The Project Gutenberg eBook of Sonderlinge

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Title : Sonderlinge

Author : Peter Rosegger

Release date : March 5, 2025 [eBook #75532]

Language : German

Original publication : Leipzig: L. Staackmann Verlag, 1922

Credits : Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SONDERLINGE ***

Anmerkungen zur Transkription

Der Text wurde in Fraktur gesetzt, Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden. Worte in Antiquaschrift sind " kursiv " dargestellt.

Das Inhaltverzeichnis ist an den Anfang des Textes verschoben worden.

Sonderlinge

Von


Peter Rosegger


Achtundzwanzigste bis zweiunddreißigste Auflage

(Der neubearbeiteten Ausgabe elfte bis fünfzehnte Auflage)


signet

1922

L. Staackmann Verlag Leipzig


Alle Rechte vorbehalten

Druck von C. Grumbach in Leipzig.



Inhalt.

Seite
Vorwort 5
Karl der Große 7
Der Fischer im Olymp 18
Der Geistbrenner 32
Der ordentliche Augustin 42
Meister Sani 51
Der falsche Himmelträger 59
Der unglückliche Kammerdiener 68
Die Einsiedler 76
Ein Wildling Christi 90
Der mißratene Evangelist 109
Der alte Adam 121
Der Säemann 130
Der scheltend' Schuster 136
Herr Trotzkopf, der Heiratsbeflissene 142
Der Samer-Sim 150
Der Zillacher-Anderl 155
s' Guderl 162
Der Figurlmacher 182
Der junge Geigenspieler 192
Der singende Schabelwirt 209
Das reiche Waldschulmeisterlein 224
Der Orgler zu Sankt Thomas 241
Der Naturfreund 247
Der lange Rauk 258
Hans Johanns Hauptsache 269
Der Himmelherrgottswirt 279
Herr v. Florin 289
Der Steinschädel 300
Der Feuermann Balthasar 309
Herr Meyer, der Belehrende 317
Ein Mann, ein Wort 327
Hauptmann Alles 339
Die Tafelrunde der Berühmten 348
Der Mann mit den dreizehn Talern 361
Der glücklichste Mann von Graz 401
Der Waldteufel 405

[S. 5]

Vorwort.

Wenn man die Menge betrachtet, sind fast alle Leute gleich. Und wenn man in den Einzelnen schaut, ist fast jeder ein Original. Man soll auf allen Bäumen der Welt ja nicht zwei Blätter finden, die ganz gleich sind, und im unermeßlichen Menschenwald ja nicht zwei Gesichter, die in gar nichts verschieden wären. Jeder Mensch existiert nur in einem einzigen Exemplar.

Ganz so sind die Sonderlinge dieses Buches nicht gemeint. Das sind vielmehr wunderliche Charaktere, durch Naturanlage, äußere Verhältnisse, besondere Weltanschauungen und Leidenschaften so gebildet. Bevorzugt habe ich die Harmlosen, Humorvollen, Gut- und Edelherzigen, besonders die froh verzichtenden Weltabweisenden, die meine Lieblinge sind. Aber es gibt auch finstere, dämonische Gesellen darunter; dann solche mit genialer Begabung und solche, die im Volk »halbe Narren« genannt werden, weil sie ganze Weise sind. Oft auch Menschen, die ihren Beruf verfehlt haben, oder die so eckig sind, daß sie sich in keinen einordnen lassen. Solche grollen dann gerne mit der Welt, führen ein verkümmertes, wunderliches Dasein. Manche machen sich aus Kleinlichkeit ein absonderliches Leben, manche aus Weltüberlegenheit.

Gefunden habe ich derlei Leute nicht, denn ich habe nie nach ihnen gesucht. Auf langem, reichlich gewundenem Lebensweg und mit einem Auge für innere Eigenarten begegnet man ihnen auch so. Manche, die Plaudersamen, sich selbst Ausspielenden machen es einem leicht, sie zu fassen; nur darf man sich nicht zu sehr foppen lassen. Dann hängt [S. 6] man ihnen gern einmal ein anekdotisches Mäntlein um. Etliche sind mir bloß erzählt worden und ein paar sind mir im Traume untergekommen, weniger aus der Umwelt, als aus mir selbst hervorgegangen.

Und so ist eine wunderliche, gemischte Gesellschaft zusammengekommen, die sich gewiß nirgends anders als im duldsamen Buche miteinander vertragen würde.

Der Verfasser.



[S. 7]

Karl der Große.

Karl Oberbergbreitebner war so groß, das der Witz seiner Dorfgenossen zwei aus ihm machen wollte, einen Langen und einen Dicken. Wäre noch auf einen Dritten etwas übrig geblieben, so hätte ich für einen Klugen gestimmt. Karls Gehirn war entweder so klein, wie bei einem Huhn, oder so groß, wie bei einem Büffel. Doch hatte er sein Lebtag nie etwas Dummes gesagt, denn er sprach nicht viel, hatte nie etwas Albernes gedacht, denn er dachte nicht, er handelte bloß. Er hätte aber auch das tollste Zeug schwatzen können, seine Körperstärke war so groß, daß er kaum viel Widerspruch erfahren haben dürfte. Zwei derbe Arme sind eine doppelte Beweisführung.

Karl war der Sohn des Dorfschneidermeisters, hatte das ehrwürdige — nein, das ist zu viel — das ehrsame Handwerk des Vaters gelernt und ging mit diesem, einem kümmerlich kleinen und hageren Männl, auf der Ster um, von Hof zu Hof. Seit sein Karl groß geworden war, konnte das Meisterlein die entlegensten Höfe auch zur Winterszeit bei Schnee und Sturm besuchen. »Pack mich, Karl!« sagte er, und Karl nahm ihn auf den Rücken oder unter die Achsel und trug ihn gemächlich bergauf und talab; doch mußte der kleine Alte dem großen Jungen fortwährend den Weg zeigen. Karl konnte nicht Kleider anmessen, nicht zuschneiden, überhaupt selbständig nichts fertig machen. »Das nähe!« sagte sein Vater, und er nähte es, aber auch um keinen Stich mehr und keinen weniger. »Das bügle!« sagte sein Vater, und wenn er ihm eine lebendige Katze hingehalten, so hätte er sie gebügelt. Wozu das Nähen und wozu das Bügeln? [S. 8] Ich glaube nicht, daß Karl jemals auch nur im Gedanken danach gefragt hatte. Warum auch?

Aber die Leute schätzten seinen Wert. Wenn irgendwo ein großer Holzblock zu schleifen, ein schwerer Stein zu wälzen oder eine Kohlentracht zu schleppen oder eine andere Last zu bewältigen war, so schickte man nach dem Schneider.

Da kam eines Tages eine Stadtherrschaft ins Dorf gefahren, mit der Absicht, den Hochstandel zu besteigen. Nun war aber der Hochstandel ein stattlicher Berg und die Dame der Herrschaft eine stattliche Frau, ein Gleich und Gleich, das sich nicht gerne gesellt. Ein alter, magerer Herr und die zwei munteren Töchterlein waren mutig, die stattliche Frau jedoch ließ Umfrage halten nach einem Wagen, um auf den Hochstandel zu fahren. Wägen leide der Berg nicht, wurde ihr gesagt; Maultiere, Esel oder dergleichen zum Reiten seien auch nicht vorhanden, hingegen lebe im Orte ein Schneider, der die Stelle genannter Vierfüßler recht gern übernehme und die Frau auf den schönen Berg tragen wolle. — Ein Schneider! Die vierfältige Herrschaft rümpfte ihre Nasen, ließ aber doch den Mann holen. Der erschien mit seinem riesigen Kohlenkorbe, dessen Boden er mit Reisig bedeckt hatte, so daß ein gar einladendes Nest ward. Als ihm dargetan ward, um was es sich handle, nahm er zuerst den großen Pack mit Eßwaren, legte ihn hinein, dann nahm er ohne Umstände die Dame und hob sie in den Korb; nahm hierauf eines der Fräulein und hob es in den Korb, nahm hernach das andere Fräulein und hob es in den Korb. »So,« murmelte er, »jetzt tut sich's, jetzt brauch ich nur noch etwas zum Festkeilen.« Nahm auch den alten Herrn her und steckte ihn zu seiner werten Familie in den Korb. Dann packte er sich die ganze Bergpartie auf den Rücken und stieg langsam an.

[S. 9]

Die beiden Stadtfräulein gehörten zur Gattung der Backfische, sie fürchteten sich daher gleich anfangs vor dem Riesen und hatten Angst davor, daß er sie unterwegs ermorden würde. Das Ungetüm zeigte sich jedoch überraschend harmlos, es ging mit dem Rückkorbe sachte den sonnigen Hang hinan und pflückte Erdbeeren. Ohne mündliche Artigkeiten warf er zwei Erdbeersträußchen hinter sich in den Korb. Die Fräulein verstanden das so, als sollte es für sie eine kleine Aufmerksamkeit sein, sie naschten daher die Beeren von dem Strauß und überlegten jedes für sich, ob man sich in diesen gewaltigen und doch so netten Mann nicht verlieben könne? Mittlerweile wimmerte die Frau Mama in ihrer Einpfropfung und der Herr Papa hielt eine Vorlesung über die Naturkraft.

Nach drei Stunden waren sie dort, wo es nach allen Seiten abwärts geht, und wo man stehen muß, wenn man nachträglich will sagen können, wir standen zweitausend Meter hoch über dem Meere. — Karl Oberbergbreitebner ging immer vorwärts, als ob er ohne Säumen in die freien Lüfte weiter steigen oder ohne weiteres auf der anderen Bergseite wieder hinabgehen wollte. Die Bergpartie im Korbe mußte ihm ein vierfach donnerndes Halt! zurufen, bis er stehen blieb. Also stellte er den Korb auf das Gestein, die Insassen stiegen mit vieler Umständlichkeit aus und rieben sich die Beine. Während Karl zurückblieb beim Korb, suchte die Herrschaft den schönsten Aussichtspunkt, und das würdige Oberhaupt erklärte die Fernsicht. Sie wäre furchtbar hübsch, erklärte Frau Mama, während die Fräulein auf Steinblöcken saßen und auf Ansichtskarten kritzelten, wie das reizend gewesen wäre auf dem Hochstandel, ein junger schöner Mann habe sie alle zusammen hinaufgetragen, oben hätten sie dann die Aussicht angesehen und einen guten, reichlichen Imbiß eingenommen.

[S. 10]

Auch Frau Mama erinnerte sich daran, daß es Zeit wäre zum Imbiß, und sie riefen den Karl, der hinter einer Felswand gelegen war, daß er mit dem Korbe herüberkommen solle. Karl kam mit dem Korbe herüber, aber es war nichts drinnen, als Reisig.

»Wo ist der Pack mit den Speisen?« fragte die Dame.

Karl schaute sie mit einigem Befremden an und antwortete: »Der Pack? Der ist nicht mehr.«

»Um Gottes willen, er war ja im Korbe!«

»Ich habe ihn herausgetan,« sagte Karl.

»So hole ihn!«

»Er ist halt nicht mehr.«

»Was ist mit ihm geschehen?«

»Weiter nichts,« antwortete Karl, »aufgegessen habe ich ihn.«

»Ungeheuer!« Ein vierfacher Schreckensruf war's, gräßlich genug, daß Karl der Große vor Grauen umfallen konnte; aber er stand. Ganz ruhig und schlicht stand er da und blickte so treuherzig drein, als ob nichts geschehen wäre.

Die Fräulein fielen den Eltern um den Hals und riefen: »Vater! Mutter! Wir müssen Hungers sterben auf diesem Berge!«

Nun war Karl schier verzagt und meinte, er habe nicht gewußt, daß das Essen für die anderen wäre. Sie sollten aber nur rasch wieder in den Korb steigen, daß er sie hinabbringen könne, bevor sie verhungerten.

Na, das war doch klug! Und also ist es auch geschehen. Da die Herrschaft glücklich in das Dorfwirtshaus zurückgekommen war und der Papa den Karl nach dem Trägerlohn fragte, bedeutete der Große, es sei nichts, es zähle sich nicht aus.

Es waren sehr vornehme Leute aus der Stadt, und so [S. 11] gering waren sie in ihrem Leben nicht geschätzt worden, als von diesem Schneider.

Wenn Karl sechs Tage lang bei der Nadel gesessen war, wußte er am Samstag nicht mehr, wohin mit seiner Kraft. Da fiel es ihm ein, daß es eine ganz gute Erholung sein müsse, wenn er am Sonntag Steine auf den hohen Standel tragen würde. Die Steine waren vom Berge ja herabgekollert, weshalb sollten sie nicht wieder hinaufgetragen werden? Als er jedoch mit seiner Ladung zu den Almen hinaufgekommen war, brach der Kohlenkorb, und die Steine kollerten wieder talwärts. Als sie in hohen Sätzen dahinsausten und bei ihrem Auffallen tief in den Boden schlugen, daß hier Sand emporsprang, dort Funken aufstoben, erscholl ein Schrei. Karl blickte hin und sah eine kleine Sennerin, die Gras schnitt. Das Dirnlein war so niedlich und zart, daß die Arbeit nur mit Mühe und Anstrengung von statten ging. Nun geschah es, daß Karl zu ihm hintrat, aber nicht um die Kleine in den Sack zu stecken, sondern um unter Stottern und Mühen zu fragen, ob sie sein Schatz sein wolle?

Das Dirnlein antwortete natürlich, daß er ihr für einen zu viel sei, und daß sie zwei nicht brauche.

