Title : Der Flieger
Author : Rudolf Hans Bartsch
Release date : December 22, 2024 [eBook #74963]
Language : German
Original publication : Berlin: Ullstein & Co
Credits : Peter Becker, Hans Theyer, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)
Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler korrigiert.
Worte in Antiquaschrift sind " kursiv " dargestellt.
von
Rudolf Hans Bartsch
Ullstein Bücher
Eine Sammlung
zeitgenössischer Romane
Ullstein & Co / Berlin und Wien
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Amerikanisches Copyright 1915 by Ullstein & Co, Berlin.
[S. 1]
»Geordnet Leben, ehelich Leben macht Stalltiere, die in der freien Wildnis und im Losbruch aller Kräfte zugrunde gehen. Raub und Einbruch: das ist ein unentbehrlich Stück Mann!«
Jetzt hatte er's. Wahr' dich, Wildling; wahr' dich, Tikosch Gabor! Unten auf der Erde brüllte es, um ihn jaulten und sausten die Kugeln, und er flog um Leben und Tod! Der Motor gab her, was er konnte, und sein tiefes Donnern übergrollte das Knattern der Flintenschüsse da unten. Nur wenn eine Kugel Metall faßte oder an die Versteifungsdrähte streifte, da biß sich ihr hohes Wimmern [S. 2] durch das Geratter der Maschine. Der Wind sauste nicht so schneidend durch die Drähte als dieses Jammern der Geschosse, die blutdürstig aufschrien, wenn sie vorbeigingen. Wie das hundertfache Juchzen betrunkener Sennbuben mochte es in einem fort gehen. Uii, wiiiiu! Aber Tikosch Gabor hörte es nicht. Der Motor donnerte tief und metallen; und Tikosch flog wie im Fieber. Er wußte nicht, war er verwundet, lebte er überhaupt? Das Blut brauste ihm und rollte in eins zusammen mit dem knatternden Rasen seines Flugzeugs.
Das war ein Dahinstürmen durch die kugelzerrissene Luft! Bei Mehadia war er aufgeflogen. Alle Mädels hatten ihm »Eljen« nachgeschrien und mit hundert bunten Fahnen gewinkt; die ganze Erde schien voll junger Verliebtheit, und Tikosch hätte von jeder Küsse haben können, so viel er nur wollte. In dieser [S. 3] Zeit waren ja alle Mädels zerlöst und verloren, wenn sie einen von den Soldaten sahen, die sterben gingen. Aber er hatte nur eine einzige im Sinne, und die mochte ihn nicht. Da hatte er sich's erbeten, an der Donau hin über serbisches Gebiet fliegen zu dürfen, um alles unter seine Bomben zu nehmen, was der Mühe wert war, Wacht- und Zollhaus von Kladowa, Bordoli, Brzapalanka, und dann, als allerbestes, die Negotiner Eisenbahn, bis zum wichtigen Knotenpunkte ob Zajetschar samt der Brücke, die bei Vrazograci über den Timok ging. Zwei Straßen- und eine Eisenbahnbrücke waren dort nahe beisammen; knallte es dort, so war der fruchtbarste Teil des Serbenlandes abgesperrt und Wein und Korn in Menge kaputt für die Zufuhr zum Feindesheer!
Nun war er schon über hundert Kilometer geflogen und hatte überall Feuer bekommen. [S. 4] Mit wilder Frechheit war er über den Militärstationen bis auf dreihundert Meter hinuntergegangen, um seine Knallerbsen hinabzuwerfen. Hatten sie gewirkt? Er wußte nicht viel davon, denn ihr Aufschlag unten erstickte in dem rasenden Knattern seines Motors und der Mausergewehre.
Durch die Tragflächen sah er die blaue Luft wie durch ein Sieb, und Leib und Steuer des Flugzeuges waren durchlöchert. Er allein noch nicht! Wenigstens fühlte er nichts am Körper und nichts im Hirn als ein Fiebern, ein dunkles: Weiter, weiter, und das Äußerste gewagt! Dumpf fühlte er die heulende Wut derer dort unten auf der Erde: über den siegreichen Raubvogel, der er noch war. Die Stimmen überschlugen sich vor weinendem Ingrimm, er aber schwamm wieder in die Höhen, schraubte sich empor wie ein Bussard zum dunklen Sommerhimmel und fuhr hoch [S. 5] über allen Kugeln in blendendem Sonnenglaste dahin. Nur nach Negotin kommen; das andere war gleich! Die Donau war sein Wegweiser. Ungeheuer breit, gelb und träge zog sie ihre zähe Straße. Jenseits das flache Rumänenland, Auen, Sümpfe, das weißliche Graugrün der Weiden, ganz stumpf und wie verstaubt; am diesseitigen Ufer jammervolle Lehmhöhen, immer gleich niedrig längs dem Strome hinkriechend, elende Dörfer, trostlose Wachhäuser, menschenunwürdige Lehmhöhlen, echt slawische Trostlosigkeit. Es war wenig Freude, hier seine Visitkarten abzuwerfen. Aber da kam Prahovo und mit ihm die Bahn. Und die Höhen, jetzt wurden sie anders! Wunderbar grünend schwang sich der Auslauf der wilden Golobinje Planina gegen die Donau, diese schwenkte links ab, und Tikosch flog donnernd über dem halbverwüsteten, aber immer noch reichen Rebenlande dahin. Rechts [S. 6] die Weingebirge, links und vor ihm die Sümpfe: Negotin!
Und da war's, wo es ganz böse wurde. Er war der kleinen Brücke ganz nahe gekommen, die über das versumpfte Flüßchen im Süden der Stadt führte, und ein wahres Feuerwerk von Geschossen heulte zu ihm empor. Bedächtig warf er eine Bombe, dann noch eine; die Brücke unten riß sich auf. Menschen liefen zusammen, heulten und schossen, andere flüchteten, in Haufen, kreuz und quer über das Feld wie Hasen; ziellos, kopflos. Er sah alles unter sich, sah, wie die weißen Tauben von allen Dächern aufstoben und durcheinander schwärmten, wie die Rebhühner aufstanden und die Hunde wie toll rannten und jafften; und wie im Traum warf er die dritte Bombe da hinunter in all die Angst und Wut hinein. Da wimmerte das Drahtgetäu hell auf. Eine Versteifung war zerschossen; der [S. 7] wirbelnde Propeller schmiß lange Holzsplitter im Kreise herum, der Motor klatschte ein paarmal. Dann schlug es leicht und beinahe fühllos gegen seine Hüfte, und heiß kam es an seinem linken Bein heruntergelaufen; kreuz Teufel, nun war er angeschossen worden. Wird's was Böses sein? Weh tat's nicht, aber es hieß ausreißen; hoch in die sichere Abendbläue hinauf.
Er riß das Steuer steil aufwärts, zu steil im ersten Schreck, und der Monoplan überschlug sich. Heulender Jubel kam von der Erde, aber der wilde Flieger ließ das Steuer nicht los. Wie zum Hohn für die dort unten gelang ihm, halb aus Zufall, ein Saltomortale in den Lüften à la Pégoud, dann drängte er flacher hinauf. Ein tausendstimmiger Wutschrei hallte ihm lange, lange in seine Adlerhöhen nach, er aber kreiste immer höher und höher, und bald sangen die Kugeln nicht mehr. Beinahe friedlich [S. 8] sah die Erde aus, wie eine Landkarte, und jetzt hielt er die scheuenden Pferde einen Augenblick für Hasen und die Menschen, die mit roten Gesichtern zu ihm hinaufstarrten, für Truthühner, so hoch war er schon. Bald sah er einzelne Menschen nicht mehr, und jetzt nahm er Kurs gegen Norden.
Was tun? Untersuchen konnte er seine Wunde nicht. War eine Ader zerschossen, nun, dann wurde er schwächer und schwächer und fiel wie ein todwunder Vogel aus der Luft. Er dachte all das ganz ruhig und wenig erschrocken durch. Niedergehen konnte er nicht; hier nicht. Sie hätten ihn mit toller Wonne in Stücke gerissen da unten. Aber hinüber nach Rumänien? Und kriegsgefangen, entwaffnet, der schöne Taubeflieger fremde Prise? Er hatte doch sterben oder durchsetzen wollen, was er sich vorgenommen; die Vrazogracer Brücke, die er sprengen wollte, hatte er gar [S. 9] nicht erreicht. Später einmal; jetzt mußte er zusehen, wie er wieder nach Ungarn hinüberkam. Und verzweifelt hielt er das Steuer fest: gegen Nordwesten.
Wie eine Barre lag die in Abendglut brennende, kühle Planina zwischen ihm und dem Ziel; tief unten dunkelten die Wälder, näher an ihm glühten die karstigen Gipfel. Es waren die Berge um den Lukapaß, wohl zwölfhundert Meter hoch und mehr, und da mußte er drüber. Er zwang sich, nicht an das heiße Rieseln da unten, an seiner Hüfte, zu denken, und lenkte seine Taube höher empor. Recht hoch, denn mit dem Motor war etwas nicht in Ordnung; er hörte es mit klammem Herzen. Nur das jetzt nicht; das war ein Tod, schlimmer als der des Wolfes unter Hundezähnen. Wenigstens empor, empor mußte das Flugzeug, und wenn's siebentausend Meter waren, damit er Luft, eine ganze, lange, schräge Luftbahn [S. 10] bis nach Österreich und über die Donau unter den Schwingen hatte, wenn die Maschine aussetzte und er gezwungen war, in langsamem, sparsamem Gleiten niederzugehen! Wie weit er kommen würde? Er rechnete gar nicht, er biß bloß die Zähne zusammen wie ein Verzweifelter. Nur Wut war in ihm, Angst noch nicht — noch nicht. Aber wenn der Motor versagte? O, dies wunde, rote, grimmig brennende Abendlicht!
Will denn der Tag kein Ende nehmen? Wenn er niedergehen muß, und sie sehen ihn, dann ist es um ihn geschehen. In der tiefsten Einsamkeit der waldigen Planina finden ihn die Tollgewordenen und hetzen ihn mit Hunden, bis er sich stellt! Tikosch Gabor läßt die eine Hand frei, tastet nach der Wunde und dann nach seinem großen Kriegsbrowning; eine Neunmillimeterkugel wird [S. 11] wohl für ihn genügen. Aber die letzte wird es sein; alle andern müssen in Feindesleiber schlagen!
Und der Motor wird launenhafter und störrischer, Zündungen setzen aus, Vollgas nimmt er nicht mehr, und Tikosch muß drosseln. Da erholt sich der Motor; aber mit der jetzigen Tourenzahl kann er wenig Höhe mehr gewinnen. Tikosch starrt mit glasgewordenen Augen auf das Barometer. Das steht, steigt wohl auch ein wenig. Also geht es doch bergab: Teufel, es geht bergab!
Unten wird das Gebirge wilder und einsamer; die Dörfer haben aufgehört; nur in der Scharte, in der Luka, da ducken sich Häuser, und man sieht ihn, man sieht ihn sicherlich hier oben. Wäre nur die Nacht schon da, die gesegnete, verhehlende Nacht der Verfolgten, der Diebe und der Wundgeschossenen, die sich verkriechen möchten! Der Abend wird weit [S. 12] und violett, aber Nacht ist es noch nicht. In unverständlicher Größe und seliger Langsamkeit verdämmert das Land wie immer, und er, er fliegt in einem kranken Apparate um sein Leben!
Da, östlich von der Luka, ist die Planina gänzlich einsam und rauh. Die Buchen, die Eichen, die Edelkastanien kriechen nicht eben hoch aus den steilen Tälern empor, dann kommt Fichtendickicht und dann die karstige Höhe der Hirten und der Ziegen. Auch die werden ihn sehen, die Hirten; auch die sind Hatzhunde für ihn, und er ist allein über Feindesland. Bald muß er hinunter.
Und der Motor zögert und zögert immer mehr.
Da ändert Tikosch Gabor seinen Entschluß. Vorwärts kommt er nicht mehr weit. Nach Ungarn und über die Donau sind es freilich nur mehr fünfzig Kilometer; wenn er sich [S. 13] nicht verflogen hat und wenn es ihm gelingt, das weit nach Serbien einschneidende Donauknie von Milanowatsch zu finden. Aber geht er nur ein wenig rechts oder links daran vorbei, so kann es viel weiter werden, und sein Motor hält vielleicht keine zehn Kilometer aus; wenn er fünfzig in der Stunde fliegt, krank, wie er ist, so wär's noch ein Glück. Also wunderbarenfalls noch eine Stunde bis Ungarn! Das aber geht nicht mehr an. Er fliegt also mit gedrosseltem Motor, immer sinkend, über die Golobinje Planina, dort, wo sie am ödesten ist und ihn wenige sehen. Dann wird er sich immer links halten, soweit die Planina unbewohnt und wild ist, bis zum Veliki Krisch hin, wenn es geht.
Geht? So lange nur kann er fliegen, als sein Apparat über der Kammhöhe der höchsten Gipfel bleibt; die im Süden haben ihn dann aufgegeben und glauben, er sei schon nach [S. 14] Österreich hinüber. Ist er aber bis auf dritthalbtausend herabgesunken, dann muß er schwenken, die Planina wieder südwärts überfliegen und, auf die Dämmerung trauend, knapp über den Kamm streichen wie ein Sperber, der Sperlinge vom Boden weghaschen will, und sofort hinter dem Kamm niedergehen, wo es am höchsten, einsamsten und ödesten ist. Er hat früher hoch oben, zwischen Luka und Krivelj mußte es sein, einen Jungfichtenhorst gesehen, wahrscheinlich eine Neuaufforstung in einer Staatsdomäne. Nun, in jetziger Zeit ist die Försterei einberufen, und es wird dort einsam sein. Sein Flugzeug soll in die Schonung hineinfahren, wo sie am dichtesten ist; da findet es nicht so bald einer.
Und er, er wird dann in der erbarmungslosen Öde dieser verlassenen Höhen verrecken wie ein wundes Tier. Oder sich ausheilen? [S. 15] Auf eigene Faust dort oben sein Leben ertrotzen wie ein Mann und Räuber der Urzeit? Es zuckt in ihm vor Hoffnung. — Und der Motor versagt gänzlich.
Da wendet er im düsteren Halbdämmern das kraftlose, stillgewordene Fahrzeug gegen die verdunkelnden Wälder hinab; in weitem Bogen geht es gegen Süden. Das da unten wird Plavna sein und das Crnajika. Sie scheinen ihn dort in ihrer Kriegsbekümmernis und ihrem Abendfrieden nicht bemerkt zu haben, oder der schweigende Motor täuscht ihnen einen der vielen Adler dieser ungastlichen Höhen vor. Wer fände auch sonst ein Vergnügen, jetzt, bei einbrechender Nacht, Kreise zu ziehen über der Planina, dort, wo sie am rauhesten und fernsten ist?
Nun senkt er sich über den Kamm hin. Keine zwanzig Meter über dem Boden schießt das Flugzeug des Verzweifelten über die [S. 16] Wasserscheide; dann hat es wieder Luft unter sich: Abgrund.
Tikosch sucht nach der großen Fichtenschonung; er hat sich den Rückwechsel genau gemerkt und findet das dunkle Wirrsal der hunderttausend schwarzgrünen Bäumchen sogleich. Nun gleitet er nahe an der Erde hin. Gott erhalte, jetzt gilt es. Einer dieser sperrigen Wipfel kann höher und stärker sein, als er abschätzte, und dann überschlägt er sich oder wird gepfählt. Aber es muß, es muß! Und mit zusammengebissenen Zähnen saust er hinein in das krause, grüne Sträuben und Schnellen der Äste und Wipfel.
Das Flugzeug neigt sich, bohrt sich krachend weiter, senkt sich abwärts, eine der Tragflächen knarrt, knirscht, knickt tief ein, aber schon ist der ganze Aeroplan im Netze der Bäumchen, die nur zwei Klafter hoch sind, gefangen. Schwer atmend klettert Tikosch heraus und [S. 17] würgt sich in das unermeßliche Dickicht hinein. Das war auf Leben und Tod gegangen. Und er wirft sich auf die Erde und möchte am liebsten haben, alles wäre schon zu Ende, wie seine Kräfte es sind.
Eine Weile brüten unsagbare Dumpfheit und Gleichgültigkeit in ihm. Gerettet? Ha, was: jetzt geht erst die Hetze hinter dem gehaßten, flügellahmen Geier her! Und er ist schwach und verwundet. Ja: die Wunde. Er öffnet seine Kleider und sieht die linke Seite an; dann lacht er leise und grimmig. Gleich neben der Niere kam der Schuß von unten, und über dem Beckenknochen fuhr er wieder heraus, ganz nahe unter der Haut; die beiden glatten Schußöffnungen liegen keine drei Zoll voneinander. Aber nur ein wenig weiter nach hinten, und der wahnwitzige, betäubende Schmerz eines Nierenschusses hätte ihn entnervt. Ein wenig weiter abwärts, und der [S. 18] Beckenknochen wäre zersprengt! Nun war's nur das dicke Lendenfleisch, von großen Adern ist keine mitgenommen, und die Wunde klebt schon fest am Hemd. Er will sie nur oberflächlich reinigen; sie ist ja schon halb verharscht.
Und dann kniete der wildeste Leutnant des Ungarlandes, Tikosch Gabor, im Fichtengewirre nieder und betete zu einem Gotte, von dem er lange, lange nichts gewußt und dessen Namen er nur in den tollen Flüchen seines Landes zerfrevelt hatte.
[S. 19]
[S. 20]
Die Wunde an der Hüfte machte ihn steif und unbehilflich, als er aufstand, um sich für die einbrechende Nacht zu sichern. Er wollte gleich das Flugzeug, das ihn verraten konnte, zerlegen und mit den ihm brauchbaren Teilen einen andern Ort des Waldgebirges am Stol aufsuchen, in dem er Schutz gefunden hatte. Es schien ihm, als sei er zu nahe am Weiler niedergegangen, der an der Straße lag da unten, wo sie sich in weltfremder Einsamkeit durch die Luka zwängte. Aber es war ihm kaum möglich, zu seinem Führersitze zu gelangen, den man buchstäblich erklettern mußte, weil er einige Meter hoch in den Bäumen lag. Er vermochte nur mehr, seinen Schlafsack hervorzuzerren; den breitete er dicht unter den Tragflächen seiner Maschine aus, schob sich hinein und schlief auch schon, kaum daß er sich zugedeckt hatte.
Am andern Morgen weckte ihn der schaurige Hauch, der vor Tau und Tag über die Wälder kommt und Mark und Bein durchfröstelt. In Unbehagen und Schreck fuhr er empor und wußte sogleich, daß er hier oben in den Wäldern mitten im Feindesland war, ausgeliefert und schußfrei wie der Wolf der Höhen! Der Durst quälte ihn, und er hatte kaum mehr ein Restchen Tee in der Nickelflasche. Dazu schmerzte die Wunde, und nur leise stöhnend vermochte er sich zu bewegen. Fieber, Fieber!
Einen Augenblick war er im düsteren Schweigen, das noch über den tiefgrauen Dickungen lag und keinen Vogellaut emporließ, kleinmütig und überlegte, ob er sich nicht selber [S. 21] dem Feinde stellen solle; es sei ja nun alles gleich! Aber als der Himmel rot wurde und alles um ihn her immer heiliger und anbetungsvoller aussah, als die ersten Drosseln jubelten und in der Luft ein heller Falkenruf klirrte, da trotzte er sich wieder auf. Mit Anstrengung all seiner Willenskräfte überwand er den Schmerz und die Fieberschwäche und kletterte zu seinem Flugzeug empor. Er war doch ausgerüstet, und zum Verzweifeln war noch kein Grund, solange sie ihn nicht entdeckten. Die paar Hirten und Bauern, die sein Niedergehen gesehen haben konnten, waren wohl zu träge und furchtsam, um auf eigene Faust nach ihm zu suchen, und bis die Anzeige bei den nächsten Behörden Maßregeln erweckte, vergingen zwei Tage. Also hieß es arbeiten!
Er hatte die lederne Tasche mit allem nötigen Werkzeug rechter Hand vom Führersitz gehabt. Wo war sie nur jetzt? Ein wilder, [S. 22] hitziger Schreck durchflutete ihn. Ah, sie wird heruntergefallen sein, als der Aeroplan sich neigte. Nun hieß es abermals herabklettern und in dem Gewucher des Dickichts suchen. Das Blinken des kleinen Hammers, der aus der sich öffnenden Tasche gefallen war, verriet ihm endlich, daß er gerettet war. Ohne Werkzeug allein in dieser Wildnis, das wäre schlimm gewesen.
Durch das Suchen und Klettern war er warm und biegsamer geworden. Er begann jetzt, die versteifenden Drähte an den Tragflächen zu durchfeilen und abzuzwicken, bis die Flächen nachgaben. Es hieß achtgeben. Immer mehr und mehr neigte sich der Apparat, und wenn er jäh zu Boden stürzte, so riß er ihn aus seinem Bäumchen mit. Auch ein Sturz von einer Klafter Höhe konnte jetzt verhängnisvoll werden. Endlich rollte sich die eine Fläche zusammen, und dumpf krachend [S. 23] stürzte der Leib des Flugzeugs, Propeller voran, zu Boden. Das Holz der Flügelschraube zersplitterte, tief grub sich der wuchtige Motor in den Boden ein. Nun war es ein leichtes, auch die andere Tragfläche, die wie ein Segel in die Höhe ragte, abzumontieren und nach und nach Steuer, Gestänge, Räder herunterzunehmen. Ein toller Durst hielt ihn endlich von der Arbeit, bei der ihm der Schweiß herunterströmte, ab, und er kroch in allen Lichtungen umher, um von den Gräsern und Farnen den reichlich gefallenen Tau zu saugen. Diese langsame und spärliche Art der Wasseraufnahme hatte das Gute, daß er sich nicht überfüllte und doch nach und nach seine rasende Gier verlor.
Endlich ging er wieder an seine Arbeit. Der Leib des Flugzeugs war das am schwersten zu Bergende, und er mußte die Nieten durchstemmen, welche die Schale aus Aluminium [S. 24] zusammenhielten, die ihn bisher geschützt hatte. Dann nahm er den kleinen Lienemannschen Feldspaten, das unersetzlichste seiner Stücke in dieser Lage, weil es ihm Beil, Säge, Schaufel und Bratpfanne hergab, und grub unter den dicksten der kleinen Fichten ein Loch, in das er den Motor wälzte. Der hatte einen Zylindersprung! Unglaublich, wie das noch arbeiten konnte, so fein auch der Riß war, der von der Zündkerze bis zum Kopfe lief! Über den Motor legte er das Aluminiumblech, zusammengebogen, so gut es ging, und was sonst noch überflüssig schien. Die Drähte und das Zeug der Tragflächen behielt er und versteckte sie so gut im Dickicht, daß kein Auge sie erreichen konnte. Das gab Zeltstoff, vielleicht sogar Kleiderzeug. Nun bedeckte er das Grab seines Motors sorglich mit Erde und suchte dann wieder nach Tau. Aber der war in der lastenden Mittagshitze des Spätsommertages [S. 25] auch in den tiefsten Winkeln der Schattenfarne verflogen; es hieß einen Bach finden, und wenn's das Leben kostete. So trat er, den großen Browning an der Seite und den Spaten als Beil in der Hand, den unsagbar mühsamen Weg durch die verrückte Dickung an, wo er sich den Weg hauen und schneiden mußte, indes der Durst immer grimmiger wurde.
Bis in den Nachmittag würgte er sich so weiter bergab; er verzweifelte vor brennender Qual und warf sich auf die dunkle, magere Walderde, um sich zu kühlen. Da hörte er durch das Mittagsgurren der wilden Tauben hindurch ein ganz feines Kichern und Klimpern. Er sprang in wahnsinniger Freude empor. Herr des Himmels, das mußte eine Quelle sein! Und nun wand und schnitt er sich weiter, immer das Ohr in Liebe und Angst nach dem leisen Kichern und Rieseln [S. 26] hin gerichtet, bis er endlich ein jämmerlich kleines Gerinnsel fand, in dem sich ein bronzebraun aussehendes Wasserfädlein bergab wand. Für ihn war es herrlicher als der Ganges! Er warf sich auf den Boden und preßte Nase und Mund in die Furche wie ein wühlender Eber. Wie das Wasser schmeckte, wußte er gar nicht. Er trank nur und trank und brauchte lange, bis er bei dem spärlichen Rinnsal sein entsetzliches Brennen gestillt hatte. Dann füllte er seine Feldflasche; Gott sei Dank, daß er sie so groß genommen hatte!
Bisher war er aus dem verworrenen Dickicht noch gar nicht herausgekommen, wenn auch an einzelnen Stellen freiere Plätze mit großen Bäumen eingestreut waren. Dort versuchte er es, einen der Überständer, eine riesige Eibe, die vielleicht ein Jahrtausend alt war und doch kleiner geblieben war als [S. 27] jeder tüchtige Tannenbaum, zu ersteigen. Nun konnte er umherspähen.
Wald, Wald ringsum. Gegen Norden Fichten, gegen Süden da und dort Buchen eingestreut und Eichen. Keine größere Blöße, nur wilde Windbrüche; kein Zeichen menschlichen Wesens, eine Einsamkeit sondergleichen, namentlich nach dem Osten zu!
Dieser Waldberg, den sie Kraina nannten, war nur durch eine selten befahrene Straße, die durch das enge Loch der Luka führte, von der wilden Golobinje Planina mit dem Stol getrennt, und die ganze Welt dieser einsamen Höhen war wohl sechzig Kilometer lang und dreißig breit, ohne daß auch nur ein einziger größerer Ort dringelegen hätte! In der westlichen Kraina, wo er niedergegangen, war am nächsten der Weiler Luka und der Flecken Krivelj; aber auch diese waren drei Wegstunden voneinander getrennt, und zwischen [S. 28] ihnen türmte sich der steilste Gipfel des Waldgebirges bis nahe an dreizehnhundert Meter empor: der Stol — seine Burg! Die Bahn führte weit jenseits im Moravatale dahin. Er nahm die Karte zur Hand und stellte fest, daß das kleine Gerinnsel, das ihn hier gerettet hatte, zu dem Quellensystem der Bjelareka gehören mußte, an dessen Mündung in den Timok vierzig Kilometer weiter südöstlich die Brücken lagen, die er zerstören wollte. Nun saß er dort oben in der starren Wildnis, noch zwei Stunden über Luka, das die nächste menschliche Siedelung war, und begann ein Leben wie der Fuchs des Waldes; selber Dieb und Räuber, und von allen verfolgt, die ihn spürten.
Von was nun leben? Fürs erste mußte er unsichtbarer sein als ein Dachs. Sein Mundvorrat reichte auf ein paar Tage, dann mußte er sich als Raubtier nähren. Und er [S. 29] hatte kaum hundert Patronen für seinen Browning bei sich und kein Gewehr! Schießen durfte er in den ersten Tagen, solange man ihn da oben vermuten konnte, überhaupt nicht, und eine Wanderung nach Norden, wo er durch das Poretschkatal an die Donau zu kommen hoffte, war fast gleichbedeutend mit Entdeckung. Er mußte fürs erste hier oben bleiben und sein Leben mit den Mitteln, die er auf seinem Flugzeug mitgenommen hatte, neu beginnen und einrichten wie Robinson.
Vor allem benutzte er den Tunnel, den er sich durch das Fichtendickicht gehauen hatte, um zur Höhe des Berges zurückzukehren, wo er sein Fahrzeug und dessen Reste geborgen hatte, um nach und nach alles Brauchbare näher an das Wässerchen zu schaffen, ohne das er nicht leben konnte. Hier im dichten Jungholze wollte er bleiben; fürs erste konnte [S. 30] ihm nur ein Bär oder Wolf gefährlich werden und auch der nur im Schlafe. Schlimmer war es, wenn sie ihn mit Hunden suchten. Der kleine Wasserlauf, den er gefunden hatte, war zu unbedeutend, um darin weiter zu waten und so seine Witterung zu tilgen, damit die Hunde die Spur verlören. Aber das mußte er nun schon abwarten.
So suchte er sich denn nicht zu weit von seinem Gerinnsel eine höher gelegene Stelle, wo die Fichten so dicht standen, daß sie einen undurchdringlichen Verhau bildeten, zu dem er sich einen Zugang hieb, den man nur kriechend passieren konnte. Mit den abgehauenen Zweigen verblendete und verbarrikadierte er das Dickicht noch mehr, so daß man auch nicht auf eines Schrittes Länge das Zelt sehen konnte, das er sich in den Horst hineingebaut hatte, und das aus dem Zeug der Tragflächen bestand. Unter ihm grub er [S. 31] eine Erdhütte, und das Zeug bedeckte er mit Zweigen, damit das Graugelb des Stoffes nicht hervorleuchte. In diesem Zelte brachte er seinen kleinen Vorrat an Konserven und Zwieback unter, seine Werkzeugtasche und den Draht, der ihm nach dem Aufspannen des Daches noch geblieben war; das übrige Zeug rollte er zu einer Lagerstätte zusammen, auf die er seinen Schlafsack legte. Es war, für die Notlage, in der er sich befand, gar nicht ohne Gemütlichkeit anzusehen, wie er sich hier eingenistet hatte.
