Veilchen und frischem Grün. Lange vor dem Beginn stand Güldenfey, schlicht gekleidet, aber im Schmuck ihrer lichten Schönheit, an der Tür, die Gäste zu empfangen.

Sie kamen leise die weite Treppe herauf und traten scheu spähend an die Tür. Es war ziemlich dunkel darinnen, sah gar nicht nach den funkelnd prahlenden Sälen aus, in denen man festete und feierte; aber so war es gerade recht: eins sah nicht das andre. Man war keinen neugierigen Gafferblicken ausgesetzt, man fühlte sich allein mit den schweren Gedanken, die man am liebsten aus einem Dunkel in das andre trug, und konnte doch des Kommenden harren, dem man alle Sorgen preiszugeben entschlossen war.

»Ist hier das Konzert?«

Wie wußten sie nur, daß sie zu einem Konzert geladen waren? Davon hatte die Verkündigung doch nichts gesagt.

»Gewiß, gewiß; kommen Sie!«

Und Güldenfey führte sie ein und wies ihnen die Plätze an. In Scharen kamen sie! Wenn Onkel Rolf das gesehen hätte! Alte Mütterchen und gebückte Greise; Frauen im Schulterschal, die Schürze vorgebunden; Männer, die das Tuch um den mageren Hals geknotet trugen und denen ein wenig Armeleuteduft aus den Kleidern stieg; magere Gesichter, die in dem Dunkel sorgenvoller Nächte gebleicht waren, und gefaltete Stirnen, die den narbigen Mauern lange belagerter Städte glichen. Doch nicht die offen Gezeichneten kamen nur. Da waren auch die Rentner aus den kleinen Landhäusern, die ihre Öfen mit dem Sammelreisig heizten, das sie im Stadtwald schamhaft auflasen, und die auf den kleinen Blumenbeeten ihrer Gärten mühsam eine geringe Kartoffelernte hüteten. Da waren auch die Frauen, die das verjährte Festkleid, das ihnen kein Händler mehr abkaufte und das sie doch einst in Glanz und Schimmer getragen, aus dem Schrank genommen hatten, um sich für diesen Abend zu schmücken. Ihre Armut war nicht augenfällig; man mußte auf die Falten um die Augen, auf [S. 183] den eigentümlichen Zug ihres Lächelns achten, um die Wunde zu entdecken, die die zerknitterte Seide verbarg.

»O Herr Oberst, Sie auch!« rief Güldenfey.

Er führte seine Frau am Arm, der Kavalier einer vergangenen Zeit, dessen Gruß immer eine Huldigung war.

»Die Feierstunden sind rar«, antwortete Helf. »Man darf sich keine entgehen lassen.«

Zaghaft wie jemand, der heimlich unterschlüpfen will, erschien auch Frau von Ebel. Ihre Augen irrten an den andern vorüber: O, so viele Fremde! Aber Güldenfey empfing sie und leitete sie behütend an einen verborgenen Platz.

»Wieviel kostet es?« fragte eine dürftige Frau. Ihre Hand suchte emsig in der Tasche.

Güldenfey brauchte einen kleinen Aufwand an Worten, um sie zu überzeugen, daß wirklich nichts gefordert würde.

Der Saal war gefüllt, sie standen an den Wänden und in den Gängen und warteten geduldig. In dem schwachen Kerzenlicht fühlten sie sich schon in ausruhender Geborgenheit, und der Atem der Erwartung durchdrang den hohen Raum. Dann kam Jörg. Er trat nicht auf, sondern ging schlicht zum Pult und grüßte die Lauscher mit natürlicher Bewegung.

»Es freut mich, in meiner Vaterstadt zum erstenmal meine Kunst ausüben zu dürfen«, sagte er. »Aber diese Freude wäre nicht völlig, wenn ich Ihnen damit nicht ein Geschenk machen dürfte: ich möchte Sie ein wenig aus dem sorgenvollen Dasein führen.

Es gibt in Flandern alte Städte, um deren Dome und prächtige Gildehäuser immer eine leise Angst und Bangnis ist. So ist auch die große Stadt, die wir Zeit nennen, voll von Ängsten um unser Bestehen, und die meisten sagen, das ist die Wirklichkeit. Die Fieber unsers Blutes erregen uns so, daß wir den großen Pulsschlag des Ewigen nicht mehr vernehmen. Aber glauben Sie mir: das Wirken des Geistes ist allein die Wirklichkeit, und unsre Ängste, Bekümmernisse und Sorgen, das ist nur spukhafter Schein. Folgen Sie mir aus dem Scheinhaften in das wirkliche Leben, und Sie werden glücklich sein.«

[S. 184]

Das Cembalo sang in leisen silbernen Tönen, freundlich und heiter wie eine fröhliche Kinderstimme. Ist es wirklich nicht wahr, daß die Sorgen unsrer Tage und Nächte, denen alle diese willenlos überliefert sind, das Wirkliche darstellen? dachte Güldenfey. Liegt das wahre Leben doch jenseits des Täglichen, das mit seinen Geräuschen unser Blut beunruhigend füllt?

Sie blickte in die Gesichter der ihr zunächst Sitzenden; ihr schien es, als glätte sich alles, was ihre Züge verhärtet hatte. Sie hörten freilich nur eine feine Musik, aber in ihnen klang das gesprochene Wort nach, das die Töne zur Brücke gestaltet hatte.

Eine Frauenstimme sang ein Lied, das Jörg geschrieben und vertont hatte. Die Sängerin war mit ihm gekommen, und Wort und Ton gingen wie Sterne über die Stadt der Zeit.

Ein Paar blasse Hände lagen in einem Schoß. Sie hatten unruhig gezuckt und wurden nun sanft und gelassen. Ein Mund war hart verschlossen gewesen, als Jörg gesprochen, er war jetzt halb geöffnet wie bei einem Marmorbild, dem der Bildner die Gebärde andächtigen Lauschens verlieh. Stand der Mann vor einem Feuer und schaute im Spiel der Flammen etwas Unsagbares, Fernes? Etwas, das in der Brust dieses Menschen seit vielen Jahren das Lachen verkrampft gehalten, löste sich.

Als die Orgel zu spielen begann, blickte Güldenfey nach der Tür. Eine Frau in glatt gescheiteltem Haar — war das nicht Frau Jobst? So war auch sie gekommen, spät, um nicht bemerkt zu werden. Sie preßte sich in den Schatten des Pfostens, sie wollte verborgen bleiben. In Güldenfey jubelte etwas, doch sie schaute zur Seite, um die Scheue nicht zu vergrämen.

Der erste Teil war beendet. Jörg trat wieder an das Pult. Er sprach davon, daß das Reich, in das er seine Freunde führe, allen unverlierbar bleiben müsse; sie hätten auch ohne die Musik täglich freien Zutritt zu ihm, denn sie trügen es in sich. »Jeder Mensch trägt das wirkliche Reich des Ewigen in sich wie ein Bild in der Mauernische, doch wir sitzen wie gewinnhungrige Bettler auf den Schwellen fremder Häuser, sorgen uns um Schmutz und Staub der großen Straße und vergessen, daß ein Wind die Düfte unsrer [S. 185] Blütenbüsche verstreut. Von der Heimkehr zu uns und dem Reich, das in uns ist, sollen jetzt die Töne zu euch reden, meine lieben Freunde.«

Ach, wie sie redeten! Da und dort hob sich scheu eine Hand zu den Augen, um die nassen Lider zu trocknen. Nun das Erstaunen vor dem Neugearteten in ihnen verwunden war, ruhten sie aus, und verdorrte Brunnen begannen zu fließen. Türen gingen leise auf, und sie wunderten sich, was alles so lange verborgen war. Träume sprachen, und sie sahen in der Ferne das Gesicht Gottes, das nicht die Härte trug, von der die Menschen immer fabelten.

Wie war es möglich, daß Jörgs Hände den großen Frieden über diese Mühseligen und Beladenen strömen lassen konnten, diesen Frieden, der schwere Lasten in einem Seufzer löste!

Ja, Jörg spielte mit einer Hingabe, wie er sie noch nie in seinem Leben verspürt. Als ob seine Seele in seine Hände floß, so war es. Es war ihm seltsam ergangen. Während er gesprochen, war es in der dämmerigen Tiefe des Saales plötzlich wie eine Erscheinung vor ihm aufgetaucht: unter der Orgelempore ein Gesicht, das sich aus der Menge weißleuchtend hervorhob. Er hatte immer auf dieses Gesicht blicken müssen.

Malte! Er konnte ihn nicht erkennen, doch er wußte, daß er es war. Der erste Kaufherr der Stadt im Konzert der Armen. Regte sich etwas in ihm, was trotz seiner überragenden Stellung von der großen Armut in seinem Inneren zeugte? Eine Rührung hatte Jörg gepackt, ja, das war die größte Armut: einsam im Glanz frieren. Er spielte nur für ihn. Und ob Malte vorgab, die Sprache der Töne nicht zu verstehen — was diese beseelten Klänge sagten, würde er begreifen.

Ehe Jörg das vorletzte Stück begann, sah er noch einmal auf: das bleiche Angesicht war noch da, aber er sah es nicht mehr, wie es ihm zugewendet war, sondern von der Seite, als neige es sich einem zu. Dann war es verschwunden, und Jörg entdeckte es auch nicht, als er zur Empore schritt, um zum Schluß die Orgel klingen zu lassen. Genug, Malte war gekommen.

Der letzte Ton verhallte. Die Zuhörer blieben auf ihren Plätzen. Jörg trat noch einmal vor und sprach einige abschiednehmende [S. 186] Worte. Dann erhoben sich zögernd einige und schickten sich an, den Saal zu verlassen. Aber sie schritten durch den Mittelgang bis zur Standbühne vor, blieben vor Jörg stehen und sagten ein Dankwort. Und die andern folgten. Es begann ein Zug an ihm vorüber, und alle schenkten ihm einen freundlichen Blick. Das war der Dank der Armen: kein rauschender Beifall, kein lärmender Zuruf, aber ein stilles Grüßen und Neigen. Jörg hätte sich keinen besseren Dank gewünscht.

Als er neben Güldenfey heimschritt, legte er seinen Arm in den ihren. Sie traten in das Haus am Markt, daß er sich von Malte und Frauke verabschiede, denn er wollte in der Frühe des nächsten Tages reisen.

Aber Malte war nicht da, obgleich Jörg sich angesagt hatte, und Frauke war seltsam kühl und zerstreut. Ja, Malte war fortgegangen, war wiedergekehrt und aufs neue gegangen; vielleicht war er im Treßhof, sie wußte es nicht.

Verargt sie es uns, daß wir sie ausschlossen? dachte Güldenfey. Doch sie hing dem Gedanken nicht nach; sie fand es auch nicht auffallend, daß Malte im Treßhof nicht mehr erschien. Sie hatte so viel Grund zur Freude und wollte das Zusammensein mit Jörg auskosten.


Malte hatte im Schatten des Orgelüberbaues gestanden und gelauscht. Unerklärliches hatte ihn hergetrieben. Nun kam die feierliche Ruhe auch über ihn, und dies Ausruhen war schöner als die schweigsame Stille, die er auf seinen nächtlichen Gängen genoß.

Nein, er verstand nichts von der Musik und hatte diesen Mangel nie bedauert. Doch dieses Ausruhen in Tönen war etwas Besonderes. Hier war keine neuerunglüsterne Menge: diese alle waren gekommen, um wie Flüchtlinge die Verborgenheit zu suchen. Im Grunde trug er die gleiche Wunde wie sie, etwas verband ihn mit diesen geladenen Armen, ihn, den ungeladenen Reichen.

Er fühlte sich von einem seltsamen Staunen befangen, als er Jörg hörte: das war kein Werben um die Gunst der Menge, das [S. 187] war Mitteilen eines königlichen Guts, zu dem er sich verpflichtet fühlte. Wie überragend hoch war dieser jüngste Treß gewachsen, den vor vier Jahren er, Malte, noch so gering bewertete!

Plötzlich fühlte er es kühl auf sich zudrängen wie einen frostigen Luftzug. Eine Bewegung neben ihm entstand. Malte sah unwillig zur Seite. Wer schob sich da heran? Häberle!

»Herr Konsul,« sagte Häberle leise, »ich glaubte, Sie aufsuchen zu müssen. Ein dringendes Telegramm. Usadel.«

Der Name schnitt wie ein Messer in die Stille. Etwas zerriß.

»Ich komme.«

Vorsichtig schob sich Malte durch die enge Zeile, die ihm Häberle bahnte, dem Ausgang zu. An der Tür blickte er noch einmal zurück wie einer, der von einer großen Stunde Abschied nimmt. Wie zärtlich das Cembalo tönte! Wie andachterfüllt diese Menschen in das ferne Reich hineinlauschten! In uns sollte es sein? Nein, es war sehr weit, und in uns war der Unfriede.

Wem gehörten die Augen, die ihn feindlich musterten? Ach, diese Frau Jobst! Ihre Blicke irrten zur Seite, da sie sich begegnet sahen. Er hätte sie ansprechen mögen, ihr irgend etwas sagen können, doch sie wandte sich von ihm ab. Wie hatte Jörg zu ihm gesagt? Du bist kein Wirklichkeitahner. Das Wort brannte plötzlich in ihm.

Doch, doch! Die Wirklichkeit rief ihn. Usadel. Es strömte etwas von diesem Namen auf ihn über, das ihn frösteln machte. Hastig schritt er durch die Straßen seinem Hause zu.

»Sie kommen wohl mit mir, Herr Häberle. Es wäre möglich, daß wir noch eine Bestimmung treffen.«

Das Licht in Maltes Stube brannte. Da lag die Depesche. Malte streifte den Mantel ab, ergriff das Papier und öffnete es nicht; er wog es in der Hand. Dann fühlte er Häberles Blick, und er riß den Heftstreifen auf.

Er las, setzte sich und las wieder.

»Die Interessen unsers Ringes fordern, daß das Gesetz, das die Partei Ihres Herrn Bruders zu fördern sucht und für das sie im Volke Stimmung macht, nicht getätigt wird. Wir erwarten [S. 188] von Ihnen, daß alles aufgeboten wird, ein Zustandekommen zu verhindern. Sie werden wissen, was Sie zu tun haben. Ich bitte um schnellsten Bericht, daß Sie Ihren ganzen Einfluß aufgewendet haben.«

Der Name Usadel stand wie ein drohendes Handzeichen unter diesen Worten. Malte wandte das kleine Blatt, las noch einmal, dann wurde ihm Häberles Anwesenheit wieder fühlbar.

»Nichts, was augenblickliche Entscheidung verlangt«, sagte er. »Wir sprechen noch darüber. Morgen früh verreise ich auf zwei Tage.«


Er war in Berlin und suchte Harros Behausung, in der er noch nie gewesen war. Sie lag irgendwo im westlichen Stadtteil, der eine Welt für sich bildete und mit dem alten Berlin eigentlich nichts zu tun hatte. Endlose Straßenzüge von der Gleichförmigkeit des triebhaft Gewachsenen, hastende Menschen, Tropfen eines namenlosen Stromes.

Endlich hatte er das Haus an der Grenze eines andern Gemeindewesens gefunden. Er klomm in das dritte Stockwerk empor und fand Harros Karte an eine Tür geheftet. Er läutete.

»Ich möchte Herrn Doktor Treß sprechen.«

Er erhielt den Bescheid, daß Harro nicht daheim sei; es sei unbestimmt, wann er zurückkehre.

»Kann ich ihn nicht erwarten?«

Die Stimme, die ihm aus dem Dunkel eines mit Schränken vollgestopften Flurs antwortete, belehrte ihn, daß Herr Doktor nicht wünsche, daß jemand während seiner Abwesenheit sich in seinem Zimmer aufhalte.

»Ich bin der Bruder, Konsul Treß.«

Ein kurzes Zögern, dann wurde er eingelassen.

Das also war Harros Hausung! Malte empfand eine mitleidige Regung. Konnte jemand sich wohlfühlen in diesen beiden Räumen, mit dem Blick auf die Straßenzeile, durch die in kurzen Abständen lärmend die elektrischen Wagen brausten? Zwischen diesen abgenutzten [S. 189] unpersönlichen Mietmöbeln, die mit den Resten eines schäbigen Putzes bestanden waren, wo alles die Anzeichen des Ungepflegten, Unbedachtsamen trug?