Als sie hernach in die Sennhütte ging, schlich ihr der Große trotzdem nach. Aber als er zur Tür kam, da plagte es. Diese war nicht allein viel zu niedrig, sondern auch zu schmal; er wand sich zwar hinein, aber die Türpfosten ächzten. Drinnen stand er mit gebeugtem Haupte vor der Kleinen, denn aufrecht stehend hätte sein Kopf durch die morschen Bodenbretter ein Loch gebohrt hinauf in den Dachraum, wo er nichts zu tun hatte. Also in demütiger Haltung fragte er sie noch einmal, und sie antwortete ihm spottweise, ein Schneider sei ihr zu windig.

Karl setzte sich ruhig auf einen Schemel, da knickte dieser [S. 12] ein, mit zwei Füßen zugleich, und Karl der Große lag mit gekrümmten Beinen ungefüg auf der Erde. Die Sennerin war ein gescheites Dirnlein und dachte: Die schwersten Baumstämme können ihm nichts anhaben, und ein armseliges Fußschemlein bringt ihn zum Falle. So steht es mit diesen starken Männern. — Sie foppte ihn weiter, da meinte er lächelnd, er würde ihr noch einmal etwas Schlimmes antun, wenn sie so arg gegen ihn wäre.

»Hascherlein, was kannst denn du mir antun?« fragte die Kleine den Großen.

»Ich?« sagte er, »dieweilen du einmal auf der Wiesen bist, trag' ich dir deine Hütten davon. Christel, was tust denn nachher, he?!«

»Ja,« rief sie, »nachher lauf' ich dir mit einer Brennessel nach, bis du die Hütten fallen laßt!«

Karl schwieg. Vor Brennesseln hatte er immer Grauen empfunden, und er beschloß, das Dirnlein nicht mehr zu reizen.

»Nein, ich tu' dir nichts,« sagte er gutmütig, »mich kränkt es recht, daß du mich nicht magst, aber tun tu' ich dir deswegen doch nichts.«

»Da bist du wohl brav,« antwortete sie, »und hat auch der Elefant zur Mücke gesagt, die lustig in den Lüften summt: Mückerl, fürcht' dich nit, ich tu' dir nichts. — Bist wohl brav, Karl!«

Sie hat gesagt, ich bin brav. So mag sie mich ja. — Mit diesem tröstlichen und wirklich logischen Gedankenanflug stieg er vom Berge herab.

Als das Gerede umging, der Schneider Karl wolle heiraten, rief sein Vater, das Meisterlein: »Wie soll denn der heiraten! Kann ja kein Weib ernähren.«

»Wer eins ertragen kann, wird auch eins ernähren [S. 13] können,« antwortete der Pfarrer, der gegen Heiraten, Kindstaufen und Todesfälle selten was einzuwenden hatte.

»Er kann nichts als tragen, ziehen und schieben,« gestand der Vater.

Hierauf ein Nachbar: »Das ist ja genug. Kann mein Ochse auch nit mehr und baut mir doch den Acker an. Halt geleitet muß er werden.«

Wie? Der Karl Oberbergbreitebner will sich beweiben? Da wollen wir den baumstarken Kerl doch besser nutzen. Soldat werden! so sagt die Militärbehörde. Vaterland verteidigen! sagt sie. In das Feld marschieren! sagt sie. Der Recke hebt an zu zagen. Im Felde tun sie ja schießen und stechen! Ist es nicht so? Tun sie im Felde nicht schießen und stechen? Und wir sind ja in einer viel größeren Gefahr, als jeder andere, weil wir sehr leicht zu treffen sind. — Und da sage man noch einmal, daß Karl nicht tiefsinnig denken könne!

Drei Wochen war er bei den Soldaten, als endlich der Hauptmann laut ward: »Mit diesem Lümmel ist nichts anzufangen! Er hat in keiner Montur Platz und beim Exerzieren! Gott, beim Exerzieren ist er viel zu stabil. Wo er steht, da steht er, und es bedarf zu vieler Kraft und Taktik, um ihn in Bewegung zu setzen. Marschiert er, so marschiert er und findet nicht leicht einen hinreichenden Grund, um nach rechts oder links kehrtzumachen, oder gar stehenzubleiben. Wenn sich der alte Herkules einmal pensionieren läßt, so mag der Karl Oberbergbreitebner angestellt werden zum Weltkugeltragen — bei den Soldaten können wir ihn nicht brauchen.«

Nun kam Karl wieder heim und klagte es seiner kleinen Sennerin: »Sie sagen, sie könnten mich nicht brauchen.«

»Das will ich doch sehen!« rief die Kleine, »spute dich [S. 14] zum Pfarrer und sag', ich wollt' dich heiraten in vierzehn Tagen. Marsch!«

Die Leute schüttelten den Kopf, und warum sollten sie es nicht, es war ja der ihrige, und nicht der des kleinen Almdirndels, in welchem besondere Pläne webten. Wer pachtete jetzt das Straßenhäusel am Fuße des Sattelberges? Die kleine Christel pachtete. Wer vertröstete den Eigentümer mit dem Pachte auf das nächste Jahr, bis man sich mit dem Vorspannfuhrwerk Geld verdient haben würde? Die kleine Christel vertröstete. Und wer hatte kein Pferd und keinen Ochsen, als er Vorspann leisten sollte über den Sattelberg? Die kleine Christel hatte nicht. Wer aber spannte den Kohlen- und Roheisenfuhrwerken ihren jungen Ehemann vor über den Sattelberg? Die kleine Christel spannte vor. Jawohl, die kleine Frau Oberbergbreitebner spannte den Oberbergbreitebner vor, und der zog im Vereine mit Pferden und Ochsen tapfer an; die Pferde und Ochsen waren höchst verwundert, einen zweibeinigen Genossen an ihrem Gespann zu sehen, und sie mußten sich sehr zusammennehmen, um von ihm nicht beschämt zu werden.

Die Löhnung, welche Klein-Christel für solche Vorspann einzog, berechnete sie auf zwei Pferdekraft, und sie begegnete damit keinem Widerspruche.

Hatte sie den Karl zu Hause, so hegte und pflegte sie ihn mit allem Notwendigen, damit er gesund und stark bliebe. Er war ihr Kapital, und Karl fühlte sich sehr gehoben, nun eine seiner Natur entsprechende Tätigkeit gefunden zu haben. Christel mietete auch einen Acker, und da konnte man sehen, wie sie hinten am Pfluge dreinging, ihn führte und das Zuggespann mit Hi und Hott leitete. Das Zuggespann war ihr Karl.

Also ging es nun in Eintracht und gemeinnütziger Wirksamkeit [S. 15] voran. Da geschah etwas Unerwartetes. Zwischen dem Heimatsdorfe des Karl Oberbergbreitebner, das Lehbach hieß, und dem Nachbarsorte Standelegg war ein Streit ausgebrochen. Es lag nämlich zwischen diesen Orten die kleine Gemeinde Hüttel, deren Insassen »lebendige Lehbacher und tote Standelegger« waren. Mit ihren Kirchengängen, Hochzeiten, Taufen, Geschäften usw. kamen sie nämlich nach Lehbach herüber, ihre Leichen gehörten jedoch auf den Kirchhof des kleinen und näher gelegenen Standelegg. Als durch die Gemeinde-Autonomie die Dörfer zum Gebrauche ihrer Vernunft kamen, sagten die Standelegger: Wenn die Hüttler lebendigerweise nach Lehbach neigen, so brauchen wir sie auch toterweise nicht. Mit den Behörden ließ sich nichts anfangen, die sagten, es habe zu bleiben, wie es bisher gewesen, und so sahen die beiden Ortschaften, sie müßten die Angelegenheit unter sich entscheiden. Mit Reden und Schreien ging es nicht, das hatten sie schon erfahren; also schlug ein kluger Kopf vor, Lehbach und Standelegg sollten durch Krieg entscheiden, wie Deutschland und Frankreich entschieden hätten, nämlich tapfer miteinander raufen, und der Stärkere sei der Sieger. Aber nicht etwa so dumm, wie es die Reiche machen, wo ganze Völker aneinanderprallen und sich gegenseitig durch Mord und Brand schreckbar zugrunde richten, sondern vielmehr so, daß jedes der beiden Dörfer einen Mann auf den Kampfplatz schicke. Die beiden hätten miteinander ohne Waffe, nur mit ihren natürlichen Gliedern und körperlichen Fähigkeiten zu ringen, und der zuerst falle, dessen Gemeinde sei die besiegte.

Das wurde abgemacht. Also hielt die Dorfgemeinde Lehbach Umschau nach ihrem stärksten Manne, und natürlich fiel die Wahl auf Karl den Großen.

»Ja, ja,« sagte der, »ich tu's schon. Will schon raufen.« [S. 16] Tat aber weiter nichts desgleichen, als ob die Wahl ihn freue oder aufrege, und ganz gleichmütig trottete er an dem bestimmten Tage auf den Kampfplatz. Siegte Karl, so gab es in der Zwischengemeinde Hüttel wie bisher lebendige Lehbacher und tote Standelegger. Siegte der von Standelegg gesandte Streiter, so sollte Hüttel fürderhin auch bei lebendigem Leibe, mit seinen Kirchgängen, Hochzeiten, Kindstaufen und Geschäften den Standeleggern zu eigen sein. Der Standelegger Kämpfer war ein ganz gefüger, flinker Tischlergeselle, mit dem ein Karl Oberbergbreitebner Fangball spielt. Aber bevor die hellen Haufen der Zuschauer und Zeugen sich noch recht versammelt hatten, lag der Karl schon im Sande, der Tischlergeselle saß festgeklammert auf seiner mächtigen Brust und zündete sich eine Pfeife an.

Der Karl blieb ganz ruhig liegen und horchte gelassen dem Geschrei der Menge, die ihn verlachten und den Gegner bejubelte. Erst als Klein-Christel kam, ward es anders mit ihm. Totenblaß im Gesichte, leise flüsternd befahl sie, daß er aufstehe. Also begann er mit Händen und Füßen Anstalten zu treffen, daß er sich erhebe, und schon nach drei Minuten war es so weit, daß die Kleine den Großen vor sich hertreiben konnte gegen das Straßenhäusel. Die lebendigen Hütteler waren für Lehbach verspielt, alle Schmach entlud sich über das arme Straßenhäusel, und es schien kein Mittel mehr zu geben, die Ehre des Großen wieder herzustellen.

Da kam ein schwerer Winter. Der Schnee lag mannshoch in der Gegend und alle Wege waren geschlossen. Seitdem die lustigen Hütteler nicht mehr nach Lehbach kamen, ging es hier recht langweilig zu und man tröstete sich nur mit dem Gedanken, daß sie bei dem großen Schnee auch nicht nach Standelegg gehen könnten; sie waren eingemauert in ihrem Dorfe Hüttel. Es nahten die Faschingstage. Zu dieser [S. 17] Zeit sagte eines Tages Klein-Christel zu ihrem Großen: »Karl, mach' dich auf und geh' hinüber nach Hüttel. Geh' heute hinüber und morgen wieder zurück.«

Karl fragte nicht warum; er verzehrte eine weite Schüssel Heidenbrei, dann ging er nach Hüttel. Der Schnee reichte ihm bis an die Brust, der Karl schob sich langsam voran und hinter ihm her war ein Hohlweg. Am nächsten Tage kam er wieder zurück, und hinter ihm her zog eine lange Reihe faschingslustiger Hütteler, Männlein und Weiblein, die bei dem frischgetretenen Pfad nach Lehbach eilten, um im Wirtshause zu tanzen, zu essen, zu trinken und beim Kaufmann Lebensmittel einzukaufen.

Nun erst merkten die Leute von Lehbach, was Karl der Große als Schneepflug bedeutete, und als solchen mieteten sie ihn von Klein-Christel, so oft im Winter die Pfade verschneit waren zwischen Lehbach und Hüttel. Also gewöhnten die Hütteler sich neuerdings an Lehbach, sie waren wieder »lebendige Lehbacher und tote Standelegger.«

Klein-Christel konnte sich wieder freuen an ihrem Karl; ihr Ansehen und der Wohlstand ihres Hauses wuchs. Sie wäre in der Lage gewesen, eine junge Familie zu ernähren, allein diese war nicht da und kam nicht, und es ist jammerschade, daß weder die kleine, fleißige und kluge Christel, noch der große Karl fortgepflanzt werden. Die Zukunft könnte beide brauchen, und zwar zusammen vermählt; mit Klugheit allein, oder mit Kraft allein läßt sich doch nicht viel machen.


[S. 18]

Der Fischer im Olymp.

Dort, wo der Wildgarten des Schlosses an die Landstraße stößt, neben dem Einfahrtstor, steht eine Steingruppe von Ungehörigkeiten aus der griechischen Mythologie. Die größten Auswüchse der Phantasie sind schon wiederholt durch Steinwürfe weggeschlagen worden, allein der Schloßherr steift sich auf das alte Herkommen und läßt die verwundeten Arme, Beine und Nasen allemal wieder herstellen.

Unter dieser alten weltmunteren Sandsteingruppe nun saß ein Bettelmann. Er saß jahrelang dort, immer nur an sonnigen Tagen, er saß auf dem Sockel, er saß sogar manchmal der einen Göttin auf dem Schoß und lehnte sich rückwärts an den schönen Busen, der allerdings nicht ganz so lind war, als der Künstler ihm mit kundigem Meißel den Anschein gegeben. Der Bettelmann trug stets ein weites blaues Beinkleid und einen gelben Pelzmantel, wie man sie bei ungarischen Schafhirten sieht, ferner hatte er ein grellrotes Tuch um das Haupt gewunden, ähnlich wie die Türken ihren Turban tragen; die Füße hielt der Mann in braune Lappen gewickelt und mit grünen Bändern umwunden. Das Gesicht war nicht fahl und nicht mager, war vielmehr rosig und rundlich und hatte zwei ungleiche Augen. Das eine gutmütig ausblickend, das andere verwulstet und mit manchmal zuckenden Wimpern, hinter welchen sich Schelmerei zu verstecken schien. Zur Zeit, als ich den Mann das erstemal sah, mochte er etwa fünfzig Jahre jung gewesen sein. Ja, es war eine Jugend und Frische in ihm, die Straßenbettler, wenn sie tatsächlich ein wenig davon haben, sonst nicht hervorzukehren, vielmehr zu verstecken pflegen.