Dann musterte er das Handwerkszeug, mit dem er dieses vertrackte Leben führen sollte. Er hatte außer seiner automatischen großen Kriegspistole, seinem Säbel, kurzem Spaten und dem Feldstecher noch eine Werkzeugtasche, eine Eßschale, eine Feldflasche und einen Taschenfilter; das war alles. Ein einziges Paar allerdings sehr fest genähter Schuhe, [S. 32] drei Hemden und ganz wenig Unterwäsche und sein Fliegerpelz aus Leder bildeten seine Garderobe.
Nun dachte er lange Zeit nach: »Bleibe ich in meiner österreichischen Offiziersuniform, so haben sie mich auf den ersten Blick weg. Nähe ich mir aus dem Lederrock da eine Bunda zusammen, deren unbehilflicher Schnitt mich vor jedem Verdacht schützen wird, ein Gentleman zu sein, so werde ich als Spion gehängt, wenn sie mich hoppkriegen. Immerhin: besser etwas länger frei zu sein und dauerhaft in Leder gebunden, als mich vom nächsten Menschen, der mich sieht, mit Zetermordio verfolgt zu wissen.«
Und er machte sich ans Schneiderhandwerk, trennte das Schuppfell aus seinem Pelz und schnitt sich nach den zu weit gewordenen Linien des ledernen Überzuges eine tüchtige Jacke, die er sich dann wie ein Sattler mit [S. 33] Ahle, Pfriem und ungebleichtem groben Zwirn nähte, den er bei sich hatte.
Dabei hatte er wieder Hunger bekommen, und mit leisem Grauen dachte er wieder: wie soll ich mich hier nähren? Der nächste Maisacker lag weiß Gott wo. Er hatte einige tief unter Planina gesehen, als er noch der Adler dieser Höhen war; aber das gab eine stundenlange Wanderung!
Und er mußte sich die ersten Tage ducken wie ein Tier, auf dessen Wundfährte die Schweißhunde arbeiten! So suchte er denn im Walde nach Pilzen, deren er wenige fand, und nach Beeren. Es begann die Zeit der Brombeeren, und das war sein Glück, denn in diesem Waldgewirr waren die langen, stachlichten Ranken reichlich vorhanden. Er aß, was er konnte, denn die Dämmerung brach herein und er mußte sich mit den Gaben des Waldes tüchtig anstopfen, um seine Konserven, [S. 34] von denen er ja doch immer zu einer soliden Grundlage bedurfte, möglichst zu schonen.
Dann ging er, wie er ausgezogen war: immer vorsichtig in dem kleinen Wasserrinnsel bleibend, um seine Witterung zu tilgen, bergauf zu seinem Zelt im Dickicht zurück.
[S. 35]
In der Nacht erwachte er; Stimmen, die sich vielfältig im nahen Holze zuriefen, dann der Jagdlaut von Bracken weckten ihn. Sie waren auf seiner Fährte; Himmel, sie suchten ihn mit Jagdhunden! Er hörte deutlich, wie einer der Kerle seinen Hund anfeuerte. » Pazek, pridi! Rako, pravdo! « Und das Jaffen und Schnaufen der gierigen Kreatur zerriß seine Nerven, wie es immer näher kam.
Tikosch riß seinen Browning hervor, repetierte eine Patrone in den Lauf und ersetzte sie im Magazin; das andere Magazin nahm er in die Linke. Er konnte jetzt in wenigen [S. 36] Sekunden fünfzehnmal schießen — dann aber war es aus. Das schwur er sich aber: jeder von den fünfzehn Schüssen muß im hellroten Leben sitzen. »Hund oder Mensch, ich schieße nur auf zehn Schritt!« Dann war sein Blut wie Eis, und er wartete, Todesgrimm in allen Adern, auf das kurze, furchtbare Halali! Mit Spannung zählte er die Stimmen, die zwischen dem Geläute der Hunde im Walde umherschwirrten; es konnten zehn Männer sein, wenn sie alle schrien, und drei oder vier Hunde. Wenn er die alle niederschießen könnte? Bloß einen Schuß braucht er für sich selber.
Da: es bricht in der Nähe und schnauft; einer der Hunde ist es. Das Mondlicht ist karg, und das ist gut so; denn da muß er auf drei Schritt schießen und braucht sich nicht zu verraten, ehe nicht alles verloren ist. Der Hund faselt am Bächlein hin und her, überfällt [S. 37] es — eisig sinkt alle Hoffnung in dem Bedrohten herab. Aber die Bestie planscht ins Wasser zurück und sucht bergab weiter; die eine Gefahr ist fürs erste vorbei. Der Leutnant wartet und wartet auf sein Ende, den Browning in einer Hand, die bisher noch nie bebte, die aber jetzt, wo Schrecken und Hoffnung zehnmal in der Minute wechseln, vor Aufregung zu zittern beginnt. Wieder und wieder hallt die Ball der Meute näher, kommen die Stimmen wie ein Fiebertraum über ihn, neben ihn; das wechselnde Aufleuchten der Fackeln dringt bis in seine Dickung. Dann, endlich, endlich geht die Hatz abseits in den Wald hinein und weiter bergauf.
Wenn sie oben die vergrabene Maschine finden, dann ist er ja doch verloren! Und so horcht er und horcht immer noch, auch wie das flüsternde Geheimtuen der südlichen Spätsommernacht allein um ihn raunt. Er hört die [S. 38] Hunde nicht mehr, er sieht die Fackeln nicht mehr ihre Feuerstreifen zwischen die Stämme schießen, aber sein Hirn gibt aus Eigenem fernes Rüdengeläute her, seine Augen blitzen Truglichter, bis er nicht mehr weiß, was wirklich ist und was Sinnensport! Er zerbricht sich den Kopf mit der Berechnung, wie weit es bis zu dem vergrabenen Aeroplan sein könne, und ob der vereinigte Standlaut der Hunde und das Jauchzen der Finder bis zu ihm herdringen könnte! Dann horcht er wieder. Die Siebenschläfer klettern in den Zweigen, die Nachtschwalbe klagt in der Luft, und zwei Eulen schreien so fürchterlich und unirdisch auf, daß ihm das Blut erstarrt, weil er nicht weiß, wer in der Nähe so gellend jammert. Wieder reißt er den Browning in die Höhe, aber nichts kommt. Glücklich, wer die Stimmen des Waldes alle kennt und der Natur Bruder geblieben ist; er darf schlafen, [S. 39] wo andere ringsum das Grauen und den Tod ahnen müssen.
Endlich löst sich die wahnwitzige Anspannung in ein dumpfes Brüten, aus dem ein todgleichgültiger, unwiderstehlicher Schlaf wird. Mit einem derben: »Sollen sie machen, was sie wollen,« wirft er sich hin und weiß auch schon nichts mehr.
[S. 40]
Der jubelnde Morgen aller Vögel weckt ihn, und sogleich grübelt er nach: Bin ich gerettet oder nicht? Die Fährte seiner Verfolger darf er nicht nachsuchen, denn so gescheit sind sie sicher, auf ihre eigene Spur eine Wache gesetzt zu haben, die auf den nachspähenden Entronnenen paßt!
So wird er lange Zeit nicht wissen, ob sie seine Flugmaschine gefunden haben oder nicht, und das zerpreßt ihm mit furchtbaren Zweifeln die Seele.
Vier Tage sitzt der junge Mensch verkrochen und fiebernd im Dickicht und wagt sich nicht hervor. Vier Tage, ohne zu wissen, wovon [S. 41] er am fünften leben soll, denn seine Vorräte sind am dritten Tage zu Ende gegangen, und der Hunger beginnt mit dem öden Übelbefinden des leeren Magens seine Kurve, die bis zu Wahnvorstellungen steigen wird und zu einem Ende führt, für das Tikosch das Wort Tod nicht gelten lassen mag; verrecken nennt er es, wenn er dran denkt.
Aber frische Fährten darf er im Walde nicht hinterlassen, viele Tage lang; denn ihr Haß ist fürchterlich, und sie suchen immer noch, das weiß er. Aber noch eins weiß er: daß sein Wille, zu leben und zu entrinnen, noch größer und zäher ist als die Wut der andern, ihn zu fangen; und also muß er siegen, wenn nicht das Glück wider ihn ist.
So sitzt er und wartet auf seine Stunde wie der Wolf im Lager. Er weiß, daß er von jetzt ab bei Tage schlafen und bei Nacht [S. 42] schleichen muß, wie ein Raubtier, und überlegt, wie er den streifenden Hatzhunden entgehen soll, ohne sich durch einen Schuß zu verraten.
Aber in all dem Elend dieser ungewissen Tage hat er sich zu seinen Waffen eine neue gefertigt, die ihm in diesen Umständen nützlicher sein muß als seine Pistole.
Nahe an seinem Dickicht stand eine große Eibe, einer jener aussterbenden schwarzen Urbäume, deren Holz so zähe und elastisch ist, daß man nie einen dieser Bäume vom Sturme zerbrochen sieht. Aber eine stürzende Tanne hatte dem düstern Baum im letzten Winter einen langen Ast abgeschlagen, der zur Erde hing und jetzt ziemlich ausgetrocknet war. Tikosch wußte, daß das Eibenholz sich für den Bogen am besten eignet, und er schnitzte mühsam an dem dicken Bügel zu einer Armbrust und dem Schafte dazu. Mit dem Meißel [S. 43] stemmte er das Loch für den Bügel und für den Abzug aus, den er aus Teilen seines Flugzeuges zurechtfeilte. Nach zwei Tagen konnte er den Bogen durch den Schaft stecken, und nun band er von einem Ende des Bügels bis zum anderen mit großer Geduld einen Faden von dem starken, ungebleichten, groben Zwirn, den er hatte, um den andern: jeden stark anspannend und für sich geknüpft, bis der ganze Strang die Stärke einer Sehne erreicht hatte, wie er sie an mittelalterlichen Armbrüsten kannte. Er versuchte, zu spannen; unmöglich! Der Zug des Bogens mußte hundert Kilogramm übersteigen, und das war ihm recht; so bekam er einen weiten Schuß! Nun machte er den doppelarmigen Hebel zurecht, mit dem er die Sehne zu zwingen hoffte, aber zweimal mußte er den Arm des Hebels verlängern und verstärken, weil er sich bog oder nicht genug Kraft ergab.
[S. 44]
Endlich spannte er die wuchtige Wehr und ließ den Bogen bangen Herzens leer abschnellen, ob die Sehne aushielt. Und sie riß nicht.
Von dem Augenblick zog in den einsamen Mann ein Gefühl von Stolz und Kraft, das ihn sich allmächtig fühlen ließ! Er hatte eine herrliche Schießwaffe, die ohne einen anderen Laut als das Klappen der Sehne den Bolz, dem er eine Spitze aus dickem Draht und Federn aus Lederflecken gegeben hatte, auf sechzig Gänge mit tödlicher Kraft trug! Er übte nach den Bäumen mit der einfachen Zielvorrichtung, die er seiner Waffe hatte geben können: die Treffsicherheit war nicht sehr groß, aber genügend: auf die sechzig Schritte, auf die sein Bolz noch einen Ast von der Stärke eines Handgelenkes durchschlug, vermochte er ein Ziel von Kopfgröße zu treffen. Ach, wenn es nur einen [S. 45] Hasen, nur eine Waldtaube in der Nähe gegeben hätte! Ihn hungerte so bitterlich! Aber das Dickicht schwieg, und in den helleren Wald wagte er sich nicht. Dort riefen die wilden Tauben im Holze; unendlich sanft klang ihr friedliches, dunkles Abendlied aus den Kronen der Fichten. Wenn er nur eine einzige herunterholte? Die Baumkronen lohten hochrot, der Unterwald war grau und lichtlos geworden, und wenn er Beute haben wollte, so war es höchste Zeit! Er wurde beinahe toll bei dem Gedanken, sich ein Lagerfeuer zünden zu können, über dem am Spieße der kleine, aber herrliche Braten duftete.
Der Magen krampfte und krampfte sich ihm, die wildgewordene Phantasie glühte und schwelgte in dem einen Bilde herum, bis er alle Vorsicht vergaß und im Bachbette aufwärts schlich, das dürstende Ohr nach dem [S. 46] dumpfen, heulenden Ruhuu, Ruhuu hingierend!
In weitem Bogen zog er in den Wald nach der Schlafstelle der schönen Vögel zu, die da wohl zu zehn und zwölfen in den Bäumen saßen. Endlich hörte er das Kichern ihrer Flügel, wenn sie aufflogen und sich umstellten. Es klang geradezu höhnisch, und ihm zuckte jeder dieser Töne ins Herz, denn die Vögel konnten ihn eräugt haben und abstreichen; dann kam die Nacht, und es war wieder nichts als das Wühlen in seinen leeren Eingeweiden! Er stand und starrte zu den Baumkronen. »Wech, wech, wechwechwech« ging es da und dort mit dem hohen, pfeifenden Laut der Schwingen, aber er sah die Vögel nicht; das Unterholz war zu dicht, und wenn er aus dem Schutze der Baumkronen trat, dann hatten sie ihn schneller eräugt als er sie, die Aufmerksamen.
[S. 47]
Endlich begann ein Tauber leise zu heulen, etwas höher im Ton der nächste, und dem hungernden Raubtier da unten zuckte und riß das Herz. Er schlich näher, bis der eine Tauber mit der tiefen, murrenden Stimme den Schlußruf tat; den aber kannte Tikosch nicht, dieses kurze »Huck«, auf das der Vogel aufmerksam um sich zu äugen pflegt. Und ehe der Schleichende noch den blaugrauen Vogel gesehen hatte, klatschte der aus der nächsten Fichtenkrone empor ins flüssige Abendgold hinauf und zog in reißender Schnelle über den Wäldern dahin, weit, weit fort! Als hätte die Liebe des Schöpfers und aller Menschen ihn verlassen, sah Tikosch dem Vogel nach, dem drei andere folgten, und er hätte vor Jammer und Wut am liebsten herausgebrüllt. Zwei Schritte nur machte er und vertrat damit den ganzen übrigen Schwarm der Tauben, deren Schwingen [S. 48] wie Hohngelächter über ihm wichelten. Falkenschnell sausten die abstreichenden Vögel dahin, und der Wald war leer und entgöttert. Mitleidloses Schweigen blieb in den Baumkronen zurück, und der junge Mensch war hilflos wie ein verlassenes Kind. Oh, zum Fuchse, zur Katze zurück in die Schule! Neue Sinne erziehen an Stelle der Stadtdumpfheit, sonst mußte er verhungern trotz Waffe und Wild! Und er schlich weiter, das Wühlen des Hungers in den Eingeweiden und das brennende Verlangen im Herzen, zu leben, zu leben!
Aber der Abend schlug immer düsterer seine Schwingen um seine Augen, und bald war alles undeutlich geworden im Walde und auf den Schlägen. Da lenkte er verzweifelnden Herzens seine Schritte abwärts nach den Dörfern, um zu sehen, ob er ein paar Maiskolben stehlen könnte. Langsam und [S. 49] vorsichtig folgte er dem Wasserläufchen, das nach Süden lief, wo nach seiner Karte das Dorf Krivelj liegen mußte. Die Nacht war ihm jetzt willkommen, denn er wäre am liebsten mitten ins Dorf eingebrochen, um zu rauben, was er erraffen konnte.
Der Hunger hatte ihn furchtlos und verzweiflungsvoll gemacht, und wenn er daran dachte, wie jetzt die Kammern der Bauern voll Schinken und Würste hingen, trat ihm der Schaum vor den Mund, und er mußte mit Gewalt ein dumpfes Brüllen unterdrücken, das ihm von einer unwiderstehlichen Gier entpreßt wurde.
Wenn sie ihn fingen, es war ihm gleich. Vielleicht hatten sie seinen Flug schon vergessen, vielleicht konnte er sich für einen Versprengten ausgeben; denn seine Leute würden wohl schon längst mit den Serben handgemein geworden sein.
[S. 50]
Wie es denen wohl erginge? Er wußte von aller Welt gar nichts, und was ihn sonst in ein Fieber von Sorge gestürzt hätte, das konnte er jetzt unwillig abschütteln. Es war ihm alles gleichgültig, was mit Österreich war; nur essen wollte er, fressen! Und er schlich und pürschte mit verhaltenen Tritten in die tiefwerdende Nacht hinein dem Tale zu. Das Gehen im Wasser wurde immer schwieriger und schmerzlicher; die aufgeweichten Schuhe gaben in den Nähten nach, aber er mußte im Bache bleiben, obwohl ihn das Fieber und die Kälte schüttelten. Stundenlang ging er so. Da hörte er das Anschlagen eines Hundes, und zusammenfahrend stand er stille.
Durch die Bäume schimmerte eine hellere Blöße; etwas Sternenlicht war über einer Wiese, und dorthin schlich er mit klopfendem Herzen. Nun sah er auch den Mond, der [S. 51] klein und schmal über die Berge heraufgekommen war und ihm leuchten sollte. Er wartete, bis der Hund wieder anschlug; nach dieser Richtung ging er dann. Es war die Gefahr, auf die er zuging, aber auch das Ende dieses schwindelnden, brennenden, tobenden Hungers! Fiebernd schwankte er dahin, und das Blut kreiste wunderlich in seinem Hirn. Ihm war jetzt alles wie ein sonderbarer Traum, und er mußte sich immer wieder zusammennehmen, um sich nicht niederzulegen und weiterzuschlafen, weil er oft meinte, flüchtig erwacht zu sein und innezuwerden, daß er da zwecklos aus dem Bette gestiegen sei und in der Nacht umherirre. Dann wußte er plötzlich wieder, daß es ums Leben ging, und hochgespannt schlich er weiter, wo der unsichtbare Hund sein dunkles, veränderliches Wesen hatte. Es war ein großes Tier mit tiefer Stimme, aber er fürchtete [S. 52] es nicht; er suchte es, und es ärgerte ihn das Wandern der Stimme, die bald da, bald dort anschlug und knurrte. Tikosch wurde wütend. Nicht, weil der Hund offenbar frei umherstrich und ihm gefährlich werden konnte, sondern weil dies kreisende Suchen mit dem Gehör ihm stets wieder jenes wunderliche Bewußtloswerden brachte, aus dem er sich mit allen Kräften losreißen mußte, sonst sank er vor Schwäche hin und wurde gefunden. Er ging über Wiesengrund, dann über ein Krautfeld, dann wieder über Wiese, und seine Augen durchbrannten die Düsternis, ob nichts anderes kommen wollte: Obstbäume oder ein Kartoffelacker gar! Auf einmal kam er an ein höheres Feld, und mit unbeschreiblichem Entzücken erkannte er die Töne leisen Sägens, die im Nachtwinde von den langen Maisblättern ausgingen, die sich aneinander rieben!
[S. 53]
Da war Nahrung. Er schlich mit brennendem Begehren hin, griff in die Stauden und suchte mit bebenden Händen nach einem Kolben, den er mit einer Andacht losbrach und enthüllte, wie ein Priester das erste Allerheiligste, das er genießen darf. Ein leises Weinen, ein süßes, leichtes, seliges Kinderweinen erschütterte ihn dabei unsagbar sanft und lieblich.
Das Leben war plötzlich wie ein leises, liebes Lied geworden. Der Mais war hier, hoch oben in den Bergen, noch grün und milchig, und er biß gleich in die rohen Kolben und zerkaute das süßliche Fleisch der schwellenden Körner mit namenloser Inbrunst.
Da hörte er das Schnauben eines Tieres in der Nähe und hielt in der gefährlichen Gereiztheit einer Bestie inne, die man beim Fraße bedroht. Eine dumpfe Wut, in diesem [S. 54] unsagbaren Entzücken gestört werden zu sollen, kochte in ihm auf. Ah! Der Hund suchte und schnoberte nach ihm, der sollte die Menschenjagd büßen. Tikosch hatte seine Armbrust, so umständlich sie auch zusamt dem lästigen langen Hebel zu tragen war, bei sich behalten, und mit bebenden Händen spannte er die Sehne und klemmte den Bolzen zwischen die haltende Feder und den Schaft; dann setzte er sich kauernd auf die Erde und erwartete seinen Todfeind.
Ein gereiztes Knurren sagte ihm, daß der Hund seine Witterung in der Nase hätte. Aber dies drohende Knurren, das in solcher Verlassenheit und solcher Nacht manches starke Herz hätte zittern lassen, wurde ihm zum gierigen Entzücken. Schoß er mit seiner geräuschlosen Waffe die Bestie, so hatte er Zeit, Zeit, die ganze Nacht, zum Plündern von Feld und Baum und Stall!
[S. 55]
Er hatte wieder all seine Nerven und Sehnen beisammen und duckte in sich selber zusammen, die Armbrust an der Wange: wartend, in zitternder Freude und Gespanntheit. Und der Hund schnob und schnaufte sich näher heran. Der Wind stand vom Felde nach der Wiese, und Tikosch wußte, aus einem ihm bisher unbegreiflichen Instinkte heraus, daß der Hund gegen den Wind kommen müsse. Er horchte gar nicht mehr in das Sägen und Rascheln des Feldes hinein, sondern bohrte seine Augen in das matte Dämmern der Wiese.
Wirklich kam die Bestie dort geschlichen; undeutlich, schwarz und so riesenhaft, daß er zuerst glaubte, es sei ein Stück Großvieh. Aber er wußte, wie die Dunkelheit verzerrt, und paßte scharf auf. Nun war der Hund so nahe, daß der junge Offizier das gierige Hecheln des aufgeregten Atems hören konnte; [S. 56] der Hund stand, und eine unbestimmte Sorge schien ihn zu überkommen. Wenn die feige Bestie nun nur nicht ihrer Zwiestimmung in einem ungeheuerlichen Lärme Luft zu machen suchte! Rühren durfte sich der gestellte Mann auf keinen Fall, so daß der Hund im ungewissen blieb, was das für fremde Witterung war. Endlich schlich das große düstere Tier wieder näher, gierig windend, so daß sein Atem pfeifend durch die Nase ging. Zehn Schritt noch, dann stand es wieder und knurrte.
Tikosch blieb ganz still in sich zusammengepreßt, und lange, lange Minuten lauerten sich so die beiden die Gewißheit ab. Endlich schien der Hund zu glauben, hier schliefe ein Mann, und kam vorsichtig schnuppernd noch näher heran, so daß der Offizier sah, wie sein Rückenhaar vor Aufregung hochgesträubt war wie bei einer Hyäne. Mit hohem Widerrist [S. 57] und gesenktem Kreuze wie eine solche stand die Bestie einen Augenblick, dann duckte sie vorne zusammen und kroch näher; Tikosch sah nur Haupt und Schultern und dahinter die klamme Rute, die vor Wut und Erregung zuckte.
Drei Schritt! Tikosch ging mit der Schußwaffe mitten zwischen die schwefelgrünen Lichter des großen, gefährlich nahen Tieres hinein und drückte in unsäglicher Anspannung allen Willens, den einen Punkt zu treffen, ab. Es krachte wie brechendes Bein, und der Hund sank nach vorne zusammen, ohne einen Laut zu geben.
Da stand Tikosch auf, straffte sich, und ein Gefühl sprudelnden Stolzes quoll in ihm empor, dessen wilde Freude am liebsten in einen furchtbaren Siegesschrei ausgebrochen wäre. Er dämpfte sich, trat zum Hunde und riß dem verendeten mit großer Anstrengung [S. 58] den Bolzen aus der Stirne: bis ins halbe Hirn hatte sich der gebissen! Dann packte er das mächtige Tier an der Rute und schleifte es über die Wiese zum Bach, gab ihm dort einen Fußtritt, und es kollerte bergab, so weit, als Tikosch nur wünschen konnte. Denn hier ging es sehr steil hinab. Ein fernes Planschen des Wassers verriet ihm, daß die Bestie fürs erste gut verdeckt läge; dann kehrte der frohgewordene Feldräuber wieder zu seinem Mais zurück und begann mit vollen Händen zu stehlen!
Er aß diesmal nicht mehr; er dachte nur an Vorrat und band sich die saftigen Kolben zu einem großen Pack zusammen.
Dann ging er ein Kartoffelfeld suchen, fand es auch und grub sich hier, wühlend wie ein Eber, die größten und schwersten Knollen heraus, den ganzen Rucksack schwer voll. Nun schlich er sich, nach dem Hause spähend, [S. 59] weiter; aber ehe er in einer dunklen Erhöhung einen mächtigen Hof erkennen konnte, jaffte hoch und aufgeregt ein Hündlein hinter den dunklen Mauern, und der verhohlene Vogelfreie erschrak dermaßen, daß er zuerst kaum von der Stelle konnte.
Mit zitternden Knien und größter Anstrengung trug er jetzt seinen schweren Raub dem Bergwalde zu, fand seinen Wegweiser, den Bach, trat ins Wasser und kämpfte sich darin über Kies und schlüpfrigen Schlamm unter unsagbarer Mühe und Schmerzen seinen Weg bergauf, Stunde um Stunde, bis das Sternbild des großen Wagens über den Bäumen gänzlich auf dem Kopfe stand und weit über Mitternacht ansagte.
Fünf Stunden hatte der kleine Raubzug gedauert, und es mochte gegen zwei gehen, als Tikosch in seinem Dickicht anlangte und erst todmüde auf die Erde hinsank, ehe er [S. 60] Willenskraft genug fand, sich die verquollenen Schuhe von den Füßen zu ziehen und die kalten, erstarrten Beine abzureiben, damit er sich nicht zu sehr erkälte.
Trotz der Anstrengung war ihm nicht warm geworden: das machten der Hunger und das Fieber, das ihn immer noch nicht gänzlich verlassen hatte. Dazu spürte er in der verheilenden Wunde wieder lebhaftere Schmerzen. Aber all das tat ihm jetzt nichts, wo er zu essen hatte.
Er war so sicher, beinahe übermütig geworden, daß er es zum erstenmal wagte, ein Lagerfeuer zu entzünden. Mit der letzten Kraft, die ihm geblieben war, zerrte er aus dem Holzvorrat, den er sich vorsorgend schon früher zusammengetragen hatte, ein paar kurzgehackte Stücke hervor, legte sie auf Reisig und entzündete sie. Dann rückte er an die Flamme, und indem er die Kartoffeln [S. 61] hineinlegte und die Maiskolben an kleinen Spießen über das liebe, lichte Feuer hielt, zog längst entbehrte Wärme in ihn und gab ihm Mut und Kräfte wieder. Er konnte es kaum erwarten, bis die Maiskolben geröstet waren, und die Kartoffeln sangen noch leise, als er sie aus der kleingewordenen Glut zog. Nun warf er nur von Zeit zu Zeit mehr ein kleines Scheit in die Flamme, damit er Wärme und Licht in einem hätte, und hielt eine Mahlzeit, beißend, schlingend, schmatzend und ungeheuer gierig! Dabei durchdrang ihn ein Entzücken, das war so schwindelnd und ungeheuer, daß alle Liebe, die er je genossen hatte, elend und schal neben dem ungeheuren Aufschwunge seines Lebens erschien, der ihm jetzt beschieden war, weil er sich sattessen konnte!
Das Glück brauste und jubelte in ihm, und er schnaufte und weinte in einem Atem vor [S. 62] Gier und Lust! Er entsann sich, daß Verhungernde mit dem Essen nicht aufzuhören vermöchten, bis sie stürben, aber das kam ihm jetzt gleichgültig, klein und nichtig vor. Es war ein solcher Aufflug, solch ein ins Ungeheure gepreßtes Lebensgefühl in diesem Fraß, nach den elenden Tagen, daß er dafür gerne gestorben wäre. Endlich lachte er doch leise und sagte sich: »Vieh! Vieh!«
In unbändigem Glück und Behagen lehnte er sich zurück, hielt die Beine ans Feuer, drehte und wendete sich, um die göttliche Wärme recht und überall zu empfangen und durchzufühlen, und kam sich vor wie der König dieser hohen Wälder.
Das stürmende Glück ging immer mehr in ein menschlicheres und sanftes Hinträumen über, und zum erstenmal in diesen Tagen der Verfolgung und Not überblickte Tikosch seine Lage klarer und musterte auch seine Vergangenheit, [S. 63] wie einen Traum, den man staunend überblickt und bedenkt, nachdem man erwachte.
Einen Arm unter dem Kopfe, lag so der junge Offizier an seinem einsamen Lagerfeuer in der Urwildnis des Veliki Krisch.