Es war nur denkbar, wenn man erwog, daß der Bewohner dieser Räume ganz seiner Arbeit hingegeben war und den Blick für die Dinge seiner Umgebung eingebüßt hatte. Druckhefte, Zeitungen aller Bekenntnisse waren auf Tischen und Ständern gehäuft; daneben waren Papiere und Stifte zerstreut, um in jedem Augenblick zur Hand zu sein; eine Schreibmaschine stand gebrauchsfertig da, eine begonnene Schreibarbeit lag auf der Tischplatte.

Es war allerdings nicht ratsam, die spähenden Augen Unberufener in diesem Zimmer schweifen zu lassen.

Malte war unruhig umhergegangen, jetzt sah er ein, daß er vielleicht lange werde warten müssen. Er räumte von einem Stuhl Mappen und Bücher fort und setzte sich. Er mußte überlegen, wie er Harro sein Ansuchen nahebringen konnte. Als er in der Bahn das Telegramm zum wer weiß wievielten Male gelesen, war er sich erst der gebieterischen Form der Forderung bewußt geworden: es wurde befohlen, und er hatte zu gehorchen. Gleichzeitig hatte er erkannt, daß Unerhörtes gefordert wurde. Sein Rechtsempfinden empörte sich für kurze Zeit, dann hatte er sich gesagt, daß Befehle nicht nur im Heeresverband ausgeführt werden müßten, sondern in jeder Berufsart. Aber die Schwere seines Auftrags erschien ihm doch drückend. Es war das beste, Harro unumwunden die Sachlage zu erklären.

Er hatte längst seinen Rundgang auf dem Muster des verschlissenen Teppichs wieder aufgenommen, als er des Bruders Stimme draußen vernahm. Man bereitete ihn auf den Besuch vor; ein ärgerliches Wort Harros fiel, dann beschwichtigende Gegenrede, und die Tür wurde geöffnet.

»Malte, ist es möglich!«

Die Gegenwart des Bruders hatte plötzlich seine Empfindlichkeit für das Unzulängliche dieser Umgebung geweckt; er begann mit einigen Griffen aufzuräumen, gab es aber sofort wieder auf.

[S. 190]

»Wir hätten uns wie bisher am dritten Ort treffen sollen«, sagte er. »Diese Bude ...«

Malte bedeutete ihm, daß es sich um dringende Angelegenheiten handle. Er bat den erregt umherlaufenden Harro, sich zu setzen, zog seine Mappe zu sich und erklärte, um was es gehe.

Harro hatte erst zerstreut gelauscht, allmählich wurde er aufmerksam. Als Malte endete, bat er sich das Telegramm aus.

»Unverschämt«, murmelte er. »Und darauf gehst du überhaupt ein? Kommst deshalb nach Berlin?«

Malte legte ihm die Bedeutung des Ringes dar, erschöpfte sich in Ausführungen. Er war erleichtert, als er Harro nachdenklich sah.

Dieser sprang auf und lief im Zimmer umher, hob Gegenstände auf und legte sie wieder aus der Hand. Endlich blieb er vor Malte stehen. »Kurz, lieber Malte, ich kann nichts in der Angelegenheit tun, gar nichts. Und könnte ich es, so würde ich es nicht tun. Es geht gegen meine Überzeugung. Das Schutzgesetz ist nötig.«

Diese Tonart kannte Malte. Er raffte sich zusammen. »Du weißt, wir sind mit unserm Vermögen dem Ring angeschlossen«, sagte er. »Vergiß dies nicht: wenn man die Machthaber reizt, könnten sie uns preisgeben. Was das in dieser Zeit bedeutet, weißt du.«

Harros Hand strich aufgeregt über seine Stirn. »Malte, was ist mächtiger, das Gesetz oder das Geld?« fragte er.

»Das Geld«, antwortete Malte, ohne sich zu besinnen.

Harro sah ihn einen Augenblick starr an. »Wie?« sagte er. »Das meinst du auch? Ja so, in gewissem Sinn: es hat in seinen Fängen Presse und Gesellschaft, es bemächtigt sich der Technik, der Wissenschaft, der Kunst. Doch die Partei ...«

»Der Partei nicht?«

»Meinethalben auch der Partei, ja. Aber Ehre und Gewissen stehen über ihm.«

Malte machte eine vielsagende Gebärde.

»Nein, tausendmal nein! Mögen die Lumpe wie Pilze aufschießen, die sich kaufen lassen, es gibt noch genug im Volke, denen ihre innerste Überzeugung etwas gilt. Wir haben einen Krieg verloren, aber Gewissen und Ehre nicht.«

[S. 191]

»Ist es unehrenhaft, wenn wir unser Vermögen zu erhalten und zu retten trachten?« fragte Malte.

»Erhalte, doch fordere nicht, das zu tun, was dem Charakter zuwider ist.« Harro erregte sich, seine Stirnadern schwollen an, seine Gebärden wurden unbeherrscht.

»Erhalte, erhalte! Ihr habt mich bisher allein sorgen lassen und zufrieden eure Erträge eingesteckt«, erwiderte Malte bitter. »Nun ihr mir helfen sollt, seid ihr nicht zu finden.«

Plötzlich stand Harro vor ihm, breit, fast drohend. »Ich verstehe dich jetzt erst ganz«, sagte er dumpf. »Du verlangst, daß ich mich vor euren Wagen spanne, du bist mit jenen eines Sinnes, nicht wahr? Ja, sind wir denn noch Brüder? Tragen wir noch den gleichen Namen, den alten ehrenhaften Namen Treß?«

Malte machte eine abwehrende Bewegung.

»Sage, daß ich falsch verstand, daß ich mich irrte, fürwahr, sonst ...«

»Was heißt das, sonst?«

»Ich würde irre an dir werden, Malte, ich würde glauben müssen, du habest dich jenen Verderbern mit Leib und Seele verkauft.«

Malte hatte sich erhoben, sie sahen einander in die Augen. Keiner wagte nachher das, was von einem zum andern sprühte, bei seinem Namen zu nennen.

»Ich muß jede Verantwortung ablehnen«, sagte Malte. »Denke daran, wenn du hörst, daß eine alte Verbindung scheiterte.«

Harros Hand tastete am Rock hernieder bis zu der Stelle, wo das Eiserne Kreuz saß, dann wandte er sich ab. »Mit meinen Werturteilen treibe ich keine Geschäfte«, sagte er schroff.

Malte ergriff seinen Hut. Die Brüder schieden ohne Gruß voneinander.

Zu Usadel, dachte Malte, als er aus dem Hause trat. Er rief einen Wagen an. Doch wo wohnte Usadel? Er gab die Straße auf, in der das Geschäftshaus des Ringes lag; dort war er bereits gewesen.

Man sah ihn erstaunt an, als er begehrte, Herrn Usadel sprechen zu wollen. Als ob er begehrt hätte, den Erzengel Michael zu sehen! [S. 192] Herr Usadel, ja, wo war denn der? Man kannte seinen Namen, man arbeitete für ihn, doch gesehen hatte ihn noch keiner.

»Also, Herr Direktor ...«

Malte besann sich auf den Namen nicht und mußte sich ihn erst sagen lassen. Er fühlte, daß seine Zerstreutheit ihn nicht empfehle, und gab sich Haltung. Der Direktor befand sich in einer Beratung; es war unmöglich, ihn zu rufen.

Nach mehrstündigem Warten wurde Malte vorgelassen. Der Direktor ließ sich den Mantel anziehen, als er eintrat, und schien gesonnen, den späten Besucher stehend abzufertigen. Seine verschwommenen Züge waren noch mehr von Arbeit und Vergnügen heimgesucht als damals, da ihn Malte im Treßhof gesehen hatte. Seine mürrische Miene wandelte sich gewohnheitmäßig in glatte Verbindlichkeit, und in übersprudelnder Rede berichtete er, was heute noch seiner warte.

»Man hat von mir schnellen Bescheid gewünscht, und ich komme, ihn zu geben«, sagte Malte. »Sie wissen, um was es geht? Also, ich war bei meinem Bruder: es ist vollkommen aussichtlos, etwas zu erreichen.«

»So, so; schade! Nun, da müssen wir eben andre Wege gehen.«

Der Direktor tat, als wäre der Ausfall dieses Plans ganz unerheblich. Malte stutzte. Verbarg man so die Bestürzung, oder hatte man ihn zu einer peinlichen Sendung befohlen, ohne ihre Bedeutung zu würdigen?

Lächelnd stand der feiste Mann vor ihm und erkundigte sich nach andern Dingen.

»Der Ernst, mit dem das Telegramm abgefaßt schien, hat mich sofort hierhergetrieben«, sagte Malte. »Sie meinen also, die Sache sei für mich erledigt?«

»Nun, da Sie nichts erreicht haben«, sagte der Feiste liebenswürdig lächelnd. »Berichten Sie jedenfalls. Wir sind gewöhnt, mehr als ein Eisen im Feuer zu halten.«

Malte verließ ihn in dem Bewußtsein, sich unnötigen Befürchtungen hingegeben zu haben.


[S. 193]

Die Flucht vor den Flammen

Froh gegrüßte Gäste — wo traten die jetzt noch in eine Tür? In den Taschen der Boten, die zweimal täglich von Haus zu Haus gingen, waren unheilbringende Nachrichten, die die Stirnen der Empfänger verdüsterten. Scheu folgten die Blicke den Trägern: Was wird er jetzt bringen? Und öffneten sie die Papiere, so lasen sie, was ihr Herz mit neuem Kummer füllte.

Häberle blickte mit geheimem Kummer der Post entgegen, seit sein Chef von der Reise zurückgekehrt war. Malte schien freier denn vorher, doch Häberle verharrte in schweigendem Mißtrauen. Es kam, wie er's erwartet hatte.

An dem Samstag vor dem Osterfest trat der Bote gewichtig ein und lud an Brauns Tisch seine Schreiben ab. Häberle rückte seine Brille zurecht, tat, als summiere er die Gehaltliste, und spähte doch durch die Spalten seines Verschlags aus. Es gab ein langes Verhandeln, endlich ging der Briefträger.

Warum kam Braun nicht? Warum zögerte er die Durchsicht so lange hin? Endlich war es so weit. Den ersten Brief des Stapels, der Häberle in die Hände fiel, erkannte er als das versiegelte Schreiben des Ringes. Er wußte, was darin stand, und fand seine Ahnung bestätigt: der Ring kündigte dem Hause Treß die Arbeitgemeinschaft. Was nun in dieser Zeit beginnen! Häberle hatte das Unheil auf sich zuschreiten sehen. Nicht allein vermöge seines kaufmännischen Scharfblicks. Er war Mitglied eines astrologischen Vereins, und das Horoskop hatte Unheil vorausgesagt. Was nun? Er scheute sich, das Zimmer des Chefs zu betreten, er konnte den Anblick nicht ertragen, wenn er Malte vor dem Zusammenbruch seiner Hoffnungen sah.

»Herr Häberle!«

»Herr Konsul?«

Es mußte sein. Häberle raffte die Briefe zusammen und trat ein. Er zwang seinem Gesicht einen sorglosen Ausdruck auf. Malte erschien ganz unbekümmert. Um so schwieriger!

[S. 194]

»Nun, nichts von Bedeutung da?«

Malte wunderte sich, daß Häberle nicht antwortete, sondern sich mit den Briefen zu schaffen machte. Er blickte ihn an. Warum bebten dem Mann die Hände? Er sah auf den Kopf des Briefes, den jener vor ihm ausbreitete, und wußte alles.

Schweigen, Schweigen. Wie erdrückende, atembeklemmende Mauerwände stiegen die Sekunden auf und wurden lang und lastend. Malte bewegte sich zuerst. Er nahm das Schreiben und las; nein, er las es nicht, er suchte nur das Wort Kündigung, das genügte.

Nur den Kopf hochhalten, solange Häberle zugegen ist, dachte er, nur so lange! Wenn das Schiff leck geht, darf der Führer nie gelten lassen, daß Gefahr besteht. Und die Brigg geht leck vor dem Sturm. Er strich sich mit der Hand nicht über die Stirn, er seufzte nicht einmal.

»Nun, Herr Häberle?« sagte er fast heiter.

Häberle nickte einige Male bedächtig. »Haben Sie für diesen Fall bereits Bestimmungen getroffen, Herr Konsul?«

Malte verneinte; er war voller Zuversicht gewesen, daß der Vertrag gehalten werde. Wie hatte Harro gesagt? Wir haben einen Krieg verloren, aber nicht Ehre und Gewissen. Auch nicht Treu und Glauben, das kostbarste Kaufmannsgut? Doch, doch! Im alten Treßhaus war das Wort gesprochen worden vom Totschlag des Gewissens, und er, Malte Treß, hatte dazu geschwiegen.

»In diesem Falle rate ich, das Anerbieten sofortiger Rückerstattung des Kapitals anzunehmen«, sagte Häberle. »Die Entwertung schreitet weiter vor, keiner weiß, wie weit wir gleiten.«

Malte war andrer Meinung, doch er hielt sich zurück. Da war die Kündigung, aber sie stellte weitere Erklärungen in Aussicht. Gleich nach dem Fest wollte er Usadel aufsuchen. Er mußte ihn sprechen, koste es, was es wolle. Man würde verhandeln, vielleicht ließe sich alles schlichten. Dies war doch wohl nur eine Drohung, deren Folgen sich vermeiden ließen.

Er äußerte etwas Ähnliches.

[S. 195]

»Jeder Tag ist äußerst kostbar«, warnte Häberle. »Soll ich nicht schon heute vorfühlen?«

Ja, das könnte man tun, nur nicht Verbindlichkeiten eingehen.

»Es ist eine große Verantwortlichkeit uns auferlegt«, fuhr Häberle fort. »Herr Konsul, ich würde raten, mit dem Hause Poppelmann in Verbindung zu treten und Rat zu erbitten.«

Malte empfand jetzt erst die Weite dieses Geschehens, da Häberle ihn auf Hamburg verwies. Sollte er dort als Bittender erscheinen, wo man ihn stets als Gast empfing? Schwiegersöhne als Fordernde waren unbeliebt, und man wäre im Hause Poppelmann sehr geneigt gewesen, hinter der Bitte um Rat einen andern Hilferuf zu wittern. Dennoch — wenn Gefahr in Verzug war, konnte das Richtwort der Poppelmanns: Selbst ist der Mann! nicht beachtet werden.

Häberle verließ seinen Chef einigermaßen verwundert. Dieser die Tat über alles Schätzende zögerte. Unterlag er einem Schreck über die unerwartete Wendung oder war der Kraftstrom am Versiegen? Häberle versuchte, sich sofort mit befreundeten Großbanken in Verbindung zu setzen. —

Solange der Tag lärmte, war es in Maltes Innerem ruhig. Doch es kam die Nacht. Die Schatten huschten dann, die die Lawinen wälzten.

Er saß mit Frauke zu Tisch, und sie redeten von fernliegenden Geschehnissen wie gewöhnlich, kühl und verbindlich. Mellin.

»Verzeih, du sprachst von Mellin?«

Frauke sah ihn verwundert an und wiederholte etwas gedehnt ihre Frage.

»Ja, er scheint sich in sein Los zu finden. Er ist sehr still, seltsam verschlossen, aber er verrichtet seine Arbeit ohne Murren. Er dauert mich, der arme Wicht!«

»Seltsam, wie er das so bald verwinden konnte. Ich ...«

Frauke brach ab und schenkte Tee in ihre Tasse. Sie liebte es nicht, von ihren Gefühlen zu reden.

Malte spähte zu ihr hinüber. Hätte sie doch gesagt, was sie empfand! Vielleicht wäre das Wort eine Brücke geworden.

[S. 196]

»Es gibt viele, die arm aus dieser Zeit hervorgehen«, sagte er.

Aber Frauke hob nur die Schultern und schwieg. Armut war ihr ein nicht auszudeutender Begriff.

Er war wieder allein, nachdem er die kühle Hand zur guten Nacht geküßt. Sollte er sich jetzt dem Dunkel ausliefern? Nimmermehr. Er ging hinunter und entflammte das Licht über seinem Arbeitplatz. Wieder kam die Osternacht herauf, und in sein Sinnen stieg die Erinnerung an die Festrüste des vorigen Jahres. Da hatte er auch hier gesessen und auf die Schritte vor den Fenstern gelauscht. Damals war er auf der Schwelle fremder Not gestanden, hatte in die dunkle Kammer geblickt; heute ... War da eine Beziehung? Es gab so rätselhafte Zusammenhänge in diesem wunderlichen Leben.