[S. 19]

Da er hoch auf dem Sockel der Götter saß, so hatte er an einer langen Stange ein Binsenkörblein, das er dem Wanderer entgegenhielt, ähnlich wie der Fischer seinen Angelstab niedersenkt. Gab es nichts, so zog er seine Angel ruhig wieder ein, lehnte sich an die Götter und wartete. Witzige Leute nannten ihn den Fischer im Olymp. Ich, der wöchentlich ein paarmal des Weges zu gehen hatte, warf ihm fast allemal einen Pfennig in das Körbel, nicht etwa, weil dieser Bettelmann so erbarmungswürdig aussah, als vielmehr weil er stets ein so heiteres Gesicht machte. Manchmal aber, wenn das bartlose Rundgesicht gar zu heiter und aufgeweckt dreinsah, dachte ich: Na, schenk' lieber du mir ! und ging zugeknöpft vorüber.

Man wunderte sich, daß dem Manne die Polizei gelassen zusah, allein diese hatte diesmal Humor und meinte, fischen sei nicht betteln und es möge sich erst der beschweren, dem der Fluß gehöre. Der sickernde Fluß der Wanderer aber gehört Gott dem Herrn, und der läßt alle Fischer und alle Wilderer gewähren. Auch der Schloßherr fand nichts einzuwenden gegen eine Gestalt, die den Eingang in seinen Park so wunderlich schmückte. Er war ein Freund heiterer Gesichter und sagte, ein so glücklich munteres Antlitz gäbe es in seinem ganzen Schlosse nicht. Auch er warf dem Fischer manche kleine Münze in das Binsenkörbchen. Anfangs soll ein hoher Herr mit teilnahmsvoller Gebärde mehrmals einen Taler hineingelegt, damit aber den Bettelmann erzürnt haben. Er lasse sich nichts schenken! sagte der Fischer, zerteilte die große Münze in mehrere kleine und spendete sie den Armen.

Bei schlechtem Wetter war er nicht vorhanden. Die liebe Sonne genoß er mit den Olympischen gemeinsam, in Sturm und Regen ließ er sie allein stehen mit ihren verrenkten [S. 20] nackten Gliedern. Es fragte auch weiter niemand nach ihm, oder vielmehr, ich horchte nicht danach aus. Mir aber — und das ist seltsam genug! Ging ich auch, wenn er oben saß, fast gleichgültig vorüber, wenn er nicht oben saß, war mir geradezu bang um ihn. Dem Wege fehlte der Sonnenschein des Bettlerangesichts. Er wird doch nicht unpaß sein? Wo er nur wohnt? Was ihn doch verhindern mag, daß er heute nicht fischt? Was mag der Mann nur eigentlich gewesen sein, ehe er sich in den Olymp versetzte? Man sprach einmal davon, daß er in der Stadt Häuser besäße; das glaubte ich nicht, denn dann hätte er die Taler eingesteckt. — Demnächst war er doch wieder da mit seinem gelben Schafspelz und seinem roten Turban, und kein Engländer kann geduldiger am Bache angeln, als da oben der Bettler auf die kleinen Almosen wartete. Ein paarmal wollte ich ihn ansprechen; in dem Augenblick, als mein Fuß über den Straßengraben stieg, neigte er sich seithin, und sein Gesicht nahm einen unguten Ausdruck an. Da ließ ich ihn einsam sitzen auf seinem Thron und ging den kümmerlichen Geschäften des Tages nach.

Nun war es eines Tages, daß vor mir ein barfüßiger Handwerksbursch die Straße dahinpatschte und unterwegs in der hohlen Hand mißmutig die Münzen besah, die er an dem Tage erfochten haben mochte. Eine schien dabei zu sein, die ihm nicht gefiel; war es nun ein schweizerischer Pfennig, der hierzulande ungültig ist, oder war es ein messingener Hosenknopf, der ebenfalls ungültig ist, ich weiß es nicht. Ich sah nur, wie der Handwerksbursch, als er zur Stelle kam, wo an der Steingruppe der Fischer saß, diesem zwar nichts in das Körbel warf, hingegen aber die Münze in die Luft schleuderte, dem Bettler zu. Der wollte die metallene Mücke abfangen, glitschte dabei aus und fiel in den Straßengraben herab.

[S. 21]

Ich eilte hinzu, um ihn aufzuheben, er wartete aber nicht auf mich, erhob sich gelassen und murmelte: »Das härteste Bett wäre es nicht« (denn es war weicher Lehm und langes Gras im Graben). »Und so kurz, wie die Bauernbetten ist es auch nicht.« (Denn der Straßengraben war viele Meilen lang.)

»Warum Ihr nur nicht liegen geblieben seid in dem guten Bett!« sagte ich laut, um eine Anrede zu haben, und machte dabei mein Gesicht lachen, daß er sah, es wäre nicht bös gemeint.

»Warum?« fragte er entgegen, »weil es noch zu früh ist zum Schlafengehen. Muß ja erst den Gruß und Kuß aufsuchen, den mir der Herr Vagabund zugeworfen hat.«

Und er begann auf dem Boden umherzulugen, rechts und links und vorn und hinten, und das Geldstück war nirgends. Als er wieder hinanstieg zu den Himmlischen, rief er plötzlich: »Aha, jetzt hebt die auch an!« denn der schweizerische Pfennig lag auf dem Schoß der sitzenden Aphrodite. Dann hub er hell an zu lachen: »Der soll nur liegen bleiben drin, das ist ein Falscher! O Schand und Spott!«

Ich wollte den angeknüpften Verkehr nicht sogleich wieder abgebrochen wissen, daher bat ich den Bettelmann, daß er mir den Schweizerischen schenke.

»Wenn du ihn selber herausnehmen willst!« antwortete er mit komischer Miene und drückte fast beide Augen zu. »Ich hab' jetzt nicht Zeit, ich muß lachen. Ich muß lachen über des Vagabunden guten Witz, ha ha ha!«

»Wenn ich auch so herzlich lachen könnt'!« war meine Bemerkung, denn jetzt wollte ich um jeden Preis mit ihm anbinden.

»Kannst nicht?« sagte er, stieg nieder und hub an, mit [S. 22] seinen kurzen Fingern unter meinem Kinn herumzukrabbeln, »da muß man dich halt kitzeln — lach, lach, lach!«

Da lachte ich wirklich, sagte aber: »Lasset das. So ein Lachen tut weh.« Denn ich hatte gerade meinen sauren Tag.

»Du bist gewiß einer von solchen, denen das Flennen lustiger ist, als das Lachen!«

»Wenigstens wäre jenes eher am Platz, als dieses. Wie es zugeht in der Welt!«

»Wie geht es denn zu?« fragte er, dieweilen er sich wieder auf seinen Sitz schwang, die Stange mit dem Binsenkörblein zur Hand nahm und über die Stange hinausblickte.

»Ihr seht es doch!« sprach ich, den falschen Pfennig betupfend, »falsch im kleinen, falsch im großen, alles falsch, alles Betrug.«

»Mich betrügt keiner,« antwortete er, machte die Augen auf und schaute so kühl über mich hinweg, als ob ich Luft wäre.

»Ich wollt Euch um etwas gebeten haben,« so wand ich jetzt ein.

»Gebeten? Du bitten? Du mich?« Sein Gesicht leuchtete auf wie Werg, an das man mit dem Zündflämmchen gefahren.

»Ich wollt Euch gebeten haben um ein Stück Brot.«

Nun schaute er mich forschend an. Mein Stadtherrengewand, das keinen Flicken und keinen Riß hatte, wollte ihm nicht recht stimmen zu dieser Bitte. Daß ich eigentlich nur um ein Stück geistigen Brotes bat, um ein warmes Menschenwort, um einen Funken seines frohen Wesens, er konnte das freilich nicht wissen.

Sein Antlitz war ernst geworden, und völlig gedämpft sagte er: »Wenn du Hunger hast, dann ist's freilich nicht zum Lachen. Auch nicht zum Weinen. Dann ist's zum [S. 23] Essen. Schau! daß du so spät daherkommst! Vor einer Stunde hätte ich noch einen Apfel und eine Traube gehabt. Ich trage mir des Morgens mein Essen allemal im Körbel mit hierher. Jetzt müssen wir was anderes suchen gehen. Aber es ist nicht weit.«

»Wohin denn?«

»Nach Hause.«

Um so besser, dachte ich. Meine Obliegenheit war an diesem Tage vollzogen, ich hatte Zeit, auf Abenteuer auszugehen. Man kennt ja das, mit diesen Professionsbettlern! In Paris war einer, der dreißig Jahre lang mit verkrüppeltem Leib und in armseligen Lumpen an der Pforte von Notre-Dame saß. Abends nach Hause gekommen, zogen ihm täglich livrierte Diener die Saloneleganz an und dann ging's mit lustigen Freunden und Freundinnen zur Tafel, bei der man mit Champagner anfing und aufhörte mit was weiß ich. — Zu Madrid in Spanien soll es sogar eine Aktiengesellschaft auf Bettler geben. Die Krüppel, Kretins und Aussätzigen sind Kapital und Produktion zugleich. Sie werden im Volke zusammengekauft, entsprechend auf günstige Plätze verteilt, der Impresario leitet die Geschäfte, nimmt des Abends die Einnahme in Empfang, und führt sie wohlverbucht in die Hauptkasse ab, während die Bettler in ihren Pensionen standesgemäß verpflegt werden.

Derlei ist mir eingefallen, als ich dem Manne folgte, der, in seinem langen Pelz, über der Achsel die Stange, hastig vor mir hinlief, dem Dorfe zu. Er war viel kleiner, als er auf seinem Stammsitze aussah, seine in Lappen gewickelten Füße huschten lautlos dahin. Den Dorfleuten, die uns, ohne zu grüßen oder gegrüßt zu werden, begegneten, schien er eine gewohnte Erscheinung zu sein, um so verwunderter betrachteten sie mich, der hinter dem gelben Pelz [S. 24] dreinlief. Durch einen großen Bauernhof ging der Weg, hinaus in einen Obstgarten, dort zwischen Busch und Baum stand die Klause. Ursprünglich mochte sie als Hüterhaus gedient haben, jetzt war sie die Wohnung meines Götterlieblings. Im Stübchen ein Tisch, ein Stuhl, ein Kasten, ein Ofen, ein schmales kurzes Bett, ein Buch und ein Kerzenleuchter. Durch ein helles Fenster strömte Licht auf diese Herrlichkeiten.

Sogleich öffnete mein Gastherr den Kasten, begann mit weißen Linnen den Tisch zu decken, einen kleinen zierlichen Kübel mit Butter, einen Laib Brot und ein Salzfäßchen herzurichten.

Ich fiel ihm in den Arm: »Nein, mein Lieber, so ist es nicht gemeint. Ihr habt, wie ich sehe, hier die Bibel, und da drin steht's, daß der Mensch nicht allein vom Brote lebt, sondern auch vom Worte. Ihr sollet mir zuerst hübsch verzeihen, daß ich falsch, wie die Welt schon einmal ist, mich an Euch gemacht habe und sollet mir dann etwas sagen.«

»Aber essen wirst du doch etwas!« rief er besorgt.

»Ich sehe Euch nämlich schon seit Jahr und Tag an der Straße sitzen und Almosen heischen,« begann ich.

»Da siehst du ganz richtig,« antwortete er.

»Und nun möchte ich gerne wissen — nein, es wird doch nicht gehen. Ihr werdet böse sein, — und Euch beleidigen? Nein.«

»Du mich beleidigen?!« fragte er mit langgezogenem Tone und blickte mich dabei mitleidig, aber sehr überlegen, mit halbem Auge an. »Du armer Narr!«

»Nun gut. Ich möchte nämlich gerne wissen, warum Ihr bettelt.«

»Warum ich —? Ha ha ha? — warum ich bettle?« [S. 25] fuhr er lustig drein. »Sage mir doch, warum du Luft schöpfest! Sage es mir doch!«

»Ihr seid gesund und stark wie einer. Ihr habet da ein gutes Brot, man sieht ihm's an, daß es Euch schmeckt. Aber würde es nicht noch besser schmecken, wenn Ihr es Euch verdient hättet? — Mit Arbeiten —«

Jetzt trat er ein paar Schritte zurück, zog über der Brust seinen Pelz zusammen, legte die Arme darüber, schaute mich mit seinem munteren Gesicht herzlich mitleidig an und sprach: »Jetzt hast es gesagt. Jetzt hast es gesagt, das große Wort. Und wenn die sieben Weltweisen sieben Jahre lang dran studiert hätten — besser hätten sie es auch nicht sagen können. — Arbeiten!«

»Na, ich meine nur ...«

»Arbeiten!« rief er aus, und seine Züge verzogen sich wie im Schmerze. »Aber Freund, arbeiten tut ja weh! Schwitzen! Pfui Teufel! Schau her, das steht auch in diesem Buche: Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dir dein Brot verdienen, weil du gesündigt hast!«

»Nun, da habt Ihr es.«

»Ich habe aber nicht gesündigt!« rief er frisch und munter aus. »Ganz unschuldigerweise bin ich auf die Welt gekommen, hab's nicht betreiben und nicht hindern können. Zuleid' hab' ich auch niemand etwas getan, außer daß ich meiner Kindsfrau in den Finger gebissen haben soll, weil sie mir statt der rechtmäßigen Muttermilch Kuhmilch in den Mund schmuggeln wollte. Denn ich glaube schon mit Zähnen geboren worden zu sein. Und da soll man kein Naturrecht haben aufs Essen? Da soll man sich ein solches Recht erst durch allerlei Anstrengungen erwerben müssen? Tu' mir den Gefallen, Kindskopf, und glaube das nicht.«

[S. 26]

»Ihr zieht es also vor, andere für Euch arbeiten zu lassen.«

»Jetzt wirst du bitter, mein Freund,« sagte er gutmütig. »Und das taugt wieder nicht. Ärger ist kein kleineres Unrecht, als Arbeit. Ich will niemand verleiten, und ich habe all meiner Tage keinem Menschen befohlen, für mich zu arbeiten. Siehst du es denn nicht? die ganze Welt ist voller Tiere, alle sind frisch und munter, und kein einziges ist so dumm wie der Mensch, und arbeitet. Arbeiten die Menschen für sie? Lasse diese zweibeinigen Herrschaften nur erst aussterben, dann arbeitet niemand mehr, und die Welt wird doch voll Leben sein.«

Als ich in das Häuschen getreten, hatte ich nicht gedacht, in wenigen Minuten hier vor einem hohen Herrn zu stehen. Nun sah ich's, das war einer. Das war einmal ein anderer, als die gewöhnlichen sind. Um ein Stück Brot war ich gekommen. Er gab ein großes. Ob es auch nahrhaft war, das sollte sich zeigen. Im ersten Augenblick fühlte ich mich schier betäubt. Wie? das Tier arbeitet nicht und lebt doch? Und glücklicher als der Mensch, gerechter, schuldloser?