Wie war er nur da hergekommen? Ah, ja, sein toller Flug! Und die vermaledeite Brücke bei Zajetschar steht noch immer; die hat er gar nicht gesehen. Vielleicht kommt man zu Fuße hin? Eine Sprengbüchse und ein paar Bomben sind drüben am Stol vergraben; wer weiß, was man wieder unternehmen kann, seit man wieder bei Kräften ist!
Wie kam er damals nur auf jene tolle Idee? Befohlen war ihm der Flug nicht worden. Und Tikosch Gabor lächelt wehmütig; er hat in seiner Seele wieder Platz für Menschentum und Allzumenschliches. Wenn ihn die frische, aufrechte deutsche Beamtentochter, [S. 64] der er so gar nicht gefallen hatte, jetzt sähe! Aus Grimm und Verzweiflung über ihre Abweisung war er unter die Flieger gegangen und hatte ihr's geschrieben, daß er ins Herz Serbiens hineinsausen würde, um dort zu wüten und zu sterben. Er, der ihr zu unbändig, zu viehisch erschienen war, der Wohlerzogenen, weil er einmal betrunken sein mochte, wie's eben der Ungar pflegt unter Freunden. Und einen schwäbischen Lehrer hatte sie ihm vorgezogen!
Häh! Der hätte da stehen sollen, in der Nacht, im Kukuruzacker, der riesigen Dogge gegenüber! Oder er hätte mal fliegen sollen wie Tikosch. pfeifende Kugeln ringsum! Oder mit Hunden gehetzt im Walde ducken, oder hungern, wund und fiebernd! Nein, die Weiber sind nicht auszurechnen. Nimmt die ein Lamm statt eines Löwen!
[S. 65]
Stolz und grimmig lächelt der junge Offizier. Er ist doch ein Mann, dem ein Weib nicht nein sagen sollte! Sein Antlitz ist wohl ein wenig hunnisch, aber energisch und schön; die Gestalt wie aus Stahldraht gedreht, schlank und mit spielend elastischen Muskeln, und Mut hat er für drei!
Aber doch: es hat ihn ein schmierblonder Kandidat ausgestochen!
Tikosch grübelt. Er hat den Lehrer auf Tod und Leben fordern wollen, trotzdem Margit für ihn bat. Die Kameraden jedoch haben ihm gesagt, es wäre kein Kampf gleich auf gleich, und stolz lächelnd hat Gabor verzichtet, den Schulfuchs zu erschlagen. Wenn Fräulein Margit das halbe, zahme Kindergelichter, das der ihr zeugen wird, lieber ist als rassige Jungen, wie er sie ihr gäbe, soll sie's mit dem blonden Thaddädl halten. Er wird davonfliegen und lachen.
[S. 66]
Und er ist davongeflogen.
Jetzt hat er seinen eigenen Herd. Ja, seinen selbstgegründeten; mitten im Urwald und ohne Weib und solche Faxen. Hunger, Elend und Triumph hat er nacheinander kennen gelernt, und heute hat er auch das Stehlen gelernt.
Immerhin; vielleicht kommt es noch zum Straßenraub. Ein rechtes Mannesleben sollte überhaupt voll solcher Dinge sein. Als Offizier kommt er hier nicht weit; also wird Tikosch Gabor Räuber werden. Er lacht behaglich, überlegt, wie das ginge, wünscht sich sehr ein paar Gesellen und schläft auch schon gut und ausgiebig, so daß er den werdenden Tag nicht sieht und nicht die schaurige Morgenkälte fühlt, die vor Hahnenkraht alles durchdringt. Er schläft und träumt, daß er sich zu nahe ans Feuer gelegt habe und das verbrenne ihn jetzt. Jähe fährt er weg davon und empor, und dann lacht er.
[S. 67]
Es war die helle, heiße, brühende Herbstvormittagssonne, die sich ihm vollhin auf den Pelz gelagert hat, wohl schon seit einer Stunde. Ah: Behagen über Behagen! Und nun gibt's ein Frühstück am Lagerfeuer, wie schon lange keines mehr, und dann ein wenig Jagd, ein wenig Verfolgung und Gefahr — es ist doch ein famoses Leben. Und seine Wunde scheint in dieser einen Nacht verheilt, seit er sich wieder sattgegessen hat.
Bloß eines fehlt ihm noch zum vollkommenen Glück: ein wenig Salz und Butter zu seinen Kartoffeln! Für ein Pfund Butter gäbe er jetzt dem Lehramtskandidaten die ganze sanfte und hochgebildete Margit. Und Tikosch kann jetzt auch wieder fluchen; es gelingt ihm leicht und lästerlich gut.
Vorläufig will er schleichen und pirschen lernen und sich trotz der gestrigen Enttäuschung einen Braten holen; Gott wird ihm schon [S. 68] einen Hasen in den Weg schicken. Sonst muß er's wieder mit den scheuen Waldtauben versuchen. Vielleicht geht es in der Mittagsstille; da schlafen sie ja auf ihren Bäumen, nachdem sie Wasser aus dem Bach aufgenommen. Oder bei der Tränke? Ja, da konnte er eine überraschen. Und der einsame Jäger nahm sein Schießzeug und verlor sich im Walde.
Aber manche Fehlpirsch, manchen mißglückten Schuß kostete es noch, bis Tikosch mit den Pirschregeln und mit seiner mittelalterlichen Waffe vertraut genug war, um das scheue Wild auf vierzig oder gar fünfzig Gänge zu treffen. Die Schußleistung, das Streubild war auf diese Distanz allein schon der Größe dieser Vögel entsprechend, und der kleinste Zielfehler bedeutete einen Hungertag! Der Offizier lernte, seine Willenskraft, seine Nerven auf bisher ganz ungeahnte Weise [S. 69] anzuspannen und alle Energie in einen einzigen Augenblick zu pressen. Nicht einmal in den kritischen Momenten, wo sein Luftfahrzeug in Windstößen zu schlingern begonnen hatte, bedurfte es solcher Zusammenfassung aller Willensmächte auf einen Punkt hin wie jetzt im Augenblick des Schusses, um zu treffen! Nun hatte Tikosch fast jeden zweiten Tag eine Zutat für seine Kartoffeln und Maiskolben, an der ihm freilich der ungewohnte Mangel von Salz und Fett empfindlich wurde. Nur der wütende Hunger vermochte ihn, die reizlose Kost hinunterzuschlingen; denn der Versuch, sich ein paar Körnlein Salz zu verschaffen, wäre mit dem Leben doch zu teuer bezahlt gewesen.
Eines aber wuchs von neuem in ihm empor, seit die äußerste Not und mit ihr die Gleichgültigkeit gegen alle andern Erscheinungen dieses Lebens gestillt waren. Er sehnte sich [S. 70] nach Menschen. Und mehr noch; er konnte sich wieder dem Luxus der Vaterlandsliebe hingeben. Als der Hunger nicht mehr durch Mark und Bein nagte, da begann wieder die Angst: Was ist mit meinem Österreich? Vierzehn Tage waren seit der Kriegserklärung verflossen, und das Land hier ringsum blieb still und friedlich. Er horchte oft in die ferne Bergnacht hinaus, ob sie ihm nicht das Grollen eines Kanonengewitters zutragen wollte. Umsonst. Am Abend gurrten in unsäglichem Frieden die Hohltauben und die Ringeltauben in Felsen und Wäldern, die Wipfel rauschten sanft, und mit immer gleichem Lächeln sprach der Gott der Höhenfernen stets sein sanftes:
»Warum seid ihr mir in die Irre gegangen? Ihr würgt euch, und ich bleibe der Friede. Die Not in meinem Reiche ist kurz, auch wenn täglich der Falke unter die kleinen Vögel stößt; ihr aber habt euch an einem künstlichen [S. 71] Frieden Ekel gefressen, so daß der Völkerwahnsinn nun um so schauerlicher ausbricht! Wäret ihr bei mir geblieben, ihr würdet täglich das Glück eurer Seele haben, das da heißt: Gott anschauen.«
Es war fast unerträglich, dieser ewig gütige Friede! Was geschah dort hinter den Bergen? War Österreich einmarschiert, warum kam keine Unruhe unten in die Dörfer, die er fernehin in immer gleichem Frieden liegen sah? Die Transporte besorgte ja die Bahn, darum sah er keine Züge von Troß und Wagen. Aber die Menschen arbeiteten wie sonst; sie sahen klein aus wie suchende Sperlinge, dort auf den Feldern der Tiefe, und nichts schien sie zu vermögen, unruhige, gestörte Ameisen zu werden! Oder hatte Rußland eingegriffen? Tikosch wußte, daß der unersättliche Barbarenstaat des Ostens nur auf die Gelegenheit lauerte, Österreich zu [S. 72] überfallen, und der Gedanke, daß jetzt im Norden die Hunderttausende Österreichs gegen die Millionen Rußlands einen Kampf voll Verzweiflung und übermenschlicher Anstrengung rängen, trieb ihm die heiße Feuchte aus allen Poren.
Und er war hier gefangen! Sollte er, immer die Nächte durchwandernd, seinen Weg bis zur Save nordwärts suchen und ins Ungarland zurückschwimmen? Die Wunde war nahezu geheilt, eine kleine Steifheit im Kreuz, die übergeblieben war, konnte ihn nicht arg hindern. Aber dennoch hielt ihn ein Rest von Hoffnung und Trotz hier auf seinem Berge fest. Erst mußte er auf irgendeine Weise erfahren, wie es mit dem Kriege stand; und war Österreich in Bedrängnis, dann sprengte er den Serben ihre Eisenbahnbrücke ob Zajetschar auch ohne Flugzeug: und sollten sie ihn dafür in Stücke reißen!
[S. 73]
Was lag an ihm, Geld hatte und wollte er keines, Glück war ihm nicht beschieden, und das einzige, was er von diesem Leben ersehnt hatte, ein wenig Frauenliebe, war ihm brennend mißraten! Dies verschmähte Mannesdasein, dem die Vergötterung fehlte, konnte nur durch eigene Achtung zu Inhalt kommen; sich selber wollte Tikosch Gabor anbeten lernen und sich sagen: »Du bist ein Held!« Von dieser Art waren bisher die einzigen Sensationen seines Lebens gewesen: waghalsige Ritte, von denen das ganze Komitat sprach, und nun sein toller Flug, der ihm mißlungen war, und dessen Ziel der Dickkopf nun erst recht nicht aus den Augen ließ. Alles, was sonst das Leben vertieft und schön, aber auch allzu begehrenswert macht, war von Tikosch bisher unbeachtet gelassen worden. Um Kunst kümmert sich der Ungar an sich schon wenig. Auch seine Natur, [S. 74] die Natur der Puszten, kennt nur eine eintönige, eine große, aber einzige Linie und beschäftigt weder die Augen noch die Phantasie ungewöhnlich. Man liebt sie und läßt sie sein, wie sie ist, oder erobert sie zu Pferde. Für die Städte und ihre Oberflächlichkeiten hatte der junge Offizier so wenig Sinn wie für ihre Tiefen. Über die Kabaretts und über die Theater lachte er mit derselben Verachtung. Gelehrsamkeit, Wissenschaft und Philosophie waren von ihm bisher mit den Worten abgetan worden: »Das Zeug ist alles nur für die langhaarigen Ehrenmänner am Kaffeehaustischel; sollen's damit glücklich sein und mich in Ruh' lassen.«
Jetzt aber, in der grandiosen Schweigsamkeit alles dessen, was um ihn lebte, ging ihm ein tiefes Unbehagen auf, wie hilflos er eigentlich wurde, wenn er in sich selber sank! Immer wieder mußte er, da alles sich von [S. 75] ihm abgewandt hatte, was ihn sonst unterhalten konnte, in die Tiefen seiner eigenen Brust hinuntersteigen. Er versuchte, sein ungeschultes Hirn zum Grübeln zu bringen, und fand alles leer. Oder vielmehr, er war des Denkens ungewohnt und hilflos wie ein Kind. »Wozu bin ich eigentlich gemacht: Ich, Tikosch Gabor? Und was war beabsichtigt, weil ich auf die Welt kam? Was hat mich bisher getrieben? Was habe ich Gutes getan und warum habe ich so viel Haß gehabt? Warum frag' ich mich jetzt drüber?« Solche Schürfungen nahm er nun in sich selber vor, und wenn er aus solchen Gedankennächten fruchtlos wieder an den Tag geriet, kam er sich vor wie ein verlegner Teckel, der zwecklos in einen leeren Fuchsbau eingefahren war. Einen kleinen, buckligen Kerl im Szegediner Offizierskaffeehaus hatte er immer ausgelacht, wenn der behauptete, die ganze Welt gehöre ihm. [S. 76] »Warum? Wie? Wo?« hatte Tikosch vergnügt geschrien, und der kleine Hascher hatte dann immer mit einem großen Stolze gesagt: »Ich bin ein Philosoph.« Ja, der arme Kerl hatte sich sogar zu der Behauptung verstiegen, nicht Kraft noch Kühnheit mache den Mann aus, denn dann sei jeder Gorilla besser als Tikosch, aber denken müsse man können; damit sei man ein Gott! »Denken; das ist der ganze Mann.«
»Weiß der Teufel,« sagte Tikosch jetzt öfter zu sich selber, »jetzt möcht' ich wirklich was von so einer Philosophie dahaben.« Und er dachte nicht ohne Neid an den kleinen Buckligen im Kaffeehaus zu Szegedin und auch an den blonden, schwäbischen Schullehrer, der die schöne Margit mit einer rührend tiefsinnigen Betrachtung über das Leben der Bienen, die er studiert hatte, als wären's Menschen, zuerst auf sich aufmerksam gemacht hatte. Da nun [S. 77] die Lebensumstände, in denen sich Tikosch jetzt befand, Dinge wichtig machten, an die er früher auch nicht den kleinsten Gedanken verwendet hatte, wie die Lebensweise der wilden Tauben und der Hasen, der wilden Hummeln, deren Honig er rauben lernte, und sogar der Mücken, aus deren Gehaben er das Werter hervorahnen lernte, so begann er eine Art richtiger Scheu für alles Wesen der Natur zu empfinden, und die ist ja der Anfang aller Religion. Sich als Teil empfinden, um sich als Einzelnes dafür um so inniger zu bilden, das ist die Schrift Gottes, die er uns gegeben, sie zu suchen, zu erkennen und zu befolgen.
Solche Erwägungen kamen ihm aber nur dann, wenn seine Sorgen und sein Hunger für die nächste Zeit gestillt waren, und er empfand diese Würdelosigkeit seines Wesens mit einigem Ärger. Denn all diese schönen [S. 78] Dinge, Heldentum, Vaterland und Philosophie, waren augenblicklich verschwunden, sobald die gemeine Notdurft in ihm rebellierte. Oft war ihm zum Beispiel die Sorge um sein Vaterland durchaus nicht sehr viel wichtiger, als wie er zu einem Happen Salz gelangen könnte. Denn die Gier nach Salz und auch die nach etwas Fett war in ihm mit tierischer Gewalt gewachsen und gewachsen, und wurde nun schon so groß, daß er beschloß, ein Teil seiner geübten Vorsicht außer acht zu lassen und sich die ersehnte Würze zu verschaffen, auch wenn es ihm an den Kragen ginge. Er schämte sich, aber der Trieb blieb stark.
Da entsann er sich eines Tages, als er vor sich selber nach einer Ausflucht suchte, daß das Verlangen nach Salz ja auch in den Tieren sehr lebendig sei, und er dachte der Rehe, denen in seiner Heimat die Jägerei [S. 79] eigene Salzlecken errichtete. Gibt bei uns der Jäger seinen Rehen Salz, folgerte er, so wird es hier der arme Bergbauer wenigstens seinen Ziegen nicht vorenthalten. Und er begann, Losung und Fährten der Ziegen in den Planinen zu erforschen, wenn er auch dabei wieder in Gefahr kam, mindestens mit einem Wolfshunde anbinden zu müssen.
Auf einer dieser Streifereien gelangte er in die Nähe eines jener weltlich simplen Hirtenobdächer der serbischen Planinen, von denen man glauben möchte, daß sie für nicht mehr da seien als für die Dauer jenes Unwetters. Und doch gibt es dort viele Menschen, die ihr ganzes Leben unter diesen paar zusammengetragenen Steinen verbringen! Es war ein ganz niederer Bau, eher einer Höhle ähnlich als einer Hütte, den er entdeckt hatte. Aber wichtig war es für ihn, daß alle Ziegen [S. 80] der Gegend täglich zweimal dorthin wallfahrteten. Es gab also Salz dort, und mit zitterndem Herzen legte sich Tikosch tausend Schritt über dem zusammengewürfelten Hirtengeklüfte auf die Lauer; er, selber ärmer als diese ärmsten Menschen, um sie bei guter Gelegenheit zu bestehlen. Und mit der Geduld eines Bussards wartete und wartete er, bis endlich einmal der Hirte, ein Greis, der nur einen Knaben bei sich hatte, die Hütte verließ, um offenbar ins Tal um Proviant und Nachrichten zu gehen; denn beide waren mit geflochtenen Tragkörben beladen, in denen sie zugleich Schafkäse, den man hier auf der Ovcina bereitete, zu Tale trugen.
Als sie eine halbe Stunde weit waren, hielt es den Verfolgten nicht länger, und er schlich sich zur Hütte. Ein Hund war nicht da, es rührte sich nichts, und trotzdem bebten dem [S. 81] jungen Manne die Knie; er schämte sich. Der einfache Holzriegel des kaum fünf Fuß hohen Raumes war von außen mit wenig List und Kunst zu öffnen. Was schloß er auch ab? So konnte Tikosch bald in das mehr als antik einfache Gelaß treten, nein, kriechen; denn es war für einen aufrecht stehenden Mann zu niedrig. Die Hirten hatten es denn auch nur als Schlaf- und Vorratskammer eingerichtet. Von den wenigen Dingen, die der armselige Raum enthielt, einem gemeinsamen Streulager mit schmutzigen Ziegenfellen, einer Tonlampe und etwas halbzerbrochenem Geschirr, sah der Ausgehungerte denn auch nichts, sondern suchte nur nach einem, nach Salz.
Wirklich fand er einen groben Klumpen Viehsalz; derbes, aber ziemlich reines Rohsalz von roter Farbe, an dem er gierig leckte, um es dann zitternd zu sich zu stecken. Ein [S. 82] zweiter Blick zeigte ihm noch eine lange und verschimmelte Speckseite. Auch diese riß er an sich, wurde brennendrot vor Scham, legte sie wieder weg, nahm sie wieder, roch mit nicht zu beschreibender Wonne daran und tat sie wieder fort.
Dann überlegte er, daß er ja ein Goldstück an ihre Stelle legen könnte, ein Goldstück, das in diesen Höhen der äußersten Armut den vierfachen Wert haben mußte und den zehnfachen der Speckseite! Aber das Gepräge war österreichisch und verriet ihn sicherlich. Den Leckstein allein konnten die Ziegen gestohlen haben, die in die schlechtverwahrte Hütte eingedrungen waren; der Speck mußte ernsteren Verdacht erregen. Und ihn den Bedürftigen einfach zu entwenden, das vermochte der ritterliche Ungar nicht, und wenn er im Anblick der Köstlichkeit hätte verhungern müssen! Ein schwerer, schwerer Kampf lag nur in dem [S. 83] Gedanken, er könnte das herrliche Stück irgendwie bezahlen.
Aber das ging nur an, wenn er sogleich zehn Meilen zwischen sich und sein verstecktes Lager am Stol legen konnte.
Dann war es nichts mit der Sprengung der Brücke.
Und Tikosch Gabor nahm von der wundervollen Speckseite mit geblähten Nüstern Abschied; nicht ein einziges Stückchen hatte ihm sein Stolz davon zu genießen erlaubt.
Er schlich sich mit seinem Zweipfundstück Salz davon, im köstlichen Gefühle, heut abends eine Mahlzeit halten zu dürfen, wie kein römisches Leckermaul sie je gekannt. In der Morgendämmerung hatte er auf dem Ansitze einen feisten Hasen erlegt, der ihn das fehlende Fett nicht empfinden lassen würde. Kartoffeln waren auch noch vorhanden; Tikosch war schwindlig vor Glück.
[S. 84]
Abends, in seinem sicheren Versteck am Lagerfeuer, genoß er den gewürzten Braten, zu dem er noch Wacholderbeeren und den Thymian des Waldraines getan hatte. Er aß mit bebenden Händen und kam sich über alle Begriffe von Gott begnadet vor. Nur fehlte ihm in seinem Glücke jemand, mit dem er es teilen konnte, ein Gefährte, mehr als je! Tikosch war stets gesellig, konnte nur genießen, wenn er sah, wie es auch anderen schmeckte, und brauchte in Leid und Freude Menschenaugen, die ihm alles widerspiegelten, was er selber empfand. Er war kein Schwätzer, aber er lachte und tollte gar zu gern, wie ein rechtes Kind, das er stets geblieben war. Und wie einem Kind war ihm jetzt auch bange.
Es kam sogar, daß er in seiner Einsamkeit leise ein altes, unsagbar trauriges Lied zu singen begann, das so recht aus der endlosen [S. 85] braunen Steppe seiner Heimat geboren war und von hoffnungsloser Liebe und Abschied ging.
Tikosch sang es langgezogen und andächtig durch bis zu einer Strophe, bei der sie immer alle zu weinen pflegten, wenn es die Zigeuner den betrunkenen Kavalieren vorgespielt hatten.
Und wenn auch der gute Leutnant seit vierzehn Tagen keinen Tropfen Spiritus in irgendwelcher Form gesehen hatte, so heulte er bei der rührsamen Stelle pünktlich und jämmerlich drauflos. Es dauerte eine ganze Weile, bis das erledigt war; dann wurde ihm wohler und leichter, er setzte sich wieder aufrecht, strich zufrieden und halb beschämt seinen kleinen Schnurrbart und dachte eingehend und angestrengt daran, wie er es einrichten könnte, zu irgendeiner menschlichen Gesellschaft zu kommen, der er sein bedrängtes [S. 86] Herz ausschütten konnte. Denn mit sich selber allein wußte er ganz und gar nichts anzufangen.
Hier oben freilich kam er auf keinen grünen Zweig mit seinen Plänen. Er wäre fest entschlossen gewesen, mit der nächstbesten Zigeunerbande Bruderschaft zu machen, aber das Land war leer von ihnen.
[S. 87]
In den nächsten Zeiten aber wuchs dieser Wunsch zu immer mächtigerer Sehnsucht empor:
»Einen Menschen gib mir; guter Gott, gib mir einen Menschen!«
Aber der Wald schwieg, und wenn in der Ferne ein Mann über die Planina wanderte, zog sich ihm dennoch das Herz zusammen, denn jede Begegnung bedeutete ja den Tod oder Gefangenschaft. Am grimmigsten war ihm zumute, wenn einer einen Hund bei sich hatte. Vor den Menschen war ein Verbergen möglich, vor den Hunden nicht; sein ganzes Mannestum und sein Stolz empörte sich aber [S. 88] bei dem Gedanken, von einem Tier, das er verachtete, zustande gebracht und gestellt zu werden! Von einem Hunde, diesem Kontrapunkt der menschlichen Niedertracht; dem Tier, das feige allem nachsetzt, was läuft und flieht, das nach dem Flüchtigen schnappt und den sich Stellenden fürchtet, das stinkt, Kot frißt, aller Armen und Zerlumpten erklärter Feind und des Peitschenmeisters Bauchkriecher ist!
Es brachte ihm das Blut zum Sieden, wenn er das giftige Gekläff eines Hundes nur von ferne hörte. Wo immer es sich unauffällig tun ließ, schoß er jede dieser Bestien, die er im Walde traf.
Einmal hörte er, als er auf Wildtauben an der Tränke lauerte, das tiefe, mürrische Geläut eines großen Hundes, und sogleich zuckte ihm das zornige Herz empor, das von diesem seltsamen Hasse erst seit dem Tage erfüllt [S. 89] war, seit man ihn selber mit Hunden gehetzt und er ein Verfemter geworden war.
Lieber wollte er Jäger als Wild sein, und sooft er einen dieser Verfolger und Peiniger seiner Nächte gestreckt hatte, war ihm leichter.
Er schlich, wie stets in solchem Falle, im Bachbette näher; bergab, dorthin, wo der Jagdlaut erscholl.
Er war schon ganz nahe und spannte sein Schießzeug, als eine dunkle, klangvolle Frauenstimme dem Tiere in rumänischer Sprache gebot, stille zu sein und sich zu legen. Betroffen stand der Offizier und war wie gebannt. Eine Frau hätte er hier oben in der Wildnis nicht erwartet, und mit klopfendem Herzen beschloß er, Weib und Hund an sich unbemerkt vorbeizulassen. Aber nur menschliche Tritte kamen an ihn heran; der Hund schien weiter unten den Zugang aus dem Tale zu bewachen.
[S. 90]
Tikosch wagte nicht mehr, sich in das dichte Gestrüpp zurückzuziehen. Um keinen Lärm zu machen, drückte er sich nur oberhalb des größeren und tiefen Kolkes, den der Bach hier machte, ins Buschwerk. Ging es gut, so kam sie unbemerkt vorbei.
Entdeckte ihn aber der Hund, so war das viel schlimmer, als wenn ihn ein Mann ertappt hätte; denn Mann und Hund wären dem wildentschlossenen Jungen nicht lebend ins Tal gekommen. Dem Weibe gegenüber war er hilflos, und vielleicht das erstemal in diesen abenteuerlichen Tagen kam das Zittern nervöser Furcht in seine Glieder. Endlos dauerte es, bis er das Blitzen eines hellen Kleides durch die Sträucher sah, und noch länger schien es ihm, bis er wußte, mit wem er zu tun haben würde. Dann aber merkte er bald, daß er mehr sehen sollte, als er sich erwartet hatte.
[S. 91]
Ein ernstes, großes, dunkles Mädchen stand plötzlich am Tümpel des Baches. Sie trug die schöne und einfache Volkstracht dieser Gegenden. Nur schien es Tikosch, als ob die Stickerei des Hemdes, das den Hauptteil dieser Tracht ausmacht, ungewöhnlich kunstvoll und reich wäre; so nahe stand sie schon unter ihm. Sie horchte nach dem Hunde hinunter, der wieder rege zu werden begann, und rief: » Couche, Pouilly! « Dies letztere Wort, das dem Scherzruf Bully verwandt sein mochte, rief sie mit so unleugbar französischer Betonung, daß der erstaunte Offizier, der längst jede ihrer vornehmen Bewegungen mit Bewunderung verfolgt hatte, bei sich dachte: »Aber das ist ja eine Dame!«
Das Mädchen, dessen sehr ernstes und regelmäßiges Gesicht er jetzt genau sehen konnte, streifte kurzweg ihren Rock herab und war im Begriff, ihr Mieder zu öffnen, das seine letzten [S. 92] Bedenken über ihre vornehme Herkunft zerstreuen mußte, als der junge Offizier in besinnungsloser Angst, ohne zu bedenken, was daraus werden könnte, rief: » Fermez, fermez, madame! Faites attention! «
Die Wirkung dieser Worte, aus dem Dickicht der wildesten hochserbischen Planina gerufen, war denn auch eine ruckartige.
Das schöne Geschöpf wurde blaß über ihr ganzes Gesicht, und ihre Augen staken mit dem Ausdruck hilflosen Schreckens an dem Gebüsche, aus dem die französischen Worte gekommen waren, und in welchem sie, da die Sonnenstrahlen prall auf die Zweige vor ihr fielen, nichts mehr sehen konnte. Sie vermochte kein Glied zu rühren, und die einzige Reflexbewegung galt dem Schutze der oben entblößten Brust.
» Voilà, qui vive? « »Wer ruft hier?« fragte sie endlich mit tonloser Stimme.
[S. 93]
Und Tikosch, wieder mit seinem gar nicht guten Französisch:
»Ein armer Verfolgter, meine Dame, der sehnlich bitten muß, daß Sie ihn weder sehen, noch sich seiner Anwesenheit in diesen Wäldern erinnern, wenn Sie diesen Platz verlassen haben werden. Darum bitte ich Sie flehentlich. Als Kavalier verriet ich mich Ihnen. Aus Ritterlichkeit, um die unbelauschte Stunde einer schönen Frau nicht auszunutzen. Haben Sie auch so viel Zartgefühl, ein Leben, das Tag und Nacht bedroht ist, zu schonen und zu vergessen, wer Ihnen hier begegnet ist! Mehr verlange ich nicht.«
»Ein Verfolgter!«
Das junge Weib bekam Mut und Fassung wieder.