Malte fühlte, wie seine Stirn feucht wurde. Er stand auf und trat an sein Bücherbord. Ein zierliches Bändchen blieb in seiner Hand. Faust. Ach ja, Jörg hatte ihm das Buch zur Weihnacht verehrt, und er hatte es unbedenklich zwischen Handelsrecht und Warenkunde gepflanzt. Nun, warum nicht Faust!

Er schlug auf und las:

O sähst du, voller Mondenschein,
Zum letztenmal auf meine Pein.

Weiter, weiter bis zur Erlösung. Gewißheit einem neuen Bunde? Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder? Malte schloß das Buch, die Erde hatte ihn noch gar nicht losgelassen, sie sog sich an ihm fest. Wie fern das klang, wie unendlich fern!

Es galt jetzt, sich mit den irdischen Hemmungen abzufinden, ruhig und klar abzuwägen, denn in ihm klaffte ein schrecklicher Zwiespalt: Weg zur Rechten und Weg zur Linken, aber wo lag das Heil? War das schon ein Zerbröckeln der Kraft, daß er zögerte rechts oder links?

Ach ja, am Bühnenhelden tadelte man, wenn er nicht wußte, was er sollte: Schwächling. Und doch war das Heldentum dieser Erde nichts als ein Ringen mit Zweifeln, ein Vergehen in qualvoller Ungewißheit.

[S. 197]

Ach ja, jene, die tagsüber da draußen über den Zahlen saßen, neideten ihm, das wußte er, sein Herrendasein. Wenn sie wüßten, welche gezähnten Mächte an ihm fraßen, während sie sich, aller Verantwortung bar, vergnügten oder zufrieden auf ihr Lager streckten!

Ein Mensch, ein Mensch, gegen den er sich hätte aussprechen können! Freunde hatte er nicht, die ihm durch dick und dünn gefolgt wären; er hatte nur sogenannte Freunde. Und Verwandte, die ihn und seine Lage verstanden hätten? Harro, Onkel Rolf, Klaus etwa? Jörg; ja, der trug etwas vom Wikingerblut in sich, den Tropfen des sich durchsetzenden Trotzes. Aber das war eine andre Welt.

Plötzlich stand er auf, herrisch schob er das Buch zurück: seine Frau; wozu hatte er eine Frau? Was nützte es, wenn zwei nebeneinander und nicht miteinander lebten! Sie wollte er fragen, sie mußte ihm Rede stehen. Er löschte das Licht und begab sich nach oben.

Leise betrat er Fraukes Schlafzimmer, in das der Mond schien. Sie erwachte nicht. Sie lag da, die Decke bis unter das Kinn heraufgezogen; eine Locke hatte sich verschoben und krauste sich wie ein Fragezeichen auf ihrer Stirn. Ihre rechte Hand, die den Ehereif trug, war unter der Decke hervorgeglitten, und durch die feinen Ringe am Gelenk ging die leise Bewegung des tiefen Atmens. In dem Gelöstsein des Schlafes erschien sie verändert, eine fast kindliche Weichheit lag versöhnlich um Mund und Braue.

Malte zog einen Stuhl herbei und setzte sich, um sie zu betrachten. Das war die Frauke, die er als erste mit dem Wunsch, sie zu besitzen, angeblickt hatte, damals in Harvestehude, beim Reifenspiel auf glatt geschorener Rasenfläche, zwischen Agaven und Lorbeerkübeln.

Nein, Erwägung und Stolz hatten nicht vorangestanden, die waren erst später zu Wort gekommen. Als erstes war der Wink gestanden, der sich an die Tiefen der Seele richtete.

Wie wunderbar ging das Spiel der Mächte, die Mann und Weib aneinanderbanden! Warum gerade diese ihm wurde, ihm, der im tiefsten der Frau so sehr bedurfte! Warum diese, um die [S. 198] immer ein leises, nein, ein spürbares Abwehren und deutliches Versagen war?

Plötzlich erwachte Frauke. Er hatte nicht geseufzt, nur seine Nähe konnte sie aufgestört haben.

Sie hob den Kopf und sah ihn an, dann entzündete sie die Lampe. Im Strom künstlicher Helle zerfloß auf ihren Zügen alles, was in Malte die rührenden Gedanken geweckt hatte.

»Du?« fragte sie.

»Erschrick nicht«, sagte er gedämpft.

»Ist etwas geschehen?«

Es klang so hilflos. Er rückte seinen Stuhl näher und nahm ihre Hand, die die Nestwärme eines jungen Vogels hatte.

»Nichts Besonderes«, erwiderte er. »Ich saß lange drunten, konnte wieder nicht schlafen ...«

»Ein Pulver«, sagte sie.

Malte schüttelte den Kopf. »Das hilft ja nicht, Frauke. Ich habe Sorgen, und keiner ist da, dem ich mich mitteilen kann. Da trieb es mich herauf, ich wollte dir nahe sein.«

Sie blickte ihn forschend an. Die Gefilde, aus denen sie kam, waren so weit von allem Zeitlichen.

»Ist dir nicht wohl?« fragte sie.

»Wohl? Nein, Frauke. Doch der Grund dafür, der ist es.«

Er war gekommen, sein Recht zu fordern, zu verlangen, daß sie ihn anhöre. Nun beherrschte ihn wieder die alte Verzagtheit, die nichts von der Gemeinsamkeit in Freud' und Leid wußte, der Zwang ihrer Nähe.

»Welches ist der Grund?«

Doch kaum hatte er zu sprechen begonnen, da warf sie sich unmutig zurück und entzog ihm die Hand. »Ist es nötig, mich deswegen weit nach Mitternacht zu wecken? Ist der Tag nicht lang genug dafür?«

»Frauke, ich brauche dich gerade jetzt.«

Warum dieser bittende Ton? Sie war gänzlich verwandelt, auch in dieser Stunde die beherrschte Frauke Poppelmann. Sie zog die Decke hüllend wieder bis an das Kinn. »Bitte, ich bin müde!«

[S. 199]

Malte stand auf, er schob den Stuhl wieder auf den Fleck, da er gestanden. »Ich glaubte bei dir zu finden, was ich nirgendwo finden kann«, sagte er bitter.

Sie antwortete nicht; er zögerte noch ein paar Sekunden. Da streckte sie die Hand nach der Lampe aus, als wolle sie diese verlöschen. Malte ging.


Bald nach dem Fest reiste Malte nach Hamburg. Als er zwei Tage später heimkehrte, wußte er, daß diese Bemühung umsonst gewesen war: er war wieder der freundlich bewillkommnete Gast gewesen. Das, was er gewollt, hatte er nicht erreicht.

Hinter der Wohlerzogenheit der Poppelmanns stand immer das behende Mißtrauen der Goldwäscher oder Jäger des fernen Westens, die in reger Bedachtsamkeit darüber wachen, daß keiner in ihre Spuren tritt, die aber auch ebenso ängstlich jede Teilnahme an der Fährte des andern verdecken.

Der alte Josias mit den weißen Bartstreifen auf den Wangen, dem glattrasierten, schmeckenden Mund und den eigen gewölbten Brauen, die er oft so verweisend in die Höhe zog, hatte ihn natürlich angehört. In seiner jetzt etwas vorgeneigten Haltung hatte er Maltes Bericht gelauscht. Doch seine Antworten waren spärlich wie die Weisheitsprüche eines morgenländischen Heiligen gekommen und fast erzwungen worden.

Ja, die Lage war fatal, das mußte zugegeben werden. Man mußte zunächst verhandeln, unbedingt. — Ob er Usadel kenne? — Nun ja, wie man eben solche Leute kennt; Verbindungen mit ihm bestanden nicht.

Aber wenn der Ring ablehnte! Würde das Haus Poppelmann bei der Verbindung mit andern Großbanken behilflich sein?

Die Brauen hatten sich strafend gehoben, und die Hand hatte abgewinkt. In dieser Zeit! Nein, nein!

Malte hatte behutsam darauf hingewiesen, daß Frauke beteiligt sei, daß ein Fehlschlag ...

[S. 200]

O, das wäre Fraukes Angelegenheit, aber — eine bedeutungschwere Pause hatte sich eingeschoben — es war nicht gut, Frauke zu schädigen. Sie hatte besondere Ansichten.

Er verstand die Drohung, die hinter dem scherzhaften Wort kauerte.

So war die Unterredung mit dem alten Poppelmann gewesen, und die bedächtige Frage, wann Malte wieder abzureisen gedenke, hatte den Schlußstrich gezogen. Er hatte es noch bei den Brüdern versucht; es hatte ihn etwas gekostet. Denn diese Männer waren trotz ihrer alttestamentlichen Vornamen ganz jetztzeitige Menschen, mit Elbwasser getauft, von den erstarrten Überlieferungen der Familie gesteift, ohne Bewußtsein, verkrustet in gärender Neuzeit zu stehen, aber ausgerüstet mit der Witterung für erstklassige und zweitklassige Wesen. Zu welchen sie sich zählten, drückten sie nie in Worten aus.

Das Gespräch mit ihnen war noch fruchtloser verlaufen. Malte reiste ohne Hoffnung ab.

Unter ihm murmelten einförmig die Räder. Was summten sie nur? Dann fielen ihm die Worte zu der Weise ein, alte törichte Worte:

Verlassen, verlassen, verlassen bin i
Wie der Stein auf der Straßen ...

Die Worte wurde er nicht wieder los, bis er in den Bahnhof der Heimatstadt einfuhr.

Frauke blickte ihn an, als er eintrat, fragte aber nicht. Da schwieg auch er. Die pflichtgemäßen Grüße waren bald ausgerichtet. Dann einige Besprechungen mit Häberle. Er erfuhr, daß jede Annäherung mißglückt war. Also nach Berlin!

Malte graute vor dem Weg, den er beschreiten wollte, dem Weg der Demütigungen. Ihn allein gehen müssen, das war das Fürchterliche.

An dem Abend vor seiner Abreise ging er noch in den Treßhof, um aus dem Geheimschrank einige Akten zu nehmen. In Güldenfeys Zimmer brannte Licht, er stieg hinauf.

[S. 201]

Güldenfey war allein, sie war oft seit Marfas Tod allein. Ein flüchtiger Gedanke streifte Malte, daß es nicht recht sei, das Kind sich selbst zu überlassen. Ose war freilich da, aber ... Der Treßhof war so still geworden; wie ein totes Gewölbe umschlossen seine alten Wände dies junge Leben.

»Ist es dir nicht zuweilen unerträglich, hier zu hausen?« fragte er sie.

Güldenfey sah ihn verwundert an. »Warum, Malte?« fragte sie. »Es ist ja unsre Heimat.«

»Aber dieses Alleinsein!« Er stand auf und wanderte planlos umher. »Und wenn es zehnmal die Heimat ist, wer in ihr vereinsamt, müßte der nicht leiden?«

Er hielt ihr sein Gesicht wie ein geöffnetes Buch entgegen, und sie las darin, las, daß seine Worte gar nicht ihr galten. »Malte,« sagte sie, »willst du ...«

Aber er unterbrach sie, fing an, von anderm zu sprechen, von Berlin, von seiner Reise dorthin. Dann fragte er, ob sie wisse, wo Harro seinen Ferienaufenthalt genommen habe.

»Wolltest du dich mit Harro treffen?« fragte sie.

Malte zuckte die Schultern. »Der ist mir auch nicht freundlich gesonnen; ich werde alle Gänge allein erledigen müssen.« Er grub die Zähne in die Lippe, dann schüttelte ihn etwas wie ein Frost. Er riß sich zusammen, doch er fühlte, daß sich der Zwang in ihm löste und die Maske sank. Ein weinerlicher Zug veränderte sein strenges Gesicht.

Plötzlich stand Güldenfey an seiner Seite, ihre Arme legten sich um seinen Hals, und nun fiel sein Gesicht schwer auf ihre Schulter. »Armer, du Armer!« sagte sie. Ihre Hände strichen an ihm nieder, der wie ein Knabe vor ihr stand. »Ich gehe mit dir, ich begleite dich. Nein, sag' nichts dawider. Ich tu' es ganz gewiß, keiner hält mich davon ab. Morgen? Natürlich morgen. Ich bin bereit. Wir Treß müssen doch zusammenstehen.«

Malte mußte sich fügen.

[S. 202]


Sie waren in der Hauptstadt Deutschlands. Güldenfey ließ es sich nicht nehmen, Malte auf seinen Gängen zu begleiten, und er, der Älteste des Hauses, der Vaterstelle vertrat, ließ es sich gefallen. Wer konnte Güldenfey widerstehen, wenn sie bat! Und sie bat so beweglich.

Ehemals — nein, da hätte Malte sich dagegen ernstlich verwahrt. Doch er war ein andrer geworden: weich, nachgiebig und ein wenig hilflos. Er war in der Verfassung, angesichts derer Frauen den ganzen Segen ihrer erbarmenden Mütterlichkeit ausströmen dürfen, ohne zu verletzen.

»Güldenfey, ich habe wahrscheinlich während des ganzen Vormittags auf der Bank zu tun; es ist sehr anstrengend, die Luft, das Warten. Möchtest du nicht wenigstens heute hierbleiben?«

Sie hielt ihren Hut schon in der Hand und blickte ihn lächelnd an. »Vergißt du unsern Pakt?« fragte sie.

Malte schwieg und ließ sie gewähren. Es war ihm ja lieb, wenn er sie an seiner Seite schreiten sah, es flößte ihm Zuversicht ein, wenn ihm während der zermürbenden Aussprache mit irgendeinem Verantwortlichen hinter gepolsterten Türen der Gedanke kam: Draußen sitzt Güldenfey, ihre Gedanken gehen behütend und sorgend auf dich.

Ach, dieses Warten in den großen Sälen der Banken, durch die unablässig der Strom einer unbegreiflichen Geschäftigkeit brauste! Diese Flut von Angst und Erwartung, die an den Schaltern vorüberrann, dieses Wühlen in Papieren und Zahlen! Sonnenlicht drang nicht in diese Räume, deren Decken marmorverkleidete Säulen stützten, und doch waren sie von zahllosen elektrischen Glühpunkten erleuchtet. Wenn man eintrat, war es, als tauche man unter die Erde, in das Getriebe eines Bergwerkes, wo ungeahnte Metalle in den Basalt eingeschlossen ruhten, und tausend Hände gruben nach ihm, schürften, schleiften, hämmerten mit verzerrten Mündern und schweißnassen Stirnen.

Sie mußten früh altern, diese Schaffer, die schon in ihrer Jugend die herbstliche Welke auf den Wangen trugen. Nicht durch die suchende Arbeit allein, mehr noch durch das rastlose Bemühen, ohne Mut und Aussicht dem Widersinn Frondienst zu leisten.

[S. 203]

Endlich kam Malte.

»Bist du zufrieden, lieber Malte?«

Er zwang sich ein Lächeln ab und sprach ein paar nichtssagende Worte. Güldenfey unterließ es bald, ihn zu fragen. Warum ihn nötigen, seine Enttäuschungen zu verstecken? Von nun an begann sie, heiter zu erzählen. Aber auch das sollte mit Vorsicht geübt sein, denn er brauchte Zeit, seine Gedanken zu sammeln. Nur nicht stören, denn dann schickte er sie fort! —

»Kind, ich muß noch einen Besuch in einem Privathause erledigen und kann dich nicht mitnehmen. Du erwartest mich zu Hause.« Malte hob schon den Arm, um einen Wagen heranzuwinken.

»Darf ich nicht die hübschen Dinge in diesen Schaufenstern betrachten?« fragte Güldenfey.

Er sah sie zweifelnd an, und sie nickte ihm, ihre Worte bestätigend, zu. Als ob sie dem Tand viel nachfragte! Doch er gab nach. Es war so trostreich, zu wissen, daß sie ihn erwartete.

»Auf der Straße und allein? Wenn ich mir das hätte vor einem Jahr noch zutrauen sollen«, sagte er.

»Wer sollte mir etwas tun!« sagte sie strahlend.

Nein, nach den bunten Dingen der Läden sah sie nicht, nur nach den Menschen, die an ihr vorüberfluteten. Ihr Blick suchte auf den Angesichtern nach den Wunden, die unter ihnen bluteten, nach der tiefen Wunde der Heimatlosigkeit, die alle trugen, deren Wurzeln aus dem Mutterboden gerissen waren, und die wie verschleppte Blumen in dem Zierglas Großstadt siechten.