Es ist naturgemäß, nicht zu arbeiten.

Diesen Gedanken hatte ich noch nie gedacht.

Während ich noch befangen war, begannen sie heranzukommen. Zuerst die krabbelnde Ameise: »Es ist nicht wahr! Wir arbeiten.« — Dann die summende Biene: »Verleumdung! Wir arbeiten!« Dann der Biber, die Spinne, die Vögel, die Schlangen und andere in langen Reihen, und alle riefen pfeifend, piepsend, gröhlend, knurrend, bellend, krähend: »Wir arbeiten! Wir arbeiten!«

Ich sagte es dem Bettler. Er lächelte freundlich und sprach: »Mein viellieber Gast! das weiß ich ja, daß der Maulwurf wühlt. Aber denke an, zwischen Arbeit und [S. 27] Arbeit ist eine breite Straße. Bin ich ein Müßiggänger? Nein, ich bin ein Bettler. Ich gehe aus, um zu sammeln. Ich strecke meinen Stab aus, um Gaben in Empfang zu nehmen, ich trage sie nach Hause, die Münzen setze ich in Lebensmittel um, die Lebensmittel bereite ich zu, bewahre sie auf, achte, daß sie nicht verderben. Ist das Arbeit? Nein, es ist Tätigkeit. So betätigt sich freilich auch das Tier. — Aber ich mache keine Arbeit, die anderen zugute kommt, solchen, die nicht arbeiten, die faulenzend in Prunk und Hochmut das genießen, was andere erworben. So arbeite ich nicht.«

»Das ist eben eine menschliche Erfindung,« sagte ich.

»Nein, eine teuflische!« rief er. Da war er erregt.

»Tätigkeit und Arbeit, den Unterschied kennt man,« sagte ich. »Pflügen und Säen ist Arbeit, ernten ist nur Tätigkeit. Ihr, lieber Bettelmann, habt Euch für die letztere entschieden.«

»Und das ist das Richtige!« fiel er ein. »Nicht arbeiten, nur sammeln. Die Natur, wenn sie gesund ist, produziert mühelos ihre Früchte aus sich selbst. Arbeit ist Sünde gegen die Natur. Töte mich, wenn's nicht wahr ist.«

»Ich töte Euch nicht,« darauf meine Entgegnung, »denn Ihr müsset mir vorerst noch Antwort geben, Ihr wollet also nicht für andere arbeiten?«

»Nein.«

»Aber andere sollen für Euch arbeiten?«

»Schaf Gottes, wer sagt denn das?« rief er aus. »Ich sammle ja nur Brosamen. Sie geben mir doch nur das in den Korb, was sie zu viel haben, was sie verstreuen wollen. Sie tun's nicht aus Barmherzigkeit, sie tun's, weil ihr Überfluß in ihnen das Bedürfnis gezeitigt hat, Abfälle zu haben, [S. 28] armen Kreaturen manchmal etliche Brocken hinzuwerfen. Sie sollen nur geben. Dankbar müssen sie sein, daß sie geben dürfen.«

»Wie kann man bei so hartem Urteil über die Menschen ein so heiteres Auge haben?« fragte ich ihn.

»Junger Freund,« antwortete er, »das kann man, wenn man fertig ist. — Glaubst du: daß meine Mutter mich als Bettler geboren hat? Meine Wiege war der Reichtum, lieber Mensch! — Das, was ich heute bin, habe ich selbst aus mir gemacht!« Im stolzen Tone des Emporkömmlings waren diese Worte gesprochen. »Aber viel braucht's, bis man es so weit bringt!« fuhr er fort. »Viele Jahre lang, o meine schönste Lebenszeit, habe ich mich vom Besitz knechten lassen. Man glaubt sein Leben zu schmücken, und man belastet es nur. Die tausenderlei Dinge und Dingeln, die an den Reichen sich kletten, ein abscheulicher Ballast! Man kann nicht weiter, man kann nicht hinan, man ist ein Sklave und trägt die schwere Kette nur deshalb mit Gier, weil sie von Gold ist, und ist ein durch und durch lumpiger Lump. — Du hast gewiß Bekanntschaft mit reichen Leuten. Nun also. Ich war auch so einer. Betrachte ihr dummes Leben, und du hast das meine vor Augen. Aber endlich, als mir übel war aus- und inwendig, gerade schon auf dem Punkt, wo die Besseren sich zu töten pflegen, erwachte in mir der Egoismus. Hol's der Teufel! dachte ich, und schmiß den ganzen Krempel von mir. Es war eine wanstige Ledertasche.« —

Als er nicht weiter sprach, fragte ich: »Was war mit dieser Ledertasche?«

»Ins Wasser hab' ich sie geworfen.«

— Man spricht auch bildlich so, aber bildlich war's nicht gemeint. Eine Stunde unterhalb der großen Stadt, in den Auen. Genau hat er den Platz bezeichnet, wo er seine [S. 29] Papiere, im Werte von mehr als einer Million Gulden, in die Donau geworfen hat.

»Ihr seid nicht klug!«

Er klopfte mir auf die Achsel: »Das muß ich besser wissen.«

»Das mag ja sehr philosophisch sein, aber gut ist es nicht.« Also mein überlegener Einwand. »Ein guter Mensch hätte das Vermögen, anstatt ins Wasser zu werfen, einem Armen geschenkt.«

»Der wäre davon ja reich geworden, du Tropf!« rief der Bettler. »Ich habe mir ohnehin nachher Vorwürfe gemacht. Wie leicht konnte die Ledertasche aufgefangen werden und in Menschenhände kommen. Gift wirft man nicht ins Wasser.«

»Ihr hättet das Vermögen ja an tausend Arme verteilen können.«

»Du hast leicht reden,« entgegnete er darauf. »Du bist sicherlich nicht aufgewachsen unter der Torheit der Million. Wäre ich damals weise gewesen, so hätte mir das Geld nichts angehabt. Ich habe nur gesehen, daß das Geld mein Unglück ist, so habe ich gemeint, es müßte auch das Unglück anderer sein. Und ob's nicht denn doch so ist, sage es, Mensch. Glaubst du nicht auch, daß dir geschenktes Geld zuwider ist? daß es dich verwüstet? daß dich nur der Besitz freut, den du dir selber erworben hast?«

»Und so spricht ein Mann, der an der Straße sitzt und bettelt?«

Er sprach: »Das verstehst du nicht. Die Pfennige, die ich bekomme, sind ehrlich erworben. Halte ich doch die Stange hinaus! Sage ich doch mein Vergeltsgott dafür! Der Taler, wenn er in den Korb fiele, wäre geschenkt. Ich lebe von Pfennigen, begleiche meinen Wohnungszins, nähre mich, kleide mich, bin niemandes Herr, niemandes Knecht, und stärker wie der König.«

[S. 30]

»Das wäre!«

»Ja, das ist,« fuhr er lustig fort. »Der König hat ein großes Heer und muß immer noch fürchten, daß ihm der Feind etwas wegnimmt. Mir kann niemand was wegnehmen.«

Ich langte wie raubend nach dem Butterkübel.

»Ha ha ha, sie gehört dem Hausherrn!« lachte er, »sie ist noch nicht bezahlt. Und deswegen, Freund, muß ich wieder ans Tagwerk.« Er langte seinen Korbstab vom Winkel.

Ich hielt ihm die Hand hin: »Hat mich gefreut, endlich einmal die Bekanntschaft eines Glücklichen gemacht zu haben.«

Er wendete sich rasch um, als ob der, zu dem ich sprach, hinter ihm stünde.

»Ein Glücklicher — wo?« fragte er wie verblüfft. »Solltest du mich —? Ja, ja, es geht mir soweit gut, aber glücklich bin ich nicht. Du siehst es ja.« Er deutete auf seine Lagerstätte. »Viel zu kurz. Ich bin fünf Schuh lang, und der Trog vier. Was kannst machen? Bei den Bauern findet man's nicht anders. Man grübelt nicht weiter, klappt sich zusammen und gut ist's.«

Ich sah es wohl ein. Auf sechs Schuh langen Erdenraum hat sogar der Tote Anspruch, und dieser Lebendige besaß ein Drittel weniger. Er hätte vielleicht nur das Fußbrett ausstoßen müssen ....

So nahe ist mancher Mensch seinem vollkommenen Glücke. Aber er stößt das Brett nicht durch. —

Als wir selbander die Straße dahingingen, begegnete uns der Schloßherr, er fuhr vierspännig und grüßte den Bettelmann mit einer Handbewegung. Dieser dankte »von oben herab«. Dann blieb er stehen, schaute ihm nach, schüttelte den Kopf und murmelte: »Armer Bruder! Das Kamel [S. 31] hat vier Beine, und du hast achtzehn. Und kannst nicht gehen. Denn du fahrst ja.«

»Sagt Ihr auch zu dem du ?« meine Frage.

»Ha ha ha! das ist der erste gewesen, den ich geduzt. Zu den Eltern hat man damals Sie gesagt. Welche Narrheit. Aber die Geschwister untereinander ... immer du.«

Er war zur Stelle. Ohne weiteres kletterte er mit guter Übung an den steinernen Statuen empor, setzte sich in den Schoß der Aphrodite und streckte den Stab mit dem Binsenkörbchen aus — nach mir.

Ich reichte dem Bruder des Schloßherrn zwei Pfennige und schritt nachdenklich meines Weges.


[S. 32]

Der Geistbrenner.

Wer einmal fünfzig Jahre lang Zeuge des Weltlaufes gewesen, bei dem müßte sich, so sollte man meinen, der ganze innere Mensch geändert haben. Alles ist ja so unerhört anders, als man's in der Jugend gesehen, geträumt hat. Die lange Reihe von Hoffnungen, Überraschungen und Enttäuschungen, von Freuden und Qualen, von Entwickelungen und Verwickelungen und Lösungen, bei denen immer wieder alles erwartet wird und immer wieder nichts herauskommt: diese Reihe von großartig aufgedonnerten Nichtigkeiten müßte ein denkendes Wesen doch endlich gleichgültig machen, in den Zustand jenes Träumenden versetzen, der bei keiner Feuersbrunst mehr aufschreit, bei keinem Sturz mehr zusammenzuckt, weil er in seinem Halbschlummer weiß: es ist doch nur ein Traum.

Jawohl, wer fünfzig Jahre lang am sausenden Webstuhl der Zeit steht, der müßte es endlich doch weghaben, wie die Fäden geknüpft, geschlungen und die Knoten wieder gelöst oder zerhauen werden. Er müßte sehen, daß jeder, der da mit hineingewoben wird, eigentlich gleich gut daran ist, ob sein Faden nun geradeaus oder querüber läuft. Ein Kreuz bildet's immer. Der mitverwobene, mit den übrigen Fäden ringende und sich verklemmende, auf andere Fäden sich stützende, in andere Fäden sich bergende und doch für sich ein freier selbstsüchtiger Ichfaden sein wollende Hascher und Haber leidet ganz verzweifelt. Einer, der sich als von außen Sehender fühlt, ändert sich im Lauf seines Lebens. Der Haschende und Habende ändert sich nicht. Der ist lediglich Stoff, der nach gemeinsamen Naturgesetzen steigt und fällt, [S. 33] sich physisch ausdehnt, chemisch verbindet und nicht anders als ein Klumpen Erde mittun muß in dem Kessel, aus dem ewig die Blasen steigen und in dem der Bodensatz in die Tiefe sinkt. Die Haschenden und Habenden, sie sind es, die den Kampf ums Dasein mit demselben trostlosen Stumpfsinn ringen wie der Wurm und die Milbe und die Eintagsfliege. Die Haschenden und Habenden, sie sind für sich nichts; erst wenn sie sich mit Gleichartigem, mit der Stoffmasse verbinden, scheinen sie etwas zu sein, wenigstens so viel, daß sie sich selbst genügen. Sie schauen nicht, sie denken nicht, sie sind bloß, wie ein Schwammtier oder ein Weichtier ist. Diese rein materiellen Menschen sind eigentlich das Unschuldigste, was es geben kann; sie sind ja halb unbewußte Wesen; sie dämmern so hin im Verdauungsschlummer, als ob sie zu viel gefressen hätten, oder sie greifen instinktiv immer und immer mit ihren Fängern aus wie Seetiere, die alles, was sie erhaschen können, einmal an sich ziehen, wenn sie auch, längst übersättigt, alles wieder fallen lassen müssen. Die Hascher und Haber, diese Ärmsten! Und diese Glücklichen! Weil sie ja so kurzsichtig sind und so tief in ihren Tag hineingebettet, daß sie keine Ahnung haben von den ewigen, glühenden, göttlichen Dingen, die den Schauenden nimmer zur Ruhe kommen lassen.