»Wenn Sie bedroht sind, haben Sie von mir nichts zu fürchten,« sagte sie ruhig. »Kommen Sie hervor und erzählen Sie! [S. 94] Ich gebe Ihnen mein Versprechen, Sie nie zu verraten, wenn Sie auch gemeingefährlich sein sollten, und Sie zu unterstützen, wenn mir das gut und recht erscheint.«
Tikosch zögerte noch.
»Nun gut, wer sind Sie?« rief die schöne Rumänin ins Gebüsch hinauf.
»Ein österreichischer Offizier.«
»Ah, da können Sie also Deutsch?«
»Ja!« rief Tikosch freudig, als er die Sprache hörte, die seine gute Mutter sehr geliebt hatte.
»Kommen Sie ruhig zu mir,« sagte sie lächelnd. Und in dieser Stimme und in diesen Worten lag eine solche heilandsichere Verheißung von Güte und Glück, daß ihm das Herz entbrannte. Er brach die Zweige, die ihn schützten, auseinander und kam auf sie zu; sehr verlegen, weil er knapp am Bachufer balancieren mußte, um nicht in lächerlichster [S. 95] Weise ins Wasser zu plumpsen. So hatte sie reichlich Zeit, ihren Rock wiederzunehmen und dabei sein schwedisches Lederwams, seine Fliegerkappe, die ihn wie einen Kreuzfahrer in der Kettenhaube erscheinen ließ, und seine Armbrust anzustaunen.
»Herrgott, sind Sie mal eine Erscheinung!« sagte sie in freundlichem Ernst, aber mit ehrlichem Staunen. »Das sieht man nicht alle Tage!«
Endlich stand Tikosch vor der ernsten, dunkelfarbigen jungen Dame und stellte sich mit allen Formen eines Weltmannes vor. Er erzählte, wie er hier mitten in Feindesland so recht buchstäblich vom Himmel gefallen wäre, und wie sein Vorhaben, die Brücke von Zajetschar zu sprengen, mißglückt sei.
»Ah,« sagte sie lächelnd, »da sind Sie also der heruntergeschossene Flieger, über den die [S. 96] hiesige Presse so sehr triumphierte, und den sie von Wölfen auf dem Lissatz zerreißen hatte lassen?«
»Man sucht mich also nicht mehr?« fragte Tikosch aufatmend. »Sagen Sie mir um Gottes willen, gnädige Frau —«
»Fräulein«, unterbrach sie ihn: »Livia Ternaveanu. Ich bin den Österreichern gut.«
»Oh,« rief er, »so sagen Sie mir schnell, wie geht es meinen Leuten? Ich bin seit vier Wochen hier oben im Urwalde, ich bin beinahe verhungert und habe von den Menschen nichts gesehen und gehört als ihre Hunde und ihr fernes Johlen und Singen auf den Höhen! Ich weiß gar nichts, und es zerreißt mir das Herz!«
»Ihren Landsleuten geht es gar nicht gut. Die Serben haben sie bei Schabatz über die Save und bei Valjevo über die Drina zurückgeworfen, und die Russen haben sie in großen [S. 97] Schlachten in Galizien immerwährend geschlagen.«
»Aber das ist ja unmöglich!« schrie Tikosch erbleichend. Ihm war zumute wie einem Manne, der sein Weib blind vertrauend geliebt hatte und sie in den Armen eines anderen ertappen mußte.
»Wo stehen die Serben jetzt? Und wo die Russen?«
»Die Russen in Galizien.«
»Bis wo?«
»Bis Lemberg.«
»Wo waren die Schlachten?«
»Alle bei Lemberg.«
»Und die Russen kommen nicht weiter? Gott sei Dank! Von wem haben Sie Ihre Nachrichten?«
»Seit den letzten vierzehn Tagen nur aus serbischen Zeitungen.«
»Und sind die Serben in Österreich?«
[S. 98]
»Nein, nur eben wollten sie über die Save, aber da haben sie große Verluste erlitten und mußten zurück.«
»Ja, aber Mädel, da ist doch gar nichts verloren!« jubelte der Offizier und vergaß vor Freude allen Respekt. »Kind, da ist viel, viel gelogen worden! Ich kenn' doch die Saubagasch! Und der Österreicher ist bloß in der Defensive! Da kann er unbezwinglich sein; war es immer in solcher Lage! Herrgott, so eine schöne Zeitung wie ich hat noch kein Mensch der Welt gehabt!«
Und überglücklich faßte er sie an den Armen, als wollte er sie im Kreise schwenken. Aber da knurrte ganz nahe der große Hund, der sich beim Gespräche der beiden manierlich herangeschlichen hatte.
»Bist du still,« rief Livia ernst. Und man hätte sehen können, daß sie sich von dem [S. 99] kostbaren Fliegerleutnant ganz gern ein bißchen hätte wirbeln lassen. Aber dem war die Lust vergangen.
»Diese Hunde,« sagte er grimmig. »Seit Wochen hasse und fürchte ich nichts als sie. Wissen Sie, daß man mich mit Bluthunden verfolgt und gesucht hat? Ganz nahe waren sie mir schon!«
»Armer Mensch,« sagte Livia ruhig. »Nun wollen wir überlegen, was für Sie zu tun möglich ist. Haben Sie Wünsche? Ich würde mich getrauen, Sie über die Donau nach Rumänien zu schaffen; von dort können Sie nach Österreich. Wir sind neutral.«
»Wer alles ist denn nicht neutral?« fragte Tikosch.
»Später, später,« lächelte sie. »Jetzt nur das eine. Was haben Sie für Wünsche?«
»Speck, vor allem Schweinespeck oder sonst ein gutes Fett,« sagte Tikosch ehrlich.
[S. 100]
Da lachte das ernste Mädchen zum ersten Male ein wenig, machte aber gleich wieder ein besorgtes Gesicht. »Leiden Sie denn Hunger?« fragte sie.
Da erzählte er ihr all seine Abenteuer und seine Not; wie schwer es ihm geworden war, auch nur einen einzigen Vogel zu erbeuten, als er dem Hungertode nahe gewesen war, wie er aufs Feld stehlen gegangen war und den Hund erschießen mußte, wie er dann weiter gelebt hatte, und wie der Besitz eines einzigen Stückes Salz ihm wichtiger geworden war als alles, was ihm sonst hoch und teuer schien, samt dem Vaterlande!
Und in drollig unbehilflicher Form erzählte er dann, als sie ihm Platz neben sich auf dem Waldgrunde anbot und er mit mehr Behagen berichten konnte, was ihn seit Tagen am meisten erstaunte und beschäftigte, was er [S. 101] nie gedacht und von sich erwartet hätte: daß er in dieser Waldesstille zum Grübler geworden sei, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, zu erfahren, warum er auf die Erde gestellt worden sei! Das Fräulein sei offenbar sehr gebildet und wisse viel mehr als er selber. Wenn er öfter mit ihr darüber reden könnte?
»Also Speck und Metaphysik sind die beiden Bedürfnisse der Wüste,« sagte sie mit einem kaum merkbaren Lächeln und fuhr fort. »Ich bin in einem Schweizer Pensionat erzogen worden und habe dort wenig von diesen Dingen gelernt. Aber grübeln habe auch ich viel müssen. Meine Brüder sind ganze Franzosen geworden und leben so unsinnig in den Tag hinein, daß wir schon beinahe als verarmt gelten könnten. Da sucht man sich von den Lehren der Weltleute und Kavaliere gerne abzukehren. Lieber Herr Leutnant, [S. 102] jenes Leben macht nur leer und arm, oder unglücklich! Ich habe versucht, anderswo einen billigeren Trost zu suchen, wie er auch nur für arme Leute zu wachsen scheint. Mutter und ich, wir haben uns bei Rgotina auf unser Waldgut zurückgezogen und besitzen auch hier in der Nähe einen Meierhof, der wegen seiner abgeschiedenen Lage unnutzbar und deshalb auch glücklicherweise unverkäuflich ist. Hier in der Einsamkeit wurde mir allerlei offenbar, wovon die Verschwender und Modemenschen nichts wissen können. Nichts wissen dürfen; denn sie müßten dann verzweifeln!«
»Und das ist?« fragte Tikosch andächtig.
»Das ist, daß man zu sich selber und damit zu Gott kommt, und das geht nur in der Einsamkeit und in der aufrichtig gebliebenen Familie Gottes; so nenne ich nämlich die Steine, Bäume und Tiere. Hätte ich das [S. 103] Leben der Reichen führen dürfen wie meine Brüder, und in Nizza meinen Champagner trinken, ich wäre verlorengegangen wie sie. Hätte ich dort dem Gassenvolke glänzende Kleider vorführen können, ich wäre verdammt von Gott, wie alle Reichen. So aber ist mir jeder Tag ein neues Wunder, und ich sehe Gott überall: in den Tieren und den Bäumen und in mir selber. Vielleicht ist es auch Ihnen bestimmt, durch diese Einsamkeit nach innen reich zu werden. Bisher haben Sie hier freilich zu wenig von den einfachsten Gütern des Daseins genossen. Denn es ist leider so, daß man seine Seele nur erheben und reinigen kann, wenn die Not nicht zu drückend ist und die einfachsten Bedürfnisse befriedigt sind. Man muß freie Zeit haben. Aber da ich nun für Butter aufs Brot sorgen werde,« (sie lächelte wieder ein wenig) »so werden Sie finden, daß [S. 104] Ihr Leben hier ein sehr gesegnetes sein wird im Vergleich zu dem Dasein Ihrer Brüder unter dem unerbittlichen Gott der Russen.«
»Haben die einen anderen Gott?« rief er, weil sie das wieder so ernst sagte.
»Ich glaube es sicherlich. Vielleicht liegt dieses Heidentum, diese Vielgötterei in meinem römischen Blute. Aber kein Priester wird mir weismachen können, daß der Gott der üppigen Wälder und Wässer, der Weingärten und Edelkastanien dieses kleinen, familienhaften Landes mit seinen milden Wintern kein anderer ist als der Gott der endlos traurigen Steppen, des Lehms, der Nebel, der gedrückten Schwermut in allen Hirnen und der Massen, die nur Zahl sind und keine Bedeutung der einzelnen kennen. Jedes Land hat seine eigene Gottheit, und wenn ein solches Land in einen fremden Staat [S. 105] hineingezwungen wird, so muß zwischen den beiden Völkern ein Krieg sein, der nie sterben kann, bis sie nicht wieder getrennt sind und jedes seinem eigenen Gotte gehört. Ist denn nicht den Italienern und auch einem Volke wie euch Deutschen nicht eher wohl geworden, als bis ihr vereinigt waret? Es ist Sünde wider den heiligen Geist, Völker mit verschiedenen Göttern aneinander fesseln zu wollen.«
»Das ist wahr,« sagte Tikosch; »in der Schule habe ich gelernt, daß die Alten zuerst bei jedem Volke ihren eigenen Gott hatten. Erst die großen Zwingmeister und Eroberer, zuerst Cyrus, dann Alexander und endlich die Römer, begannen, das zu leugnen und die Götter zu mischen. Und als man den einzigen Allgott gefunden hatte, da suchte sich doch jeder Ort seinen eigenen Heiligen für den Himmel. Nun, meiner Treu, ich [S. 106] bin neugierig, ob ich mich mit der Gottheit dieser Höhen und Wälder verstehen und vertragen werde, wenn sie anfängt, mich anständiger zu behandeln als bisher. Aber ich habe ja nun Ihre Protektion als Priesterin?«
Livia, die wenig Vergnügen an dem scherzhaften Tone fand, mit dem der Leutnant ihren ernsten Glauben behandelte, lenkte ab und bat ihn, ihr sein Versteck zu zeigen. Da führte er sie treuherzig in sein Kamp, dessen Zigeunerhaftigkeit ihr großes Vergnügen bereitete.
»Hier werde ich Ihnen die Hauswirtschaft führen helfen,« sagte sie, als sie wieder aus seinem Erdloch unter der Zeltplache herausgekrochen war. »In jedes eigene Haus gehört eine Frau.«
Und am Abend kam sie sehr vorsichtig und schwer beladen und bewaffnet herauf und [S. 107] brachte ihm in einem Korbe Leckerbissen, bei deren Anblick ihn schwindelte.
»Lassen Sie sehen,« bat er und hob den Decke! ab. »Wahrlich, echter, edler, perlblasser Schweinespeck! Ich kann es kaum glauben, daß es Menschen gibt, die bei solch einem Anblick nicht in die Knie brechen und sich feierlich an die Brust schlagen! Oh, und duftendes Brot! Und Wein! Heiland, jetzt weiß ich, daß Du Deine Symbole nicht für satte Menschen gewählt hast, und daß dem Reichen Dein Himmel ewig verschlossen sein muß! Weinen könnte ich! Und das ist ein Schinken! Wie lange mag es her sein, daß ich so einen nur in fiebernden, verliebten Träumen sah? Und nun ist solch ein Überfluß zu mir gekommen. O Fräulein, liebes Gotteskind, ich bin ganz verzagt, ob Sie mir nicht am Ende nur so wunderschön vorkommen, weil Sie in Begleitung dieser göttlichen Tugenden sind!«
[S. 108]
Nun lachte sie gern.
Sie ließ ihn sein Lagerfeuer machen, packte einen Topf aus, in dem sie ihm alle Gewürze der Küche mitgebracht hatte, und stellte Wasser an die Flamme, denn sie wollte ihm gegen den empfindlich scharfen Herbstabend einen wirklichen Tee kochen, mit Rum drinnen.
Er aber zerteilte seine heutige Jagdbeute, einen Hasen, und steckte die Stücke an einen Spieß aus Wildkirschholz.
Zärtlich verteilte er den Speck, den sie ihm gebracht hatte, unter das Fleisch und ließ es in gehobener Stimmung braten und bräunen.
Er hätte am liebsten vor Entzücken laut geschrien, als der gottesdienstliche Opferduft emporzusteigen begann.
»Noch etwas habe ich Ihnen gebracht,« sagte sie und zeigte ihm die Flinte, die sie [S. 109] mitgetragen hatte. »Es ist nur ein Vorderlader,« sagte sie, »denn es wäre aufgefallen, wenn ich meinem Bruder eines der teuren modernen Gewehre entwendet hätte, die unten im Zimmer hängen. Aber das nahm ich aus der Rumpelkammer; es war einmal ein luxuriöses englisches Gewehr, und für die paar Schüsse, mit denen Sie sich Ihren Lebensunterhalt verdienen, reicht auch die langsame Ladeweise. Schießen können Sie jetzt ruhig, man ist das in diesen Wäldern gewöhnt, und an Sie denkt niemand mehr. Hier ist das Pulverhorn, hier der Schrotbeutel und die Zündhütchen.«
Tikosch war vor Glück sprachlos, bekam Tränen in die Augen, und als er ihr die Hände küßte und sie seine Ergriffenheit fühlte, überkam sie selber die Rührung, dieses einsame Menschenkind mit geringer Gabe so reich und glücklich gemacht zu haben. Lange [S. 110] Zeit sprachen sie nichts und schufen schweigend an dem köstlichsten Abendessen, das sie beide je genossen hatten. Denn auch ihr war das Abenteuerliche ihres Zusammenseins mit dem Verfemten aufregend und bedeutend wie noch nichts in ihrem Leben.
Bald saßen sie denn in der wunderbar ernsten Waldnacht am Feuer, und sie legte ihm zu essen vor, als wäre sie seine Frau, und hatten sich doch erst vor ein paar Stunden im wilden Walde getroffen. Die hohen Bäume rauschten, als spräche ihnen Gott selber das Tischgebet dazu, das fremde Mädchen saß im Feuerschein wie eine antike Göttin, die einem Heimatlosen helfen gekommen war, und ihre Schönheit und die prangende Fernheit der Bergnacht waren so geheimnisreich, daß er immer wieder glaubte, alles sei unwirklich und ein wunderbarer Traum. Sie aber erzählte von dem Leben [S. 111] in diesen Wäldern, die schon am Morgen zu ihr ins Bett hereinrauschten und sie Tochter nannten, von ihrer guten alten Mutter und den Männern, die öfter zu ihnen nach Rgotina kamen und sich um sie bewarben. Aber keiner habe das Gottnahe, das sie bei einem beseelten Menschen brauche und suche. Sie sprachen alle vom Tage, von Genüssen, die keine seien, von eitlen Dingen und Wünschen, und wüßten gar nicht, wie oft Livia zu den selbstgefälligen Herren im stillen sagte: »Ihr Tiere, ihr armen, eitlen Tiere!«
Tikosch aber, wie sie von Männern sprach, die sie begehrten, fühlte ein dumpfes, banges Brennen in seinem Innern, und er begann sie, die er kaum kannte, auch schon mit allen Schmerzen der Eifersucht und Liebesangst zu verlieren. Ob sie nicht auch über ihn, der bisher gedankenlos in den Tag hineingelebt hatte, im geheimen sagen müßte: »Du Tier«? [S. 112] Er fragte sie mit ehrlicher Besorgnis darüber aus und tat das in so unbeholfenen Worten, daß sie ihn gut und warm ansah und antwortete:
»Nein, denn Sie sind zwar noch nicht das, was ich von einem Mann erwarte, aber auch nicht, was jene leider rettungslos schon geworden sind. Sie sind ein Kind und stehen noch am Scheidewege.«
»Dann lehren Sie mich,« sagte der junge Mensch, »denn Sie sind viel gescheiter als ich. Wenn Sie mich nur nicht verachten, dann ist schon vieles gut.«
Er griff nach ihrer Hand, sie ließ sie ihm, und als er sie bat, weiter von sich zu erzählen, tat sie es in ihrer ruhigen, ernsten Art, ohne zu wissen, wie er immer nur sie ansah und ihre große Schönheit ermaß. Auf diese Weise wußte er oft gar nicht, was sie sagte, sondern war bloß bemüht, möglichst viel von dem [S. 113] dunklen und tonreichen Klange ihrer Altstimme in sich zu saugen.
Als sie endlich merkte, wie dürstend er sie ansah, brach sie sogleich auf, ließ sich aber von ihm ein Stück begleiten und versprach ihm, bald wiederzukommen.
[S. 114]
[S. 115]
Es kamen nun Tage, die er nie und nimmer zu Ende gehen lassen mochte. Livia saß beinahe alle Abend an seinem Feuer, und einmal, als Sturm im Walde war, kam sie sogar zu ihm in das Zelt, wo sie sehr nahe bei ihm sitzen mußte. Als sie aber inne ward, wie er zu zittern und heiser zu werden begann, stand sie entschlossen auf und ging, während er in seinem verlassenen Wüstenheim auf die Stelle hinstürzte, wo sie gelehnt hatte, und sein Antlitz unter leidenschaftlichen Rufen und Bitten und Fragen dort eingrub, wo noch Wärme von ihr war. Der Einsame liebte sie seit dem ersten Abende aus allen Kräften und ahnte, daß er sie für immer verscheuchen würde, wenn er ihr das sagte. Denn da sie ihm geistig überlegen war, glaubte er nie und nimmer, daß sie zu ihm herabsteigen könnte. Jede Anspielung, wie schön sie sei, schnitt sie kurz entzwei und sagte ihm: »Dazu bin ich nicht bei Ihnen. Ich bin Ihre Schwester, solange Sie verlassen sind. Es ist mir lieb, daß ich Ihnen gefalle, aber wir werden in kurzer Zeit weit auseinander sein und uns im Leben nicht mehr sehen. Trüben wir nicht diese lieben, traurigen Herbsttage, wo jede Minute ein Abschiednehmen ist.«
Bei solchen Antworten wurde ihm bange und klamm in der Seele, und hoffnungslos schaute er sich die göttlich-regelmäßigen Züge dieses ernsten, großgeschnittenen Mädchenantlitzes an, das so gar keine Schwäche und [S. 116] Fassungslosigkeit bergen wollte. Unerringbar sicher saß sie neben ihm in der einsamsten der Waldnächte und fürchtete nichts, am wenigsten sich selber!
Wenn er nun an den grellen Herbsttagen allein über den Wäldern war und das weite, feindliche und doch so schöne Land in silberner Unendlichkeit rings unter ihm lag, da ahnte er die wehe Schönheit seines Daseins, von dem er immer noch nicht wußte, wie es enden! Denn er wollte nicht aus dem Lande fliehen, ohne seine Aufgabe getan zu haben. Manchmal dachte er daran, daß Livia, deren Landsitz nahe bei der bewußten Timokbrücke lag, ihm helfen könnte. Aber dann sah er wieder ein, daß er das Mädchen weder in ein solches Geheimnis ziehen, noch es mit ins Verderben reißen durfte. So saß er und sann in den immer bunter werdenden Herbst hinein.
[S. 117]
Das Gebirge dort ist voll wunderbarer Gegensätze. Die Höhen des Stol und der benachbarten Golobinje Planina sind karstig, die Abhänge mit wirren, wilden Wäldern in der Bergabfolge von Fichte, Buche, Eiche, dann Edelkastanien und Nußbäumen. Unsagbar einsam und fast gar nicht besiedelt sind diese Berge, von denen das Volk fabelt, sie seien voll Alben und Vilen — bösen Feen, die keinen Menschen in ihr unberührtes Reich eindringen lassen. Der Wanderer, der gezwungen über die Höhen muß, wagt kaum laut zu atmen. Denn wenn er seine Stimme erhöbe oder gar sänge, dann schlagen ihn die Feen der Wälder mit Blindheit, und er kommt nie aus den Irrnissen dieser gefeiten Höhen heraus. Findet er aber, ein armer, tastender Blinder, dennoch wieder den Weg aus dem Elfenbann ins Tal, so bringt er von dort oben die Gabe der Dichtkunst mit [S. 118] und kann als Guslar, als wandernder Rhapsode, von dem singen, was seine Augen dort oben zum letzten Male Wunderbares gesehen.
Davon hatte Livia dem jungen Manne erzählt, und dieser sah jetzt mit immer größer werdender Ergriffenheit über dieses stille Reich der Farben, der Fernen und der Geheimnisse. Er selber kam sich wie verzaubert vor, und sein Herz brannte in Schönheit und in Abschiedsschmerzen wie diese Wälder. Es war wunderschön, hier nahe am Tode, nahe an Gott zu lieben und zu wissen: all dieses ist vergeblich. Er mußte mit dem sanften Mitleide des Mädchens vorliebnehmen, das er vielleicht bald zum letzten Male gesehen haben würde, aber alles das war so rein, so ferne, so verklärt, daß in ihm und um ihn Schönheit war.
Diese seltsame Liebe war ihm gerade so recht, wie sie war: mit ihrem reißenden Weh, [S. 119] mit ihrer wissenden Vergeblichkeit, mit der Ahnung ihres Endes und mit der stillen Gebethaftigkeit ihrer Träume. Er hatte immer auf die Weiber herabgesehen; diese kam ihm wie eine Göttin vor, die man nicht freien kann, und von der er gern Rat und Lehre nahm. Ihre antik schönen Glieder gehörten in einen Tempel, und die häßliche, immer gleiche Niederlage des Mädchenstolzes anderer griff nicht an ihre hohe, reine Ruhe.
Einmal lobte sie mit leisen Worten seine Zurückhaltung. Da sagte er: »Meine Livia, ich weiß, daß ich nicht an Sie heranreiche, und daß ich Ihrer nicht wert bin. Lassen Sie lieber mich selber das sagen, ehe Sie es mir andeuten.«
Das Mädchen lächelte. »Sie werden Frauen genug besessen haben, um sich durch die Ruhe meines Herzens nicht gedemütigt zu fühlen.«
[S. 120]
»Die Weiber, die ich errungen hab', die haben mich nie stolz machen können. Und alle, deren Liebe mich hätte erheben können, grad' die haben mich nie mögen,« sagte er traurig. »Ich weiß nicht, woran das liegt; vielleicht weil ich immer alles dran gesetzt hab', nichts anderes zu sein als ein famoser Viehskerl. Die tollsten Streich', die ärgsten Raufereien, die halsbrechendsten Ritt' und die gewagtesten Flüg' hab' immer ich machen wollen. So ist mir weder Zeit noch Lust für die Versenkung geblieben in diese Dinge des Innern. Die Weiber, die mir in großer Zahl und stürmisch Beifall geklatscht haben, denen war ich zwar der vollkommenste von allen Männern, aber sie selber waren die unvollkommensten von allen Weibern. Schön, o ja, das waren sie schon, und rassig! Aber da und da« (er schlug sich auf Kopf und Herz) »nix!«
[S. 121]
Und er erzählte ihr von dem blonden, kindlich aussehenden Mädchen, das Margit hieß und ein heiteres kleines Ding schien, das man nur so mit einem Finger mitzunehmen brauchte. An einem Tanzabend hatte er getrunken, wie es bei ihnen allen eben Brauch war, und da wollte sie nicht mit ihm zum Tschardasch antreten. Er nahm sie gewaltsam an der Hand und sagte: »Nicht nur für diesen Tanz, sondern fürs ganze Leben laß ich dich nicht mehr los.« Da hatte ihm das kleine Ding geantwortet: »Ihnen und allen andern kommt dieser Antrag vielleicht als Ehre vor, die Sie mir erweisen, und deshalb danke ich Ihnen aus ganzem Herzen für Ihre gute Absicht. Aber mit Reiten und Trinken allein ist mir nicht gedient. Sie haben mich beleidigt, indem Sie mich so rüde an der Hand halten und reißen, und ich kann mich Ihnen jetzt nicht ohne peinliches Aufsehen entziehen. Ich [S. 122] werde also mit Ihnen tanzen, Herr Leutnant, um der Uniform, die Sie tragen, und Ihrem mutigen und geraden Wesen die Ehre zu erweisen, die Sie verdienen. Dann aber werde ich den Ballsaal verlassen, und Sie werden gestatten, daß mich der Mann führen darf, für den sich mein Herz und meine Achtung entschieden haben. Und Sie werden so ritterlich sein, keine Rache an ihm zu nehmen.« Und als er vor dem Blick ihrer ruhigen, blauen Augen und solchen Worten auf den Tanz gänzlich verzichtete, war sie freundlich dankend mit dem stillsten Wasser der Garnison, einem unscheinbaren, blonden, schwachen Schullehrer davongegangen. »Und wer weiß,« schloß er wehmütig, »wie der Mann aussehen wird den Sie mir vorziehen werden ...«
»Ich ziehe Ihnen niemanden vor,« sagte Livia ruhig. »Sie sind mir der liebste Mensch, den ich je gesehen habe, und wie oft mich eine [S. 123] tiefe Rührung überkommt, wenn ich aus dem Fenster in Ihre Bergeinsamkeit hinaufschaue und Sie dort oben ausgeliefert, aber mutig weiß, das mag ich Ihnen nicht vorzählen. Aber ich habe stets ein Gefühl, so zwischen Mutter und Schwester, wenn ich bei Ihnen bin. Wenn Sie damit zufrieden sein können, so mache ich Ihnen einen Vorschlag. Ich werde jetzt bald zur Mutter nach Rgotina hinunter müssen. Nur Ihnen zuliebe bin ich hier oben geblieben, und solange der Herbst schön ist, bleibe ich auch da. Aber mein Wort bindet mich, mit dem ersten bösen Wetter zur Mutter zu kommen. Im Hause selbst kann ich Sie dort nicht verstecken. Aber ich kann Sie zu Gefährten bringen, wenn Ihnen die nicht gar zu bedenklich sind,« fuhr sie fort und lächelte in sich hinein. »Sie sind nicht der einzige Schützling, den wir in diesen Tagen vor der serbischen Wildheit schützen [S. 124] müssen. Da sind drei arme Handwerksburschen aus Ihrem und aus dem deutschen Lande, denen wir auf eine Weise Unterschlupf gegeben haben, die uns nicht bloßstellt, wenn man die armen Kerle ja aufgreifen sollte. Sie haben ein Lager, das ganz dem Ihren ähnlich ist, nur in reicherer und gütigerer Lage; dort warten sie, bis das Land hier herum von den Österreichern besetzt ist oder eine andere Gelegenheit sich bietet, um ungefährdet zu entfliehen. Denn Geld, mit dem sie sich vielleicht durchschlagen könnten, haben weder sie noch ich selber!«
Tikosch hörte nur mit halbem Ohr auf ihren Vorschlag. Alles, was er deutlich wußte, war die Abweisung seiner Liebe, und als sie ihn fragte, ob er ihren Plan gut fände, da sagte er kalt: »Ich bleibe hier oben.«
Traurig wandte sie sich zum Gehen. »Ich kann nicht anders,« sagte sie leise. »Verzeihen [S. 125] Sie mir.« Und sie schritt durch das Dickicht, indem sie den herrlichen Leib durch die Ranken bog und wand. Er sah ihr nach, und das Herz sott und brühte in ihm vor Weh und wild anspringendem Zorne.