Der Abend brach herein, die Fenster wurden erhellt. Funkelnde Mädchen, deren Schritten ein aufdringlicher Duft folgte, strichen an ihr vorüber; ergraute Männer, die wie zerwetzte Steine rastlos sich drehender Mühlen erschienen; Gebückte mit erloschenen Augen, von Not und Mühsal völlig ausgehöhlt. Hier im künstlichen Licht dieser unbegreiflichen Stadt stieg das Leprosentum der Zeit schamlos und unverhüllt empor.

Was waren diese Straßen und Höfe und Häuserflure? Nichts als ein großes Nachtasyl, das ausströmte und aufnahm, das verbrauchte [S. 204] und zerbrach, in dem man großsprecherisch von Fortschritt redete und die Kultur pries, die Kultur des kalten Metalls und des durchsichtigen Glases. Der gewaltige Sturm, der durch die Zeit fuhr, fegte durch diese Gassen nicht, und keiner verstand ihn.

Das Tier, dachte Güldenfey. Die Starre, die Lebensleere! Sie empfand plötzlich Furcht. Nicht vor den Menschen, deren Blicke sie musterten oder übersahen, nein, vor dem unaussprechlichen Ahnungsschweren, das sich wie ein Wüstenbrand durch die Welt wälzte, vor dessen Flammen die Menschen flüchteten, und denen sie doch nicht entrannen. War Malte, waren sie alle diesem fressenden Feuer auch verfallen?

Für den Morgen des nächsten Tages war eine Ratssitzung angesetzt, an der Malte teilnehmen mußte. Güldenfey blieb ungern allein, aber seinem Vorschlag, in dem nahen Tiergarten frische Luft zu genießen, konnte sie nicht folgen. Um Mittag wollte Malte zurück sein. Sie beschloß, ihn auf ihrem Gastzimmer zu erwarten.

Ihr Fenster ließ sie auf den weiten Platz blicken, über den vom Morgen bis in den Abend der hastige Fluß der Fußgänger und Wagen rann. Der gegenüberliegende Bahnhof, auf dem die Vorortzüge mündeten, füllte zu gewissen Zeiten den Platz für Minuten mit zuströmenden Menschen, die außerhalb der engen Mauern ihren Wohnsitz hatten.

Hastig und erregt kamen sie an, aufgepeitscht von der Hetze, den nächsten Wagen, ihre Wirkungstätte zu erreichen. Der Ruch frischer Luft, den sie noch in ihren Kleidern mit sich trugen, verrann schnell im Dunst lärmender Straßen, und die Unruhe ihrer Fahrten verdrängte die Stille, die eine Nacht in ihnen aufgespeichert hatte.

Ach, wie schwer und schlecht lebten sie alle in dieser versteinten Welt! Diese Betten in den dunklen Zimmern! Diese Tische voll Hast ohne festliches Genüge, von denen man aß, um nur satt zu werden.

Und draußen ging der Frühling, und seine Winde spielten im Gezweig der weißen Birken und trugen den Weihrauch der Föhren und die Würze junger Beete jedem, der kam, entgegen.

[S. 205]

Güldenfey erschrak, als eindringlich an die Tür gepocht wurde: ein Bediensteter rief sie heraus. Als sie in den Gang trat, sah sie, wie Malte bleich und verstört die Treppe emporgeleitet wurde.

Er lächelte, da sie ihn in ihre Arme schloß. Es war nichts, gewiß nichts. Die Dumpfheit des Beratungzimmers. Er hatte es verlassen müssen. Auf der Straße waren ihm die Sinne geschwunden, ein Wagen hatte ihn hergebracht. Er war bemüht, ihren Schreck zu mildern, und ließ sich auf das Ruhebett strecken.

Er werde sich gehörig ausruhen, mit Güldenfey am Nachmittag unter die grünenden Bäume des Tiergartens gehen. Morgen müsse er ohnehin auf einen Tag verreisen. Nein, Güldenfey solle sich nicht sorgen: keine geschäftliche Reise! Er wolle einen Bekannten zu treffen suchen, der unweit wohnte; die Abwechslung komme ihm eben recht nach diesen verzehrenden Tagen.

Güldenfey hörte ihm zu, während sie neben dem Ruhebett saß und kühlende Umschläge auf seiner Stirn wechselte. Das Erschrecken über Maltes Aussehen war ihr bis ins Innerste gedrungen. Wie er verändert war, als er die Treppe emporwankte! Sie haßte diese Stadt, die alles aus Maß und Gleichgewicht warf und an den Wurzeln der Starken zerrte.

»Ob wohl Harro zu erreichen wäre?«

»Laß es uns erwägen, Malte.«

Und während sie berieten, kam Güldenfey eine Gewißheit. Warum tauchte diese Frage nach Harro immer wieder auf? Was wollte Malte von ihm, der ihn doch nicht verstand? Sie begriff, daß es Malte nicht um Harro zu tun sei, er wollte eine starke Kraft an seiner Seite haben. Sie selbst? Ach, die gute Erziehung steckte ihm zu tief im Blut, als daß er nur einmal vergessen hätte, Rücksicht auf sie zu nehmen.

Scheinbar ging sie auf seinen Vorschlag ein: morgen, wenn sie allein war, wollte sie die Verbindung mit Harro herzustellen suchen. Sie war entschlossen, es nicht zu tun. Harro aus dem Ferienaufenthalt herbeirufen, ihn unwirsch oder laut mit Besserungvorschlägen auf Malte eindringen sehen? Das hätte keinem genützt und allen weh getan.

[S. 206]

Als sie am Abend allein war, überzählte sie die Barschaft, die sie für alle Fälle zu sich gesteckt hatte. Es würde reichen. Ihr Plan war gefaßt. —

Malte war abgereist; scheinbar erfrischt. Doch den Zug, der sich um seinen Mund eingeschliffen, diesen drohenden unheimlichen Zug der Starre, den trug er mit sich. Güldenfeys Herz klopfte hörbar, als er sich grüßend nach ihr umwandte. Dann kehrte sie hastig in ihr Zimmer zurück, raffte ein paar Dinge zusammen und verließ das Haus.

Nach dem Bahnhof! Sie wollte zu Jörg, ihn herbeirufen. In Ungewißheit harren, ober käme, einen Tag allein in dieser gärenden Stadt zubringen, das hätte sie nicht vermocht. Sie mußte handeln.

Wie war der Tag zum Verschmachten heiß, wie unruhig ging das Gespräch der Reisenden! Liefen die Räder nicht schneller? Zuweilen war es, als sogen sie sich an den Schienen fest.

Wälder, in denen Stürme gewütet, Flüsse, auf denen sich müde Deutschlands Schiffahrt wieder regte, Städte von ehrwürdigem Klang. Endlich Jörgs neue Heimat. Es war Abend geworden.

Güldenfey eilte durch die unbekannten Straßen, ging an dem alten Rathause vorüber, vor dem das Standbild des Großen Friedrich stand, den gezückten Degen in der Hand, gebieterisch in das Feld der Tat weisend. Ja, du!! ... Endlich war die Wohnung erreicht.

Jörg war nicht daheim. Eine freundliche Wirtsfrau, die in Güldenfey sofort die Schwester erkannte, tröstete sie: der Herr Treß werde bald kommen, er befinde sich noch in einer Probe. Ob sie etwa Tee ...

Güldenfey dankte. Nein, nur nicht warten! In drei Stunden fuhr ihr Zug. Sie ließ sich das Haus beschreiben, in dem er sein mußte, und ging. Es war bald gefunden, sie vernahm schon von weitem das Spiel eines Klaviers und wußte, das konnte nur er sein.

Sie öffnete leise eine Tür und trat auf die Schwelle eines mittelgroßen Raumes. Im Hintergrund am Flügel saß Jörg, um ihn eine Schar Junger, etwa zehn. Er brach nach einigen Takten das Spiel ab und trat vor seine Schüler. »So etwa also sollte es klingen. [S. 207] Doch ich sage euch: die glänzendste Passage ist nicht halb soviel wert wie der gute Gedanke während des Spiels. Glaubt's oder glaubt's nicht: das Edle wirkt ansteckend wie das Böse. Darum, treibt ihr Kunst um der Menge willen, seid ihr tönendes Erz, und treibt ihr Kunst um der Kunst willen, seid ihr klingende Schelle. Euch selbst muß sie im tiefsten veredelt haben, bevor ihr wagt, vor andre zu treten ...«

Er hielt plötzlich inne und beugte den Kopf vor, seine Blicke bohrten sich in das Halbdunkel, das um die Tür war. Güldenfey trat einen Schritt vor, und jetzt war er bei ihr.

»Jörg,« sagte sie, als er ihre Hände hielt, »kannst du in einigen Stunden mit mir fahren?«

»Gewiß, Güldenfey,« murmelte er zögernd, und dann sicher: »Natürlich, Güldenfey!« Er sprach einige Worte zu seinen Leuten, gab einem Älteren eine Weisung, dann nahm er ihren Arm.

»Nach Berlin, Jörg«, sagte sie. »Ich bin mit Malte dort.« —

Sie fuhren durch eine warme Nacht, die von Düften des blühenden Faulbaumes getränkt war, nordwärts. Am Morgen waren sie am Ziel.


Was war über Nacht aus Jörg geworden? Malte staunte. Wie schnell erfaßte Jörg, um was es gehe, wie findsam sah er neue Wege, wie unermüdlich stand er dem Bruder zur Seite! Das verwirrende Treiben auf den Banken beirrte ihn nicht, die vorsichtig ablehnenden Ausflüchte der kühlen Geschäftsleute, die stets einen luftleeren Raum zwischen sich und den andern legen, schreckten ihn nicht. Er ging unbeirrt mit zupackenden Worten auf sein Ziel los. Es war, als hätte er seit langem die Taktik der Krebsgänger studiert.

»Sie sind Kaufmann?«

»Nein, Musikbeflissener.«

Der feiste Direktor mit den Bartflecken auf der Oberlippe staunte.

Jörg winkte beruhigend: »Trotzdem altes Kaufherrenblut. Vielleicht geht mir auch die Befangenheit Ihrer Zünftigen ab. Jawohl, [S. 208] Befangenheit sagte ich. Denn trotz Ihrer künstlichen Ruhe fiebert doch in Ihnen allen die Beflissenheit vor dem, der auf einer höheren Steuerstufe steht.«

Malte machte eine unruhige Bewegung. »Verzeihen Sie die Abschweifung, Herr Direktor. Ich glaube, wir kommen nicht zum Ziel. Mein Bruder bittet, Herrn Usadel sprechen zu dürfen.«

»Herr Usadel ist nicht zu sprechen«, sagte der Feiste streng.

»Man könnte es versuchen. Haben Sie die Güte, uns seine Wohnung zu nennen?«

»In seiner Wohnung empfängt Herr Usadel nicht. Mir ist verboten, die Adresse aufzugeben.«

»Doch er ist in Berlin?«

Der Feiste hob die Schultern und geleitete die Herren höflich, aber spöttisch lächelnd zur Tür.

»Es ist doch vergeblich, Jörg«, sagte Malte. »Morgen noch ein Versuch, dann fahre ich nach Hause.«

Ja, es war vergeblich, das erkannte Jörg. Er konnte nicht helfen, und diese erfolglose Hetze in der Zone des Geldwesens, in der sich alle Gifte der Zeit ausschwärten, erschöpfte Maltes Kraft bis zur Neige. Dennoch — diesen Usadel hätte er gern aufgesucht, nicht um etwas zu erreichen — das war Maltes kranke Idee —, nur um ihn zu studieren.

Am Abend dieses Tages schon wußte er, wo Usadel wohnte. Das Haus lag in nächster Nähe, in einer jener ehemals stillen Straßen, die zum Tiergarten führen, in die aber jetzt der sich stauende Verkehr der Hauptstraße seine Überfülle abwälzt.

Jörg ging mit Güldenfey am folgenden Morgen vorüber: es war ein kleiner Palast, dessen blankpolierte Tür und verhüllte Fenster wie die Häuser der Gewalthaber in der Renaissancezeit eine sehr entschiedene Ablehnung gegen das Öffentliche der Straße bekundeten.

»Hier wohnt er, der Maltes Unstern ist«, sagte Jörg.

»Usadel?« fragte Güldenfey. »Aber Malte sucht ihn doch seit Tagen!«

»Vielleicht ist es gut, er findet ihn nicht. Wir aber wollen versuchen, ob wir zu ihm dringen können.«

[S. 209]

»O Jörg!« sagte Güldenfey erschreckt, da er stehen blieb.

»Du darfst dich nicht vor diesem Menschen fürchten«, sagte Jörg und zog den Glockenknopf. »Ich will reden, aber deine Nähe sänftigt.«

Er mußte noch häufig das Glockenzeichen geben, bis von innen sich Schritte näherten. Eine Stimme fragte, wer da sei.

»Öffnen Sie!« entgegnete Jörg.

Wer da und was das Begehr sei.

»Machen Sie auf und Sie werden es hören.«

Eine Pause unschlüssigen Wartens, dann wurde umständlich ein dreifaches Schloß geöffnet, und eine schmale Spalte klaffte, in der das glattrasierte Gesicht eines Bedienten erschien.

»Wir wollen zu Herrn Usadel.«

»Herr Usadel ist nicht zu sprechen.«

»Er wird zu sprechen sein.« Jörgs Arm preßte die Tür, die sich schon wieder schließen wollte, zurück. »Erlauben Sie,« sagte er, »man darf eine Dame nicht auf der Straße warten lassen. Güldenfey, bitte!«

Sie betraten den Hausflur, der wohl als Warteraum gedacht war. Man blickte durch hohe Fenster auf den Hof und auf alte Bäume eines dahinterliegenden Gartens. Jörg überhörte geflissentlich die Lüge des hochmütig, gekränkt Dreinblickenden, Herr Usadel sei gar nicht anwesend.

»Wollen Sie melden: Herr Treß. Fräulein Treß wird mich erwarten. Oder ...« Er bot Güldenfey den Arm und schritt an dem Bedienten vorüber den Stufen zu, die zu den Gemächern führten.

Geschmeidig wie ein Panther glitt jener voraus und verschwand hinter einer halbgeöffneten Tür. Man hörte ihn in dem zweiten Zimmer, in das man blicken konnte, leise, doch erregt sprechen. Eine Stimme antwortete ihm, dann erschien er in der Tür und machte eine Handbewegung. Jörg trat ein; Güldenfey blieb in dem ersten Zimmer zurück.

Hinter einem breiten Tisch saß ein Mann in einem Anzug aus ungefärbter Seide, Morgenschuhe an den Füßen; die massigen [S. 210] Hände lagen ineinandergelegt auf einem ausgebreiteten Briefe. Er sah nicht überrascht, sondern völlig gleichmütig auf den Eintretenden.

Jörg nannte seinen Namen und fragte, ob er Herrn Usadel sprechen dürfe. Eine kaum merkliche Bewegung, die nicht verneinend, nicht zustimmend gedeutet werden konnte, antwortete. Jörg bat um die Erlaubnis, sich setzen zu dürfen. Wieder die unbestimmbare Bewegung.

»Ich bin im Namen meines Bruders Malte hier, er hat Sie nicht erreichen können. Er ist durch die Kündigung des Vertragsverhältnisses in Verlegenheit gekommen und bittet, diese rückgängig zu machen.«

Während Jörg sprach, betrachtete er Usadel. Das also war der Allmächtige, der die Geschicke der Welt mit einigen andern gemeinsam lenkte. Welche Gedanken mochten hinter den verdeckten Augen sich kreuzen? Unbeweglich wie eine Amphibie lauschte er. Oder hörte er gar nicht? Doch, er hatte verstanden!

»Sie sind nicht an die richtige Stelle gegangen«, erwiderte er, als Jörg innehielt. »Ich habe mit der Sache nichts zu schaffen.«

»Aber mit meinem Bruder schlossen Sie doch den Vertrag.«

Usadel bewegte bedauernd die Hand. »Unser Ring ist sehr umfassend.«

Jörg machte eine Bewegung, die Augenlider schnellten hoch. Trug der Mensch dort eine Waffe bei sich?