Der reine Stoffmensch ändert sich nicht durch ein Erleben; er ist als Greis innerlich derselbe, der er als Kind gewesen, wenn auch nicht immer ein Habender, wohl aber immer ein Haschender. Er denkt nicht weit genug, um sich zu fragen, wie er die erhaschte Beute nutzen werde; er denkt kaum daran, welchen Wert sie für ihn hat; er lebt in der dämmernden Vorstellung dahin: Das gehört mir! Es ist ein Versunkensein in die Stoffwelt, ein fast friedlicher Schlaf. Aber der Schauende wird anders bis in seinen späteren [S. 34] Tagen. Er mag in der Jugend von den Sinnen zum Stoff hingezogen worden sein; aber als ihm das Auge aufging, trat er ein wenig zurück von dem sausenden Webstuhl, um nicht in das grobe Tuch der Menge mitverwoben zu werden.

Was da aufsteht, das wird von der Menge mit Jubel begrüßt, was hinfällt, mit Schreck und Klage bestattet. Der Schauende jubelt nicht, erschrickt nicht und klagt nicht. Er weiß: diese Schürzungen und Lösungen sind selbstverständliche Vorgänge am Webstuhl. Er sieht den Wandel und Wechsel im kleinen, er empfindet mit, wie die einzelne Kreatur vergehend aufschreit: Ich sterbe, jetzt ist alles aus! Und doch ist nichts aus; alles flutet im gleichen mächtigen Lebensstrom weiter dahin und der Lebensstrom ist und bleibt so urfrisch wie am ersten Schöpfungstage. — Dieses Sehen hat den Schauenden verwandelt. Er war Stoffwesen und ist ein vergeistigter Mensch geworden; er steht gleichsam außerhalb des Schlagbalkens, der die Fäden aneinanderstößt; er schaut vergnüglich dem Weber zu. Aber wenn er ihn fragt: »Meister, wozu das viele Tuch, das du webest und auf die Rolle windest?«, so bekommt er keine Antwort.


Vor etlichen Jahren war ich eines Tages an der Reichsstraße in eine Hütte eingekehrt. Eine armselige Hütte, in deren Mauerspalten Gras keimte. An der schiefwinkligen Tür, deren Fugen mit Moos verstopft waren, klebte ein Blatt Papier, auf dem in ungefüger Handschrift die Worte standen: »Hotel zum Napoleon«. In der Hütte saß ein alter Mann in einem Zwilchkittel, aber barfuß. Er hatte einen schönen weißen Bart, einen Holzblock zwischen den Händen und stampfte im Bottich Vogelbeeren ein. Meine Anfrage, ob ich während des Gewitterregens in seinem Haus Unterstand halten dürfe, wurde damit beantwortet, daß der Alte Körbe [S. 35] und Stiefel von der Wandbank wegräumte, auf daß der Gast sich behaglich niederlassen könne. Sogar einen Lodenmantel rollte er zusammen zu einem Hauptkissen, falls ich mich ein bißchen hinlegen wollte. Ich sei, meinte er, gewiß schon weit gegangen und hingestreckt ruhe sich der Wandersmann am besten aus. Auch in der ewigen Ruhe verlege sich der Mensch aufs Liegen.

»Hab' mir's gleich gedacht, daß das ein vornehmes Hotel ist, das Hotel Napoleon,« sagte ich spaßend.

»Das wohl; nobel sind wir schon!« Der Alte lachte und goß aus einer großen Flasche eine wasserklare Flüssigkeit ins kleine Kelchgläschen, das er vor mich auf die Tischecke stellte.

Auf meine nähere Erkundigung nach der Geschichte dieser Firma antwortete er: »Will der Herr die zwei Dukaten sehen, die der Napoleon meinem Vater hat auszahlen lassen?« Und mit dem dürren Finger durchs Fenster zeigend: »Dort, wo jetzt der Brennofen steht, beim Hollerbuschen, ist die Schmiede gestanden. Von gestern und vorgestern rede ich nit. Ist ja mein Vater noch ein junger Bursch gewest. Hufschmied an der Straßen. Ein gutes Geschäft dazumal. Wenn auch nit gerade jeder fürs Pferdebeschlagen drei Dukaten hat gegeben wie der Franzosenkaiser, als er vorbei ist geritten gen Graz. Später, als es mein Vater erfahren, wer der kleine Reiter ist gewesen, hat er freilich die Dukaten auf den Steinhaufen geschleudert. Und noch später, viel später, wie es geheißen hat, der große Napoleon sei auf eine Insel im Weltmeer verstoßen worden, hat's die Leut' umgewendet und mein Vater hat den Steinhaufen abgetragen. Zwei hat er richtig wiedergefunden von den Goldstücken; und die sind in der Familie verblieben zum ewigen Andenken.«

Es wollte mir nicht übel gefallen, daß dieser Hufschmied, [S. 36] entgegen dem Weltbrauch, den Mächtigen gehaßt und den Unglücklichen geehrt hat. Ich nahm einen Schluck von der klaren Flüssigkeit. Das war Feuer, eines Hotels Napoleon würdig. Es regnete stundenlang, der Weg bis zum nächsten Bahnhof war nachher immer noch leicht zu machen und so verlor ich mich mit dem frohen alten Mann in ein anmutiges Gespräch, während er mit dem Kolben im Bottich seine Vogelbeeren stampfte. Dort, wo angeknüpft war, erzählte er weiter. Sein Vater habe neben der Schmiede eine Schänke aufgetan, damit den Fuhrleuten, die etwa in der Reihe auf das Pferdebeschlagen zu warten hatten, die Zeit nicht lang werde. Aus der Schänke sei allmählich ein Wirtshaus geworden und aus diesem ein großer Gasthof, wo alle Fuhrwerke und Herrschaftkutschen Einkehr gehalten. Um diese Zeit sei er, mein jetzt so weißbärtiger Mann, ans Licht gekommen, gehegt und erzogen und »von den Leuten verhunzt wie ein Prinz«. Der einzige Sohn des reichen Napoleonwirtes! Denn so hat der Gasthof geheißen und die Deutschen sind lieber beim »Napoleon« eingekehrt als beim »Kaiser Rotbart« auf der nächsten Poststation, weil beim Napoleon eben der Wein besser gewesen. Dann kamen die Eisenbahner ins Land. Da gab es Fuhrwerk über die Maßen und ungeheuer viel Geld. Die Leute hatten nur so gelacht dazu, obwohl ihnen der Strick schon um dem Halse lag. Aber er war noch locker. Der Napoleonwirt selbst hatte Tag für Tag vierundzwanzig schwere Pferde auf der Straße und am Tag der Eisenbahneröffnung saß er an der Ehrentafel fast ganz oben in der Nähe der hohen Herren und einer von ihnen feierte ihn durch einen Trinkspruch als den König der Straße. Das war vielleicht ein unbeabsichtigter Spott; aber ein großer. König der Straße hieß in diesem Fall König ohne Reich, denn wenige Jahre später: und auf der Straße konnten sich [S. 37] Schafe satt weiden. Der alte Napoleonwirt kränkte sich sehr darüber, daß die Eisenbahn, die er so emsig miterbauen half, so treulos war. Kein Mensch, sagte er, sei noch so grob betrogen worden wie er, der Napoleonwirt. Der Eisenbahnzug, der oben am Berghang hinrollte, pfiff auf ihn herab und kein Gesetz kümmerte sich um die Straße. Ohne gewöhnlich andere Gäste zu haben als manchmal einen durstigen Nachbar, wirtschaftete er in seiner Weise noch eine Weile fort; und als er endlich Haus und Hof verkaufte, geschah es gerade so, daß die Gläubiger keinen Schaden hatten. Da meinte der alte Napoleonwirt, für ihn sei es nun die höchste Zeit, zu sterben, denn ein paar Jahr später hätte es nicht einmal mehr für einen Grabstein gereicht. Ein Leben ohne Nachlaß und ohne Grabstein hätte er für die überflüssigste Arbeit von der Welt gehalten.

Und der junge Mensch, der Sohn, stand nun allein auf der Straße. Manchmal saß er auf der Bank vor der verfallenden Schmiede und beobachtete die Leute, wie deren doch von Zeit zu Zeit wieder vorüberkamen. Und wenn er sich so ins Schauen verlor, da war ihm anfangs, als vermöge er den Insassen des Viergespannes und den hinkenden Handwerksburschen nicht zu unterscheiden. Es sei denn, daß dieser einen munteren Marsch pfiff und jener ein gelangweiltes Gesicht machte. Und dann wieder zu sich kommend, fragte er: »Was tue ich jetzt? Am vollen Trog habe ich schon gesessen.« Nichts war davon übrig geblieben als der Nachteil, daß ihn nun der leere doppelt verdrießen konnte. Doch er verdroß ihn nicht eigentlich. Er war gegen alle weiteren Unfälle gut versichert bei der Assekuranzgesellschaft Habenichts & Co. Der Pfarrer seines Ortes hatte einmal gepredigt, der Christ solle dem Geiste leben. Und weil er das nicht weiter erklärte, so legte der Zuhörer es sich selber zurecht. [S. 38] Es wird auch am besten sein. Das braucht kein großes Betriebskapital. Ich will dem Geist leben. Und gründete eine kleine Branntweinbrennerei. Die Wurzeln, Beeren und Abfälle, aus denen er den Geist zog, hatte er umsonst; er brauchte sie nur zu sammeln, manchmal dafür ein »Vergelt's Gott!« zu sagen und ein »Stamperl Branntwein« zu versprechen. Wenn dann der Nachbar kam, um ihn zu trinken, griff er doch in den Sack; denn man hatte den fröhlichen Burschen nicht ungern und vermutete, daß er auch ein bißchen leben wolle. Er scheint auch in seiner Unterhaltung Geist geschenkt zu haben und nicht etwa Fusel, wie mancher zünftiger Ritter vom Geist zu destillieren pflegt. Da das große Einkehrhaus an der grünen Straße keine rechte Verwendung mehr finden konnte, so wurde es abgetragen und aus seinen Ziegeln am Bahnhof eine Waggonhalle erbaut. Nur die alte kleine Schmiede blieb stehen, um dem einzigen Übriggebliebenen zur Brennerei zu dienen. Das Wohnhaus dazu hatte er sich aus dem Fachgebälk des abgetragenen Gasthofes selbst gezimmert. Und hier lebte der Mann nun gelassen dahin, länger als fünfzig Jahre.

Er war Zeuge, wie sich in dieser Zeit alles mehrmals umstürzte. Die Menschheit machte Purzelbäume. Stand sie auf den Füßen, so behauptete sie, die einzig richtige Grundlage für den Fortschritt sei der Kopf; und stand sie auf dem Kopf, so klagte sie, daß alles in der Welt verkehrt sei. Der Schauende stand abseits und war ein wenig verblüfft. Nicht der Wandel befremdete ihn, sondern die Stetigkeit der Kreatur. Trotz allem unbegreiflichen Wandel blieben die Leute sich gleich. Bauten diese Leute Häuser, so tranken sie Branntwein, um Kraft zu gewinnen. Brannten die Häuser nieder, so tranken sie Branntwein, um sich zu trösten. Die Felder wurden zu Wald: die Leute tranken Branntwein und wanderten [S. 39] aus. In den Wildnissen streiften Jäger und tranken Branntwein. Und der Alte machte seinen Branntwein gerade so, wie man ihn vor so viel hundert Jahren gemacht haben mag. Und auch wo sie es anders machen, ist's im Grunde dasselbe. Alles kreist um den Punkt; und dieser Punkt rührt sich nicht vom Fleck. Zur Zeit der Ritter war es Mode geworden, in Kutschen zu fahren; zur Kutschenzeit ist es Sitte geworden, auf der Eisenbahn zu reisen; in der Eisenbahnzeit wurde es nobel, den Motorwagen zu hetzen; zur Zeit des Motorwagens wird es vornehm sein, im Luftschiff zu fliegen; und zur Zeit des Luftschiffes werden die Herren plötzlich finden, das Vornehmste, das Stolzeste, das Ritterlichste sei das Reiten auf dem Pferd. Dann ist man rund herum. Ein Ringelspiel wie auf Jahrmärkten. An einzelnen Stellen wurde wieder gerodet, wurde wieder gebaut: und immer tranken sie Branntwein und haschten nach Habe, nach grobem Genuß und waren stumpfsinnig für alles andere. So war die Masse immer gewesen und das Erdbeben der jungen Welt hatte wenig geändert. Die Masse ist Rohstoff, an dem die Wetter der Zeiten immerwährend formen und zerstören. So streute die Natur ihren Menschenstaub auch wieder einmal auf die Straße. Eines Tages kam der närrisch gewordene Scherenschleifer und der sausende Teufel. Der erste ein Reiter ohne Roß, der zweite ein Roß ohne Reiter. So der wörtliche Ausdruck des Alten; ich kann mir nur denken, daß damit die Radfahrer und Autofahrer gemeint sein sollten. — Und so, fuhr er fort zu sagen, habe sich seit fünfzig Jahren allerlei hingeändert und zurückgeändert, im Weltkasten sei alles ganz toll durcheinandergerüttelt. Aber die Zwetschken, seien sie braun oder blau, süß oder herb, frisch oder faul: der Kern sei gleich geblieben. Es sei derselbe harte Kern mit etwas Gift im Innern. Der Mensch turne und bade, [S. 40] »doktere« und schneide an sich grausam herum, sei aber inwendig der Alte geblieben. Vor Zeiten habe eines Tages ein armes Weib verschmachtend an der Straße gelegen und ein vornehmer Vierspänner sei lustig vorübergefahren. Vor einigen Wochen habe da unten bei der Telephonstange Nummer 321 der Blitzschlag einen alten Hausierer betäubt und ein Automobiler sei lustig an ihm vorübergefahren. Einen Menschen aufheben und laben: Das kann man von so einem nicht verlangen. Muß noch froh sein, wenn er selber keinen niederrennt. Ja, der Kern ist hart und ein wenig giftig. Aber abgewöhnen mag man sich's doch nicht, das Zwetschkenessen. Das Auswendige nascht man und auf den Kern läßt man sich nicht ein. Dann bleibt man halt abseits stehen und schaut zu. Und brennt Geist.