»Kaltes, langweiliges Laster, geh zum Teufel!« entfuhr es ihm im ersten Zorne mit dem alten Reiterton, den er längst abgetan zu haben glaubte. Aber als die Büsche nicht mehr knackten und die unsägliche Bergeinsamkeit ihn wieder in ihre Arme geschlossen hatte, da schrie und betete seine Seele ihr nach und er nannte sie, in jugendhafter Erinnerung, Pallas Athene und Schutzgöttin. Sie aber kam nicht wieder.
[S. 126]
Es ging ein Tag um den andern in leuchtender Gleichheit dahin. Tikosch schoß mit seinem Vorderlader das Wild der Planinen und der Wälder und sagte zu dem Gewehre: »Knall', knall', meine Flinte, daß dich die Herrin hört und sagt: Er grüßt mich! Und wenn sie es nicht hören will, so bring' mir die Serbenhunde auf den Hals, ein Dutzend und mehr, damit ich mich wehren kann wie ein hauendes Schwein! Nur vergessen, wie stolz und schlank und schön das Mädel ist, das verhexte, verruchte!«
Und er weinte vor Wut und Scham, verschmäht zu sein.
[S. 127]
Dann wieder zog die endlose Weichheit des Gottes dieser stillen Höhen in seine Seele ein, und er litt in einer wehen Süßigkeit dahin, wie er sie nie gekannt hatte. Alles schien ihm schön, und sein Leid war ihm rasend lieb. Es strömte ein Seufzen und Klagen unablässig, still und köstlich aus seiner Wunde, so wie Honig aus reifen und vollen Waben rinnt. Und der über alles Singen und Sagen goldene Herbst sah ihm zu und stimmte ihn wie ein göttlicher Sänger seine Harfe.
Er kam sich vor wie der einzige Mensch auf Erden; allein mit der Natur, rings um sich Tiefe und Tod. Blieb er hier oben, so war es ein beständiges Verbluten, aber Gott sang immer reiner sein ewiges Lied in ihm. Er begriff nun, wie Livia die Bäume und Felsen Geschwister nennen konnte; ihm waren sie es auch geworden, und ihnen erzählte er sein Leid. Wunderbar gütig hielten die [S. 128] Bäume zu ihm, die er umschlang und ihnen sagte, was er Livia nicht sagen durfte; ihre Rinde bewahrte ihren Namen wohl zehn- und zwölfmal. Das sanfte Rauschen ihrer Zweige sprach mit ihm, das Fallen, Fliegen und Treiben ihrer Blätter rief ihm zu: »Sieh her, auch wir verlieren unser Schönstes und Liebstes.« Und das Stöhnen der Äste, wenn Sturm im Walde war, schrie wie mit seiner eigenen Stimme zu Gott: »Warum hast Du mich verlassen?« So wuchs er in unsagbarem Weh und ansaugender Liebe in diese ferne, verschollene Welt hinein, und oft überraschte ihn der Gedanke: »Hier möchte ich mein Leben verbringen.«
Die Fernen waren immer noch silbrig, der Himmel strahlte in Gold und Blau, und weithin sah man ins angstvoll stille Land, in dem Kriegssorge wohnte. Da mußte Livia noch unten im Waldhause sein, und er sandte [S. 129] der Nahen und endlos Fernen seine wundesten Grüße über die Baumwipfel hinab. Dann aber, eines Nachts, als um Sonnenuntergang das Abendrot gebrannt hatte wie das zerrissene Herz Gottes, als die Fernen schmerzlich scharf und rein ringsum herübergeschaut hatten, da kam ein hochherrlich warmer Sturm über die Wälder und raubte ihnen mit lachender, johlender Gewalttat Milliarden von Blättern. Es brauste wie die Orgel des ersten Gottesdienstes nach Weltuntergang, wenn die Entsetzten und Erlösten das »Herrgott, wir loben Dich« anstimmen müssen. Die gewaltigen Äste hagelten dicht um das Versteck, unter dem sich Tikosch zu ducken versuchte. Aber da sein Herz von dem Aufruhr angesteckt wurde, litt es ihn nicht in der dumpfen Luft seiner unterirdischen Hütte, und er trat mit offener Brust in den kämpfenden Wald und sang und schrie mit. Es machte ihn wie toll, daß [S. 130] er wieder schreien, schreien konnte, er, der so lange still gewesen war und nicht mucken durfte.
In der Sturmnacht hörte ihn niemand, und wie ein frecher Knabe aus sicherer Ferne schrie er wilde Kriegsworte und Herausforderungen ins serbische Land hinunter, forderte er Gott heraus, ihn mit einem Blitz zu zerspellen, und sprang lautlachend zur Seite, als ein Baum sich neben ihm wie ein niederkniender Beter neigte und dem Herrn der Wälder krachend zu Füßen sank.
»Hoho, er reagiert,« schrie Tikosch, »er hat mich gehört und gibt mir einen Deuter, der ewig hochmütige Schweigsame!« Er war wie toll; der Aufruhr des Himmels und der Wälder steckte ihn an wie eine Carmagnole des Satans, und so schrie und tanzte er aus dem Walde auf die felsige Blöße hinaus, juchte die gehetzten Wolken an wie der wilde Jäger sein Schattenwild und wünschte nichts mehr und [S. 131] sehnlicher, als daß die alte Sage zu dieser Stunde wahr würde und der verdammte Hackelberg da oben über die Wipfel käme und ihn mitnähme! Den Reiter und Flieger, für den auf Erden keine Liebe wuchs, und der gern verdammt wäre zu ewigem Hetzen in der Luft, immer nur mit Hunden und Pferden und Raubvögeln, zu denen er ja gehören mußte!
Endlich war er müde geworden, und lachend über seine eigene Tollheit und doch mit beschämtem und wundem Herzen suchte er seine überzeltete Erdhütte auf.
Die ersten, schweren Tropfen, mit Hagelgeschossen untermischt, schlugen gerade auf ihn hernieder wie Hetzpeitschenhiebe. Ungeheuer prasselte der Regen über sein Dach herab, hob und blähte es, riß daran und schlug seine nassen Schauer bis hinein. Da verkroch sich Tikosch fröstelnd in seinen Schlafsack und [S. 132] horchte lange, lange auf das Schauern, Sturmheulen und Anschlagen der Wolkenbruchsaat an sein leichtes Zelt.
Am andern Tage geschah etwas Wunderbares. Er mußte spät eingeschlafen und so übermüdet sein, daß er es gar nicht hörte, wie jemand durch den Tunnel im Gebüsche bis an seine Behausung kam. Livia hatte schon die Zeltwand zurückgeschlagen und sah zu ihm herein, als er, geblendet vom blaßgrauen Regenhimmel, erwachte und im Erkennen des schönen Mädchens regungslos liegen blieb, als wollte er ein Wunder nicht stören und zerstieben machen.
Aber Livia begann zu sprechen: »Ich habe Sorge um Sie gehabt in dieser schrecklichen Nacht, die die letzte war, die ich hier oben verbringen durfte. Ich bringe Ihnen zum Abschied noch alles, was Ihnen an Nahrung [S. 133] dienlich sein kann, und wenn Sie Ihren halsstarrigen Entschluß ändern wollten, so habe ich Ihnen auf dieser Karte mit einem roten Strich den Weg bezeichnet, auf dem Sie in der Nacht unbemerkt bis nach Rgotina kommen können. Nein, bleiben Sie liegen, ich muß wieder gehen. Gott sei mit Ihnen, und seien Sie vernünftig!«
Sie beugte sich zu dem jungen Menschen, der erschreckt stillhielt, und küßte ihn auf die Stirne.
»Lebwohl, mein Bruder,« sagte sie leise. Dann war sie auf und fort.
Und im Walde war Regen; grauer, eintöniger Regen, der so still über dem Lande hinging, daß nicht einmal die Nebel, die naßschauernd über die Kämme des Stol und der Planina zogen, lebhafter wanderten. Es war ein müder, träger Luftzug, der sie trug. Sonst pfiff es immer auf [S. 134] diesen karstigen Höhen, jetzt langweilten sich die Wolken unschlüssig dort umher und weinten, weinten um den Sommer, der tot war. Ein Tag war wie der andere, und die Wildtauben waren fort; der Waldhase lag melancholisch in seiner Sasse, und kein Reh schritt durch die triefenden Wälder. Immer war es gleich, und wie ein zwecklos trödelnder Mensch mit den Fingern an hoffnungslosen Fensterscheiben, so trommelte tagaus, tagein der Regen auf die Plache des Zeltdaches, bis sie regelmäßige Tropfenzeilen und Regenfäden da und dort durchließ, die ihm die Erde feuchteten, auf der sein Lager war.
»Gott kann sich sehr versagen,« dachte Tikosch in der Sprache des schönen, abgewanderten Mädchens. Und alles in ihm war bange, hoffnungslos und grau wie diese nutzlosen Tage.
[S. 135]
Endlich ward ihm der Regen und die Verschleierung der ganzen kleinen Welt, die ihm zur Verfügung stand, zu viel, und er bedachte, daß er von der Höhe des Stol aus die Timokbrücke nicht sprengen konnte.
Es mußte sich doch eine Möglichkeit finden, in der schmerzlichen, aber dennoch beseligenden Nähe Liviens weilen zu können. Er konnte auch dabei die gute Gelegenheit, seine Sprengbüchse zärtlich an die Brücke zu binden, wahrnehmen. Nur Livia durfte dabei nicht, wie sie sich auszudrücken pflegte, »bloßgestellt« werden. Er dachte an das bei dem Mädchen seltene Lachen, mit dem sie von der Gesellschaft erzählte, der er sich hätte anschließen sollen, und mutmaßte ein paar versprengte österreichische Soldaten oder Deserteure, die er vielleicht durch seine Tatkraft [S. 136] dem lieben Vaterlande zurückgewinnen, ja wohl gar mit ihnen Großes vollbringen könnte!
Dieser Gedanke, mit ein paar verwegenen Kerlen nach Betyarenart auf eigene Faust Krieg zu führen, machte ihn ganz heiß vor Freude, und für den Augenblick wenigstens war alle Weichheit und aller pantheistische Dusel der letzten verliebten Tage von ihm abgefallen. Er glühte und plante. Ah, Bandenführer sein, das wäre herrlich!
[S. 137]
[S. 138]
[S. 139]
Die Gegend von Rgotina gehört zu den schönsten und fruchtbarsten Serbiens, und wenn auch der Wein, der zwischen Metopnica und Zajetschar wächst, nicht an den von Negotin herankam, so ist es doch ein gutes Land. Von Bor und Brestowatsch her geht die Bahn, die Serbien mit Kohle versorgt, und die Ausläufer des Stol und des Veliki Krisch tragen über der Weinregion Wälder von Edelkastanien in unermeßlicher Fruchtbarkeit. Dort sind große Besitze, welche die herrliche Waldfrucht nur als Mast für Borstenvieh benützen, und wie in den Eichenwäldern des nördlichen Serbiens werden hier die Schweine im Herbst in die Edelkastanienwälder getrieben, um sich einen Ranzen anzufressen. Sind die herrlichen Bäume alt und fruchtarm geworden, so werden Bestände von oft riesiger Ausdehnung auf einmal abgeholzt. Nur ein paar früchtereichere Bäume bleiben als Überständer zur Samenaufzucht stehen. Mit der hat es übrigens keine große Not, denn die Edelkastanie, an Form, Laub und Frucht schon der König aller europäischen Waldbäume, ist es auch dadurch, weil sie in buchstäblichem Sinne genommen unsterblich ist. Ihre Triebkraft ist bei gutem Boden so ungeheuer, daß rings um den abgesägten Wurzelstock in gedrängter Menge die Stockloden wieder austreiben, die zuerst ein wucherndes Gestrüpp und dann, sich ineinander schließend, wieder Bäume bilden, deren jeder aus fünf oder sechs ineinander wachsenden Einzelbäumen besteht. Dieser Vorgang erklärt die ungeheure Dicke vieler alter Edelkastanien, deren stets hohler Kern an Stelle des gefallenen Mutterbaumes steht. Oft wohnen ganze Zigeunerfamilien in solch hohlen Riesenbäumen, die ihnen ein Zimmer von vier und fünf Meter Durchmesser bieten; die Küche wird dann angesetzt und vorgebaut, und die Nahrung liefert der gesegnete Baum gleich selber dazu.
Bei dem üppigen Wuchse dieser Bäume und den ungeheuren Besitzen jener Gegend gibt es dort Kahlschläge von dreihundert Joch Grundfläche, die sich in wenigen Jahren mit dem drei bis vier Meter hohen Gewucher der Stockloden bedecken, die unübersehbar und undurchdringlich zusammenwachsen und für alle Wesen, die auf Erden verfolgt sind, eine Schutzwildnis bilden, die ein Entdecktwerden unmöglich macht. Solch eine Waldwirrnis hatten die Brüder Ternaveanu auf dem [S. 140] Gewissen. Als sie einst in Monte Carlo Geld brauchten, schlugen sie einen Maronenwald von über fünfhundert Morgen nieder, ließen das Holz den Timok abwärts in die Donau schwimmen und verkauften es an der unteren Donau als Faß-, Bau- und Brennholz recht gut. Nun stand ein Gebiet, das in Stunden nicht umkreist werden konnte, seit über einem Jahrzehnt im üppigen Nachwuchern der Stockloden, in deren Wirrsal niemand eindringen konnte. Ringsum war Hochwald, und gegen Trnawatsch, das ein Dorf am Timokufer ist, begann der Sumpf.
Dorthin zog jetzt Tikosch, hochbepackt wie ein Hausierer, und es war ein Nachtmarsch auf Leben und Tod. Denn er hatte seine Bomben und Sprengbüchsen neben seinen Vorräten und Waffen nicht liegen lassen wollen. Von der ungeheuren Kastaniendickung hatte er durch Livia genaue Kenntnis, [S. 141] und nach fünfstündigem Nachtmarsche und übermenschlicher Anstrengung erreichte er den Berg über Rgotina. Auf dem ganzen Saumwege von diesem Orte über die Luka war ihm niemand begegnet. Denn die abergläubischen Slawen fürchten die Nacht in den Wäldern wie kleine Kinder, und oft geschieht es, daß sogar Gendarmen entsetzt mitten aus einem Patrouillengange zurückflüchten, weil sie eine Waldfee, eine Vila, im Walde leuchten gesehen hatten: ein Strunk faulen Holzes!
Es graute schon, als Tikosch nach Livias genauer Zeichnung die Kastaniendickung fand, deren Eingang sie ihm sorgfältig nach geheimen Zeichen an ein paar auffälligen Überständen beschrieben hatte. Aber es wurde beinahe Tag, und er verzweifelte schon fast an der Güte und Treue des Mädchens, bis er endlich in das ungeheuerliche Gewirre dieser [S. 142] südländischen Waldesfruchtbarkeit hineinfand. Langsam und mit katzenartiger Vorsicht, überall auf Verrat gefaßt, schlich er den schmalen Pfad unter den Wedeln der Stockausschläge vorwärts, die oft höher waren als ein eingeschossiges Haus.
Lange, lange war nichts als dichte, braune und gelbgrüne Wildnis. Er glaubte sich verirrt und stieg auf einen der Überständer, eine herrliche Buche, deren gewaltiges Astwerk schon nahe am Boden begann, wie an einem Baume aus den Tropen. Denn der Wald durfte nicht ganz eintönig aus Kastanien wiedergebaut sein. In mäßiger Höhe schon gewahrte Tikosch ein kleines Rauchfädlein aus dem lederbraunen Gewirre der herbstfarbenen Blätterwildnis auftänzeln. Da der zarte und vorsichtige Rauch gerade gegen die aufgehende Sonne zu emporkräuselte, hatte er leichte Orientierung [S. 143] und pirschte sich in ungemeiner Vorsicht näher.
Jetzt entschied sich vielleicht sein ganzes Leben. An der Treue Liviens zweifelte er in diesem Augenblicke zwar nicht mehr. Aber wen und was er hier finden würde, das zog ihm das Herz zusammen. Kannte denn Livia die Gesellen, über die sie kaum ein paar ironische und vorsichtige Worte verloren hatte? Tikosch betete, daß die neuen Freunde, zu denen er stoßen wollte, nur um Gottes willen kein Prinzip haben möchten; dann wollte er sie schon lenken und überreden. Aber wenn da irgendwelche politische Fanatiker am Lagerfeuer saßen, dann ging es ihm nicht gut. Nur keine Serben, nur keine Mazedonier, nur keine Russophilen, griechische Christen, kurz, nur keine irgendwie gearteten Programmmenschen! Sonst war er verloren, denn Fanatiker für Österreich durfte er hier nicht [S. 144] erwarten. »Herrgott,« betete er, »gib, daß es vollendete, ganz charakterlose Haderlumpen sind, mit denen du mich hier zusammenführst! Die stehen, für mich wenigstens, dem Menschentum in Tagen, wie diese sind, am nächsten!«
Dann begann er, über eine kleine Lichtung zu spähen, die sich im Gestrüppe vor ihm aufzutun schien, und in deren Mitte ein mächtiger Kastanienbaum stand.
Man stritt in leisen Worten dort.
»Scheckensimon, steig wieder auf den Baum!«
»Nee, 'ck will erst nochmal 'ne Grock.«
»Woher willst denn nacher den Rum kriegen?«
»Wir fangen ins 's serbischen Transport wech.«
»Wenn du so viel säufst, Scheckensimon,« sagte eine unermeßlich sanfte Stimme, »so [S. 145] kommst du nicht mehr auf unsern Bergfried hinauf; aber wenn du infolge des Glückes aller Betrunkenen dennoch hinaufkämest, so schliefest du da oben ein. Geh, wir sind milde genug mit dem Wachdienst. Bei jeder anderen Partei würdest du erschossen. Um unserer Sicherheit willen, Scheckensimon!«
Tikosch hatte genug gehört und gesehen, um Vertrauen zu haben. Das waren: ein Österreicher, der Aussprache nach ein Tiroler, ein Norddeutscher und ein etwas verkommener Gebildeter, der Hochdeutsch sprach. Mit denen ließ sich paktieren.
»Kinder, der Scheckensimon gehört auf den Baum, aber an einen Strick,« sagte er gemütlich und durchbrach das Gestrüpp, indem er den drei blaublaß gewordenen Kerlen freundlich entgegentrat. Sie standen entseelt und mißfarbig wie gerupfte Hühner vor ihm. »Ist das eine saumäßige Unvorsichtigkeit!« schalt [S. 146] Tikosch auf sie ein. »Hat keiner von euch eine Autorität vor den andern!«
»Wollten wa uns ausbitten,« knurrte Scheckensimon, der seine Haltung bei den freundlichen Scheltworten wiedergewann. »Wir sind 'ne Republike.«
Tikosch lachte und fragte mit dem alten Zauberworte: »Kunde?«
»Kenn's, kenn,« sagten alle drei auftauend und in fragender, banger Freude! Teurer Heimatlaut, Handwerksgruß der Nichtstuer, Kennzeichen aller Freiesten der Freien, aller, die nichts und doch alles besitzen, aller Walzenbrüder und Wanderphilosophen, die zwar der Bürger wenig liebt, die aber der Heiland des Ur- und Wanderchristentums insonderheit in sein Herz geschlossen zu haben schien!
»Na,« sagte der Leutnant, »mit der Schlamperei in eurem Wachdienst muß das ein End' [S. 147] nehmen, sonst kommen wir alle viere an den Galgen!«
»Alle viere!« Mit Brudergefühlen, die bei diesem Worte rascher erwachten, als es sonst wohl der Fall gewesen sein würde, sahen die drei Vagabunden den seltsamen Neuling an. Auch er musterte sie, als er ihnen die Hände reichte, und sagte:
»Ich bin der Aviatiker.«
Tikosch wußte, daß diese Herren alle einen Künstlernamen zu tragen pflegten, weil sie ihren eigenen durch häufigen Mißbrauch meistens ein wenig in Mißkredit gebracht hatten.
»Nanu, Aviatiker,« sagte der Norddeutsche, »woll aus'm Zuchthaus ausgeflogen?«
Tikosch, dem der Vorrat rotwelscher Worte nicht sehr reichlich floß, und der einsah, daß er nur das Mißtrauen der dreie ernten würde, wenn er seine Stellung als Tippelkunde würde [S. 148] festhalten wollen, besann sich einen Augenblick. In der Lage, in der er sich befand, mußte Vertrauen gegen Vertrauen stehen, und der lustige Ungar, dem ohnedies immer das Herz auf der Zunge lag, schwankte nicht lange.
»Hört also,« sagte er zu den dreien. »Ich will euch meine ganze Geschicht' wahrhaftig erzählen. Vor allem also: das Fräulein Ternaveanu hat mir den Weg zu euch ang'sagt.«
»Alle Wetter,« sagte der Scheckensimon und lud ihn freundlich ein, am Feuer Platz zu nehmen. Dann stellte er dem Leutnant sich und seine Freunde vor.
»Wenn der Herr ein Spion ist,« sagte er, »so kann er nicht mehr erraten, als er schon erspäht hat, nämlich daß wir existieren. Sonst haben wir keiner was andres auf dem Ehrenschild als einen kleinen Einbruch in'n Weinkeller; [S. 149] und wir sind freie Männer, und bei jetzigen Zeitläuften wollen wa's auch bleiben. Da seine deutsche Sprache uns sagt, daß er uns kaum unter die serbischen Soldaten stecken wollen wird, so kann der Aviatiker ruhig wissen, wer und was wir sind. Also, und denn!«
So machte Tikosch jetzt die denkwürdige Bekanntschaft dreier außerordentlich freier Männer mitten in einer Zeit, da sogar die Republikaner sehr stark zu Botmäßigkeit neigten. Der scheckige Simon war ein Schuster aus der hannöverschen Gegend, und seinen Namen hatte er sichtlich von der gefleckten Farbe seiner Haut, die eine Zeichnung aufwies wie das schönste Reptil. Er war untersetzt, etwas wohlbeleibt, frech und behäbig zugleich, mit einem gutmütig spottenden Schmunzeln um den Mund. Er beteuerte, nur Umstände halber in Serbien zu sein, da ihn [S. 150] der Krieg hier überrascht hätte. Er würde aber für diesmal und ausnahmsweise, wenn sich eine Gelegenheit böte, doch lieber nach Deutschland zu seiner Truppe einrücken, selbst wenn er dort Schuhe machen müßte, einen Beruf, den er nur in größter Notlage ausübte.
»Aber wa könn' auch mit der Schieße umgehen, und Männer wie ich hat mein Vaterland nötich,« sagte er stolz und streichelte das Gewehr des Tikosch. »Das is'nn Vorderlader,« sagte er. »So'nn hatten die Österreicher Anno sechsundsechzig, und drum verloren sie ihre Chose. Wir ha'm das Mauser mit Muster S !«
Der zweite hieß der Schlampenschneider und war ein Tiroler, dem alles recht und alles gleichgültig war, wenn er nur zu essen und zu trinken hatte. Im übrigen war dieser Mensch von einer Zähigkeit und Wetterhärte [S. 151] wie das Wild auf der Höh'. Er konnte im Regen schlafen und dreimal des Tages in seinen Kleidern naß werden und wieder darin trocknen, ohne daß er fror oder sich erkältete. Er war gutmütig und wußte auf die Frage des Tikosch, warum er nicht zur Truppe eingerückt sei, nichts anderes zu sagen als: »Miar hat's halt nöt pascht.«
Der dritte aber, der nasse Heinrich, begann Tikosch bald am meisten zu interessieren. Denn an die gleiche Frage, warum er nicht kämpfe, schloß er eine so lückenlose Kette von Vernunftfolgerungen, daß Tikosch gleich sah: hier war ein Philosoph von der Sorte, zu der er gerne in die Lehre gegangen wäre!
Der nasse Heinrich war ein Schlesier aus dem Kuhländchen und sprach ein ganz einwandfreies Deutsch, als er eine drollige Rede gegen den Kriegsdienst und die Verkürzung [S. 152] menschlicher Freiheit hielt, die ungefähr so ging:
»Erstens bin ich eine Intelligenz und sehe leider genau, was weiß ist und was schwarz. Ob auch meine näheren und ferneren Vorgesetzten Intelligenzen sind, das habe ich nach allen Beispielen, die ich bisher in Erwägung ziehen konnte, sehr zu bezweifeln. Wie soll ich nun meinen ganz lichten Willen und mein überhelles Hirn unter das Kommando eines dumpferen Kopfes stellen, von dem ich vollkommen deutlich erkenne, wie er mich sicher und unfehlbar in das große Heringspökelfaß führt, wo die Granaten am dichtesten stille Leute machen? Nein; wenn schon gestorben sein muß, dann auf eigene Fasson. Ich will wissen, warum und ob es sich lohnt, ein so gescheites Dasein wie das meine aufzugeben.
Des weiteren habe ich gefunden, daß ein Leben recht die Mitte halten muß zwischen [S. 153] besinnungsloser Streberei und Quietismus, wie das in meinen Büchern heißt. Du mußt wissen, Aviatiker, daß ich viel lese. Aber Quietismus, das ist besonnene Faulenzerei. Christus, Mohammed und Buddha haben ihn zwar gepredigt, waren aber Orientalen. Wir Abendländer können nun keine Ruhe geben, und da haben wir insoferne recht, als Besonnenheit, wenn sie nicht auch praktisch geübt wird, keinen Wert nicht hat. Was? Wo aber braucht es mehr praktischer Übung in der Lebensführung, wo gibt's mehr Kampf, wo zeigt sich unsre Überlegenheit besser, als in dem Berufe, dem die gesamte zivilisierte Welt wie ein Mann als Feind gegenübersteht? In dem Berufe der Lilien auf dem Felde, als welche wir uns darstellen! Wir Sonnenbrüder vom faulen Pelz, wir von der Walze, wir müssen uns jede freie Stunde erhungern, erfechten, erwandern, oft genug erstehlen. [S. 154] Natürlich halten das nur Leute aus, die ihre eigenen Gedanken haben und an sich selber eine bessere Gesellschaft haben, als die gesicherten Dutzend weisen Bürgerheringe an ihren Stammtischen sie uns zu bieten vermögen.
Siehst du, Aviatiker: ich war bestallter Schulmeister in Odrau, und ich verließ den Ofen mit den gebratenen Äpfeln der Behaglichkeit darauf, um mich in Sturm und Regenschauern umzutun. Ja. Denn da war ich stets in der unmittelbaren Nähe Gottes. Wenn wir uns ein Feldfeuer anzünden, dann erkennt Unsereiner, weiß der Himmel, daß es einen Gott des Feuers gibt, und daß die Flamme heiliges Leben in Essenz enthält! Verstehst du mich, Aviatiker? Nur das täglich schwer eroberte Leben ist der Religion nahe! Ich bin in Italien gewesen und in Griechenland. Nur eine Meinungsverschiedenheit meiner [S. 155] Gefährten hier hindert mich, mit ihnen abermals den Himmel aufzusuchen, unter dem die Ölbäume wachsen. Es ist da unten auch rauh und es stöbert der Schnee uns auch in Hellas recht wüste um den Schafpelz, wie schon in der Odyssee zu lesen steht:
Jetzo kam graulich die Nacht des verdunkelten Mondes und rastlos
Regnete Zeus, laut sauste der West mit ergossenen Schauern!
Wie, Aviatiker, da staunst du! Kannst du die Odyssee auswendig? Nein, armer Kerl, hab' ich mir gedacht. Da geht es wunderbar weiter, wie sie im Felde frieren: die Griechen! Und wie Odysseus beinahe vor Frost zu sterben meint, bis er sich durch eine List 'nen Mantel verschafft. Ich habe schon in den verlassenen Heiligtümern des Äolos und des Apollon geschlafen. Ich, der erste Mensch seit [S. 156] dritthalbtausend Jahren, der die Götter erkennt und gläubigen Herzens zu ihnen betet! Draußen herum heulte Boreas seine Wut über die götterlosen Menschen, aber mir wehte er Blätter über Blätter in den Steinrund herein zum Schutze, und wenn sich die Oliven knarrend bogen, fröstelte meine Seele in der wonnigen Erkenntnis, wie nahe ich den alten Göttern sei. Oh, oh, die alten Götter, die alle noch da sind, die aber ein immer naturferneres, stupides Menschengeschlecht zu begreifen verlernt hat!
Und jetzt wollen wir ans Frühstück.«
Der nasse Heinrich brachte einen schwärzlichen Klumpen aus dem Feuer vor sich und zerschlug ihn. Es war Lehm, in den er Fleisch geknetet hatte, das mit Fett umwickelt war und nun in der hartgebrannten Kruste rosig und in all seinem Safte geblieben war.
»Scheckensimon, die Flasche!«
[S. 157]
Und mit ernstem Gesichte weihte der nasse Heinrich die ersten Tropfen eines ganz ausgezeichneten Pflaumenbranntweins seinen Lieblingsgöttern, dem Phöbus, dem Pan und dem Äolos. Dann begann ein herrliches Frühstück, und dem Offizier war ganz wunderbar zumute, den närrischen, davongelaufenen Schulmeister hier in Feindesland so unbekümmert zu finden, als gäbe es keine Staaten und keinen Weltkrieg und keine wackligen Zivilisationsdogmen.