»Sie haben aber Einfluß, den Sie ausüben könnten.«

»Bedaure, nein.«

»Sie wollen ihn nicht wahrnehmen.«

Die fleischigen Hände machten wieder die nichtssagende Bewegung; dabei erblickte Jörg die abgestumpften Daumen des Mannes, diese kurzen kralligen Glieder, die Kennzeichen versklavter Abstammung oder Reste tierischen Herkommens sind. Plötzlich erhellte sich ihm die Erscheinung dieses in träger, abwehrender Ruhe verharrenden Menschen: sein brutales Kinn, die Unbeweglichkeit dieses verdeckten faltigen Gesichts. Usadel, was besagte dieser unwirkliche Name? Welches Stammes Siegel trug diese Stirn? Der [S. 211] Mann war auf keine Formel zu bringen; wie alle großen Menschheitverderber war er eine fleischgewordene Idee des Bösen, ein vermenschlichter Fluch.

»Sind Sie fertig, Herr Treß?« fragte er. »Ich habe wenig Zeit.«

»Ich bin allerdings am Ende«, erwiderte Jörg. »Könnte ich Ihnen menschliche Empfindungen zutrauen, so würde ich Sie daran erinnern, daß Ihr fluchwürdiges Gewerbe, das Menschen wie die Blätter eines Kartenspiels benützt und sie nach dem Gebrauch auf den Kehricht wirft, Ihnen den wohlverdienten Lohn einmal heimzahlen wird. Aber Sie stehen unter unserm Maß, Sie gehören nicht zu uns.«

Er sah, wie eine seltsame Bewegung den Mund Usadels verzog. Dann wandte er sich grußlos und ging.

Im Vorzimmer stand lauernd, wie ein Raubtier zum Sprung bereit, der Diener.

»Komm, Güldenfey!« sagte Jörg.

Auf der Straße klammerte sich Güldenfey an seinen Arm. »Jörg, ich habe ihn unausgesetzt betrachtet, er schien mir so bekannt. Sahst du ihn schon einmal? Der Mann deiner Zeichnung, der auf dem Häuserturm sitzt und angebetet wird, das ist er!«

»Du hast ihn erkannt«, sagte Jörg. »Ja, ich habe ihn schon erblickt, damals als ich verwundet im Felde lag. Der mir den furchtbaren Tausch anbot, das war er!«


Der fliegende Holländer

Prasselnd fuhr der Sturm durch die Gassen und Märkte der alten Stadt. Sie hatten manchen Sturmtag erlebt, die alten wehrhaften Türme, die als Wahrzeichen gegen Land und See blickten. Aber wenn er wie an diesem späten Novembertag schneidend kalt aus Nordost blies, die Dohlen von den Schalluken verjagte und die Möwen zu Land trieb, dann fingen sie an zu klagen.

Ssssiii — jüh! Die Sturmflut kommt. In den fünffachen Böden der alten Giebelhäuser polterte, knackte und stöhnte es, als seien [S. 212] die Geister aller derer, die während sechshundert Jahren hier gehaust, erwacht und träten einen Rundgang an. Fenster bogen sich unter dem Anprall des Sturmes; was in morschem Rahmen saß, ward herausgepreßt und klirrend hinabgeschleudert. Die Läden vor!

Ssssiii — jüh! Die Böen schlugen wie Fäuste gegen die Schlote und knickten sie, als sei es dürres Rohr. Dachziegel, Gossen und Rinnen flogen polternd hinter ihnen drein auf die Straße unter schreckhaft flüchtende Menschen, denen das höllische Hohngelächter des wilden Gejaids nachklang.

Wo der Sturmesruf nicht so nachdrücklich vorherrschte, vernahm man das ferne dumpfe Brausen, das grollende Zornesgeschrei der aufgewühlten See, die zwischen Insel und Festland herandonnerte, ihre Pranken gegen die Bollwerke schlug und in die Kaimauern Loch neben Loch brach.

Wie verdunkelt der Himmel herabhing, und war doch Mittagszeit! Das gelblichgraue Gewölk war wie Rauchschwaden eines giftigen Brandes, der irgendwo in der Ferne schwelte. Darunter hasteten Wolkenflocken als eine unheimliche Flucht sich lösender und wieder ballender Schatten. Der Sturm trug Schaumfetzen und den herben Geruch des Meeres über Dächer und Türme.

Malte verließ am frühen Nachmittag das Haus am Markt. Auf der Schwelle der Geschäftsräume blieb er stehen und schaute zurück. Über den Pulten und Tischen flammten die Glühkörper, die heute vom Morgen an Licht gespendet hatten. Die Arbeitenden hoben zuweilen die Köpfe, als lauschten sie dem Brausen, das jeden Raum erfüllte. Hatte sich jetzt schon die straffe Zucht gelockert? Ach, es war ja alles gleichgiltig!

Auf dem Flur zögerte er. Frauke? Nein, sie hatte so bestimmt geäußert, sie wolle allein kommen; es war besser, er ging.

Aber die Stunde, in der man über ihn zu Gericht sitzen sollte, schlug noch nicht; er hatte noch Zeit. Er wollte, er mußte in die freie Luft, sich durchwehen lassen, im Trotz der Elemente die Fassung gewinnen, die ihnen die Stirn zu zeigen wagte. Er wandte sich dem Hafen zu.

[S. 213]

Keiner beachtete heute den andern. Die Menschen gingen, mit der Hand den Hut fassend, in den seltsamsten Haltungen, teils vom Sturm getrieben mit eingedrückten Rücken, teils mit vorgeneigtem Kopf gegen ihn ankämpfend; sie glichen gekräuselten Spänen, die ein wildes Feuer ausgestoßen hat.

Das Getöse wuchs, je näher er der See kam. Das Sprühwasser wurde in das Land geworfen: auf den Dämmen wogten breite Lachen, die man umgehen mußte. Die Keller der nächsten Häuser füllten sich.

Die Menschen verständigten sich durch Zeichen. Zuweilen versuchte es einer, die Stimme der See zu überschreien; doch der rasende Sturm riß den Hall fort, bevor er das Ohr erreichte. Man klammerte sich aneinander, um nicht fortgeschleudert zu werden.

War dieser kochende Riesentiegel das Meer? Wogende Abgründe, stürzende Hügel, schäumende, langmähnige Wasserrosse, die schnaubend an das Ufer sprangen und zerschellten. Ungesehen und lautlos konnte in diesem Tumult verschwinden, wem das Leben leid war.

Das Gebrüll der Wasser war ohrbetäubend, der eisige Wind dämpfte den Atem. Malte wandte sich der Stadt zu, wo Möwen schreiend durch die Straßen flogen.

Der Treßhof lag dunkel und zusammengekauert wie ein Fossil der Urzeit, das sich um die Erregungen zahmer Zeiten nicht mehr kümmert. Im Beratungzimmer zeigte sich ein Licht. Aber in den Speichern trieb der Sturm sein Unwesen, zerrte an den Lukenläden und stieß gegen die Mansarden. Ssssiii — jüh!

Als Malte eintrat, unterbrach sein Erscheinen ein Gespräch zwischen Harro und Ose. Die Brüder begrüßten einander kühl. Malte blickte Ose fragend an: sie hielt in bebenden Händen das Bild des Balzer Treß, dessen Rahmen zerborsten war.

»Der Sturm«, sagte sie tonlos. »Er hat es von der Wand geworfen.«

»Erzähle doch!« drängte Harro.

»Wolle Gott allen Seelen heute gnädig sein, vor allem ihm, dem fliegenden Holländer«, entgegnete sie scheu.

[S. 214]

»Und du sagst, er fahre heut noch draußen umher?« begann Harro wieder.

Ose blickte zu Malte hinüber, der sich am Wandschrank in der Tiefe des Raumes zu schaffen machte. »Gott allein weiß, ob nun, da das Bild fiel, seine Prüfung beendet ist«, sagte sie halblaut. »Wenn nicht — ja, dann fährt er noch. Und immer steuert er in den wildesten Sturm hinein, weil er seinen Untergang sucht. Aber er soll erst Erlösung finden, wenn die goldene Fee an dem Galion der Kogge ihren Platz verläßt und sich zu ihm kehrt.«

Malte horchte auf. Was sagte sie? Aber es blieb keine Zeit zu fragen: die andern kamen, und Ose ging, das beschädigte Bild in der Hand, nach oben.


Es war wie vor vier Jahren. Onkel Rolf legte seine gefüllte Aktentasche vor sich auf den Tisch. Frauke saß in der gleichen Haltung im Lehnstuhl. Güldenfey, Harro ... nur Jörg fehlte. Nein, es war nur scheinbar so. Er, Malte, der sich damals vermaß, den geschädigten Vermögensstand zu bessern, den alten Glanz des Treßhauses wieder zu erneuern, er saß hier als ein Geschlagener. Man trank keinen Festwein auf frohes Gelingen, man klagte ihn des Leichtsinns an. Es war nicht mehr Frühling, sondern die Welt ging in spätherbstlicher Sündflut unter. Der Sturm regierte: Ssssiii — — jüh!

Was bedeutete das? Güldenfey setzte sich an seine Seite, nickte ihm ermutigend zu und berührte ihn tröstend. Sah man es ihm an, wie er litt? O, er wollte diesen Gang allein gehen. Onkel Rolf sah ihn an; er erhob sich.

Als er stand, Auge in Auge vor den Geschwistern, die schwere Last der Selbstverantwortung auf der Seele, da überkam ihn die grauenvolle Öde des Alleinseins. Seine Stimme splitterte und brach, er mußte noch einmal beginnen. Er wußte nicht, was er sagte. Seine Verteidigung war eine Anklage gegen die Zeit. Hatte er nicht klüglich hin und her erwogen? — Doch die Zeitläufte hatten jeder Berechnung gespottet. Hatte er nicht um Rat gefragt? — [S. 215] Die Klugen waren selbst zuschanden geworden. Hatte er sich nicht in Arbeit verzehrt? — Was bedeutete heute ehrliche Arbeit! Hatte er nicht gelitten — —?

»Ja, du hast gelitten«, sagte Güldenfey leise.

Malte setzte sich. Onkel Rolf rieb sein Kinn: jetzt hatte er das Wort. Seine Aufgabe war wahrlich nicht beneidenswert, den Treßkindern mitzuteilen, daß sie so gut wie nichts mehr besaßen. Fast täglich hatte er den bei ihm Rat Suchenden ihren Ruin zu bestätigen, gestern erst seinem Klaus!

Mit trockener Gründlichkeit entledigte er sich des Auftrags. Jetzt horchten sie auf. Was Malte gesagt, war Spiel mit Gefühlen, ja doch, ja doch! Aber man wollte doch die Tatsächlichkeit kennen.

Malte blickte nur auf Frauke, ob sich in ihren Mienen etwas zeige, was ihrer Seele Regung offenbare. Er gewahrte nichts. Wie ein Bild aus Stein saß sie da, die Hand an der Wange. Er hatte, als der Abschluß geschehen, mit ihr zu sprechen versucht, hatte ihr klargemacht, daß ihm der Ring die Gelder ausgezahlt, ja, mehr als er gegeben, zurückerstattet habe, und daß trotzdem dieser Berg von Papier nichts wert sei. Sie hatte ihn starr angesehen und geschwiegen. Geschwiegen, immer nur geschwiegen! Jetzt ...

Onkel Rolf hatte geendet, eine peinvolle Pause dehnte aller Not ins ungemessene. Warum reden sie nicht, warum entrüsten sie sich nicht? dachte Malte. Ihre Blicke, die mich fliehen, sind furchtbarer als ihre Anklagen. Warum ist Frauke noch immer so erstarrt?

Harro war der erste, der die Qual endete. »Habe ich recht verstanden? Unser Barvermögen ist also völlig dahin, und das Grundvermögen ...?«

Onkel Rolf entgegnete umständlich, daß Verbindlichkeiten da seien, die getilgt werden müßten; vielleicht sei der Treßhof zu retten, vielleicht!

Es ging wie ein Schlag durch alle. Vielleicht? War das Leben denkbar ohne den Hof? Ihn einbüßen — hieß das nicht, die Lebenswurzel ausreißen?

»Also, das wäre das Ende!« sagte Harro heiser. »Wir arm, der Treßhof in fremder Hand. Es ist herrlich weit gebracht.« Er lachte [S. 216] plötzlich wild und ungezügelt auf, aber das war das Schreckliche nicht. Schrecklich war der flammende Blick, der wie ein Schwert auf Malte zufuhr, der Blick und das Wort, das wie ein Auswurf war: »Erbärmlich!«

Malte saß starr da. Nur schweigen, sonst reißt etwas, dachte er.

Aber Güldenfey fing wie eine Schildjungfrau das Verwundende auf. »Harro, wie magst du ihm so weh tun!«

»Ist es nicht wahr?« schrie Harro, der sich jetzt entschränkt fühlte. »Alles ...«

Doch er sprach nicht weiter. Güldenfey hatte sich erhoben und schützend ihre Hände ausgebreitet. »Sprich nicht weiter, Harro. Erst höre uns an.« Sie zog ein Papier heraus und entfaltete es. »Von Jörg,« sagte sie feierlich, »und ich bin befugt, es hier auszusprechen: er verzichtet auf seinen Vermögensanteil. Hier, Onkel Rolf! Und ich, Malte, schließ mich ihm an. Du kannst unsertwegen unbesorgt sein, Malte. Willst du es von mir auch schriftlich haben?«

Alle blickten Güldenfey an, auch Frauke.

»Ja, Jörg!« rief Harro unmutig. »Der verdient sein Brot und ich schließlich auch. Aber du, Güldenfey!«

»Auch das darf euch nicht Sorge machen«, sagte sie. »Jörg und ich haben beschlossen, daß ich zu ihm gehe.« — —


Ssssiii — — — jüh! rast der Wind. Zwei Menschen kämpfen sich durch die Straßen, zwei Menschen, die nichts mehr miteinander gemein haben, die sich unter dem zerfegenden Druck des Sturms nicht die Hände reichen, sondern die voneinander streben. Ein Dachziegel wird vor ihre Füße geschmettert. Malte ergreift unbewußt Fraukes Arm, um sie zurückzuziehen, fühlt ein deutliches Widerstreben und zieht schnell die Hand wieder an sich.

Eine Tür tut sich vor ihnen auf und schließt sich hinter ihnen, sie sind in ihrer Wohnung. Frauke legt ab und tritt zu Malte. Jetzt wird es kommen, denkt er, will ihren Namen nennen und verstummt, da er sie ansieht.

[S. 217]

»Es ist das beste, ich verabschiede mich jetzt von dir«, sagt sie. »In zwei Stunden fährt mein Zug.«

»Du willst nach Hamburg reisen?« fragt er, und als sie nickt, fährt er fort: »Ich dachte es mir, es gibt hier allerlei Bitteres zu kosten. Natürlich, es ist besser für dich.«

»Lebewohl!« sagt sie. »Wir haben uns wohl jetzt weiteres nicht zu sagen.«

»Nein«, erwidert Malte. Er erfaßt den Sinn ihrer Worte nicht.

»Was zwischen uns zu erledigen ist, kann schriftlich geschehen.«

»Gewiß.«

Frauke merkt, daß er noch immer nicht versteht, um was es geht. »Meines Vaters Anwalt ...« Sie hält inne, denn der Blick, der sie trifft, ist entsetzlich. Jetzt hat er begriffen. Sie sieht, wie die Erkenntnis in ihm wühlt.

»Ich hätte es wissen können, wäre ich nicht von zu hohen Erwartungen beseelt«, sagte er endlich bitter. »Frauke Poppelmann kann nur im Glanz des Reichtums atmen; Opfer bringen, nein, das liegt fern von ihrer Art.«

»Es ist nicht nötig, daß du mich kränkst«, sagt sie.

»Kränkt die Wahrheit?«

Plötzlich erwacht das alte Treßblut in ihm, das Seeräubergeblüt, das die Männer ehedem anstachelte, sich die Frauen der Inseln zu rauben und mit gewaltsamer Hand zuzupacken. Wahrlich, es hat bei dieser da wenig gefrommt, abzuwarten und zu werben! Was ist der Lohn? In der Stunde, da Mann und Weib eins sein müssen wie nie, geht sie davon und überläßt ihn den wilden Hunden. O, er war immer allein, immer allein! Jetzt es ihr sagen, sie die Wahrheit bis zum Bodensatz kosten lassen. Und er sagt es ihr.