Während solcher Reden hatte der alte Schnapsbrenner mir einen angeschnittenen Laib Weißbrot vorgelegt und mich eingeladen, die Stiefel auszuziehen, damit sich die Füße besser ausrasten könnten. Ja, er stellte sich ausgespreitet hin und wollte sie mir von den Beinen reißen.

Ich lachte und sagte ihm offen, was mich wunderte. Daß er bei seiner Weltverachtung noch so gut sein könne. Ich sei in seinen Augen ja auch nichts anderes als ein Körnchen des Menschenstaubes auf der Straße. Da fuhr er munter in die Höhe: »Ja, glaubt Ihr denn, Ihr bekommt das alles geschenkt? O, das Hotel Napoleon ist ein gar teures Hotel!«

»Ich hoffe, daß Ihr Euch die Sachen bezahlen lassen werdet.«

»Bezahlen! Geht mir weg mit dem Wort Bezahlen! Allerlei Geist habe ich Euch vorgesetzt. Guten Geist!« fügte er mit ernsthafter Miene hinzu. »Und seit wann tut man den Geist mit Ziffern und Zahlen ab, seit wann? Ich denk', Ihr werdet Euch selber dalassen müssen. Ich denk' wohl.«

[S. 41]

Der Gewitterregen war vorüber, die Straße hatte kalkgraue Tümpel und die Sonne schien wieder drein. Als ich zu Dank und Abschied dem Alten die Hand reichen wollte, nahm er sie nicht an. »Bleiben wir nit beisammen?« sagte er. »Wir bleiben ja beisammen!«


Damals dachte ich, er spreche doch Unsinn, manchmal. Heute denke ich das nicht. Über zwei Jahre sind seitdem dahingegangen, in jene Gegend kam ich nicht mehr, den Alten habe ich nicht mehr gesehen: und doch muß ich oft, sehr oft an ihn denken. Ja, so oft ich selbst mich als Weltbeschauer empfinde, muß ich an jenen Schauenden denken. »Wir bleiben beisammen!« hatte er gesagt. Es dürfte stimmen. Ich war an seiner Weisheit hängen geblieben.

Aber, mein lieber alter Geistbrenner, es wird uns nicht viel helfen. Wenn wir zwei uns auch außerhalb des sausenden Webstuhles stellen, einer links und der andere rechts, und dem Weber mit Fadenknüpfen Handlangerdienste zu leisten vermeinen: wir sind doch mitten im Gewebe; nur sind wir als Fäden vielleicht widerhaariger als andere und bilden häßliche Knoten. Alle miteinander machen wir das liederliche Tuch aus.


[S. 42]

Der ordentliche Augustin.

Als der Vater Augustin Kernschimmlers sein vierzigjähriges Geschäftsjubiläum beging, sagte der Festredner unter anderem auch die großartigen Worte: »Unser teurer Jubilar nährte andere und wurde selbst fett, machte andere wohlhabend und wurde reich dabei. Sein Glück gründet auf seinen Tugenden!« Und Sekt darauf. — Denn der Vater Augustin Kernschimmlers war Bäcker und Fleischermeister gewesen — der einzige in dem Städtlein. Als einziger Fleischer hatte er die einzige Bäckerin geheiratet, und Augustin war von diesem einzigen Paar das einzige Kind. Jemand behauptete, der Vater habe das aus Geschäftsrücksichten so eingerichtet, denn er konnte keine Konkurrenten leiden und wollte dem lieben Söhnlein auch die Konkurrenz von Geschwistern ersparen.

Als nun bei dem oben erwähnten Jubiläum das Wochenblatt einen Festartikel über die Doppelfirma brachte und sogar die Bildnisse des verehrten Ehepaares Kernschimmler, da war es plötzlich ausgemacht, daß der kleine Augustin weder Fleischer noch Bäcker werden dürfe, sondern ein Doktor oder Professor, womöglich ein sehr berühmter. Zwar sagte der Vater zu seiner Frau, berühmt werde man ja auch als Fleischer, was eben der große Festartikel und das mit einem Lorbeerkranz umgebene Doppelbild des Jubelpaares im Wochenblatte bezeuge. Sie wußte das freilich besser, sagte es aber nicht, daß ihr die Veranlassung zu diesem illustrierten Festartikel runde hundert Gulden von ihrem Nadelgelde gekostet hatte.

Der Augustin kam in die Stadt, ins Gymnasium, und ward ein sehr ordentlicher Student. Seine Schulbücher hatten nicht ein einziges Eselsohr, doch bei den Examinationen [S. 43] ging es manchmal nicht ab ohne jegliche Erinnerung an das populäre Tier, auch wenn es nicht just Zoologie gab. Die Mutter schickte dem Söhnlein häufig Geräuchertes, Milchbrot, Krapfen und Zwieback, vor allem Powidlkuchen, die er so gerne aß. Einen Teil dieser guten Dinge verzehrte der Junge, der andere verschimmelte ihm im Nachtkästchen, der seine Vorratskammer war. Und als der Rest verschimmelt war, verzehrte er ihn auch, schon aus Ordnungsliebe und weil es ihm leid tat, die mütterlichen Liebesgaben wegzuwerfen. Seine Schulhefte waren stets wie neu und die Schriften und Ziffern wie gestochen, nur recht oft unrichtig. Über Fleiß und Sittlichkeit sangen seine Zeugnisse wahre Lobeshymnen, im übrigen jedoch gaben sie ihm Anlaß zur Unzufriedenheit mit den Professoren. So kam der Tag der Reifeprüfung. Die schwarzen Kleider mit dem Seidenzylinder hatte der junge Kernschimmler sich schon am Vorabend auf das musterhafteste zurechtgerichtet, also auch im Notizbuche die Gegenstände, in denen er bereits geprüft war und noch geprüft werden sollte, mitsamt den erhaltenen und zu erhoffenden Noten sorgfältigst aufgeschrieben. Als er nun auf der Gasse schon nahe dem Schulgebäude dahinging, bemerkte er mit Entsetzen, daß seine Stiefel nicht frisch gewichst waren. Er kehrte in seine Wohnung zurück, fand aber weder die Quartierfrau vor, sie war auf den Markt gegangen, noch den Schlüssel zum Schrank, wo das Stiefelputzzeug aufbewahrt lag. Er mußte also zum Krämer und zum Bürstenbinder, um Wichse und Bürsten zu kaufen und dann die Beschuhung selbst in einen des Tages würdigen Zustand zu versetzen. Als er hernach die Stiefel wieder an die Beine zog, riß sich an einem derselben eine Strupfe los. Man sah zwar den Schaden hinter der Hose nicht, aber der junge Mann konnte keine Schlamperei leiden, er ging zu [S. 44] seinem Schuster, der die kleine Angelegenheit auch zur besten Zufriedenheit schlichtete. Als er hernach an den Lehrsaal kam, schritten die Kollegen und Professoren gerade zum Tore heraus, die Abgangsprüfung war vorüber. Augustin hatte nun ein ganzes Jahr Zeit, um vor seiner Prüfung vielleicht auch noch andere Mängel, als die an den Kleidern, zu beseitigen.

Mittlerweile starben rasch hintereinander seine Eltern. Der Schlag würde für den guten Jungen vernichtend gewesen sein, wenn nicht durch denselben in Haus und Geschäft eine Welt von Unordnung aufgetaucht wäre, die in Ordnung gebracht werden mußte. Das zerstreute ihn ein wenig. Das Ordnungmachen dauerte aber Jahr und Tag, und mich wundert es nicht, daß darob die Reifeprüfung ganz und gar vergessen worden war.

Augustin Kernschimmler fand sich plötzlich allein auf der Welt, aber als Erbe eines großen Fleischergeschäftes und einer Bäckerei, die sich auch auf Mühle und Kornhandel verzweigte. Die Mühle und die gewerblichen Rechte verkaufte er, ebenso auch die Grundstücke; die beiden alten Häuser aber, das Fleischerhaus des Vaters und das Bäckerhaus der Mutter, behielt er aus Gründen der Pietät, und seine Lebensaufgabe bestand von nun an darin, diese Häuser und ihre Einrichtung in Ordnung zu halten. Jahraus, jahrein beschäftigte er eine Anzahl Dienstboten, um die Möbel abzustauben, die Spinnweben von den Ecken zu fegen, den Schwamm im Fußboden zu vernichten und alles Geschirr und Gezier blank und rein zu erhalten. Er konnte sich nicht entschließen, irgendein Kleidungsstück seiner Eltern wegzugeben, die Dienstboten rangen für und für einen wahren Verzweiflungskampf mit den Motten und anderem Insekt, aber mit Kampfer und anderen Mitteln gelang es immer noch, die Sachen zu erhalten, so daß sie in ihren Schränken und Kästen [S. 45] genau so liegen und hängen konnten, wie sie zu Lebzeiten oder beim Tode seiner Eltern gelegen oder gehangen waren. Die Wohnungen der beiden Häuser waren denn auch stets in dem Zustande, die ehrenwertesten Besuche zu empfangen, die nicht kamen. Auf der Fleischbank konnte zu jeder Stunde geschlachtet, im Ofen jeden Tag gebacken werden, es war alles dazu in bester Bereitschaft. Geschlachtet und gebacken wurde aber nicht. Doch, so fleißig auch gelüftet wurde, es war ein Modergeruch vorhanden, und die Schritte des Wandelnden hallten lauter in den Wänden als anderswo.

Kernschimmler war ein stattlicher Mann geworden, dem außer Hause seine wunderliche Art nicht einmal angesehen werden mochte. Er pflegte sich gut und kleidete sich stets mit peinlicher Genauigkeit, freilich nicht gerade nach der Mode, aber doch mit gutem Geschmacke und mit größter Akkuratesse. Wenn an einem Kleidungsstücke ein Knopf verloren ging, so mußte seine alte Dienerin von Schneider zu Schneider, von Krämer zu Krämer laufen, um genau den gleichen aufzutreiben, und wenn das nicht glückte, so wurde das ganze Kleidungsstück dem Trödler übergeben. Sein Aus- und Eingang war pünktlich, wie eine Uhr, sein Verkehr mit Bekannten verbindlich, aber gemessen, im Gespräche stets der gleichen Worte und Redewendungen sich bedienend. Alle Samstage ging er des Abends in heitere Gesellschaft, lachte aber nur, wenn bei ihm Lachenszeit war, nämlich der Ordnung halber bloß bei bestimmten, stets wiederkehrenden Späßen. Neue Witze mochten besser sein, er machte keine Ausnahme von der Regel.

Er hätte sich zurzeit — denn die Weiber garnten um und um — sicherlich verliebt, allein das lag nicht in seiner Tagesordnung, und wie er schon so sehr dem Gesetze der Trägheit unterworfen, so wäre nach dem einmaligen Verlieben [S. 46] zu befürchten gewesen, er könnte sich der lieben Ordnung halber jeden Tag wieder verlieben.

Augustin Kernschimmler war unverheiratet geboren und blieb also unverheiratet. Er lebte so nach seiner Art behaglich und zufrieden dahin und eine Entgleisung von dieser Lebensbahn schien ausgeschlossen. Da — in seinem sechsundvierzigsten Lebensjahre — erkrankte er. Es geschah so allmählich, so sachte, daß er die Ordnungswidrigkeit nicht einmal inneward. Er wurde ein wenig magenleidend, dann ein wenig leberleidend, hernach ein wenig halsleidend, endlich ein wenig brustleidend. Seine große Sorge war, die Erscheinungen, die er an sich wahrnahm, ordentlich zu verbuchen und vom Arzte die lateinischen oder griechischen Namen dafür zu erfahren. Damit konnte der Doktor recht sehr aufwarten. Wenn es aber einmal nicht stimmte, wenn der Doktor und die medizinischen Werke, die Kernschimmler genau studierte, sich widersprachen, dann war er gebrochen. Als es sich aber sachte, doch haarscharf auf eine Lungensucht wies und alle Anzeichen dazu auf das glänzendste auftraten, da rieb sich der gute Kernschimmler fröstelnd die Hände, vergnügt darüber, daß doch noch wenigstens bei schweren Krankheiten eine gute Ordnung obwalte. Sicherheitshalber hatte er mehrere Ärzte rufen lassen, und alle stimmten darin überein, daß der rechte Lungenflügel ganz kaput, der linke noch fast zur Hälfte intakt sei. Eine Frage der Zeit. In der Bestimmung dieser aber widersprachen sich die Herren, die gutmütigeren gaben ihm Monate, sogar Jahre, die berühmten gestanden fast derb, daß es sich nur noch um Tage handeln könne. — In Gottes Namen! Es liegt ja in der ewigen Ordnung der Natur, daß der Mensch sterben muß. Wenn's jedoch wirklich schon ernst ist, dann frägt es sich um die testamentarischen Angelegenheiten. Ein [S. 47] paar Verwandte, etliche gute Freunde werden ja wohl so gut sein, die Hinterlassenschaft in Empfang zu nehmen und ordentlich zu verwalten. Die hohe Erbsteuer ist nicht in Ordnung und ist das überhaupt ein sehr umständlicher Weg durch Behörden und Advokaten, dessen Ausgang mancher Erbe gar nicht erlebt. Da wird's vernünftiger sein, die Sachen unter der Hand zu verschenken.