»Die Kultur ist nur mehr bei unsereins, und die Staaten erkenne ich seit dem Aufhören der Naturreligionen nicht an,« sagte der nasse Heinrich.
Angelegentlich rückte der Leutnant zu dem Philosophen, auf den er ja zwar lachend heruntersah, den er aber in einem Winkel seines Herzens dennoch anregend, ja aufregend fand, und fragte ihn heimlich: »Sag' [S. 158] mir, da du doch so sehr gebildet bist: Genügt dir denn der Umgang von die zwei Kerl'n, die doch unter dir stehn, und zwar recht weit?«
»Da irrst du aber gehörig!« rief der nasse Heinrich. »Abgesehen davon, daß mindestens der scheckige Simon ein großer Philosoph ist, steht kein Mensch tief da, der alle Tage so nahe mit Gott zu tun hat wie wir; denn der ist die Natur! Dazu haben wir eine oft sorgenvolle und oft so freudige Interessengemeinschaft, daß wir uns endlos zu unterhalten wissen und immer Gesprächsstoff haben, aber schon sehr gehaltvollen! Kannst du sowas von irgendeiner Frau Pastor oder einem Landesgerichtsrat auch behaupten? Wenn ja, dann muß er von seinen Gaunern erzählen, die sind das einzige, was ihm von wahrem Leben begegnet!«
Die Sonne fiel steigend auf das kleine Rund inmitten der tollwuchernden Jungkastaniendickung, [S. 159] und behaglich grunzend lag der Scheckensimon im warmen Gnadenlichte. Der Schlampenschneider hatte schweigend gegessen und dem Aviatiker gutmütig die besten Bissen zugeschoben, jetzt schlief er. Dem nassen Heinrich aber tat es wohl, seine Lehren in ein dürstendes Gemüt zu versenken. Er saß am Feuer, eine Schnitte Fleisch auf Brot gelegt in der mageren Hand, die dürftige Gestalt zusammengekauert wie ein hockender Neger, das spitze Gesicht aufmerksam und frisch, die Nase fröhlich in der Luft, die pfiffigen Äuglein hell aufblitzend. Er hatte einen genialen Schwung, sich das lange, blonde Haar, das ganz verwachsen und verwittert war, aus dem Gesicht zu streichen, und schüttelte es gleich wieder wuschelköpfig hinein, wenn er irgend was verneinte.
Tikosch sah den unscheinbaren und doch so zähen Gesellen belustigt an, und ihm war [S. 160] wohl, wie schon lange nicht. Eine liebe, geborgene Stimmung überkam ihn mit leichter Schläfrigkeit, und nur um was zu sagen, fragte er noch, wie sich denn die Gesellen zu den Nachrichten aus dem Norden stellten, und ob sie Sicheres über den Gang der Dinge da oben wüßten.
»Was gehen uns die da oben an?« sagte der nasse Heinrich. »Die haben uns außerhalb ihrer Gesetze gestellt, und wir haben sie dafür aus unsern Herzen geschoben. Denn sie haben eine andere Seele, die mit Kohle und Zement mehr zu tun hat, als gut und gottesmöglich ist. Alles haben sie auf stupide Zahl und Maße hinauflizitiert, und nun sitzen sie ja mitten drin in den Folgerungen ihres Massenwahnsinns. Jeder nimmt heutzutage an dem heillosen Morden teil, ob er inneren Soldatenberuf habe oder nicht, und so hocken sie und schießen und stürmen, ohne persönliches Emporwachsen. [S. 161] Ja, ja, diese zehntägigen Schlachten, in denen der einzelne nichts sein darf als eine kleine, kleine Ziffer!«
Der lange Simon gab ein Wort herüber. »Zehntägige Schlachten; das macht, in einer modernen Schlacht messen sich nicht die Überlegenheiten zweier Herrschernaturen, sondern die Angst zweier Feldherrn voreinander.«
Mit einer Art belustigtem Respekt sah nun Tikosch zu dem Schuster hinüber, während er über die drastische Kritik des Vagabunden lachen mußte. »Ich möchte nich' Feldherr sein,« sagte der scheckige Simon noch, gähnte und wollte gerade einschlafen, wie der vorbildliche Schlampenschneider, als der nasse Heinrich sagte: »Halt, Simon! Unser Gast wird jetzt noch, da er gegessen hat, nach antikem Gastrecht um seinen Namen und Stand gefragt, damit wir über sein ferneres Schicksal in unserem Kreise entscheiden können. [S. 162] Hör' zu, dann brauchen wir den Schlampenschneider nicht in unserm Rate; er wird majorisiert.«
Und Tikosch setzte sich zurecht, wischte sich den ansteckenden Schlaf wieder aus den Augen und erzählte offenherzig seine ganze Geschichte bis auf den Umstand, daß er Leutnant war; denn der hätte verstimmend wirken können. Sondern er sagte, daß er Feldwebel wäre.
»Tut nichts. Das sah ich aus deinem etwas hunnischen Habitus und deiner geringen klassischen Bildung,« tröstete ihn der nasse Heinrich freundlich. »Aber was nicht ist, kann noch werden. Es wird noch 'n ganz brauchbarer Tippelkunde aus dir werden.«
Tikosch schämte sich ein wenig. Auch seine Neigung zur schönen Rumänin verriet er nicht und sagte nur, daß sie ihn aus Mitleid gefüttert und dann hierher geschickt hatte.
[S. 163]
»Dann müssen wir'n auch all behalten,« sagte der Scheckensimon und sah den nassen Heinrich an, der gedankenvoll nickte.
»Die Livia,« sagte er dann in einer Art Wehmut, »die kenne ich nun seit meiner zweiten Griechenlandsfahrt. Damals war sie noch ein reicher Backfisch und hat viel gelacht, wie ich ihr meine Gotteserkenntnisse vortrug. Aber dann haben ihre Brüder den ganzen Familienübermut durchgebracht, und wie sie arm wurde und ein eleganter Offizier sie verließ, weil sie nichts hatte, da war sie reif. Sie ist meine einzige Schülerin in dieser zum Irrtum verdammten Welt, und sie ist dankbar wie ein reines Tier. Also auch an dir, Aviatiker, ist sie zur Nausikaa geworden. Ja, ja, sie ist ein seltenes Geschöpf. Zum Beispiel, sie wird nie heiraten. Denn wer einmal von der geheimnisvollen Nilschlange des Jenseitsgedankens gebissen wurde, der kann nur einsam [S. 164] bleiben oder einen Halbgott freien. Und woher sollte ein solcher kommen? In diesem Lande. Und woher bei uns, im Lande der Hosen mit den Bügelfalten!«
Damit legte er sich nieder und schlief auch schon.
Der Scheckensimon aber weckte den Schlampenschneider und sagte:
»Schlampenmann, du bist heute du jour .«
Der Angeredete gähnte, streckte sich und kletterte dann wortlos auf die große Edelkastanie, in deren Krone Tikosch einen sehr bequemen Sitz erblickte, von dem es sich im Sonnenscheine dieses milden Tages ganz behaglich Wache halten lassen mochte.
Im Kreise der drei Seltsamen umherblickend und im Gefühle, wieder bei Menschen, ja bei seltsamen und nicht gewöhnlichen Erdenkindern zu sein, wuchs das Gefühl der [S. 165] Behaglichkeit auch in ihm so sehr, daß er sich vertrauensvoll ausstreckte und entschlief, als sänge ihm Mutter ein sicheres Schlummerlied. Es war aber nur die riesige Edelkastanie, die im Ostwinde, der das schöne Wetter gebracht hatte, eintönig rauschte und sauste. Und da wußte er auch schon nichts mehr von Gefahr, Weltkrieg und Massenwahnsinn. Die Natur hatte ihn in ihre Arme genommen.
Zu Hause bei ihrer sorgenvollen Mutter saß die schöne Livia.
»Du lädst dir nichts als Ungelegenheiten mit solchen Strolchen auf und schiebst dabei die geringe Aussicht beiseite, doch noch an den Mann zu kommen,« sagte die alte Dame, die mit ihrer Tochter nur Französisch sprach. »Hast du den österreichischen Leutnant gar nicht gefragt, ob er vermögend ist oder nicht?«
[S. 166]
»Es würde nichts entscheiden, das weißt du ja,« erwiderte Livia ruhig.
»Nicht? Wenn wir unser Gut entschulden könnten? Wenn die Brüder wieder ein menschenwürdiges Dasein führen könnten?«
Livia sagte nichts mehr. Die Mutter kannte nur die Brüder und hätte das schöne Mädchen ruhig verkauft sehen können, wenn ihre geliebten Lumpe wieder an der Riviera ihren Sekt und ihre Dirnen gehabt hätten.
»Ein Glück,« grollte die Mutter, »daß deine Brüder nicht hier sind. In ihrem Haß gegen alles, was deutsch ist, gingen sie deinem Fliegerleutnant scharf zu Leibe.«
»Sie haben so wenig in sich selber und so wenig Eigenes, daß sogar ihr Haß ein französischer ist,« erwiderte Livia ruhig. »Sie waren nie in Deutschland und kennen das Leben dort so wenig wie all unsere Bojarensöhne. Aber den Haß, den haben sie.«
[S. 167]
Und Livia ging fort, durch das Haus, durch den Wald, in die Einsamkeit hinaus, die ihr allein Mutter und Bruder war.
Sie dachte an Tikosch und prüfte sich wieder und wieder. Männer von jener Art, die lärmt, trinkt, reitet und ficht, hatte sie durch die Brüder und ihre Freunde genügend kennen gelernt. Sie wußte, daß diese Rasse, so sehr sie männlich genannt werden durfte, nie viel Größe und Güte in sich barg. Tikosch würde sie auch nur so lange achten, als er sie nicht besaß. Unterlag sie ihm, so ritt, trank, raufte und flog er wieder, und alles war wie zuvor, nur sie selber war Dienerin eines Herrn, dem sie im geheimen unbequem war wegen ihrer hellen, scharfen Augen, die alles Niedrige und Tierische durchschauten. Wenn Tikosch zu denen dreien im Kastaniendickicht kam, dann entschied es sich übrigens, wohin er gehörte. Siegten die drolligen [S. 168] Lehren des nassen Heinrich und brachen die wilde Gleichgültigkeit dieser Reiternatur, dann war Seele in ihm. Schlug er die Philosophie selbst dann in den Wind, wenn sie in Not und Waldeinsamkeit zu ihm kam, dann war er ein Verlorener für sie und ihr Haus, mochte er für seinen Staat noch so sehr das Prachtexemplar bedeuten.
Schwach war sie nicht, und Sinnlichkeit reichte nicht an ihre einsamen Stunden heran. Aber sie hätte gern einen starken Mann und Kinder gehabt. Darum wünschte sie sehnlich, Tikosch möchte doch den Weg aus seinem Walddickicht zu den drei Walzenbrüdern finden. Daß es die Tage her so unerbittlich und seelenbedrängend geregnet hatte, dankte sie den Göttern des nassen Heinrich sehr, dem Pan, dem Aeolos und dem Sonnengotte. Nun ging sie gegen das Dickicht, um zu sehen, ob der Trotzkopf schon kirre geworden und [S. 169] heruntergekommen sei, aus seiner Luchshöhle oben in der sturmübertosten Planina. Aber sie stockte bald wieder gedankenvoll und kehrte zerstreut um.
[S. 170]
[S. 171]
Es war herbstlich geworden, so schön auch die sonnigen Spätsommertage ihr blitzendes Seidennetz über die Wälder spannen. Die silbernen Marienfäden segelten, und aus den großen Kastanienbäumen fielen die ersten reifen, süßmehligen Früchte. Es war gut sein und schön am Lagerfeuer; die Gesellen rösteten sich die Himmelsgabe als wohlige Zutat zu dem, was ihnen der neue Kamerad mit der Flinte im Walde geholt hatte, und als es Abend ward, rückten sie nah zusammen und erzählten Geschichten. Dabei kam allerdings an das Licht, warum der philosophische Vagabund Heinrich »der nasse« hieß. Denn alle Abend trank er so viel, bis ein reichlicher Tränenstrom sein zärtliches Herz erleichterte. »Er hat alle Vesperzeit das heulende Elend,« sagte der Norddeutsche, der Scheckige, der dem Offizier immer sympathischer zu werden begann. Denn dem war es ernst mit seiner Sehnsucht, zu seinem kämpfenden Volke einzurücken.
»Bei Prahovo an der Donau unter der großen Insel ist der Strom schmal; da weiß ich 'n Kahn, der nur für uns Kunden versteckt ist und uns allen von der fahrenden Gilde gehört. Er ist so gut versteckt, daß sie 'n noch nie gefunden haben. Denn die Serben bewachen alles, was nach Rumänien rübergehen will. Uns aber wer'n sie nicht erwischen. Wenn wir eine Nacht lang rüstig wandern, so sind wir am Fluß; aber 'rüberfahren könn' wir erst in der andern Nacht, denn es dauert eine halbe Stunde, bis man drüberkommt, so [S. 172] groß ist das Wasser selbst dort noch. Und wenn wir noch so gut marschieren, es sind doch gute fünfzig Kilometer, und es wird grau werden, bis wir hinkommen. Da heißt sich's verstecken, den Tag über, wie wir hier allemal zu leben gewohnt waren. Um Mitternacht fahren wir dann ins Rumänische hinüber und schlagen uns von dort am hellen Tage nach Ungarn durch. Herrgott, in welcher Sprache soll'n wir denn dann fechten?«
Der nasse Heinrich hatte sich erst in seiner ganzen Andacht den Hasenbraten schmecken lassen und dann die süßen Maronen. Aber er trank, obwohl er den Göttern spendete, gar nicht antik. Denn Wasser mischte er in seine Pulle durchaus nicht, sondern benahm sich ihr gegenüber so großzügig, daß sie bald leer war und er voll.
»Simon, was willst du dort oben tun?« bat er. »Simon, sie werden dich zum Krüppel [S. 173] schießen! Komm mit mir 'runter nach Hellas! Wenn's dort oben eine Zeit gäbe wie sonst, ja, wie sonst! Och, mein Deutschland, um die Zeit, da man in den Zimmern den Ofen zum ersten Male bullern hört, da bist du so schön, daß ich oft schon bürgerliche Triebe mächtig in mir erwachen fühlte und an gebratenen Äpfeln beinahe grundsatzlos geworden wäre. Ach, ich hätt' ja schon so oft heiraten können!«
Und er trank wieder und sank in tiefes Sinnen.
»Aber jetzt denkt jeder nur an Schießen und Stechen, und wer daheime sitzt, liest die verflixten Zeitungen und studiert Karten.«
Er sank wieder eine Zeit in Schweigen. Dann brach die erste Rührung hervor, als er weinerlich ergänzte:
»Oder Verlustlisten.«
[S. 174]
Die andern drei waren ernst und still, das Feuer brannte klein und vorsichtig. Die Nacht war schneidend kalt, und jeder drehte sich, um gelegentlich auch seine Hinterseite zu wärmen. In dieser Beschäftigung hörten sie alle nur mit halbem Ohr auf die sattsam bekannten abendlichen Klagen des nassen Heinrich. Nur dem Leutnant war das neu, und er hörte dem sonderbaren Patron zu, der so wetterhart und lebensstark und dennoch in allem, was sonst den ganzen Mann erfordert, so weichlich war. Mit ein paar kurzen Worten sagte er ihm das auch:
»Mich wundert, woher du die Kraft nimmst, dies Leben zu ertragen, immer in Lebensgefahr, immer frierend oder hungernd, immer in denselben Lumpen; bald schauernd vor Regennässe, bald verschmachtend, und doch bist du an dieser einen Stelle heikler als ein Hund am Bauch: dort, wo es heißt: Pflicht!«
[S. 175]
»Ich bin allein geboren und habe allein zu sterben,« sagte der nasse Heinrich mit wiedererwachender Klarheit. »So geht es niemanden was an, wenn ich mein Leben auch abgesondert von den allgemeinen Bemerkungen eurer Weisheit führe. Du bist wohl noch nie in einer Großstadt im Kaffeehause gesessen, mein lieber Aviatiker, wo solche Genies ihre Ecken haben, die immer noch auf den Ruhm warten. Sonst wüßtest du, daß es kein nutzloseres Ding für den Staat gibt als eine große Intelligenz ohne Güte. Leute wie du sind das Richtige für das allgemeine Wohl; sie fühlen sich als Kanonenfutter geheiligt. Aber sobald ein Gehirn die ganze zwecklose Grausamkeit des Geborenwordenseins zu erkennen fähig ist, so ist es für die Allgemeinheit verloren und sucht nur mehr sich selber zu retten, wie ein Kopfloser auf einem sinkenden Schiff. Drum hat der Staat die Einrichtung [S. 176] getroffen, daß die Schiffsoffiziere mit Revolvern auf diejenigen schießen, die allzu deutlich auf ihre eigene Haut bedacht sind, und das ist ganz recht und billig. Ich für mein sterblich Teil würde auch auf einem sinkenden Schiffe an die Frauen und Kinder denken. Das kann ich dir versichern. Aber ich habe nicht Lust genug, ohne Not mit den andern ihr trauriges Spiel zu machen. Daß wir alle mit'nander ein Wesen sind, das ist die Erkenntnis des Herzens. Daß wir einsam sind, ist die Erkenntnis des Kopfes. Wenn du gut beraten sein willst, so wisse, daß das Hirn der irrende Teil ist, und daß näher an der göttlichen Erkenntnis der ist, der sich für andere totschießen läßt. Er weiß mehr als der gescheiteste Professor an der berühmtesten Universität! Ogottogott! Aber ich! Ich bin ja so unglücklich, daß ich so intelligent bin! Ich schäme mich ja so durchdringend, [S. 177] daß ich es aus Gründen der Hochschätzung meiner Person vermeide, mich für alle zu opfern, was der Weisheit und Güte letzter Schluß wäre. Das ist mir versagt, oh, das ist mir versagt!« Und der nasse Heinrich begann zu heulen und zu jaffen wie ein Hund, der bei Nachtfrost ausgesperrt wurde.
Mit seltsamen Gefühlen sah Tikosch auf dieses Musterbeispiel eines gänzlich Freien, der sich selber anklagte. Er überlegte, ob er in seiner simplen Freude, das Gefährliche zu wagen, nicht eine bessere Antwort dem höhnischen Gotte gab, der das Leben als Fraß des Todes schuf, als dieser Genießer, der dem Leben unwürdig bettelnd nachkroch und nur sich selber kannte.
Und in das erbärmliche Weinen des haltlosen Trunkenen, dem der Tiroler gleichmütig, der Hannoveraner mitleidig schmunzelnd [S. 178] horchte, klang seine entschlossene Soldatenstimme:
»Komm, scheckiger Simon, mit dir hab' ich ein gutes deutsches Wort zu reden.«
Beide verschwanden im Busch, und Tikosch schlug mit dem Gefährten den Weg nach dem Timok ein. Er gab dem Deutschen seine geladene Schrotflinte, zog seine Repetierpistole hervor, und vorsichtig, als ahne er, daß irgendein Soldatenstück im Werke sei, folgte der Scheckensimon dem neuen Kameraden.
Als sie weit genug waren und das Weinen des Betrunkenen nicht mehr hören konnten, erzählte Tikosch dem Hannoveraner seine ganze Geschichte mit völliger Offenheit und sagte, als der gute dicke Kerl beim Erwähnen der Tatsache, daß Tikosch Leutnant wäre, mit einem kurzen Ausruf der Freude stramm stehen blieb:
[S. 179]
»Simon, auf dich zähle ich. Wir wollen hier mitten in Feindesland für unser verbündetes Vaterland kämpfen. Da unten ist die große Lebensader des Serbenreiches nach Osten; die Brücke, die zwei Eisenbahnen an die rumänische Grenze bringt! Hier holen sich die Serben alles, was sie brauchen. Das Negotiner Land ist reich, aus Rumänien bekommen sie russische Hilfe dazu. Wenn wir diese eine Brücke sprengen, so treffen wir die Kerle in den Magen.«
»Haben denn der Herr Leutnant die Mittel, die Brücke zu sprengen?« fragte der scheckige Simon.
»Simon, wir sind in der gemeinsamen Not Kameraden geworden, und für euch bin und bleibe ich der arme Kunde, als der ich unter euch vertrauliche Aufnahme gefunden habe. Wir sind per Du. Jetzt wollen wir rekognoszieren.«
[S. 180]
Der Deutsche ging mit beflügeltem Eifer mit. Die Sache gefiel ihm über die Maßen; namentlich, als ihm Tikosch sagte, daß er den Neuangeworbenen sicherlich für eine soldatische österreichische Auszeichnung melden könnte, wenn die Geschichte gut ginge. »Denk dir, Simon, was für ein Furore die große goldene Tapferkeitsmedaille auf deiner Brust bei euch oben machen tät! Ich nehm' dich gleich, nachdem wir gesehen haben, was mit der Brucken zu machen ist, für den Kaiser in Eid, und du bist dann Soldat. Die Tapferkeitsmedaille ist dann nur deine eigene Sach'!«
»Donnerwetter, wenn ich mit der fechten gehe, kann ich bei jedem Landrat anklopfen: dann rücken sie mit silbernen Halbmärkern 'raus,« sagte Simon begeistert.
Vorsichtig schlichen die neuen Gesellen zur Brücke, die ein zartes, dunkles Eisengewebe [S. 181] über den raschen Bergfluß spann. Das Mondlicht, das im Schwinden war, zeigte ihnen den Posten, der auf der Brücke hin und her schlenderte. Er war in Nationalkleidung, also kein geschulter Soldat. Aber jenseits des Flusses, knapp an der Brücke, stand eine Bretterbaracke, aus der ein kleines, rötliches Licht in die Nacht hinaus sagte, daß dort eine Wachabteilung ihren Sitz hatte, welche gegen Bulgarien zu scharf aufpaßte.
»Wir müssen ins Wasser, sonst sehen sie uns,« sagte Tikosch.
»Donnerwetter,« fluchte der Scheckensimon, aber er stieg entschlossen hinter dem Leutnant das Steilufer hernieder, warf die Kleider ab und panschte leise in die herbstkalte Flut.
»Gib acht, Simon! Ich schwimme über den Fluß und untersuche den Pfeiler, der drüben im tiefen Wasser steht. Du watest bis an die [S. 182] Brücke. Entdeckt uns der Posten, so schieß' ihn nieder, und der zweite Schuß gehört dem ersten, der ihm zu Hilfe kommt. Sie werden verschlafen und verwirrt sein. Kannst du schwimmen?«
»Ja.«
»Werden wir gesehen, so schwimmen wir bis in die Donau hinunter! Bei Tag werden wir in den Dickungen schlafen; fangen sollen sie uns nicht! Was?«
Die Ausforschung der Brücke gelang aber ohne Störung. Hier, weitab vom Feinde, glaubten die schlecht geschulten Komitatschis nicht an Gefahr, und der Posten langweilte sich in dumpfer Zwecklosigkeit auf der Brücke hin und her.
Tikosch sah bald, wo im Pfeiler das Sprengloch für die Mine war, das an jeder Brücke angebracht ist, und es tat ihm nur leid, daß er die Ekrasitbüchse nicht gleich [S. 183] zur Hand hatte. Aber beim Emporklettern wäre er ja doch entdeckt worden. Es mußte ein eigener Plan entworfen werden. Aufmerksam prüfte Tikosch die ganze Gegend, merkte sich jeden Busch, hinter dem man Versteck finden konnte, und besonders die Umgebung des Wachhauses prägte er sich aufs beste ein. Dann schwamm er wieder über den Fluß zurück, dessen reißende Strömung ihn so weit nach abwärts trug, daß er erst nach langem Flußaufwandern den wartenden Simon, schon in ehrlicher Angst, antraf, weil er glaubte, der Leutnant müsse ertrunken sein.
Tikosch kleidete sich an. Beide schnapperten vor Kälte, lachten aber.
»Und nun Laufschritt,« kommandierte Tikosch, als sie aus dem Bereich der Wache gekommen waren. Und fröhlich liefen sie bergauf, erreichten die Straße, die in dritthalb [S. 184] Stunden nach Rgotina führte, und waren bald wieder warm und aufrecht.
In der Dickung empfing sie der Schlampenschneider in seiner phlegmatischen Art, aber doch mit Vorwürfen. »Da laßt ös ein alleinig mit der b'soffenen Metten in der Nacht!« brummte er. Aber Simon warf einen raschen Blick auf den nassen Heinrich, der in steinfestem Schlafe lag, und erzählte dann klipp und klar den ganzen Plan des Leutnants. Ob der Tiroler mittun wollte?
»Wär net schlecht,« schmunzelte der; »unsereiner hat doch nie net das Vaterland im Stich lassen.«
So hatte Tikosch zwei Mann für seinen Kaiser angeworben, und es galt nur noch, den nassen Heinrich zur Tat zu überreden.
»Er wird mithalten,« sagte der scheckige Simon. »Aber nach Österreich geht der nicht mit uns. Ihr werdet sehen, in Rumänien [S. 185] sagt er uns Adjes und wendet sich ins Griechische hinunter. Er kann kein Schnee vertragen, der länger liegen bleibt als bis zur nächsten Sonne; das ist einmal seine Eigenheit, und er nennt's Religion.«
Zufrieden und neubelebt, daß es mal was Ordentliches zu tun gab in ihrem zwecklosen Dasein, legten sich alle dreie nieder. Der scheckige Simon tat noch ein paar Scheite ins Feuer, liebe Wärme zog sich an ihren müden Gliedern entlang; dann schliefen sie, tief und getrost.
[S. 186]
[S. 187]
Am anderen Morgen erwachte Tikosch schon frühe. Der Gedanke an das nahe Ziel und seine baldige Rückkehr zu den Fahnen seines Kaisers ließ ihm keine Ruhe. Auch mußte er Wild für die drei Gefährten beschaffen. Denn seit der nasse Heinrich einen der kleinen Feldkeller der Weinbauern, wie sie dort zahlreich in die Abhänge gegraben und ohne richtige Aufsicht sind, allzu freigebig geplündert hatte, war man in der hier dichter bevölkerten Gegend doch etwas aufmerksamer geworden und fahndete nach rumänischen Zigeunern, die man als Täter vermutete. Es hieß sich also am Tage still im Dickicht verhalten; von Stehlen oder gar von Fechten war natürlich keine Rede, und selbst der Weg zur immer freigebigen Livia stand nur in solchen Nächten offen, wo wegen Sturm und Regen kein Hund sich ins Freie wagte.
Vor Tagesanbruch mußten sie also versorgt sein, und Tikosch hatte das Glück, zum ersten Male in diesem an größerem Wild armen Lande einen kapitalen Rehbock zu strecken, den die reichliche Herbstäsung, um nicht zu sagen die Mast der Edelkastanien, in seinen Bereich herübergezogen haben mochte. Schwerbeladen kam er zu seinen Genossen, die ihn mit Jubel empfingen. Dem nassen Heinrich sah man von seinem tiefen Trunk wenig an. Er vertrug dergleichen ohne Nachwirkungen, und Tikosch benützte das erhöhte Behagen, das den verlaufenen Schulmeister bei einer gerösteten Rehleber überkam, um ihm seinen Plan mitzuteilen. Er zögerte auch nicht, den [S. 188] Gesellen ausgiebigen Lohn in Gold zu verheißen, und war entschlossen, die ganze große Summe, die er bei sich trug, beim Übertritt auf österreichische Erde hinzugeben.
Heinrich neigte den Kopf hin und her. »Das wäre ein Fall, wo man des Erfolges ziemlich sicher sein kann,« sagte er. »Wenn schon der Aviatiker in Dingen seelischer Erkenntnis nie ein überragender Kopf sein wird, so habe ich das Gefühl, daß er eine schneidige Führernatur ist, und überdies: Wenn jemand etwas will, so setzt er's durch. Die an der Brücke wollen nichts als ihre Ruhe, und das ist zu wenig. Die friedlichen Kerle werden im Grunde genommen froh sein, wenn die Brücke kaputt ist und sie infolge Verstärkung der Wache weniger dabei zu tun haben werden, wenn man sie wieder aufbaut. Ich werde euch also in allem beistimmen und helfen, wenn ihr mich dafür sicher in rumänisches [S. 189] Land bringt. Von dort hoffe ich infolge der Empfehlungen der schönen Livia schon weiterzukommen. Aber als Soldat in Eid nehmen? Für eine der Parteien, die jetzt um die Weltherrschaft zu raufen meinen, in die sich ja doch der Amerikaner und der Asiate teilen werden? Ne! Das ist mir zu töricht.« Und dabei blieb er; man mußte zufrieden mit dem sein, was er versprochen hatte.