»Du hast mich nie geliebt, Frauke, nie, nie!«

»Wie wenig du mich doch kennst!« Frauke scheint ganz gelassen, ganz kühl, ihre Augen blicken etwas spöttisch und sind grau wie Meerwasser, das vom Wind bewegt wird. Aber in ihrem Inneren ist eine Flamme entzündet, unter deren Ansturm ihre Brust mühsam ringt. »Wie wenig du mich doch kennst, Malte Treß!« wiederholt sie bebend. »Meinst du wirklich, ich hätte dich genommen [S. 218] damals in Harvestehude, wenn ... ohne daß ich dich geliebt hätte? Nein, nein! Aber die Liebe hat mir freilich jemand genommen: du; und das konnte ich dir nicht vergessen.«

Ist das noch Kälte, oder ist es verhaltene Leidenschaft, die unter ihren Worten klingt?

»Und da wir nun voneinander gehen, kann ich es dir auch sagen, wie es kam, nicht um mich zu rechtfertigen, sondern damit du einsiehst, was deines Unglücks Grund ist. Ich liebe nur den Mann, der darstellt, was er seinem Wesen entsprechend ist, Männer wie Jörg, die ihren innersten Beruf erkennen und sich durchsetzen. Du aber wolltest immer anders erscheinen, als du warst, du wolltest mehr sein, als du bist, immer ein wenig Poppelmann, immer etwas neuzeitlicher Mensch. Du heißt Treß und warst zu besonderem Handeln verpflichtet, doch das war dir nicht genug. Wohl weiß ich, du tatest das, um mich zu gewinnen, und du ahntest nicht, daß du dich dadurch von mir entferntest; denn wenn wir Poppelmanns auch nicht eine so alte Familiengeschichte besitzen wie ihr, wir schätzen darum doch nur, was echt ist.«

Er starrt sie an und weiß nichts zu entgegnen. Er berührt die Hand, die sie ausstreckt, und senkt die Augen. Er hört das Klingen ihrer Armreifen, das seidige Rauschen ihrer Kleider; die Fäden des Perlvorhangs klirren hinter ihr aneinander: er weiß, daß sie ihm verloren ist. —

Frauke steht im Zimmer und überschaut ihre Koffer: dies soll ihr gesandt werden und dies; und jenes nimmt sie mit sich. Morgen ... Sie hält in ihrem Hin- und Herschreiten plötzlich inne. Es wird eine Leere morgen hier sein, die er schmerzhaft empfindet. Sie rafft sich zusammen: es wird auch für ihn ein Übermorgen geben, und er wird vergessen.

Sie wendet sich um, als sie eine Bewegung der Tür wahrnimmt, denn sie erwartet Telge. »Güldenfey? — Es ist gut, daß du kommst, Güldenfey; ich wäre am Treßhof vorgefahren, dir Lebewohl zu sagen. Ich will ...«

Ist es nötig, das auszusprechen? Die strahlenden Augen Güldenfeys sind ganz verändert, voll Dunkel und Schweigsamkeit und [S. 219] reden doch so laut, daß Frauke, die überlegene, ihrer selbst so sichere Frauke, den Blick senkt.

»Du willst fort? Jetzt willst du fort?«

Frauke bejaht. Sie wappnet sich mit Trotz. Will diese Junge, die nichts von Männern und von der Ehe weiß, ihr Vorhaltungen machen und sie meistern? Sie wendet sich ab, spricht ein paar abgerissene Worte, in denen sie ihren unabänderlichen Entschluß kundtut, ballt den Verdruß der letzten Wochen, den sie in sich aufgespeichert, zusammen und schleudert ihn von sich.

Güldenfey erwidert nichts, ihr Blick wird nur um einige Schatten dunkler. Habe ich mich in Frauke doch geirrt? Las ich die Schrift nicht recht, wenn in kurzen Augenblicken ihre Seele offen vor mir lag? ... Aber sie, die in allem Gottes Odem spürt, findet auch jetzt das Rechte.

»Frauke, ich weiß, du hast durch uns viel verloren. Es ist mir leid. Malte würde dich gewiß beklagen, aber denk', wieviel jetzt durch seine Seele geht. Glaube mir, er wird dir alles ersetzen, und kann er es nicht, so stehen wir andern für ihn ein.«

Frauke will auflachen, doch vermag sie es nicht: etwas ist da, das sie verstummen läßt.

»Jetzt« — Güldenfeys Augen leuchten wieder in dem sieggewissen Glanz — »jetzt freilich kann ich dir nichts geben als dies. Es ist nur ein kleiner Stein und doch sehr wertvoll: der Segen unsrer Mutter haftet an ihm.«

Sie hat das Kettlein von ihrem Hals gelöst und reicht ihr den Amethyst dar.

Lächelt Frauke nicht ihr altes spöttisches Lächeln, hebt sie nicht die Schultern in der ihr eignen Bewegung? Nein, sie steht unbeweglich und blickt Güldenfey starr an. Es rührt sich eine Bewegung in ihr, die nur darin ihren Ausdruck fände, daß sie ihre Arme um des Mädchens Hals schlänge. Doch das hat sie nie getan, sie, die Tochter Josias Poppelmanns.

»Ich danke dir, Güldenfey«, sagt sie abweisend, und Güldenfey steckt den Stein traurig wieder ein.

[S. 220]

»Erfüll' mir wenigstens eine Bitte, Frauke, und erlaube, daß ich während dieser Nacht in eurer Wohnung bleibe.«

»Gewiß. Aber warum?«

»Wegen Malte. Er darf jetzt nicht allein bleiben. Mir ist bange um ihn.«

Wieder spürt Frauke diese elementare Bewegung in sich, und wieder hat die Poppelmannsche Gehaltenheit die Oberhand. Sie nickt, sie will etwas sagen; da kommt Telge, und sie scheiden wortlos voneinander.


Malte sucht sein Arbeitszimmer auf. Die Plätze vor den Pulten sind jetzt leer, nur im Hintergrund flammt noch eine Lampe, und Häberle hebt den Kopf von seiner Arbeit.

»Sind Sie noch hier, Herr Häberle?«

»Ich wollte nur den Auszug noch fertigstellen, Herr Konsul.«

»Ich danke; aber nun ist es genug.«

Häberle erhebt sich, grüßt und wendet sich zur Tür.

»Herr Häberle!«

»Herr Konsul!«

Malte kommt auf ihn zu und reicht ihm die Hand. »Sie haben mir immer treu beigestanden wie meinem Vater. Ich danke Ihnen. Jetzt ...«

Häberle ist bewegt und rückt an seiner Brille. Die Worte klingen so sonderbar. Ist das ein Abschied? »Herr Konsul,« sagt er und gibt seiner Stimme eine heitere Färbung, »wir haben Unglück gehabt wie andre auch. Das kommt vor, aber es ist zu verwinden. Wir kommen wieder hoch. Das Haus Treß hat manchen Stoß ertragen.«

»Ich danke Ihnen, lieber Häberle.« —

Häberle geht, jetzt ist er allein. Abschließen? Warum? Es wird niemand kommen. Malte betritt sein Zimmer und läßt sich nieder. Die Uhr klingt, der Arm mit der Hippe sinkt: carpe diem ! Malte stöhnt leise auf.

Ssssiii — — jüh! fährt es über den Markt, verfängt sich in Kaminen und Schloten und hohnlacht zwischen den Giebeln. [S. 221] Draußen tobt die See, und zorniger Geifer flockt von ihren Kiefern, man schmeckt den salzigen Odem bis hierher. Der fliegende Holländer jagt mit vollen Segeln vor dem rasenden Sturm. Wird nicht endlich der Kiel der Kogge auf knirschenden Sand laufen und das bis zum Bersten geladene Schiff brechen? Wie sagte Ose? Er steuert in das wildeste Gebraus hinein, er will den Untergang, den Tod, die Erlösung.

Ach, er kennt die Sage von Balzer Treß zur Genüge, wie oft hat Ose sie dem aufhorchenden Knaben an stürmischen Abenden erzählt! Aber nie bis heute hat er gewußt, daß zwischen jenem und ihm geheime Fäden sich spannten, daß Balzer ihm unbewußt Vorbild war: der Drang, das Haus Treß zu altem Glanz zu erheben; die Jagd hinter der Glücksgöttin her; die Sorge um das Sichverlieren und den Heimweg. Wo ist der Weg nach Heilisoe?

Alles wiederholt sich, alles. Die Spindel, um die das Leben kreist, ist so eng. Wer aber wagt ihm zu sagen, daß er unrecht tat? Harro? Frauke? Onkel Rolf oder die Poppelmanns etwa? Sie alle, wären sie an seiner Stelle gestanden, hätten nicht anders gehandelt als er. Entscheidend allein ist der Erfolg, das Glück, den Heimweg zu finden.

Ssssiii — — jüh! Wer dem Sturm verfällt, der ist verloren, wer den Kurs verliert, der muß irren und zugrunde gehen. Aber die Glücklichen, die ihm entrinnen, die preist die Welt und feiert sie als Helden! Ich, Malte Treß, bin unschuldig an dem, was unserm Haus widerfuhr, jawohl, unschuldig!

Er hat es laut gerufen, und wie zur Antwort prasselt es draußen auf das Pflaster nieder, als habe eine Riesenfaust das Dach abgedeckt und werfe die Last sprühend auf den Markt. Malte fährt zusammen, doch nicht im Schreck über das Geräusch. Von außen und aus allen Winkeln des Zimmers klingt ihm das Echo seines letzten Wortes entgegen: Unschuldig, wirklich unschuldig? Der Mann mit der Hippe ruft es, und sein Schreibtisch ruft es und die Bücher, und alles hat plötzlich Augen und starrt ihn seltsam an: Unschuldig?

Ist da nicht Frauke? Er vernimmt ganz deutlich ihre Worte: Ein andrer wolltest du sein als du bist. Steht dort nicht die Frau an [S. 222] der Tür, die Frau in ihrem zerknüllten Anzug? Und Usadel? Wahrhaftig, das ist Usadel, das kaltblütige Geschöpf, das nicht lächeln kann, in dessen Hirn tausend Feuerfunken kreisen, die eine Welt in Brand setzen. Und alle stehen sie da und zeugen wider ihn: Du hast deine Art nicht gewahrt! Du hast die Ehrenschuld deines Hauses nicht abgetragen! Du hast gegen dein besseres Wissen geschwiegen, als ich die Lästerung gegen Gott und Menschheit ausstieß — und rühmst dich deiner Unschuld?

Malte hebt beide Hände abwehrend, schützend — es nützt ihm nicht. Aus der Tiefe seines Inneren kommt eine Antwort, vor der es kein Entrinnen gibt, und sie sagt nur das eine Wort: Mitschuldig!

Plötzlich fühlt er es in unheimlicher Deutlichkeit: Ja, ich bin mitschuldig. Mitschuldig nicht, weil ich die Not verursacht, sondern mich fern von ihr hielt; mitschuldig nicht, weil ich den über das Volk hereinbrechenden Jammer heraufgeführt, sondern mich durch das Glücksverlangen betören ließ, am Seil der Unredlichkeit mitzuziehen. Der gerechte Richter wird uns einmal nicht verurteilen nach dem, was wir taten, sondern nach dem, das wir unterlassen haben.

Alle die Schreier, die sich über das Unrecht in der Welt entrüsten, wird er fragen: Was hast du dagegen getan? Und stehen sie dann schweigend da, wird er nur das eine Wort finden: Mitschuldig!

Malte tastet nach dem Stift. Wie seine Hand flattert! Wie widerwillig die andre, die schwer wie Blei lastet, gehorcht! Mühselig zieht der Stift in krausen Zügen die Wörter auf das Papier: Frau Jobst ...

Ssssiii — — jüh! Das Haus erbebt unter dem Anprall der Sturmbö. Vor Maltes Augen dunkelt es, als entrolle sich ein endloser scharlachfarbener Mantel. Der fliegende Holländer steht am Mast: Wo geht der Weg nach Heilisoe? Ein Gedanke zuckt durch Maltes Hirn: Auch du bist mitschuldig. Der Fluch des alten Blutes spukt in dir wieder. Hinein in die Brandung, in den Untergang, in die Erlösung!

Ja, die Erlösung. Das Galionbild, die güldene Fey, kommt auf ihn zu, er sieht sie wie durch Nebel. Dann schließt der Scharlachmantel alles zu, und er gleitet langsam vom Stuhl zur Erde. —

[S. 223]

Güldenfey kniet neben ihm und hält seinen Kopf in ihrem Arm. Sein edles Gesicht, das völlig entblutet erscheint, ist eigentümlich schmerzhaft verkrampft, als habe es ein furchtbares Ereignis mit dem Brandeisen des Schrecks gezeichnet. Ist er schon durch das erhabene Tor gegangen, oder steht er noch davor? Sie neigt das Ohr auf seine Brust und hört sein Herz wie fernes Brunnenrauschen gehen.

Zart legt sie ihn nieder und eilt, um Hilfe zu holen. —

Als sie ihn droben gebettet haben, geht sie noch einmal in die Schreibstube zurück, das Licht zu löschen. Da erblickt sie seine letzten Schriftzüge. Frau Jobst? Was wollte er schreiben? Und plötzlich enthüllt sich vor ihrem schauenden Blick die letzte Stunde Maltes an seinem Schreibtisch, was er empfunden und was er gewollt. Sie geht nach oben und setzt sich neben seinem Lager nieder.

Seine Seele irrt auf nächtig verschleierten Wiesen, die ohne Pfade sind, seine geöffneten Augen suchen über den Rand der Zeit hinaus. Aber vielleicht suchen sie die Versöhnung!

Güldenfey wagt es und senkt ihren Mund auf ihn. »Malte,« klingt ihre hohe Stimme leise und doch eindringlich, »du schriebst Frau Jobst. Soll sie etwas? Ich weiß sie zu finden.«

Ein Zucken läuft über das verzogene Gesicht, eine leise Bewegung des Lides zeigt, daß er verstanden hat.

»Sei ganz ruhig,« tröstet sie, »ich gehe zu ihr.«

Als sie das Zimmer verlassen will, tritt ihr Ose entgegen. »Du, Ose?«

»Ich bin gekommen, daß du dich nicht ängstigst«, sagt die Alte. »Er wird nicht sterben. Ich habe die Probe gemacht: die Diele im Treßhof gibt keinen Laut!«


Am Morgen, als sich zwischen das Graugewölk im Osten fahle gelbe Lichtstreifen wie die Brände verschwelender Fackel schoben, hatte der Sturm sich ausgetobt. Wie ein mißhandeltes und verstoßenes Weib lag die Erde da: Wege verweht, Bäume verwüstet, Menschenwerk zerstört. Ein feiner Regen sprühte hernieder und hing [S. 224] sich wie Tränengeriesel an die geknickten Zweige der Sträucher. Es war ein leises Weinen in der geschändeten Natur.

Güldenfey ging, sobald es ihr an der Zeit schien, den Weg gegen die Schwedenschanze zu. Oses tröstliche Verheißung war gut, aber Malte schien von großer Unruhe hin und her geworfen zu werden.

Im trüben Licht des Morgens schien ihr die Straße verändert; sie fand sich nicht zurecht, und eine Sorge schreckte sie, daß sie wieder vergebens den Weg hinter der Frau her suchen müsse.

Doch dort drüben das Haus, das mußte es sein. Als sie eintrat, erinnerte sie das stürmische Läuten der Türglocke, daß sie gefunden habe, was sie suchte. Jede ängstliche Besorgnis war von ihr gewichen, als sie an die Stubentür pochte. Sie kannte die Stimme, die von innen zum Eintritt aufforderte.

Frau Jobst stand zum Ausgang gerüstet in der Stube und sah verwundert dem frühen Gast entgegen. Sie erkannte Güldenfey nicht; als diese ihren Namen nannte, hob sie erschreckt die Hand.

»Ja, ich bin Güldenfey Treß. Sie sagten damals, ich dürfe erst wieder zu Ihnen kommen, wenn wir auf gleicher Stufe ständen, weil arm und reich nebeneinander sich nicht schicke. Nun trete ich als eine Arme bei Ihnen ein. Haben Sie es schon gehört? Wir haben alles verloren.«

Die Augen der Frau weiteten sich. Es war keine frohlockende Genugtuung, es war Entsetzen, was sie ausdrückten. »Mein Gott!« sagte sie. »Ist es wahr?«

»Ja, es ist wahr. Und nun dürfen Sie auch nicht fürchten, daß ich Sie mit etwas, das ich bringe, beschämen will; nein, ich möchte von Ihnen holen. An Ihren Edelmut wende ich mich.«

Frau Jobst blickte Güldenfey an wie eine, die aus schweren Träumen erwacht; ihre Finger tasteten unsicher an den Säumen ihrer Jacke entlang. »Ist es wahr?« stammelte sie. »Es gibt eine Gerechtigkeit? O Gott, mir ist jetzt bange vor ihr.«

»Es gibt eine Gerechtigkeit,« sagte Güldenfey; »sie ist nur höher und größer als die unsre. Doch warum erschreckt Sie das? Arm sein ist keine Strafe, und die geistlich Armen sind selig, weil sie die Empfänglichen sind.«

[S. 225]

»Bitte, setzen Sie sich doch«, stammelte die Frau.