Also hat Augustin Kernschimmler am nächsten Tage seine entfernten Vettern und Muhmen und einige gute Bekannte der Samstagsgesellschaft zu sich beschieden. Wäre schier zu spät gewesen, er hatte kaum noch eine vernehmliche Stimme, es versagte ihm schon der Atem. Zur Not wenigstens das wichtigste: Die Häuser gehören den Verwandten, die Einrichtungsstücke den Freunden, das vorhandene Papier der Gemeinde für wohltätige Zwecke. Das alte Gewand in den Schränken soll verbrannt werden.

Die Beschenkten weinten vor Rührung, vor freudiger. Wer seine Sachen mitnehmen konnte, der nahm sie gleich mit. Der Sterbende konnte sich nun auf die andere Seite legen — es war in Ordnung.

Am nächsten Morgen erwachte er später als sonst. Ah, das war ein erkleckliches Schläfchen gewesen, diesmal. Er fühlte sich nachgerade erfrischt. — Nun muß aber der Erzähler sich sputen mit der Entwicklung, sonst errät es der Leser vorwegs, wo es hinaus will. Also gut, der Augustin Kernschimmler wurde wieder gesund, stocksteingesund, so gesund, als er vorher nie gewesen. Und war arm wie eine Kirchenmaus, wenn der Küster die Wachskrusten von den Leuchtern geschabt hat. Er hatte ja alles verschenkt und es war in Ordnung.

So ein Testament ist doch ein gutes, kluges Ding. Man gibt sein Vermögen so selbstlos, so großmütig hin — aber erst, wenn man es selber nicht mehr braucht. Das, was einer [S. 48] im Testament voll Edelsinn und Barmherzigkeit jemand vermacht, kann er unbedenklich aufbrauchen, da ist keine Pflicht vorhanden, es über den Tod hinaus zu bewahren, damit jenem, dem es vermeint gewesen, das auch richtig zukomme. Testamentarisch vermachte Sachen bleiben Eigentum des ursprünglichen Besitzers, solange er lebt; nach dem Papier kann man ganze Häuser vererben, die der Erblasser mittlerweile vertrinkt oder verspielt.

Wie brutal hingegen ist das Schenken! Was du heute verschenkest, das ist morgen nicht mehr dein, und selbst wenn dein Leben darauf stünde. Wolltest du es zurücknehmen, so könnte der Beschenkte dich gerichtlich belangen, als strecktest du deine Hand nach fremdem Eigentum aus. — In diesem Falle war unser armer, stocksteingesunder Kernschimmler. Aber er fand es in Ordnung. Es fiel ihm durchaus nicht ein, auch nur auf einen Groschen seines großen verschenkten Vermögens Anspruch zu machen, oder scheinen zu lassen, daß er etwas bedürfe. Er griff seine gewohnte Lebensordnung wieder auf und führte sie so lange, bis der für sein Begräbnis bestimmt gewesene Betrag verbraucht war. Dann ging er ins Gemeindeamt und ersuchte um eine Versorgung. Er hatte früher das Wort »reich« nie ausgesprochen, jetzt sprach er das Wort »arm« nicht aus. Er war jetzt so wenig arm, als er früher reich gewesen. Er hatte früher den Lebensunterhalt gehabt, und den mußte er jetzt auch haben. Die Gemeinde hatte über seine Widmung zu wohltätigen Zwecken bereits verfügt, sie tat nichts desgleichen, als ob der Mann bei ihr etwas besonders gut haben könne; sie fand nur, daß er für das Spital zu gesund, für das Armenhaus zu fröhlich und für die Altersversorgung zu jung war. Sie ließ in sehr vorsichtiger Form bei ihm anfragen, ob er die zur Zeit offene, sorgenfreie und achtunggebietende Stelle eines Gemeindedieners [S. 49] würde übernehmen wollen. Wenn ja, so wäre er der Bevorzugte. Diese einflußreiche Stelle sei weitaus gesicherter, als die des Bürgermeisters, der von drei zu drei Jahren abgelehnt werden konnte, während der Gemeindediener ohne ganz besonderen Anlaß nicht bedankt werde, sondern bestimmt sei, die Tradition des Bürgermeisteramtes von Geschlecht zu Geschlecht zu übertragen und zu überwachen.

Augustin Kernschimmler ward Gemeindediener und als solcher ein wahrhaft bedeutender Mensch. Er hatte zwar nichts zu tun, als den Willen anderer auszuführen, aber die Ausführung ist ja schließlich Hauptsache. Er war ganz glücklich, der Selbstbestimmung enthoben zu sein, denn er hatte nie etwas mit sich anzufangen gewußt, er fühlte sich als Werkzeug anderer geborgen und gekräftigt und arbeitete mit wunderbarer Genauigkeit. Sein Wirkungskreis erstreckte sich nicht etwa über die Kanzlei, sondern über die ganze Gemeinde bis zum Bezirksgerichte und zu der Landeshauptmannschaft hinauf. Man soll gerade einmal nachdenken, was ein Gemeindediener zu tun hat. Kernschimmler besorgte sein Amt mit so unerhörter Ordnung, daß die Leute sich fragten, wer denn das Räderwerk eingefettet haben könne, daß es nun so glatt ginge? Sie wurden sich der Ursache kaum bewußt, merkten nur, daß der Gemeindediener ein ordentlicher Mensch sei.

Als er fünfundzwanzig Jahre lang der musterhafte Gemeindediener gewesen, machte er etwas Dummes. Er ließ sich pensionieren. Als siebzigjähriger Mann, meinte er, sei es in Ordnung, sich zur Ruhe zu setzen. Bald sah er aber, daß bei ihm die Ruhe als solche nicht in Ordnung war. Denn er hatte zu lange in regelmäßiger Tätigkeit gelebt; jetzt auf einmal nichts zu tun, als spazieren zu gehen, das war doch die größte Schlamperei. Jeden und jeden Tag dieselbe [S. 50] Schlamperei. Das war freilich auch Regelmäßigkeit — aber in diese neue Ordnung konnte er sich nicht mehr finden. Er erbot sich dem neuen Gemeindediener freiwillig zu Diensten und wurde des Dieners Diener. Die schwersten Kränkungen seines Alters bestanden darin, wenn in der Kanzlei ein Foliant statt im dritten Fach, etwa im vierten lag; wenn die Empfangsbestätigung für Zustellungen von dem Empfänger mit Bleistift geschrieben war, anstatt mit Tinte; wenn der Bürgermeister ihn » Herr Kernschimmler« nannte, da er doch fünfundzwanzig Jahre lang in treuen Diensten bloß der Kernschimmler gewesen war.

Seine persönliche Tagesordnung war das Uhrwerk geblieben, das seit einem halben Jahrhundert kaum ein einziges Mal stillstand — täglich dieselbe Sekunde zum Aufstehen, dieselben dreiundzwanzig Minuten zum Anziehen des immer gleich geformten Gewandes, dieselben neun Minuten zum Rasieren, und die Haare kämmte er sich mit der gleichen gewohnten Sorgfalt auch noch zur Zeit, als er längst keine mehr am Kopfe hatte.

Eines Tages aber ließ Augustin sich eine große Unregelmäßigkeit zuschulden kommen. Er kämmte sich nicht und rasierte sich nicht, er kleidete sich nicht einmal an. Lange über die gewohnte Zeit hinaus blieb er in seinem Bette liegen und war tot.

Als der Schreiner ihm den Sarg zurechtmachte, sagte er zu einem Nebenstehenden: »Ich wüßte schon, was zu machen wäre, daß der Kernschimmler wieder aufstände. — Man brauchte bloß einige Hobelspäne auf den Boden zu verstreuen, alsogleich wäre er mit dem Besen da, um Ordnung zu schaffen.«

Tue es nicht. Laß ihn rasten mit neunundsiebzig Jahren — es ist in Ordnung.


[S. 51]

Meister Sani.

Er war Maler, aber ich rede nicht von seinen Bildern. Er war Geizhals und ich rede von seinem Gelde. Er verdiente sich sehr viel Geld, buchstäblich mit Gold aufgewogen wurden seine bemalten Leinwandblachen. Aber ich interessiere mich nicht für Kunstwerke, ich interessiere mich für Dukaten. Dem Meister mußten ja auch diese lieber gewesen sein als jene, sonst hätte er seine Gemälde nicht verkauft. Denn er benötigte es nicht, das viele Geld. Er war aus ganz einfachen Verhältnissen emporgekommen und bedurfte für sich sehr wenig. Er war Junggeselle, was schon an sich eine Ursache des Geizes ist; wer für die Familie immer Geld ausgeben muß, der kann sich keinen Geiz angewöhnen.

Meister Sani lebte so weit anständig und stets adrett; wie er auf der Gasse einherging, merkte man ihm das Laster nicht viel an. Auch hat ihn damals niemand unter seinen Geldsäcken sitzen gesehen oder wie er etwa mit dürren Fingern im Münzhaufen gewühlt hätte. Er hatte weder dürre Finger noch Geldsäcke. Seine Ersparnisse waren in mehreren Sparkassebücheln verbucht, die er in einem eisernen Kästchen unter seinem Wäschevorrate verwahrte. Jetzt kann man ja alles sagen. Nebst seiner künstlerischen Tätigkeit hatte der Meister die größte Freude am Sparen und in der Vorstellung, was er um sein gutes Geld alles haben könnte. In der ersteren Zeit dachte er, jetzt — wenn ich wollte — könnte ich schon zehn Jahre faulenzen und naturbummeln, zu leben hätte ich. Bald war so viel da, daß er ans Reisen denken konnte, und er reiste in Gedanken ein zweitesmal nach Italien, denn ein erstesmal war er wirklich schon dort gewesen. Diesmal [S. 52] konnte er bis Sizilien gehen und über Spanien nach Frankreich zurück. Später wäre er schon in der Lage, sich eine Villa zu bauen, unweit der Stadt, die täglich nach den Atelierstunden leicht zu erreichen. Wenige Jahre später war er so weit, daß er sich ein größeres Landgut kaufen könnte mit Garten-, Feld-, Vieh- und Waldwirtschaft und er ginge umher und sähe, wie die Arbeit des Gesindes schleunt und die Früchte gedeihen und die Schweine und Hühner heranwachsen für die Festtafel. Alles das und mancherlei anderes könnte er haben, wenn er wollte. Er konnte sich gleichsam als den heimlichen Herrn betrachten über so vieles. Aber es konnte noch besser kommen und deshalb ließ er das Geld ruhig in der Sparkasse liegen; es kam immer noch reichlicher Zuzug und üppigeres Wachstum, und eines Tages war er Schloßherr. Ein großes Schloß mit Lustgärten, Meierhöfen, Waldungen, Jagden und sonstigen vornehmen Ergötzlichkeiten — könnte er haben, wenn er wollte. Und da er es haben könnte, so war es just so viel, als er hätte es. Diese Gedanken an seine Güter hatten sich in seinem Kopf festgeflochten wie ein Spinngewebe, in dem Spinnen gaukeln und Mücken hängen. Er malte noch fleißig, aber er malte nicht mehr so gut als früher, sein Herz war bei den Gütern. In der Nacht schlief er unruhig, die Sorge um das Vermögen und daß es sich ja nicht vermindere, verwüsteten seine Träume, die einst so schön gewesen waren. Immer hatte er die Wirtschaften, Schlösser und Fabriken zu verwalten, die doch nur erst festgeplättet — in den Sparkassebücheln existierten.

Da sagte Meister Sani zu sich: Das ist nichts, Meister Sani, das ist nichts. So in die Gefangenschaft zu geraten! Das muß wieder anders werden. Und befreite sich mit Jugendkraft. Er ging hin, nahm die Gelder aus der Sparkasse [S. 53] und — verschenkte sie. Wo er Mangel und Not sah, da gab er hin, aber ungenannt. Er wollte nicht, daß die Leute wußten, wie dumm reich er geworden war. Auf einem Spaziergange kam er zu einer rauchenden Brandstätte. Er wühlte in der Asche, zog eine Blechkapsel hervor und sagte zu den jammernden Abbrandlern: »Das wird euch gehören, es war wohl im Hause und ist nicht mitverbrannt.« In der Blechkapsel war so viel Geld, daß sie ihr Haus wieder aufbauen konnten. — Ein anderesmal mischte er sich unter einen Trupp Zigeuner und verlangte von einem braunen Mädchen, daß es ihm wahrsage.

Sie las in seiner hohlen Hand und sprach: »Dem edlen Herrn steht viel Geld bevor.«

»Da ist es auch schon,« lachte er und ließ aus dem Rockärmel die darin versteckte Rolle von Silberlingen hervorgleiten. »Da nimm! Du hast es wahrgesagt, so gehört's auch dir.«

Einer Schullehrers Familie steckte er nächtig als Nikolo Geld zum Fenster hinein und lief nachher davon, als ob er etwas gestohlen hätte.

Von einem Knaben verlangte er einen Krug Wasser; als der Junge es vom Brunnen geholt und Meister Sani es getrunken, sagte er: »Ein anderesmal, Junge, mußt du den Krug besser auswaschen; siehe, was er für einen Bodensatz hat!« Da lag ein Dukaten drinnen.