Als die Verbündeten noch beim Frühstück saßen, raschelte das Gebüsch und Tikosch griff nach dem Browning. Aber der Warnlaut des Rotkehlchens, ein Zeichen, das die drei Kunden gut kannten, bestimmte den scheckigen Simon, ihm lachend die Hand auf den Arm zu legen.
Im nächsten Augenblick war Livia bei den Vogelfreien.
Tikosch fühlte, wie ihm das heiße Scharlachrot ins Gesicht strömte, weil er von dort oben [S. 190] so fügsam heruntergekommen war und sich mit der fraglichen Gesellschaft schon so gut stand. Aber Livia begrüßte ihn heiter und vertraulich und zog, nachdem sie den drei Geächteten einen Korb voll guter Dinge hingestellt hatte, erst den nassen Heinrich ins Gespräch. Es sei nahe bei Zajetschar, dicht unter den Forts, ein ländlicher Weinkeller gründlich ausgestohlen worden; ob er davon wisse? Und der kecke Gesell wurde unter dem Blicke ihrer ernsten klaren Augen sehr verlegen.
»Also doch,« sagte sie langsam. »Wissen Sie denn nicht, Heinrich, wie sehr Sie dies Trinken heruntersetzt? Aller Erde König glauben Sie zu sein mit Ihrer Freiheit und Ihrer Philosophie und lassen sich durch eine Flasche Branntwein zum schwätzenden, heulenden Spottbild eines Menschen herunterziehen! Was muß Tikosch von Ihnen denken? [S. 191] Ist denn nicht das tüchtige, praktische Mannesdasein, wie er es führt, höher und mehr als das Ihre, das er haltlos gefunden haben muß? Was ist das für ein starker Kopf, der sich von jeder Weinflasche umwerfen läßt? Sie entweihen Ihre eigene Religion, und wenn ich nicht wüßte, daß diese Lehre in einem würdigeren Herzen als dem Ihren groß sein könnte, so müßte ich an ihr verzweifeln. Ein trauriges Beispiel! Herr Leutnant, hat er's arg getrieben?«
Das verlegene Lachen des Tikosch sagte ihr mehr, als ihr lieb war. Sie sah, wie dieser viel simplere Reiteroffizier den großen Philosophen rasch verachten gelernt hatte.
»Tikosch,« sagte sie, »man muß den Menschen von seinen Erkenntnissen zu trennen verstehen wie das Gefäß vom Inhalt. Er hat viel erkannt, was außer ihm heute in der Welt keiner mehr zu empfinden versteht, und es [S. 192] ist von ihm manches zu lernen. Da er zu frei sein will, ist er zu sehr Sklave geworden; sehen Sie ihn nachdenklich an, aber verachten Sie ihn darum nicht. Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen. Aus diesem Lande kommen Sie, namentlich seit man wegen des Mundraubs dieser drei aufmerksam geworden ist, nicht leicht heraus. Zwar Ihre Freunde hier müssen sehen, wie sie die nahe Grenze erreichen; sie sind weniger bedroht. Aber der österreichische Offizier würde nicht leichten Kaufes davonkommen. Ich kann Ihnen nun im Namen meiner Mutter Versteck und Quartier bei uns anbieten. Schlimmstenfalls müssen Sie Kriegsgefangener auf Ehrenwort werden, wenn man Ihren wahren Charakter entdeckt. Ich aber kann Ihnen versichern, daß man Sie dann bei uns lassen wird. Bis ein solcher Unglücksfall eintritt, gelten Sie für einen Wirtschaftsbeamten, den wir uns [S. 193] aus der Schweiz zur Verbesserung unseres Gutes verschrieben haben. Gilt's?«
Und zum ersten Male sah ihn Livia so weiblich und persönlich, ja beinahe vertraulich an, daß ihm siedigheiß wurde. Er schwieg; das Herz kämpfte ihm, aber die Entscheidung war nicht sein.
»Eher unglücklich, eher Lieb' und Leben verlieren, als so in kommoder Sicherheit, derweil meine Kameraden bluten,« sagte er ruhig. »Livia, wie können Sie einem Offizier das zumuten!«
Da schwieg das Mädchen und sah traurig zu Boden. Auch sie hätte ihn im Innersten nicht recht achten können, wenn er bei ihr geblieben wäre. Aber nun, da sie wußte, daß sie ihn verlor, kam die ganze unterdrückte Torheit dieses Mädchenkopfes mit Macht über sie, und als sie sich wegwandte, stürzten ihr Tränen heraus.
[S. 194]
Tränen des Zornes, verschmäht zu sein, Tränen der Reue, diesen Mann geschulmeistert zu haben, statt ihn mit all der Wärme und der berückenden Liebe an sich zu binden, die sie erst jetzt im Augenblicke des Abschieds voll süßer Torheit in sich brennen fühlte.
»Begleiten Sie mich ein Stück nach Hause,« bat sie einsilbig, und still und traurig ging Tikosch mit ihr.
»Den kriegt sie noch herum,« sagte der nasse Heinrich. »Er kommt nicht zu uns zurück.«
»Wetten, daß er ja kommt? Und daß wir die Brücke sprengen!« rief der scheckige Simon voll Temperament.
Der nasse Heinrich sah den plötzlich so lebhaft gewordenen Phlegmatiker erstaunt an. »Du hast ja auf einmal ein sonderbares Vertrauen in die Menschen, Philosoph,« sagte er.
[S. 195]
»Mein Lieber,« dozierte der Schuster, »du bist jetzt außer Mode. Ich war zu lange mit einem bloß gescheiten Menschen zusammen, um nicht gelernt zu haben, daß es das Herz ist, welches die Wunder vollbringt.«
[S. 196]
[S. 197]
In einer tiefen, seltsamen Traurigkeit, wie sie nur zwei Menschen haben, die wissen, daß sie einander nie im Leben wiedersehen werden, und daß sie doch so viel aneinander verlieren wie nie mehr im Leben, gingen der stillgewordene junge Offizier und die ernste und stolze Rumänin nebeneinander durch den Hochwald, der vor dem Dickicht begann. Der Herbst war hoch in Flammen ausgebrochen, und die Sonne prahlte in allen Farben, als hätte sie alle Ritterschaften der Welt zu einem Turnier versammelt. Die blauen Fernen waren noch zarter und winkender und verschleierter und sehnsüchtiger als sonst, und eine so weiche und ertötend süße Wehmut durchdrang alles, daß die stärkste Seele wehrlos und weich bis ins Innerste von dieser Ergriffenheit des Weltvalets werden mußte.
Beinahe zum ersten Male ging Tikosch scheulos am hellen Tage durch serbisches Land, der bisher so verkrochen gelebt hatte! Glanz und Duft im Walde und das Winken der Ferne hatte er stets nur von seinem Versteck aus gesehen. Nun gehörte es ihm auf einmal ganz an, und er genoß die Luft, als sei sie von anderem Geschmack, weil er sie offen wandelnd trinken durfte. Nach Freiheit roch sie und war frisch wie kühler Eisenduft. Das machte der herbe Geruch der gerbstoffhaltigen Blätter, die um die beiden Abschiednehmenden goldwinkend umhertanzten wie Amoretten: Valete, valete! Die herrlich gefärbten machten den Himmel, dem sie vorüberflogen, noch [S. 198] einmal so blau wie sonst, mit ihrem grellen Gelb. Ihr Vergänglichkeitsduft, der nur einmal im Jahre durch die sonnigen Lüfte irrt, zu des Jahres schmerzlich schönster Zeit, griff ihm durch und durch!
»Es ist ein wunderbarer Tag, dieser allerletzte,« sagte Livia weich. »Wann wollen Sie die Flucht antreten?«
»Heute nacht,« sprach Tikosch wie im Traum, und es kam ihm vor, als sei das gar nicht möglich. Dieser Tag war wie mitten aus der Ewigkeit genommen, und Abschied lag genug und zuviel in seiner wehen Schönheit. Aber das Schneiden und Brennen in seinem Herzen ließ ihn sich nicht ganz verlieren.
»Von jetzt ab weiß ich völlig,« sagte er nach einer Weile, »was Sie den Gott der freien Natur nennen. Daß der in den Mann übersiedelt, der sich ihm zu ergeben weiß. Ich hab' ihn schon dort oben verstanden, wenn die [S. 199] Fernen so recht gerufen haben. Da war ich der Höchste und Einsamste in meiner tödlichen Aufgeschlossenheit. Aber noch besser habe ich den kapiert, den Sie Gott nennen, wenn's im Walde toll g'worden war. Da hab' ich begriffen, daß man sich als Bruder des Boreas fühlen kann, und das Kämpfen und Brüllen des Waldes war mir bekannter als jede menschliche Red'! Es war schön dort oben wie bei Gott selber, und daß man ihn in Ewigkeit anschauen und nichts anderes begehren kann, das versteh' ich jetzt. Nie mehr werde ich ganz von ihm loskommen, seit ich weiß, wo der Weg zu ihm geht. Und das dank' ich dir, du seltsames Mädel!«
Er blieb stehen und sah in das weite Land hinaus, über den Fluß und in die Weingärten, die bald unter dem Walde begannen. In diesem Paradies konnte er bleiben, an der [S. 200] Seite eines wunderschönen Mädchens, das er liebte, und das er sich nun doch gewinnen konnte? Er sah sie an, wie sie wortlos und dennoch mit dringlich leiser Frage neben ihm ging, schön und leidend wie dieser überirdisch klare, bewußte Herbsttag. Diese herrlichen Glieder, die nie um eines Mannes willen gebebt hatten, vibrierten jetzt zum ersten Male in mädchenhaftem Schauern, und das hochgemute Geschöpf war weich, traumverloren und gelöst; er fühlte es.
»Wenn ich wiederkäme, Livia?«
»Du wirst nicht wiederkommen. Jahrelang wird der Krieg über diesem unseren Lande liegen und nichts als Haß und Elend daraus saugen. Vielleicht kommt ihr als Sieger bis daher. Da aber dieses Land entweder von selbst in eure Hände fallen wird, wenn ihr dem Russen auf der Brust kniet, oder nie, so müßtest du kommen, wenn ein ungeheures [S. 201] Erleben sich zwischen dich und mich gedrängt haben wird: in einer Zeit, die dreifach zählt. Du wirst gejubelt und gefrevelt haben, gelitten, gehungert, gepraßt, geflucht und gebetet, und deine Seele wird sich mit Größe und mit Lastern bedeckt haben, von denen jedes einzelne schon dich von mir trennen wird. Bei deinen Kameraden wirst du lachen über das stille Gottesgefühl, das ich dir geben wollte, und du wirst wieder werden, wie du warst, und wie sie sind. Ich weiß das, und ich werde es mir immer wieder sagen, um dich zu vergessen. Wir sind aus zwei andern Welten.«
Sie schwieg, denn die Tränen standen ihr nahe, und sie wollte ihn durch ihre Schwäche nicht begehrlich machen, damit sie nicht sein Opfer würde; hier, am letzten, nach Glück rufenden Tage in der lockenden Einsamkeit. Er sah sie an, prüfte sie und wurde wieder [S. 202] irre, so stolz sah sie aus. Dann blickte er nach dem Süden. Dort lagen klein und geduckt um die Stadt Zajetschar die Forts, und der Timok ging dahin, bis zur fernen Brücke, die er heute nacht geprüft hatte. Da riß es sich in ihm mächtig empor, und er sah alle Schönheit und Weichheit des Tages und des jungen Weibes nicht mehr. Krieg war ja, Krieg! Und für ein weichliches Glück war keine Zeit. Die eiserne Tat rief ihn gewaltig an, und sein Herz wurde wie von Stahl.
»Sie haben recht, Livia,« sagte er fest. »Ich bin zu ganz andern Dingen auf der Welt, als glücklich zu sein. Es gibt Singvögel, und es gibt Raubvögel. Den einen gehört die Liebe, den andern der Haß. Ich wäre doch nie Ihrer wert geworden, weil ich zu schlecht bin für Sie und doch auch wieder zu gut. Männer gibt es, die man am besten nur auf sich selber bestehen lassen darf, weil sie [S. 203] nicht gemacht sind, andere zu beglücken. Meine Arbeit ist anders als die der Erlösernaturen. Leben Sie wohl; Sie waren mir wie eine Gottheit, und ich werde Sie nie, nie vergessen! Vielleicht bekehre ich mich einst gänzlich zu Ihrer Religion, wenn sie mir einen Arm oder einen Fuß abgeschossen haben, oder wenn ich alt und krank bin; denn für alle Hilflosen und Schwachen liegt der wunderbarste Trost in dem, was Sie glauben! Vielleicht sitze auch ich einmal still im Sonnenschein und schaue seltsam verwandtschaftlich auf diese Wolken, die der Erlösung näher scheinen als ich. Aber jetzt mag und kann ich nicht.«
Kräftig ergriff er ihre Hand, schüttelte sie und ließ sie los.
Livia blieb stehen.
»Was wollen Sie tun?« fragte sie mit halber Stimme.
[S. 204]
»Das ist jetzt Mannes Sache und muß auf sich allein bestehen,« erwiderte er. »Nochmals tausend Dank, du wunderbares, einsames Mädchen!«
Und er ging von ihr, ohne sich mehr umzusehen. Aber Livia schaute ihm tiefbewegt nach, wie er mit dem erobernden Schritte des Soldaten das Weite gewann, ins dichte Holz gelangte, mit kräftiger und biegsamer Windung des schlanken Körpers ins Dickicht eindrang und verschwand. Langsam, langsam ging sie heim, allein in diesem eindringlich wehen Herbste.
[S. 205]
[S. 206]
Als Tikosch sich leise dem Biwak seiner kleinen Patrouille näherte, fand er den nassen Heinrich im Begriffe, den Schlampenschneider Wiener Walzer tanzen zu lehren. Er hielt stille und lauschte, wie der weinende Philosoph dem phlegmatischen Tiroler zeigte, wie sich die Dame zu halten hätte und wie der Herr. Aber als er mit zierlicher Verbeugung auf den scheckigen Simon zuging und den, als den Vorbildlicheren in Dingen guten Tones, zum Tanze aufforderte, als Simon kokett nach seinem Jackenzipfel griff und den über den Ärmel legte wie eine Schleppe und seine Arme um den nassen Heinrich schloß, da wieherte er ein schallendes Kasernenlachen heraus. Vergessen waren Livia, Pan und Apollo!
Die Walzenbrüder begrüßten ihn stürmisch, er aber winkte sie heran, entwarf auf seinem Notizblock einen Plan von Wachthaus und Brücke und sagte jedem so klar, was er wolle, und wie er das Ding zu sprengen gedenke, ohne daß sie Gefahr liefen, daß alle gleich voll Eifer bei der Sache waren und das todsichere Gefühl hatten, das Ding müsse und müsse glücken!
Dann kam die Nacht, die bänglich erwartete Nacht. Dem nassen Heinrich hatte Tikosch allen Schnaps fortgenommen. »Bloß dicht vor der Brücke kriegst du einen ungeheuren Kriegsschluck,« sagte er. Nun fröstelte der nervöse Philosoph beständig, und tiefes Unbehagen würgte in ihm.
[S. 207]
»Hast du Angst?« lachte Tikosch.
Der nasse Heinrich schüttelte etwas kläglich den dünnen, blonden Kopf mit der spitzen Nase.
»Angst nicht,« sagte er; »nur meine Phantasie arbeitet zu grell und deutlich alle Konsequenzen voraus.«
»Es gibt keine Konsequenzen,« sagte Tikosch entschieden. »Wir wissen, wohin wir zu schießen haben, die wissen es nicht. Wir sind die Entschlossenen, sie die Überraschten. Allen Grund, sich zu fürchten, haben sie.«
Es ging eine solche Entschlossenheit von dem stahlhart gewordenen Manne aus, daß der nasse Heinrich, der durchaus nicht energielos war, fühlte, daß auch in ihm selber dergleichen stak und jetzt stärker und stärker wurde. Es ist wunderbar, wie das Selbstvertrauen und die Kraft einer starken Natur ausströmen und sich verteilen kann, wie Christi sieben Gerstenbrote auf fünftausend! Die drei Vagabunden waren [S. 208] in wenigen Minuten Männer von Federstahl geworden; unzerbrechbar und doch von gefährlicher Schnellkraft. Nun schlichen sie durch die Waldnacht und mieden, heraustretend, sorgfältig die bewachten Weingärten. Erst im Bachbette, dann durch Ried und Sumpf wateten sie; Tikosch trug seinen Browning.
In weitem Bogen wichen sie dem nachtstillen Orte Vrazograci aus, der nur eine Viertelstunde vor der Brücke lag. Näher an der Brücke steckte Tikosch seine Pistole ein und zog das Jagdmesser, denn es mußte womöglich stille Arbeit getan werden, damit man sie nicht vom Orte aus ertappte. Der Hannoveraner hatte den Standhauer und schwang ihn angriffslustig durch die Luft, daß er pfiff; nur der Tiroler, dem das Schießen von Kind auf im Blute lag, hatte den Vorderlader bekommen mit dem scharfen Befehl, erst dann zu schießen, wenn es nichts mehr [S. 209] zu verheimlichen gab und Not am Manne war. Sein Phlegma verbürgte, daß er die Ladung im Laufe behielt, wenn nicht der Feind früher schoß. Der nasse Heinrich trug die Fliegerbomben. Tikosch hatte ihm gesagt, daß sie erst acht Sekunden nach dem Aufschlagen zündeten, und zeigte ihm, wie man sie durch Schlag entzünden mußte. Dann hieß es kaltblütig bis fünf oder sechs zählen, und dann erst sorgsam werfen. Das hatten sie im Biwak geübt. Stürmte eine Übermacht auf sie zu und war für das Schnellfeuer der Browning zu stark, so bekamen sie ein paar »Knallzuckerl«, wie Tikosch seine Bomben nannte, zwischen die Beine. Das sollte auch auf der Brücke gelten, wenn die ganze Wache auf sie loskam; so kriegte die Brücke auch gleich was ab. Lief aber alles in Ruhe ab, so kam die große Sprengbüchse an den Pfeiler; das gab dann ungleich mehr aus.
[S. 210]
Sie bogen nun weit nach Süden aus; der Ort war überwunden.
Gegen die Brücke zu lief ein Bahndamm, und Tikosch hatte geplant, sich hinter dem Schutze dieses anzuschleichen und auf die Gelegenheit zu warten. Während sie hier die Telegraphenleitung mehrfach durchschnitten, kam ein fernes Hallen aus dem Norden, das sich an den Wäldern und Bergen links immer mehr verwirrte und verstärkte, und brachte sie zum Lauschen.
»Es ist ein Zug, der von der Donau herkommt; er muß in Trnawatsch sein,« sagte Tikosch. »Warten wir, bis er in Vrazograci eingefahren ist, und benützen wir ihn dann, um in seinem Schutze ganz nahe heranzukommen. Übrigens ist in Zajetschar Knotenpunkt, und kurze Zeit nach dem Donauzug wird einer von Zajetschar aus abgelassen. Das haben wir jedesmal gehört in diesen Nächten. Mit [S. 211] dem Donauzug pirschen wir uns an. Mit dem Zajetscharer Zug überrumpeln wir den Posten auf dem linken Ufer. Den auf dem rechten nähme ich gerne auch selber auf mich, denn das wird Arbeit für einen ungewöhnlich geschickten Kerl sein. Aber ihr könnt keiner die Sprengbüchse sachgemäß befestigen?«
Der scheckige Simon widersprach hartnäckig; den Posten am rechten Timokufer wollte er allein abtun, und zwar so stille, daß die in der Baracke gar nichts ahnten. Er hatte seinen Plan, und eine solche Zuversicht brannte in seinen Augen, daß Tikosch ihn gewähren ließ. Sie lauerten. Der schwache Mond trat dann und wann hervor und zeigte ihnen, daß wirklich zwei Posten auf der Brücke hin- und wiedergingen. Der vom linken Ufer, auf ihrer Seite also, ging stets ein Stück den Bahndamm entlang gegen Vrazograci, kehrte dann um und ging bis über die Mitte der [S. 212] Brücke, wo er sich mit dem andern Posten häufig traf. Sie schienen sich aber dort, in trägem Hinduseln, wenig mitzuteilen, denn oft machten sie schon dreißig Schritt voneinander kehrt und streiften dann jeder wieder seine eigene Partie ab. Auch geschah ihr Zusammentreffen auf der Mitte der Brücke durchaus nicht regelmäßig, sondern meist kehrte der eine um, wenn er den andern jenseits erscheinen sah. Aber gerade auf dieses Zusammentreffen gründeten Tikosch und der scheckige Simon ihren Plan.
Endlich grollte das schwache Donnern des Zuges von Norden heran. Seine Fenster waren fast gar nicht beleuchtet; es mußten viele Lastwagen darunter sein. »Da kriegen die Kerle wieder Fraß und Munition von Rußland über Rumänien,« sagte Tikosch grimmig. »Schade, daß wir nicht gleich den Zug mit ins Wasser sprengen können!« Der Eisenwurm kroch [S. 213] heran; langsam wurde das Rollen und Grollen stärker, ging in ein Donnern über.
Tikosch warf noch einen furchtbaren Blick auf den ahnungslosen Posten, der auf der linken Bahnseite stand. Ihm gegenüber war ein kleiner Busch, den sich Tikosch merkte. Er wußte, daß die Posten instinktiv stehenblieben, wenn ein Zug vorüberrollte, und diesen anstarrten. Durch das wenige Licht, das aus den Fenstern drang, mußte der Posten doch immerhin etwas geblendet werden, und wenn er die Stelle erreichte, ehe der letzte Wagen vorübergerollt war, so konnte er auf einen Erfolg rechnen.
Als daher der Zug herankam, sagte Tikosch: »Folgt mir, so schnell ihr könnt!«
Dann sprang er, auf die Dunkelheit und den Umstand bauend, daß die Augen des Lokomotivführers ans Grelle gewöhnt waren, empor, sobald ihn die Maschine erreicht hatte, [S. 214] und lief in einem geradewegs verrückten Tempo neben dem Zuge her, dessen Geschwindigkeit die eines frischen Radfahrers nicht übertraf. So überholte ihn der Zug nur langsam, wie er unten am Damme in der Dunkelheit dahinsprang, und der letzte Wagen kam eben an den Busch, als Tikosch diesen erreichte.
Wie ein Panther sprang der geschmeidige Offizier dicht hinter den Signallichtern des davoneilenden Zuges über den Damm und sah das beleuchtete Antlitz des Postens dem Zuge nachstarren; aber das war nur eines Blitzes Länge so. Denn im nächsten Augenblick hatte sich der rasend schnelle Ungar auf den emporschreckenden Mann geworfen, die eine Hand faßte nach der Kehle, die andere stieß zu — — lautlos fiel der Mann um, und über die ihn festhaltenden Hände des Offiziers, der noch einen Schrei befürchtete, sprang in heißem Strahle das Blut des Erstochenen.
[S. 215]
Tikosch rollte beinahe mit dem Fallenden den Bahndamm herunter, so schwer sank der hintenüber.
Dann, als er sah, daß der fremde Mann ein schmerzlos und angstfrei Ende gefunden hatte, glitt er wieder über den Damm zurück, wo die Gefährten eben ankamen. »Den einen haben wir,« sagte er atemlos, aber mit grausiger Sachlichkeit. Nun warteten und lauschten sie. Wenn auch nur ein Mensch im Zuge etwas von den Anspringenden gemerkt hatte, so blieb die Maschine jenseits der Brücke stehen. Dann hieß es nur schnell die Bomben werfen, damit wenigstens der Oberbau zertrümmert würde und die von drüben nicht nachkämen. Aber in ungemindertem Donnern rollte der Zug weiter gegen Veliki Izbor zu und verrasselte in der Ferne, wo die steilen Felsenufer der bulgarischen Grenze das Donnern hundertfach wiederholten.
[S. 216]
Aufatmend standen die viere. Nun kam aber das Schwierigste, und so spannend wurde jetzt die Szene, daß selbst das Herz des Offiziers zu jagen und tollzuwerden begann. Wie ein Jagdfieber ergriff es ihn, und er mußte mit aller Gewalt Herr dieser Erregung werden, die ihn schüttelte, während er dem Toten die Kleider auszog und dem scheckigen Simon hineinhalf. Grimmig lachend streckte sich der in der wilden, schmutzigen Tracht des Komitatschis, und wohlgefällig ergriff er das alte Mausergewehr des Gefallenen. Er erkannte gleich die deutsche Arbeit. »Da kenn' ich mich aus,« sagte er und schlug an den Verschluß. Dann sah er nach, ob die Büchse geladen war, nickte kurz und schritt langsam und hochaufgerichtet mit der ganzen trägen Würde des Orientalen, dessen Kleider er trug, auf dem Damme nach der Brücke zu. In entsetzlicher Angespanntheit folgten ihm, an den Damm [S. 217] geduckt, die drei andern, die eine ganze Weile nur Zuschauer sein durften; denn auf die Brücke konnte außer Simon sich keiner wagen.
Langsam, schauerlich langsam schritt der Deutsche auf dem Damme dahin, und Tikosch, der ihn am liebsten befeuert hätte, bewunderte dennoch klopfenden, jagenden Herzens die entsetzliche Fassung dieses Mannes, der ganz genau wußte, daß die geringste Eile Verdacht erregen mußte! In grausig träger Faulheit schlenderte der Mordgierige gegen die Brücke, kam an das Ufer, drehte sich faul und gelangweilt um, sah hinter sich, neben sich am Flusse hinab und schien gar nicht mehr von der Stelle zu wollen. Aber er wartete mit der Gespanntheit einer lauernden Katze auf den Posten von der andern Seite, der ebenso träge herankam und gar nicht auf die Brücke zu wollen schien. Und doch mußte er so weit wie möglich herüber!
[S. 218]
Endlich, als sein Kamerad so gar nicht aufhörte, in den Fluß zu schauen, kam er schlendernd und gleichgültig näher, und eine Welt von Zwecklosigkeit lag in seinem Todesgange. Denen an der Brücke brannten und kreisten die Augen, so fressend verfolgten sie ihn mit den Blicken. Und langsam schlenderte auch der falsche Posten in seinen Opanken vor sich hin; die beiden kamen sich in unerträglicher Gleichgültigkeit näher, näher. Nun waren es noch drei Schritt, und Simon brachte es zuwege, sein Gewehr, Kolben rückwärts, über die Schulter zu nehmen und sich über das Brückengeländer zu beugen. Da trat der fremde Posten neugieriger ganz nahe an ihn heran.
Die dreie sahen nur noch, wie der Gewehrkolben des Simon blitzschnell in die Luft fuhr und herniederzuckte. Das Krachen des furchtbaren Hiebes verschlang der rauschende Fluß, aber sie hörten es dennoch in ihrer entflammten [S. 219] Phantasie, so grauenhaft deutlich war ihnen alles. Und wie vom Blitz erschlagen lag der serbische Mann. Simon beugte sich noch über ihn, als die drei schon heranwaren, aber da gab es nichts mehr zu retten; der feindliche Posten war schon hinüber.
Mit schrecklicher Geschwindigkeit entwaffnete ihn Tikosch und gab Gewehr, Patronentasche und Bajonett an den Tiroler, der seinen Vorderlader nun an den Schullehrer abtreten mußte. Dann schwang sich der Offizier, der rasch ein Seil hervorgezerrt und an das Brückengeländer geknüpft hatte, über die Brüstung, um den Hals die große Sprengbüchse, und verschwand in der Nacht unter ihnen.
Atemlos lauschten die dreie nach der Baracke, und jede Minute kam ihnen vor wie eine Stunde. Wenn jetzt Ablösung herauskam! Der Schulmeister hielt in jeder Hand eine Bombe; nervös zuckten ihm die Arme, aber [S. 220] er wußte doch, was er zu tun hatte, wenn sie jetzt ertappt wurden. Ja, er ging sogar ein paar Schritt über den Brückenpfeiler hinaus, damit er nicht voreilig seinen Leutnant mit absprengte, wenn die von drüben sie anrannten. Und sie brannten ihre Blicke in die Nacht, lange, lange; dies Warten war zum Wahnsinnigwerden. Denn jetzt gab es nichts zu sehen wie früher; nur das Nichts belauschen konnten sie, das Nichts, aus dem jeden Augenblick der Tod auf sie zuspringen konnte.
Aber die Kerle drüben schienen zu schlafen, wie die ewige Gnade in dieser schaurigen Zeit!