Aber kaum hatte sich Güldenfey auf den nächsten Brettstuhl niedergelassen, als durch den Leib der Frau ein Schüttern ging, wie wenn sich der Wind auf eine einsame Weide wirft. Ganz ihrer seelischen Erschütterung überlassen, warf sich Frau Jobst vor Güldenfey in die Knie und barg ihr überströmendes Gesicht in des Mädchens Schoß. Aus ihrem Schluchzen drangen verwirrte Worte. »Vergeben Sie mir, vergeben Sie mir! Ich habe es verschuldet. Mein Haß hat so lange böse Wünsche ausgeschickt auf das Treßhaus, bis sie zur Tat wurden und das Unheil herbeizogen. Aber Sie hat es nicht treffen sollen, Sie nicht. Und nun ...«

Es war unmöglich, gegen diese wilde Verzweiflung anzureden. Güldenfey strich beruhigend über das verunehrte Gesicht.

»Damals, im Hause am Markt, sagten Sie mir: ›Fluchen Sie nicht, denn jeder Fluch fällt auf den zurück, der ihn ausschickt.‹ Das hat mich ergriffen. Aber als mein Mann so elend starb, da hab' ich es doch getan, nicht einmal, sondern hundertmal. Und als Sie mich hier im Frühjahr fanden, schickte ich Sie fort, weil ich mich vor Ihnen schämte. Nun müssen Sie mir sagen, daß alles sich erfüllt hat, und auf mich fällt es zurück, und mich zerschmettert es.«

In dem Bett im Winkel richtete sich ein Kinderkopf auf, und eine schlaftrunkene Stimme sagte: »Mutter!«

»Das Kind!« raunte Güldenfey.

»Sie soll es wissen, was danach kommt«, schluchzte die Frau.

»Sie sollen sich nicht so erregen lassen«, sagte Güldenfey heiter, und ihre Hand strich sänftigend über das rauhe Haar. »Meinen Sie denn, Ihre Wünsche, die aus einem verbitterten Herzen kamen, hätten etwas über unser Schicksal vermocht, wenn dieses Schicksal nicht zu unserm Besten gedient hätte? Und wenn Sie schon sich schuldig fühlen wollen, so biete ich die Gelegenheit, daß Sie Böse in Gut wandeln können.« Ruhig begann sie zu erzählen, von Maltes Not und Zusammenbruch, von seinem Verlangen nach beruhigender Vergebung.

Das Weinen der Frau wurde leiser, wie eine Klage über ihr zerstörtes Leben und ihr zerronnenes Selbst klang es. Was bedeutet [S. 226] alles Regen des zügellosen Blutes und das Aufbegehren eines entschränkten Willens, wenn beide dem Zeitlichen entwuchsen und nur auf Zeitliches zielten!

»Und was kann ich dem Kranken bestellen?« fragte Güldenfey endlich.

»Sagen Sie ihm, was Sie gesehen haben«, antwortete die Frau. »Unser Wollen ist nichts als ein Wollenmüssen. Ich bitte, daß er mir vergebe.« — —


Güldenfey saß an Maltes Bett, strich über seine erblaßte Stirn und goß Balsam in seine Unruhe. Sie jubelte innerlich, als sie bemerkte, wie die Ruhe seine wunde Seele sättigte. »Nun quält es dich nicht mehr?« fragte sie.

Er wandte ihr dankbar sein Gesicht zu und machte eine Bewegung, die sie als Zustimmung deuten konnte. Seine Blicke glitten von ihr fort, hefteten sich auf einen Punkt, füllten sich mit kinderhaftem Staunen, und ihre Starre löste sich in einem freudigen Glanz.

Was ist ihm nur? dachte Güldenfey und wandte sich um, daß sie erkenne, was ihn fesselte. Da sah sie, daß Frauke in der Tür stand.

»Ja, ich bin es«, sagte Frauke. »Es hat mich nicht in Hamburg gelitten, ich bin gleich wieder zurückgefahren. Was du mir sagtest, Güldenfey ... oder besser, daß du mir nichts sagtest, das ließ mir keine Ruhe.«

Sie trat schnell auf das Lager zu und beugte sich darüber, stutzte aber erschreckt, als sie Maltes entstelltes Gesicht sah.

»Das?« fragte sie.

Güldenfey nickte bedeutsam.

Da hatte Frauke Poppelmann sich schon gefaßt. »Sei ganz ruhig, Malte«, sagte sie. »Ich weiß jetzt, daß ich zu dir gehöre.«

Ihre Stimme war verändert, weich, wie durch ein großes Geschehen geklärt und gesänftigt.

Eine gelähmte Hand tastete sich mühsam auf die dargebotene Frauenhand zu.

Und es war eine wundersame Stille um alle.


[S. 227]

Der Weg nach Heilisoe

Abschied!

Was verbirgt und offenbart dieses Wort? Ströme von Tränen; Abgründe des Schmerzes; seelische Landschaften, zerklüftet und vereinsamt unter hoffnungslosem Wolkengrau; einen Riß durch quellende Adern, einen Damm aus fruchtlosem Gestein gegen das wandelnde Leben. —

Was Güldenfey in der Stunde durchlebt, da sie abschiednehmend den Steig des vergessenen Gartens auf und nieder schritt — keiner hat es je erfahren. Tausend farbige Blumen voll Duft waren im Werden begriffen, aber sie sollte keine von ihnen mehr pflücken und in die Häuser der Armen tragen, daß sie ein wenig Freude darböten. Ja, der Abschied von dem vergessenen Garten war das schwerste! Ihr hilfreiches Denken und Planen war von hier ausgegangen, hatte sich hier als heimlicher Same in die Erde gesenkt und Frucht getragen, hundertfach und tausendfach!

Harro hatte geraten, daß sie ihn nicht wiedersehe, aber ... nein, das verstand Harro nicht. Sie hatte sich die Stunde ungestörten Alleinseins zwischen den alten Mauern ausbedungen. Sie wollte die Schwere des Opfers, das ihr diese Preisgabe war, auskosten. Alle trugen und litten, sie aber sollte mit Jörg in ein fruchtbares Leben gehen; sie forderte ihren Anteil an dem allgemeinen Leid, dessen Härten sie nicht wie die andern empfand.

Nun ging sie zwischen den Beeten auf und nieder und sann. Es würde hier anders werden, ganz anders. Bauende Hände würden schaffen, was sie für nützlich hielten, und im Hochsommer würde um die Mittagszeit der Würzduft der Suppenkräuter zwischen diesen Mauern aufsteigen.

Doch vielleicht gefiel gerade dieser Geruch den alten Männern dort oben, die verdämmernd auf der Kante ihrer Lagerstatt saßen, besser als der Blumenduft. Und in den verwitterten Fräulein, die um den Abend ihre Fenster öffneten, ihre Wanduhren aufzogen [S. 228] und von den Veilchenwochen ihres Lebens träumten, weckte wohl der Duft der nützlichen Gewächse auch Erinnerungen, die ihnen lieb waren.

Das war die große Gnade, die Güldenfey zuteil geworden, daß ihre Gedanken immer den Weg in sonnige Hellen fanden. Sie blieb an der Pforte stehen und blickte träumerisch über den geliebten Fleck Erde. Nie wieder, nie wieder! Doch das Bewußtsein schnitt nicht mehr wie ein scharfes Messer. Als sie abgeschlossen hatte und den Schlüssel in die Tasche steckte, war nur noch ein freundliches Lächeln da und war ein Dank an die Erde, die sie so oft froh gemacht hatte.

Als sie den Treßhof erreichte, sah sie gerade, wie Telge die alte Wohnstatt verließ. Er trug sein Bündel unter dem Arm. An der Torfahrt blieb er stehen und sah zurück. Dann spie er heftig von sich. »Daß du die Motten kriegst!«

»Aber, Telge,« sagte Güldenfey, »Sie wollten doch nicht gehen, ohne mir Lebewohl gesagt zu haben!«

Telge war erschrocken, dann faßte er sich. »Doch!« sagte er voll Trotz.

»Aber warum? Habe ich ...«

Sie hielt inne, da sie bemerkte, wie ein gewaltsames Zucken durch sein bärtiges Gesicht spielte.

»Von den andern, ja. Aber von Ihnen, gnädiges Fräulein — nein; das konnte ich nicht. Und jetzt kommen Sie doch gerade an.« Er konnte sich nicht meistern. Große Tränen rollten in seinen Bartkranz.

»Telge, alter treuer Telge!« sagte Güldenfey. Und nun weinte sie auch. —

Abschied, Abschied!

Die Räume des Hauses waren entleert, die Dinge, die sie geschmückt und traulich gemacht hatten, rollten einem fernen Lande zu oder standen in den Schatten der Böden. Man mußte Raum für Malte und Frauke schaffen, die nach ihrer Heimkehr aus dem Bade hier einziehen wollten. Nur einige Zimmer waren unberührt in ihrem Zustande erhalten geblieben.

[S. 229]

Ose ging wie der gute Geist der alten Zeit durch das Haus und schaltete in allem. Die Geschwister waren in einen edlen Wettstreit geraten, wer von ihnen die Alte zu sich nehme. Sie hatten ihn schlichten wollen, indem sie Ose die Wahl ließen, doch damit hatten sie die Alte vor die schwerste Entscheidung ihres Lebens gestellt. Ihr Herz zog sie zu Güldenfey und Jörg, und doch — die Heimat! Schließlich hatte sie sich entschieden, während des Sommers zu den Jüngsten zu gehen und den Winter im Treßhof zuzubringen.

»Nun, war er hart, der Abschied von deinem vergessenen Garten?« fragte sie, als Güldenfey heimkam. »Der Weg, den du jetzt gehst, hat viele böse Stufen und ist nicht leicht.«

»Man darf gar nicht daran denken, Ose«, erwiderte Güldenfey. »Es ist noch soviel Grund zur Freude da: daß uns der Treßhof verbleibt, und daß Malte wieder gesundet.«

Sie dachte daran, wie sie vor kurzem Malte und Frauke zur Bahn begleitet hatte. Er konnte schon an zwei Stöcken gehen und war voll dankbarer Milde. Und Frauke ... ja, wenn man an sie dachte, dann wurde man wundergläubig, wenn man es nicht schon gewesen war.

»Du Glückskind!« sagte die Alte kopfschüttelnd.

»Ja, das bin ich«, erwiderte Güldenfey und berührte dankbar den Stein auf ihrer Brust.

Sie erfuhr von Ose, daß Jörg und Harro im Beratungzimmer seien, und ging hinab. Die Brüder standen betrachtend vor den alten Bildern, vor Behrend Treß, dem Oberst des Gyllenstiernaschen Regiments, und vor Karl Heinrich, dem Major bei den Bohuslenschen Schützen.

»Ob die alten Herren nicht auch manche Schlappe im Leben erlitten, wie jetzt wir?« fragte Harro. »Sie schauen wie echte Treß drein, die darum den Kopf nicht hängen lassen, sondern frisch das Leben bei einem andern Zipfel packen. Ja, die äußeren Dinge lassen sich alle meistern, Jörg; aber es gibt andre ...«

Er wandte sich um und sah Güldenfey, wie sie die Treppe herabkam.

»Güldenfey ist unser Treßsches Gewissen, vor der darf man die feinsten Bedenken aussprechen«, fuhr er fort. »Ich wollte sagen, es [S. 230] gibt Erinnerungen, über die kommt man einfach nicht fort: der Soldat, den ich auf einer Streife abschoß; Malte, der hier unter der Last der Verantwortung saß, und den ich noch kränkte. Und dann Marfa, vor allem Marfa. Jetzt, da wir das Haus räumen, wo ihre verängstete Seele trauerte, fällt es mich hart an, wie wenig ich ihr gab. Und hatte sie doch lieb!«

»Vorbei, vorbei!« sagte er nach einer Weile und schüttelte sich, als wolle er die Erinnerungen gewaltsam von sich lösen. »Ein Neues liegt vor uns: wir bauen einen neuen Staat, nicht wahr, Jörg?« Seine Hand legte sich stark auf Jörgs Schulter.

»Ach, Harro,« entgegnete dieser, »vergiß nicht das Eine, was not ist. Wir bedürfen neuer Staaten, neuer Wirtschaftsweisen und neuer Religionen nicht, aber wir bedürfen des neuen Menschen. Haben wir den, so wird alles andre von selbst kommen. Doch von dieser Aufgabe wollen die Weltverbesserer nichts wissen, und darum bleibt ihre Arbeit Stückwerk.«

»Du hast recht«, sagte Harro. »König Midas bekam Eselsohren, weil er die Musik der menschlichen Flöte, nach der sich alle drehen, schöner fand als die Töne der göttlichen Harfe. Ach, zuweilen erscheint es mir, als trügen die meisten Menschen die Eselsohren der Verblendung.« —

Noch eine schwere Stufe mußten Jörg und Güldenfey auf ihrem Abschiedsweg überwinden, als sie in den Heiligen Geist gingen, um Engelke zum letztenmal die Hand zu reichen.

Engelke war klein und gebückt geworden. Ihr Gesicht sah verschrumpft aus wie der Winterapfel, den man um Ostern in einem Winkel der Lade entdeckt. Sie sagte wenig, sie blickte von einem ihrer beiden Besucher zum andern, als wolle sie sich das Aussehen der beiden unvergeßlich in die Seele prägen. Sie hatte sie nicht unter ihrem Herzen getragen, aber ihr einsames Magdtum hatte diese Kinder mit einer starken Mütterlichkeit umfangen, und da sie ihnen diente, lange und treu, hatte sie ein Anrecht auf sie erworben. Nun wollten sie in unausdenkliche Fernen ziehen. Wie unfaßbar doch Gottes Wege sind! Erst mußte sie den Treßhof verlassen, nun stieß es die Jungen gar aus der Stadt.

[S. 231]

Engelke sah auf das Neue Testament, das aufgeschlagen vor ihr auf dem Tische lag, und Güldenfey verstand ihre Gedanken.

»Wir kommen im nächsten Sommer wieder, Engelke«, sagte sie. »Und bedenke, wir sind ja nicht weit. Einen Tag Bahnfahrt! Und du tröstest dich doch auch deines Gottes, der über allen Sonnen ist.«

»Da irrst du, Kind«, sagte die Alte streng. »Gott ist immer bei mir. Jawohl, hier in dieser dürftigen Altersstube ist er.«

»Und unsre Gedanken, sind die nicht um dich?« fragte Jörg.

Engelke wiegte den Kopf. Sie mochte nicht sagen, daß die guten Gedanken aus der Ferne nicht genügenden Ersatz für den Verlust boten.

»Als wir dich hierherbrachten, Engelke,« sagte Güldenfey, »da gingen Jörg und ich nach Heilisoe. Dorthin wollen wir morgen auch fahren, uns noch ein paar Tage des jungen Sommers freuen und dann das Haus dem neuen Besitzer übergeben.«

Engelke nickte und blickte Güldenfey bedeutsam an. Ja, man mochte sprechen, was einem nur in den Sinn kam, vom Abschiednehmen wurde jedes Wort durchtränkt. Sie erhoben sich.

Und als sie durch den Säulenhof schritten, stand die Alte gebückt und mit schlaff herabhängenden Armen in ihrer Tür und sah ihnen ein letztes Mal nach. Sie schluchzte nicht, sie weinte nicht, aber sie fühlte das Schwert durch ihre altersmüde Seele gehen.


Spuren der Sturmflut tilgt die Zeit von Häfen und Gärten; Leidspuren wischt sie von den Angesichtern der Menschen. Auch Heilisoe wies kaum noch etwas von den Beschwerden eines mehr als harten Winters auf, als der nordische Sommer es zu zieren begann. Zwar erschienen die Dünen noch wilder zerklüftet als bisher und trugen Risse, Narben und Falten wie ein hundertjähriges Greisenantlitz. Und neue Steine waren aus dem Erdreich gebröckelt und zu Strand gestürzt, freuten sich des Lichts und lauschten den Erzählungen des Windes und der Wellen von Geißeljagden [S. 232] zorniger Sturmtage und schwimmenden Tangwiesen draußen auf der See, um die stumme Fische auftauchten.