Endlich, endlich kam Tikosch über den Bord der Brücke geklettert, keuchend quoll ein unterdrückter Triumphruf aus seinem aufgerissenen Munde. »Und jetzt hallo, zurück, die Lunte brennt! Brrr! Aber leise, husch, husch, es dauert eine ganze Weile, bis es knallt, und [S. 221] sie können noch dreimal herüber!« Und geduckt wie Katzen sprangen die Verschworenen den tödlichen Weg zurück, den sie gekommen waren, wichen dem Städtchen ostwärts am Flusse hinbiegend aus und traten dort, wo die Bahn wieder an die Krümmung des Timok schloß, ans Ufer. Gespannt horchten sie — nichts war. Da kam das Rollen des Zuges von Zajetschar, ganz ferne.
»Der Teufel, wenn die Zündschnur ausgelöscht wäre oder sonst was nicht in Ordnung ist!« flüsterte Tikosch. »Wir müßten zurück!«
»Ich kann nimmer,« keuchte der nasse Heinrich. »Das war zu viel!«
»Du wirst,« sagte Tikosch mit erschreckend tierischem Ausdruck in den Augen.
Er war wild geworden. Wenn der Sprengschuß nicht losging, dann war er in seiner sinnlosen Wut zu allem fähig.
[S. 222]
Der nasse Heinrich senkte sein Haupt und war wieder im Banne des starken und gefährlichen Kerls, der ihn mit seiner ganzen Gescheitheit umzudrehen vermochte wie der Riese ein Kind. Er biß sich im geheimen auf die Lippen, nahm sich vor, diese Gewaltnatur baldigst zu meiden und dann drüber nachzudenken, ob es ein Mittel des Geistes gegen derartige tyrannische Energien gäbe.
Aber mehr und mehr stieg sein Unbehagen, unter dem er sich wand und drehte, weil das Hinhorchen Tikoschens nach der Brücke sich jetzt gänzlich in Spannung und in einem schrecklichen Blick konzentriert hatte, den er auf den rebellischen Schwächling heftete. Dieser Blick drehte und bohrte an ihm wie etwas körperlich Wuchtendes.
»Siehst du, daß du mußt,« sagte der Leutnant mit einem unbeschreiblich teuflischen Hohn in der Stimme, als hätte er selber seine [S. 223] ungeheure Gewalt über dieses feine Gehirn erkannt. »Ich wußte schon seinerzeit, als ich dich das erstemal — — —«
Weiter kam er nicht. Ein leiser Schrei Simons, der die Feuergarbe an der Brücke emporfahren sah, unterbrach ihn. Dann kam ein furchtbarer Knall; er erschütterte die Nacht und wurde von einem wilden Triumphruf des Offiziers begleitet, der jetzt wie umgewandelt war. Er lachte, fiel dem nassen Heinrich um den Hals, schrie ihm zu: »Bruder, Bruder, sei gut!« Und dann rannten sie um Tod und Leben am Timokufer entlang, erst an der Lahn, dann ins Wasser springend und watend, soweit es die Ufer zuließen, die hier bald wieder steiler wurden. Der Fluß riß einen um den andern dahin, aber immer wieder warf Tikosch ihm den Strick zu, den er von der Brücke in merkwürdiger Geistesgegenwart noch losgeschnitten hatte, und [S. 224] rettete so erst den nassen Heinrich, der jetzt wirklich bis auf die Haut durchgeweicht war, und dann den Tiroler.
Als sie sahen, daß ihre Munition, deren sie jetzt sehr bedurften, auf diese Weise zu Schaden kommen müsse, bogen sie gegen Westen ab und kamen hinter Mala Jasikova wieder auf die Straße, ohne etwas von Verfolgern gesehen zu haben. Denn die drüben, welche glauben mußten, daß die Brücke von der bulgarischen Seite gesprengt worden war, hatten genug zu tun, um den Zug von Zajetschar her aufzuhalten. Man hörte sie brüllen!
»Wenn die Kerle Kavallerie haben, dann geht's heiß zu,« sagte Tikosch. »Aber zu fürchten ist auch dann immer noch nichts! Sie glauben uns ja doch am andern Ufer!«
Sogleich wollte der besonnene Simon auch hier die Telegraphenleitung durchschneiden, wie sie es an der Brücke getan hatten, aber [S. 225] Tikosch hinderte ihn daran. »Es wäre geradezu ein Wegweiser für unsere Verfolger,« sagte er. »Unsere Spuren, die sie ja wieder mit Hunden aufnehmen werden, führen an den Timok gerade an die Stelle, wo die bulgarische Grenze am nächsten ist! Da wir in den Fluß hinein sind, müssen sie glauben, wir haben uns hinübergerettet, und uns für eine bulgarische Bande halten, die sie nicht mehr weiter verfolgen können. Ich wette, es kommt niemand auf die Idee, daß wir ganz gemütlich im Lande gegen Negotin weitermarschieren!«
»Aber warum sind wir nicht gleich nach Bulgarien hinüber?« fragte der Schulmeister.
»Ich danke! Ich habe an einem neutralen Land, das uns festhalten kann, gerade genug und will nicht doppelte Grenzschwierigkeiten haben,« lachte Tikosch und trieb seine Gefährten zu einem Gewaltmarsch an, bei dem ihre durchnäßten Kleider bald wieder [S. 226] trocken und ihre Körper warm wurden. So wanderten sie in einem Tempo, das nur abgehärtete Walzenbrüder zu ertragen vermochten, mit beinahe sechs Kilometer in der Stunde die ganze Nacht.
Eine Stunde vor Mitternacht war die Brücke in die Luft geflogen, und mit Anbruch des Tages, der in diesen Herbstzeiten erst lange nach fünf Uhr zu grauen begann, kamen sie hinter Salasch in ein Hügelland, in dem die Straße stark zu steigen begann. Bisher waren sie durch fruchtbares und angebautes Land gewandert, immer flugs im Straßengraben, sooft ein einsamer Nachtwanderer oder ein Wagen nahekam; jetzt wurde das Land öde. Links von ihnen zogen sich noch Felder und Viehweiden gegen Sikale hin, rechts begann aber der Wald, und das Gebirge, durch dessen Paß die Straße sich wand, mochte immerhin schon als Bergland gelten. Der große Wald [S. 227] rechts an der Straße war der letzte auf ihrem Wege; denn bis über Negotin und an die Donau hin gab es außer Fruchtland nur Sümpfe und bestenfalls Auen. So beschloß Tikosch, hier den Tag zu verschlafen, und die drei Vagabunden wollten im nächsten Dickicht schon hinfallen, so müde waren sie.
Tikosch, der auch ein Gefühl hatte, das ihn antrieb, am liebsten auf dem Bauche weiterzukriechen, hielt sich mit übermenschlicher Gewalt aufrecht. »Es ist der letzte Tag auf serbischem Boden,« redete er den Erschöpften zu; »wenn sie uns heute entdecken, ist alles verloren! Es heißt, alle Kräfte zusammenraffen und eine große, undurchdringliche Dickung suchen, wie die, an welche wir gewöhnt waren, und die uns ganz sicher schützte.« Und er trieb sie wieder auf, bis sie an einem ganz mit Brombeerdorn verwucherten Schlag eine niedrige, wildverworrene Waldstelle fanden, [S. 228] in die Tikosch den Weg mit Messer und Standhauer bahnen mußte. Denn seine Kerle waren dazu außerstande und warfen sich gleich auf die Erde hin, um zu schlafen.
Als Tikosch ihnen inmitten des Jungholzes, das hier aus Buchen und Eichenhorst bestand, ein Nest geschaffen hatte, trug er die Waffen und die ganze ärmliche Habe der dreie hinein und entzündete aus trockenen, kurzen Holzstücken eines jener kleinen Feuer, die beinahe gar nicht rauchen. Dann bereitete er ein tüchtiges Frühstück und weckte erst jetzt seine drei armen Teufel, die zuerst nur immer weiterschlafen und gar nichts essen wollten, bis der nasse Heinrich am Dufte des Tees merkte, daß das ein Grog war, wie man ihn an der Nordsee braut: bei dem das Wasser nur die Rolle einer verschämten Anstandsdame spielt. Da riß er durch seine Begeisterung die beiden andern hin. Diese griffen jetzt auch nach dem [S. 229] auf einem Spieße gebratenen Fleische vom letzten Rehbock, den Tikosch hatte schießen können, und so trocken das an der Sonne Gedörrte auch war, es schmeckte jetzt. Erst als Tikosch sie wieder satt, erheitert und ganz bei Kräften sah, ließ er sie weiterschlafen, warf sich selber hin und schlief auch schon während der Überlegung, ob es sich auf der andern Seite nicht noch behaglicher läge, ein.
Den ganzen sonnigen Tag raunzten die viere so dahin. Gegen Nachmittag streckte sich einer, gähnte und suchte nach Futter; die andern folgten ihm und aßen, was ihnen noch geblieben war: geröstete Maronen, Speck und kalten Braten, und tranken den letzten Wein, den Heinrich gestohlen hatte. Dann schliefen sie wieder weiter. Nur Tikosch sah sich die Karte an und berechnete den Weg, den sie um das dichtbesiedelte Negotiner Gebiet zu umschlagen hatten, um an die Donau [S. 230] zu kommen, ohne gesehen zu werden. Denn ihre Vorräte waren zu Ende, und die nächste Nacht mußte sie auf rumänischem Boden finden.
Dieser Nachtmarsch durch Sümpfe und Auhölzer, oft bloß den Sternen und dem Kompasse nach, war trotz seiner geringeren Länge von kaum dreißig Kilometer der anstrengendste, den sie bisher durchgemacht hatten, und obwohl die viere schon nach Einbruch der Dunkelheit aufgebrochen waren und über zehn Stunden Nacht vor sich hatten, so war schon ein ungewisses Licht über der Ebene des Ostens, als sie an dem riesigen Strome anlangten, wo sie lange, lange in steigender Verzweiflung nach dem Boote suchten, ohne es zu finden. Keiner erkannte die Gegend, so düster, neblig und ungewiß war alles.
Der Fluß wurde graulich, und immer noch hatten sie kein Boot. Da sagte Tikosch entschlossen: »Jetzt gehen wir so weit, bis wir [S. 231] eines zu rauben oder zu stehlen finden. Wir müssen einfach drüber, und wenn's knallen sollte. Herrgott, ich würde für einen ordentlichen Kampf dankbar sein!« Und ohne sich um die verdutzten Gesichter seiner Genossen, die sich schon sicher gefühlt hatten, zu kümmern, schlug er den Weg nach dem Orte Prahovo ein.
Es war die höchste Zeit, denn die Gegenstände am Ufer wurden schon ungewiß und verwaschen sichtbar. »Es muß ein Zollhaus oder sonst was dort im Dorfe sein; da nehmen wir gleich das offizielle Kriegsboot der Finanzwache weg! Haha!«
Und wirklich: gleich am Beginne des Ortes lag eine kleine Lehmhütte, die das serbische Wappen trug. Eine elende Holztreppe führte zur Donau hinunter, und dort lagen, undeutlich zu sehen, zwei Boote. Tikosch rannte hin. Besinnungslos, und so schnell er konnte, [S. 232] stürzte er den Abhang hinab und mußte nun auch die Arbeit allein tun, die er hier fand. Denn er prallte gerade mitten unter ein halbes Dutzend von Zollwächtern, die eben auf ihre Boote zukamen, um flußabwärts zu streifen. Ohne Besinnung riß er den Browning heraus und schoß auf die schattenhaft sichtbaren Gestalten, indem er so scharf zu zielen versuchte, als es nur möglich war. Einer fiel, ein zweiter wankte, die andern schrien auf und schossen blindlings vor sich hin. Tikosch hatte sich sogleich auf die Erde geworfen und schoß, die Pistole auflegend, mit noch mehr Besonnenheit nach einem dritten der nebelgrauen Männer, der auf ihn zugestürzt war. Lang hinschlagend schmetterte auch der zu Boden, und jetzt kamen mit Hurra und Donnerwetter die drei Strolche hinterher; die Finanzer prallten zurück und verschwanden im Morgennebel. Mit rasender [S. 233] Geschwindigkeit durchschnitt jetzt Tikosch die Stricke, die beide Boote hielten, trieb seine Gefährten hinein und stieß ab, indem er das andere Boot hinter sich herzog.
Die dreie ruderten verzweifelt in das träge Grau des Stromes hinaus, und vom Ufer her knallte und prasselte es kopflos und wütend ins Graue hinein. Der Nebel verbarg die Flüchtlinge; aber da die Wache nach dem Schlagen der Ruder die Richtung vermuten konnte, so sauste und heulte es in bedenklicher Nähe dicht um sie. Alle Augenblicke sprühte ein Wasserschlitz neben ihnen dahin, wenn ein Geschoß den Fluß streifte. Der nasse Heinrich, der das zweite Boot zu halten hatte, ließ es los. Dann wurde es stiller. Sie fahndeten dort drüben jetzt offenbar nach dem anderen Boote.
Tikosch hatte das zwecklose Feuer gar nicht erwidert, um den Gegnern nicht die Richtung, [S. 234] in der sie hielten, noch deutlicher anzugeben. Jetzt packte er selber ein Ruder und stemmte sich dagegen, daß es beinahe brach. Mit leisen Rufen eiferte er seine Gefährten an: »Hallo, wacker! Die Donau ist hier mindestens ein Kilometer breit, und wir können sie nur schräge durchrinnen! Das braucht eine halbe Stunde, aber es muß eine Viertelstunde draus werden! Nasser Heinrich, du Lump hast das Boot losgelassen? Zieh an, zieh an! Was hast du denn?«
»Ich weiß nicht,« sagte der Vagabund ängstlich; »mich hat's da vorn an die Brust geschlagen, und jetzt wird mir so warm an der Stelle.«
»Kreuz Teufel!« rief Tikosch leise und sprang zu ihm hin. Er riß ihm Rock und Hemde auf und sah, daß der verlaufene Schulmeister mitten durch die Brust geschossen war. »Rudern, rudern, wie die Teufel,« drängte er, [S. 235] und nachdem er den Ärmsten, der sich gar keiner Gefahr bewußt schien, notdürftig verbunden hatte, griff er selber zum Ruder.
Aber es schien, als führen sie ins Endlose, ins Nebelreich ohne Trost und Hoffnung hinein! Dieser Weltenfluß war wie ein großer See, und kaum eine leise Strömung zeigte die Richtung, wohin er wollte.
Der Verwundete wurde blaß; aber als Tikosch ihn fragte, ob er Schmerzen hätte, lächelte er ungemein gütig und trostreich und schüttelte den Kopf. Nur daß er mit dem Atem Beschwerden hatte, war deutlich. Und die dreie bissen die Zähne aufeinander und ruderten und ruderten.
Der Morgen wurde klarer, die Nebel trieben hier- und dorthin, und wenn sie einen Augenblick die Ferne preisgaben, sahen die Flüchtlinge große Segelschiffe wie Geisterbriggs auf den Wassern schweben, geräuschlos, [S. 236] verschlafen und unbelebt. Endlich hörte selbst die leise, unmerkliche Strömung auf, die sie bis hier abgetrieben hatte, und Tikosch sah graulich die Bäume des andern Ufers. »Rumänien!« rief er.
Der nasse Heinrich lächelte noch immer. »Hier werde ich von euch Abschied nehmen,« sagte er leise. »Ich muß diese dumme Wunde ausheilen, dann aber gehe ich nach Süden. Ich mag nichts zu tun haben mit den Händeln der Menschen. Ich bin vielleicht ein Egoist; aber wer wie ich den alten Göttern so nahe in die unsterblichen Augen geschaut hat, der kann nie und nimmer zu den Märkten, zum Gewinn und — — — und solchen Dingen zurück. In Griechenland wird mich die Sonne heilen. In Griechenland wird mir mein Onkel Boreas seine schönste Musik machen, die ich so gern habe, und ich werde dabei schlafen wie ein Kind, ohne daß ein Leutnant mich [S. 237] anschnauzt. Na, nichts für ungut. Ich habe mich ja doch für einen armen Schulmeister brav genug gehalten.«
Tikosch drückte ihm die Hände; dann stießen sie, unverfolgt und in großer Stille, an das Ufer, und der Leutnant trug den Wunden mit behutsamen Händen auf den Grasboden der Au. Hinter den Bäumen glänzte es feurig empor, die Sonne, die neue Sonne ging auf, unter der sie frei waren und wieder am Tage leben durften, sie alle, bis auf den einen.
Der sprach noch einige undeutliche Worte, man möge ihn zudecken, es würde frostig; dann murmelte er etwas vom feurigen Phöbus, riß seine Augen groß auf, drehte sich neugierig nach dem Morgenrot und starrte so lange hinein, bis seine Pupillen ganz groß wurden, trotz der blendenden Glut. Die Augen nahmen den Ausdruck ungeheurer Neugier und Spannung an und blieben selbst, als der [S. 238] Körper mit einem kleinen Rückchen in sich zusammensank, eine ganze Weile so, bis Tikosch merkte, daß sie wesenlos geworden waren.
»Nach Griechenland,« sagte Tikosch wehmütig. »Jetzt ist er nahe beisammen mit seiner Natur und seinen alten Göttern. Sonne, Wind und Wald!« Und er griff seufzend nach seinem kleinen Infanteriespaten und begann das Grab zu schaufeln.
[S. 239]
[S. 240]
Auf der Gerebenczer Pußta stand das neue Flugzeug des Oberleutnants Tikosch klar zum Aufstieg. Ein Generalstabsoffizier saß schon im zweiten Sitz und breitete seine Karten vor sich aus. Tikosch sah seinen Ettrich-Flieger noch einmal in allen Teilen sorgsam durch, dann ließ er es sich nicht nehmen, selber den Motor anzuwerfen. In diesem Augenblick trat ein Mann in der Uniform des deutschen Skutaridetachements, jedoch mit der großen silbernen Tapferkeitsmedaille geschmückt, auf ihn zu, machte stramm Stellung und sagte: »Ich wollte dem Herrn Oberleutnant nur Glück zu seinem Fluge wünschen und mich vor Abschied gehorsamst für die schöne Eingabe über mich bedanken, der ich die Medaille verdanke.«
Einen Augenblick starrte Tikosch, der schon ganz bei seinem Fluge gewesen war, den Khakibraunen verständnislos an, dann aber schrie er lachend heraus: »Ja, Simon, scheckerter Simon, was machst denn du in der Maskerad?«
»Ich melde gehorsamst, Herr Oberleutnant, die ist von einem Gefallenen des deutschen Detachements, und ich liefere sie gleich auf meinem Leibe nach der Heimat zurück ab. Ich bin telegraphisch angenommen worden, und Herr Oberleutnant werden verstehen, daß ich doch lieber an der Seite der eigenen Leute gegen unsre vollen Franzosen gehe, als hier gegen diese Mistkerls.«
»Du, Mistkerls sind die Serben gerade nicht,« sagte Tikosch. »Sie schlagen sich wie [S. 241] die Teufel. Aber du willst natürlich besser verpflegt sein, du alter Lump! Glückliche, ihr da droben in den Weingärten der Champagne! Unsere armen Kerle da fressen seit Wochen rohen Kukuruz und sonst nichts. Wenn du zu deinen Kameraden hinauf kommst, erzähl' ihnen von unsern stillen Tagen im Dickicht! Weißt du, warum es damals gar so einsam in der Negotiner Gegend war? Die Timokdivision hat gerade damals den Vorstoß nach Österreich gemacht, und während wir die Brücke bei Zajetschar gesprengt haben, ist sie mit Putz und Stengel von den Unserigen aufgerieben worden. Und jetzt geht's nach Serbien hinein, aber schon ordentlich! Leb' wohl, Simon, grüß' mir die deutschen Brüder und sag' ihnen, daß wir da herunten noch nie gewichen sind!«
Er stieg in das Flugzeug. Seine letzten Worte mußte er schreien, denn der donnernde [S. 242] Motor verschlang jeden anderen Ton. Das Flugzeug zitterte unter seinen Vibrationen, Simon sprang zur Seite, denn der Vogel begann zu laufen, erhob sich leicht wippend in die Lüfte und kreiste empor. Tikosch war wieder in seinem Element. Trunken vor Glück zog er die scharf entgegenpfeifende Luft ein; das viele Licht des herrlichen Oktobertages machte ihn wie toll. Und als er, hoch in den Lüften, ganz klein geworden war für die vielen, die ihm von der Erde her hoffnungsreich nachsahen, lenkte er den Kurs über die Donau ins Serbische hinein, für den Plan des großen Angriffes, den die Österreicher auf die wankenden Mordbrüder zu machen gedachten, klaren Tisch zu schaffen.
Als sie von Pozarewatsch gegen Palanka flogen, immer von Kugeln umschwirrt wie von lästigen Fliegen, lachend in ihrer sicheren Höhe, da zeigte Tikosch dem Generalstabshauptmann [S. 243] links vor sich die kahlen Höhen des Lissatz.
»Schau, dort hinüber; hinter diesen höchsten Waldbergen, das ganz Blaue, das ist die Golobinje Planina und der Stol. Dort bin ich aus der Luft gefallen und hab' dem wilden Wald so recht alle Geheimnisse abgucken müssen, damit ich nur hab' leben können. Wie Robinson hab' ich mir alles selber machen und einlernen müssen. Du! Denn wenn sie mich erwischt hätten, ich wär' massakriert worden. Du, hast du auch schon philosophische Anwandlungen g'habt?«
»Ja,« schrie der Generalstäbler, was er konnte; denn der Motor donnerte gar zu prächtig.
»Ich noch nie,« sagte Tikosch, »aber dort oben bin ich ins Grübeln 'kommen. Weißt du, eine Zeit hab' ich die Leut' beneidet, die so mit einem recht gescheiten Schädel auf die [S. 244] Welt 'kommen sind und jetzt ihr Leben dazu benützen, um nachzudenken, was mit allen diesen Verrücktheiten, die wir erleben müssen, gemeint sein könnt'! Alsdann: da oben im Wald sind auch mir solche Gedanken gewachsen. Du, und ein Mädel hab' ich dort kennen gelernt, schön und g'scheit wie eine Göttin! Aber im Grund genommen war sie doch eine Gans. Denn wozu ist das Weib auf der Welt, als seine Armerln unsereinem um den Hals zu legen? Also, das hat sie nicht wollen, auch bei keinem andern. Ich hab' damals schon geglaubt, ich bin keinen luckerten Kreuzer wert. Fazit: das Denken entnervt und nimmt einem sein Selbstvertrauen; der Mensch soll nicht denken!«
»Hast recht! Zu große Gescheitheit ist immer das End',« schrie der Generalstäbler fröhlich zurück. »Das Volk, das am festesten an irgendeiner Nationaldummheit hängt, lebt [S. 245] am längsten. Erfinden wir für Deutschland und Österreich einen Spezialjehova. He, he, wo fliegst denn hin?«
»Herr Hauptmann, ich nehm' Richtung auf das Hügelland im Westen. Ist das da unten Palanka?«
»Noch weiter nach Süden,« rief der Hauptmann. »Wir müssen uns in Kragujewatsch umschauen!«
Eine Schrapnellsalve platzte; rings um sie pufften die gelben Wölkchen. Tikosch lachte.
»Herrgott,« rief er, »müssen sich die Kerl' unten ärgern, daß sie uns nicht herunterkriegen! Jede Kugel, die sie uns schicken, ersparen wir einem von unsern Bakas! Schießt's, was ihr habt's, herauf und geht's betteln!«
Die Tragflächen wurden da und dort durchlöchert, aber selten. Und wie berauscht, daß sie im feindlichen Feuer, siegreich wie Adler und lachend über den Grimm der Tiefe, [S. 246] ihren stolzen Zug über das Himmelsblau schrieben, saßen die beiden kühnen Männer; der eine über seiner Karte notierend und kurze Weisungen nach vorne rufend, die der andere jedesmal mit einer neuen graziösen Kurve ausführte, die Hand am Steuer, den Blick fest und fröhlich, alle Sinne gespannt, alles auf einen Punkt gerichtet.
Auf einen Punkt!
Ganz, ganz anders als dort oben, in den gotteseinsamen Wäldern des Stol, wo der Geist sich ins Grenzenlose breiten wollte und zu verzagen begann! Kein Philosoph: Nein! Aber ein Mann der Tat! — — —
[S. 247]
In der Sammlung der » Ullstein-Bücher « erschienen ferner von
Rudolf Hans Bartsch
Elisabeth Kött
Der Aufstieg einer begnadeten Schauspielerin aus den Tiefen des Volkes zu den Höhen der Kunst und der Gesellschaft — eines der reifsten und reichsten Werke des berühmten österreichischen Dichters.
Der letzte Student
Ein buntbewegtes Bild von dem Achtundvierziger Revolutionsjahr in Wien. Meisterhaft hat Bartsch es verstanden, die Stimmung jener welthistorischen Zeit wiederzugeben.
Jeder Band 1 Mark
[S. 248]
Von Rudolf Hans Bartsch
erschienen im Verlag von L. Staackmann, Leipzig :
Frau Atta und der Jäger. 18. Tausend | broschiert M. 4.-- |
-- gebunden in Leinen | " 5.-- |
-- gebunden in Halbpergament | " 5.50 |
--gebunden in Leder | " 7.-- |
Die Geschichte von der Hannerl u. ihren Liebhabern. 25. Taus. | broschiert M. 5.-- |
-- gebunden in Leinen | " 6.-- |
-- gebunden in Halbpergament | " 6.50 |
--gebunden in Leder | " 8.-- |
Schwammerl. 40. Tausend | broschiert M. 4.-- |
-- gebunden in Leinen | " 5.-- |
-- gebunden in Halbpergament | " 5.50 |
--gebunden in Leder | " 7.-- |
Das deutsche Leid. 33. Tausend | broschiert M. 5.-- |
-- gebunden in Leinen | " 6.50 |
-- gebunden in Halbpergament | " 7.-- |
--gebunden in Leder | " 8.-- |
Bittersüße Liebesgeschichten. 23. Tausend | broschiert M. 4.-- |
-- gebunden in Leinen | " 5.-- |
-- gebunden in Halbpergament | " 5.50 |
--gebunden in Leder | " 7.-- |
Vom sterbenden Rokoko. 30. Tausend | broschiert M. 3.50 |
-- gebunden in Leinen | " 4.50 |
-- gebunden in Halbpergament | " 5.-- |
--gebunden in Leder | " 6.50 |
--mit farbigen Lithographien von Hugo Steiner-Prag. Ausgabe A in Halbleder gebunden (in Karton) | " 20.-- |
Die Haindlkinder. 23. Tausend | broschiert M. 4.--- |
-- gebunden in Leinen | " 5.-- |
-- gebunden in Halbpergament | " 5.50 |
--gebunden in Leder | " 7.-- |
Zwölf aus der Steiermark. 39. Tausend | broschiert M. 4.-- |
-- gebunden in Leinen | " 6.-- |
-- gebunden in Halbpergament | " 6.50 |
--gebunden in Leder | " 7.50 |
»Seine Bücher sind alle jung ..., von einem starken Gefühl für das Gesunde, von einer freudig genießenden Vitalität erfüllt und darum so herzerfrischend, wie wenige Bücher unserer Zeit. Wir können, mögen sie heute nicht mehr entbehren, ... sie sind Dokumente reinen, gütigen Menschentums.«
Reclams Universum.
[S. 249]
Ullstein-Bücher
Vier vaterländische Romane
Sturmzeichen
Ein Roman von der deutsch-russischen Grenze von Richard Skowronnek
Packende Bilder, die wie eine Vorahnung des hereingebrochenen Krieges wirken, zeigen die todesmutige Bereitschaft der deutschen Truppen zur Abwehr der russischen Soldateska und ihrer Kosakenhorden. Ein aus der Begeisterung geborenes Werk, eine prächtige Schilderung unseres gegenwärtigen nationalen Daseins.
Lieb Vaterland
Roman von Rudolph Stratz
Die Geschichte einer jungen Frau, die, von den Stimmen der Fremde betört, durch den Schmerz einer großen Enttäuschung zu sich selbst und zur deutschen Heimat zurückfindet. Das Werk ist der Roman des seiner Ehre und Größe bewußten Deutschtums.
Ein Winterlager
Roman von Franz Adam Beyerlein
Tragische Vorgänge von wilder Größe spielen sich in der von Kosaken heimgesuchten Neumark ab, und inmitten der schweren Not des Siebenjährigen Krieges erfüllt sich ein leidenschaftlicher Liebeskonflikt. Dieser Roman Beyerleins ist ein Brevier des aufrechten, einer Welt von Feinden trotzenden Preußengeistes.
Der Krieg im Dunkel
Ein Spionage-Roman von Ludwig Wolff
Das Werk ist ein groß angelegtes, überwältigendes Zeitbild. Es stellt Österreichs Völker und Menschen am Vorabend des Krieges dar, die geheime Wühlarbeit Rußlands und die heroische Abwehr. Ein tragisch gefestigtes, stolzes Vaterlandsgefühl atmet aus diesem Roman.
Jeder Band 1 Mark
[S. 250]