Ja, es war ein wenig anders geworden auf Heilisoe. Aber das übersah man bald, denn der fröhliche Wuchs überkleidete alles. Der kriechende Wacholder sproßte wieder, die stachligen Ölweiden schimmerten blank, der Ginster begann goldig zu knospen, und die Rose des Tals blühte. Und vor allem: die einzige Bläue, die das Eiland umgab, hatte sich wieder aufgetan, die Meeresbläue, die eine ganze Klangfolge vom Lichtgrün bis in das dunkelste Violett durchlief, erdhaft durchblutet, von unerforschlichen Gründen angedunkelt; und die Himmelsbläue, von Gold und Milch durchmengt, aufquellend und doch unbewegt und voller Ahnungen.

Jörg und Güldenfey hatten sich ein wenig vor diesen traumschweren Tagen auf Heilisoe gefürchtet. Sie waren zu innig mit diesem Eiland des Heils verwachsen — wie schwer mußte der Abschied von ihm fallen!

Doch es war anders. Jetzt, da sie keine Fußbreite Landes von der Insel mehr besaßen, war sie ihnen nicht Verlust, sondern ein Ziel. Sie hatten den großen Frieden der Insel, der höher war als das Treiben der lauten Welt, bisher empfunden als etwas, das ihnen zustehe. Nun erkannten sie, daß es Erringenswertes sei.

»Der Weg nach Heilisoe, den Balzer Treß suchte, ist das Heimweh«, sagte Jörg. »Wir werden es auch lernen müssen, Güldenfey, aber es wird uns nicht in langes verzweifeltes Suchen hetzen, denn wir wissen, wo unser Eiland liegt.«

Sie klommen durch die schmale Schlucht hinter der Svantewitbucht aufwärts. Droben empfingen sie blaue Glockenblumen unter niedrigem Gebüsch, vor ihnen aber stürzte in jähem Fall die narbige Dünenwand zur schäumenden See hinab. Sie sahen stumm und ergriffen zu, wie der Feuerball, der unsrer Erde Leben gibt, in das Meer tauchte. Dann wandelte sich der Himmel in eine blaßgrüne Fruchtschale, an deren Rand sich purpurnes Gewölk sammelte.

Und hier begann Jörg zu Güldenfey von den Aufgaben des Lebenskreises zu sprechen, den sie beschreiten wollten. O, er hatte ihr schon oft davon gesprochen, doch immer wieder fand er einen neuen [S. 233] Ausdruck dafür. Ja, die Jugend wollten sie sammeln, die nach der Bitternis dieser Zeit ihre Wurzeln tief in das Erdreich grub, um edle Früchte für die Zukunft zu reifen.

»Sieh, Güldenfey, das ist der Segen dieser Zeit«, sagte er. »Sie wollten uns arm an äußeren Dingen machen und haben es ja auch erreicht, aber sie weckten zugleich die schlafende Empfänglichkeit der Seele, das, was man geistige Armut nennt. Und das wird unser Heil sein.«

»Sind denn aber auch leiblich Arme in deiner Stadt?« fragte Güldenfey besorgt. »Du weißt ...«

Er ergriff fröhlich lachend ihre Hände. »Ja, ja, ja! Arme sind überall, und du sollst ihrer pflegen. Du und ich, wir wollen Gottes Reich bauen. Denn Gottes Reich ist nichts als Gott selbst mit seinem Reichtum, und es schaffen, heißt, das Göttliche auf der Erde darstellen.«

Als die Erde den letzten Tropfen des himmlischen Glanzes aufgeschlürft hatte, gingen sie heim, kamen über das weiße Feld der Wanderdüne, wo der Sand junge Föhren erstickte und sich vom Weidengeflecht der Faschinen nicht hemmen ließ. Eine Stätte des Todes? Nein, wo es wandert, ist Leben, wenn auch das regsame Element nur dürres Gekörn ist. —

Diese Morgenfrühe des letzten Sonntags auf Heilisoe!

Sie hatten sich zeitig erhoben, um den Tag voll auszukosten, und gingen ihm durch den Wald entgegen. Die hellen Nadelbüsche der Föhren schwankten leise im Wind, und die gelben Kelche des Hahnenfuß streckten sich der Sonne entgegen; eine Grasmücke sang, und der Wanderfalk strich geschäftig um die Büsche, hinter denen das Flügelschlagen eines Fasans erklang. Das Meer aber lag unter der Last des Lichts träge und gesättigt da: der Wind schlief noch zwischen den Hügeln.

Jörg und Güldenfey schritten die Kante der Dünen entlang, die wild und zackig wie eine chromatische Tonfolge verlief.

»Thors Wagen hinterließ hier seine Räderspur«, sagte Jörg.

»Aber diese wilden Spuren bahnten dem friedlichen Leben die Straße«, erwiderte Güldenfey. »Sieh doch, Jörg!«

[S. 234]

Und sie wies auf die vielen Erdschwalben, die über der Tiefe in den Dünenrand ihre Nistlöcher gegraben hatten und jetzt zwitschernd ab und zu flogen.

Hand in Hand schritten sie fort, in Schweigen und Reden glücklich, weil keines von ihnen wußte, wer Gebender und wer Empfangender war.

Wie viele Orte wollten sie noch besuchen! Die alte Kirche auf dem Klostergelände, die immer den Eindruck einer verwahrlosten Alten machte, zwischen deren rohem Holzschnitzwerk und zerbrochenen Abtsteinen aber jenes merkwürdige Epitaph des um 1611 ertrunkenen Schiffers stand, von dem Güldenfey behauptete, er sei mit dem fliegenden Holländer gefahren; das Grab der goldenen Heiligen und das Vogeleiland, wo der Wind Runen schrieb; den Hünenhügel mit dem verkrüppelten Weißdorn und die Steinblöcke im Meer, zwischen denen die farbigen Algen hausten. O, es war noch viel zu schaffen!

Es war Abend geworden, als sie auf den Königsgräbern saßen; die während des Tages leuchtenden Farben erloschen, und das unruhige Aufzucken der Blinkfeuer fuhr über den nächtigen Himmelsbogen. Güldenfeys Fuß klopfte auf den warmen Erdboden.

»Welche Schätze vielleicht unter uns in der Erde ruhen, Jörg!« sagte sie.

»Wollen wir sie heben?« fragte er.

Güldenfey wiegte den Kopf. »Nicht diese, Jörg; es haftet zuviel Angst, Not und Sorge an ihnen. Ach, das Gold ist wie andres eine kostbare Gabe, doch was machte die Gier der Bösen aus ihm! Das verelendende Treiben der Geschäfte, das Verlumpen der Gesinnung machte es zu etwas Fluchwürdigem. Jörg, wo beginnt der Weg nach Heilisoe?«

Ein sanfter Wind strich kühl um die Hügel, unter denen die sagenhaften Herrscher schliefen. Er war wie ein Hauch längst vergessener Zeiten, und er empfing die ewig sich wiederholende Frage aus dem Munde des Mädchens und trug sie weiter und wird sie vielleicht nach tausend Jahren Wanderern, die hier rasten, wieder zuwehen und in ihnen Unendliches wecken.

[S. 235]

So dachte Jörg, und nach einer Weile begann er zu sprechen: » Der Weg nach Heilisoe beginnt nicht da, wo der Mensch nach Geld oder Ehre oder Herrschaft strebt, sondern dort, wo tief im Menschen der erste Laut der Sehnsucht nach dem Ewigen anklingt. «

Er fühlte, wie sich sanft die Hand der Schwester in die seine schob.

»Wir haben den Ruf vernommen,« sagte Güldenfey, »und nun fängt die schöne Straße an.«


Telge und das Motorboot erwarteten sie nicht am Bollwerk, als sie am nächsten Morgen zur Abfahrt hinabstiegen. Sie bestiegen den kleinen Dampfer, der die Überfahrt vermittelte.

Hinausgehoben über die Insel stand der Leuchtturm da, er, der in der Einsamkeit der Winde sich wohlfühlte und nur mit den Schwärmen kommender und gehender Vögel Zwiesprache pflegte. Sein müdes Auge war geschlossen, aber um den Abend würde er wieder erwachen und denen Warnung und Hilfe sein, die den Weg nach Heilisoe suchten. Lebewohl, du Treuer!

Es versank vor den rückschauenden Blicken das Kloster; es versanken die strohgedeckten Fischerhäuser, die hinter ihrem Wall von Seedorn schliefen; es verschwand die einsame hohe Pappel, die alle Krähengeschlechter der Insel kannte. Schließlich war nur noch das Hochland von Heilisoe sichtbar. Leise schloß sich eine Tür. Jörg und Güldenfey wandten ihre Augen vorwärts.

Auf der blauen schaumgesäumten Schleppe des Meeres bildeten sich in der Fahrtrinne große weiße Kreise wie Perlenkränze, wurden und vergingen. Ach, es verging alles so bald auf dieser hastigen Fahrt.

Mehr und mehr wurden die Linien der siebentürmigen Hansestadt sichtbar. Endlich glitt das Schiff in den Hafen und näherte sich der Anlegestelle.

Was bedeutete das? Am Ufer standen viele Menschen, die nicht denen glichen, die sich mit Koffern und Gepäck auf die Reise begeben, nein, sie hielten Blumen in den Händen. Ein Willkomm? [S. 236] Güldenfey blickte sich um und musterte erst die Mitfahrenden. Es waren oft Tagesgrößen auf Heilisoe, die gefeiert und bestaunt wurden.

»Aber das ist ja Oberst Helf, Jörg, und dort — Hanna Wilkens, und die Frau, die links steht, ist Frau Jobst.«

Sie wußten noch immer nicht, daß der Empfang ihnen galt. Aber da sie an das Land traten, umringten die Wartenden sie.

»Es haben sich ohne Verabredung alle die hier eingefunden, die Sie liebhaben und mit Trauer scheiden sehen«, sagte der Oberst. »Unser Abschied soll ein geringes Zeichen unsrer Dankbarkeit sein.«

»O!« sagte Güldenfey. Sie war so erschüttert, daß sie keine Worte fand. »Ist es denn möglich? Für das Wenige, das wir ihnen erweisen durften! Und wir taten doch nur, was wir mußten.« Ihre hohe Stimme, ihre strahlenden Augen waren von Tränen verdeckt. »Auch Sie, liebe Frau Jobst? Und Frau von Ebel? Ach, Mellin!«

Es waren auch solche da, die sie gar nicht nach Namen kannte: Kinder, denen sie einmal Brot gereicht; Männer und Frauen, die sie, da sie krank gelegen, in der Sachsenvorstadt besucht; alte Stiftfräulein, denen sie Blumen aus dem vergessenen Garten gebracht hatte. Selbst Fridchen Waterström war von ihrem Räucherboden gestiegen und überbrachte knicksend einen Blumenstrauß und einen Gruß von Engelke. Wie hatten diese alle nur von ihrer Abfahrt gewußt?

Der Zug schloß sich ihnen an, sie zur Bahn zu geleiten. Wie im Triumph zogen Güldenfey und Jörg durch die Stadt. Es war kein prunkendes Geleit, es war das Geleit der Armen. Aber seliger ist kein Hoher einhergezogen, und nie ist ihm ein innigerer Dank gefolgt, als er diese beiden umgab.

Am Bahnhof erwarteten sie Ose und Thomasius. Ose kniff die Lippen ein, um ihre Rührung zu verbergen, dem Mann aber flossen die Augen über. Wortlos beugte er sich über die segensreichen Frauenhände, die er begehrt und doch nicht ergriffen hatte, die sich ihm nun auf immer entzogen. Seine Huldigung war Dank und Bekenntnis und Bitte zugleich.

[S. 237]

Die Schar füllte den Bahnsteig und schmückte das Abteil, das Jörg und Güldenfey bestiegen, mit den Blumen. Blicke gingen bangend und tröstend, dankend und verheißend hin und her. Was sollten in dieser Stunde noch Worte sagen können!

Dann hörte man das Abfahrtzeichen. Arme hoben sich und Tücher winkten.

»Dank! Dank!«

Güldenfey lehnte aus dem Fenster. Was blieb hinter ihnen zurück? Ihre Armen, die siebenfach getürmte schöne Stadt, das Eiland im unvergleichlichen Blau des Himmels und der See, die Heimat! Sie aber hatten gefunden, was wertvoller als alles war: sie waren auf dem Weg nach Heilisoe .


[S. 238]

Paul Steinmüller

Die Rhapsodien von der Freude / 251.-280. Tausend. 12°. 56 S.
Steif geh. M 1.—, gebd. in Halbpergamenters. M 1.90, in Leinwand M 2.20.

Die Rhapsodien des Lebens / 191.-220. Tausend. 12°. 84 S.
Steif geh. M 1.30, gebd. in Halbpergamenters. M 2.20, in Leinwand M 2.50.

Die Rhapsodien vom verlorenen Königreich / 51.-80. Tausend.
12°. 64 S. Steif geh. M 1.—, gebd. in Halbpergamenters. M 1.90, in Leinw. M 2.20.

Der Heiland / Ein Dank / 51.-65. Tausend. 12°. 98 S.
Steif geh. M 1.40, gebd. in Halbpergamenters. M 2.30, in Leinwand M 2.60.

Trosteinsamkeit / Wanderweisen / 51.-80. Tausend. 12°. 51 S.
Steif geh. M —.90, gebd. in Halbpergamenters. M 1.80, in Leinwand M 2.10.

Alltägliches im Licht / 1.-25. Tausend. 12°. 63 S.
Steif geh. M 1.—, gebd. in Halbpergamenters. M 1.90, in Leinwand M 2.20.

Gottesnähe / 1.-15. Tausend. 12°. 61 S.
Steif geh. M 1.—, gebd. in Halbpergamenters. M 1.90, in Leinwand M 2.20.

In Allmutters Garten / Gr. 8°. 87 S.
Steif geh. M 2.50, gebd. in Halbpergamenters. M 3.50.

Von Zeit und Ewigkeit / Ein Tagebuch / 16.-21. Tausend. 8°. 113 S.
Pappband M 2.—, gebd. in Halbpergamenters. M 2.50, in Leinwand M 3.—.

Die Lieder des Kommenden / 11. Tausend. 8°. 122 S.
Gebd. in Pappe M 2.50, gebd. in Halbpergamenters. M 3.—,
in Leinw. M 3.50.

Das Zehn-Jungfrauenspiel / Drama / 2. Auflage. 8°. 111 S.
Steif geh. M 2.—.

Der Novellenkranz einer Liebe / 20. Auflage. 8°. 160 S.
Gebd. in Pappe M 2.50, gebd. in Halbpergamenters. M 3.—, in Leinw. M 3.50.

Selige Sehnsucht / 8°. 150 S. Geheftet M 3.—, in Ganzleinen M 4.75.

Die sieben Legenden von der Einkehr / 11.-25. Tausend. 12°. 128 S.
Steif geh. M 1.90, gebd. in Halbpergamenters. M 2.80, in Leinwand M 3.10.

Als Leid ging und Freude kam / Novelle / 11.-15. Tausd. 12°. 53 S.
Steif geh. M —.90, gebd. in Halbpergamenters. M 1.80, in Leinwand M 2.10.

Untrüborn / Novelle / 1.-10. Tausend. 12°. 122 S.
Steif geh. M 1.80, gebd. in Halbpergamenters. M 2.70, in Leinwand M 3.—.

Der Richter der letzten Kammer / Roman / 5. Auflage. 8°. 207 S.
Gebd. in Halbleinen M 4.—, in Leinwand M 4.50, in Halbleder M 8.—.

Jesus und sein Evangelium / 8°. 110 S.
Geheftet M 3.50, in Ganzleinen M 5.50.

Spielmannslieder / Mit Lautenbegleitung / Der singenden Jugend
gewidmet. 6.-15. Tausend. 8°. 28 S. Steif geh. M —.20.

Sendschreiben an das deutsche Volk / 8°. 64 S. Steif geh. M —.20.

Feuerrufe in Deutschlands Nacht / 1.-5. Tausend. Gr. 8°. 45 S.
Steif geh. M 1.50.

Deutscher Seele Aufbau / 24 Spruchkarten aus Paul Steinmüllers Werken.
Gezeichnet von Walter Jacobs. M —.75.