In der Zeitung stand, daß eine arme Frau auf dem Wege zum Markte ihr ganzes Geld verloren hätte. Meister Sani »fand« es und ließ ihr den gleichen Betrag schicken. Die Frau hatte mittlerweile aber selbst ihr Geld wieder gefunden und wußte nicht, an wen jener irrtümliche Fund zurückzuschicken sei. Noch heute brennt ihr das unrechtmäßige Geld auf der Hand und ich soll nichts verraten.

[S. 54]

So wurde er sein Geld auf die bequemste Weise los. Endlich hatte er noch hundert Gulden.

Die gab er nicht weg, die behielt er. Und an diesen hatte er eine Freude. Dann begann er neuerdings zu sparen und sammelte Gulden. Jetzt im kleinen machte ihm das Sammeln wieder Vergnügen; in der geringen Anzahl waren die Dinge so leicht zu übersehen, war so leicht Ordnung mit ihnen zu halten. Das war alles wieder so einfach, wie zur Zeit, als er seine Laufbahn begann und ungefähr so viel einnahm, als was er für sich nötig hatte. Er freute sich wieder an jedem Guldenstücke, an jeder kleinen Ziffer. Die Träume waren weg und die eingebildeten Sorgen, die schier so wirklich sind als die wirklichen. Er hatte ein leichtes Herz bekommen, ganz jugendlich war ihm zumute. Er gab sich mit frischer Liebe wieder seiner Kunst hin. Sein Lebensbedarf war höchst einfach und manchmal, wenn es ihm nach etwas gelüstete, dachte er: Nein, 's ist nicht vonnöten, da mache ich mir lieber einen größeren Genuß und lege das Geld zu dem anderen. Und in stiller Abendfeierstunde, da holte er sein Sparkassenbüchel und freute sich des kleinen glatten Besitzes.

Aber die Idylle sollte nicht immer so dauern. Seine Bilder trugen Geld; selbst die, so er nicht verkaufte, brachten in den Ausstellungen, in den Vervielfältigungen Geld ein. Er besaß schon wieder große Summen und die Berechnungen wurden kompliziert. Die Villen und Schlösser, die er sich wieder kaufen konnte, machten ihm zwar keine Sorgen, denn er dachte sie nicht mehr, seine Phantasie hatte den Schwung verloren, er war älter geworden. Träume wie einst hatte er auch nicht mehr, weil er wenig schlief. Wachend dachte er an sein Vermögen, ob es wohl auch gut angelegt sei, ob es nicht mehr Zinsen tragen könnte, als es bisher getragen? [S. 55] Ob es bei einer großen Krisis nicht verloren gehen könnte? — Auch von seiten des Steueramtes war eine Gefahr nicht unmöglich. Er hatte nämlich in letzterer Zeit gefunden, daß die Steuer horrend ist, und hatte etwelches verschwiegen. Wenn man draufkäme! Die Angeber bekommen von der unterschlagenen Steuer ein gutes Teil, da kann sich leicht einer finden. Und die Strafe ist furchtbar. Das Fünfzigfache! — Oder soll er sein Geld verstecken, daß kein Mensch was davon weiß? Dann finden sie es am Ende auch nach seinem Tode nicht. Wie schade das wäre! Aber wer soll denn erben? Nur auslachen wird man einen, der so ärmlich gelebt und so viel Geld gehabt hat. Da könnte man am Ende gar noch einen Nachruf als Geizhals bekommen. — Solcherlei Gedanken quälten ihn die halben Nächte lang. Und einmal, als es schon gegen Morgen ging und die Geldsorgen ihn immer noch nicht hatten schlafen lassen, sprang er zornig auf, stürzte zum Schrank, riß die Sparkassebücheln hervor und wollte sie in die noch glosende Ofenglut schleudern. Aber die Bücheln wollten nicht aus seiner Hand. Als ob die Finger einen Krampf hätten, so hielten sie fest und in diesem Augenblicke fiel es ihm ein: So viel man in den Blättern liest, wird jetzt gesammelt zur Errichtung einer Heilstätte für brustkranke Frauen. Dorthin mit diesem Ludersgeld.

Doch am nächsten Morgen bettete er die Urkunden seines Vermögens wieder sorglich in den Wäschekasten. Waren sie ihm doch liebe Hausfreunde geworden — die einzigen, die er hatte. Geselligkeit und Freude an seinem Künstlerruhm waren ihm völlig abhanden gekommen, seit er sein Geld gar so lieb gewonnen hatte. Aber — war es denn sein Geld , das da im Kasten lag? Das waren nichtige Scheine. Nach der Persönlichkeit des Geldes begann er sich zu sehnen. [S. 56] Er wollte es bei sich in seiner Wohnung haben, selbst um den Preis der Zinsen. Nur dem baren Gelde in der Nähe sein! Der Schrank nah' dem Bette, dann wollte er Ruh' haben. Monatelang mußte er warten, bis die Sparkassen ihm seine großen Guthaben zurückgeben konnten. Dann aber schloß er sich oft stundenlang in sein Schlafzimmer ein, betrachtete die Goldmünzen, die Reichsnoten, die Banknoten und zählte und ordnete sie und legte sie zärtlich wie liebe kleine Kindlein in die Wiegen der Kistchen. Und war der Schrank wohlverschlossen, so setzte er sich zu seinem Kassenbuche und rechnete und rechnete, bis er wieder den Schrank aufschloß, das Geld herausnahm und prüfte, ob wohl noch alles stimme. Die Tür zur Wohnung im vierten Stocke hatte er mit Eisenblech beschlagen und mit Wertheimschlössern versehen lassen. Aber trotzdem wagte er die Wohnung kaum zu verlassen und in den Nächten fürchtete er sich vor den Räubern und Mördern. Er magerte ab, er fühlte sich krank und in seinem Atelier, das zwei Häuser weit von der Wohnung entfernt war, saß er selten und überhaupt nicht mehr, um schöne Bilder zu malen, sondern um Geld zu verdienen. Er verzichtete auch auf neue Kleider, weil die alten noch gut waren; er begnügte sich mit der einfachsten Kost, weil sie am gesündesten sei. Sein Gemeinsinn war pädagogisch geworden, er gab kein Almosen mehr, weil das die Bettelei züchte, er verleugnete dem Steueramt sein Einkommen, weil jeder ein dummer Kerl sei, der das nicht tut. Er sperrte sich gegen fällige Posten, die von ihm zu zahlen waren, weil es nobel ist, warten zu lassen. Und überhaupt, was nützt das liebe Geld, wenn man es wieder ausgeben soll!

Manchmal aber brach in ihm die Wut los gegen das Ungeheuer, das ihn zum elendesten Sklaven gemacht hatte. In solcher Verzweiflung nahm er sich vor, alles wieder zu [S. 57] verschenken; aber das Beest hatte sich so fest an seine Natur geklammert, mit widerhakigen Zähnen in sein Herz gebissen, daß er nicht einen Gulden losbrachte. Er konnte sich von dieser Qual nicht mehr befreien. Er ahnte, daß er daran zugrunde gehen würde, und doch saß er wieder bei seinen Kistchen und zählte und ordnete.

Eines Tages ging er auf den Gemüsemarkt, um einzukaufen. Denn er hatte sich entschlossen, die häuslichen Angelegenheiten persönlich zu besorgen. Man kann sich auf fremde Leute ja nie verlassen. Erstens kaufen sie viel zu teuer ein, zweitens betrügen sie noch obendrein, drittens fordern sie alles mögliche und viertens hat man überhaupt nicht gern unverläßliche Leute im Hause. Er hatte seinen Handkorb schon ziemlich gefüllt, denn er pflegte gleich für die ganze Woche einzukaufen, und feilschte eben noch um zwei Kilo Erdäpfel, als mit ihren schmetternden Signalen einige Wägen der Feuerwehr vorbeirasselten. Erst fragte Meister Sani erschrocken, wo es denn wohl brennen könne? niemand wußte es. Die Stadt ist groß. So ging er ruhig nach Hause. Je näher er kam, je erregter war heute das Straßenleben, und als er um die letzte Ecke bog, sah er, wie aus den Fenstern seiner Wohnung Qualm und Flammen wirbelten und darüber gerade der Dachstuhl zusammenstürzte.

»Ist die Einrichtung gerettet?« schrie er dem Feuerwehrhauptmanne zu.

»I was! Wie soll denn da gerettet sein, wenn alles steinfest versperrt ist. Aber die Nachbarswohnungen intakt.«

»Danke schön!« antwortete Meister Sani. Ganz ruhig, fast mit Behagen sagte er es.

Nun war er wieder frei.

Er schaute den Flammen zu, die über seiner dachlos gewordenen Wohnung aufstiegen. Glühende Sterne und [S. 58] Vöglein flogen empor — Funken und losgelöste Fetzchen. Flog da nicht sein Geld gegen Himmel? ... Es war ordentlich fein zum Ansehen, er hatte seine Freude daran, wie dieses höllische Geld so schön und fromm geworden war.

Als endlich das Feuer gedämpft war und Meister Sani gesehen hatte, daß alles reinlich vertilgt worden, ging er in sein Atelier. Im Korbe hatte er Schwarzbrot und einige Äpfel, davon aß er. Dann legte er sich auf die hölzerne Bank und schlief — wie von einer schweren Last befreit — ununterbrochen neun Stunden lang und gut, wie ein leichtsinniger König.

Nachdem das Geld so mit Gotteshilfe überwunden war, erwachte in dem Künstler wieder der göttliche Leichtsinn, der von Anfang an in seiner Natur gelegen. Gerade die herrlich auflodernden Flammen hatten seinen Schönheitssinn wieder erweckt und das Farbenleuchten übertrug er auf seine Bilder. Diese stiegen noch einmal im Werte und begannen neuerdings Geld ins Haus zu bringen. Aber er ging nicht mehr darauf ein. Zweimal war's ihm gelungen — ein drittesmal könnte es schief gehen. Meister Sani gibt alles aus, was er einnimmt, und erst in seinen alten Tagen, wenn sie überhaupt kommen, will er, seiner alten Passion fröhnend, wieder anfangen zu sammeln — auf öffentlichem Platze mit gezogenem Hute — kleine Münzen.

Ob es seine Verehrer zu einer solchen Münzensammlerei kommen lassen werden, weiß man noch nicht. Wahrscheinlich.


[S. 59]

Der falsche Himmelträger.

Zehn Sekunden lang hatte ich — um im Volke Ärgernis zu vermeiden — mich mit vorgeneigtem Körper auf ein Knie gestützt. Als das Sanktissimum vorüber war, richtete ich mich rasch auf und sagte zum Professor, der hinter mir stand: »Na, kurios, wie man das Knien verlernen kann! Noch zehn Sekunden lang und ich wäre ohnmächtig geworden auf diesem Sandkorn, das sich so bereitwillig unters Knie geschoben hat, um mir die Sünden abbüßen zu helfen. Und einst hielt ich so was stundenlang aus, mit Leichtigkeit. Du weißt ja, die untere Volksschichte steht sich besser beim Knien als beim Stehen. Merkwürdig genug, daß gerade kleine Leute sich so sehr bücken müssen, um durchzukommen.«

»Ja, lieber Freund,« antwortete der Professor, »davon wüßte ich auch ein erbauliches Kapitel zu erzählen. Vom Bücken und Knien. Wenn dem Künstler nicht ohnehin alles erlaubt wäre und er beliebig alle möglichen Sünden haben könnte, damals hätte ich sie alle bezahlt. Ja, der liebe Herrgott hätte mir noch was herausgeben müssen.«

Wir gingen am Fußsteige dem Bache entlang spazieren und er erzählte das Erlebnis.

Du weißt, daß ich für das Frauenkloster die Altarstatue geschaffen habe. Vor Jahren schon. Seither war mein Künstlerherz oft in jener Klosterkirche bei den reichen Kunstschätzen, bei dem glanzvollen Kultus und bei den anmutigen Gestalten der Schwestern und Novizinnen. Die bekam man aber selten zu sehen, da dem profanen Erdenpilger die heiligen Mysterien eines Frauenklosters möglichst verborgen bleiben müssen. Nun kam aber der hohe Gedächtnistag der [S. 60] Gründung dieses Klosters und der sollte durch ein großes Kirchenfest begangen werden. Aller Glanz sollte aufgeboten werden, alle Schwestern, Jungfrauen in ihrer Zier sollten im weißen Festgewande unverschleiert den Einzug halten und in vielen Reihen sich um den Hochaltar gruppieren. Du kannst dir denken, daß ich diesen Aufzug sehen wollte. So habe ich mich bei der Oberin angemeldet und ersucht, dem Feste mit beiwohnen zu dürfen.

»Ja, mein geschätzter Herr,« sagte die Matrone, »das wird wohl nicht gehen, da nach unseren Regeln kein fremdes männliches Wesen an unseren Gottesdiensten teilnehmen darf.«

»Aber ehrwürdige Mutter,« sagte ich, »ich bin ja kein fremdes männliches Wesen. Ich bin der Künstler, der von Ihrer Gottseligkeit gewürdigt worden war, die Altarstatue zu verfertigen. Und sollte nicht die Gnade haben können, bei der hohen Feier, die diesen erhabenen Gegenstand betrifft, dabei sein zu dürfen?«

»Aber mein Gott, Herr Professor, wenn Sie so reden! Was machen wir denn da? Sie sehen doch ein, daß ich eine unserer wichtigsten Ordensregeln unmöglich übertreten kann.«

»Haben Euer Ehrwürden in Ihrer sonst so vollkommenen Anstalt kein Hintertürchen, das zufällig offen bleibt und durch das ein frommes Christenherz sich ungesehen hineinschleichen könnte?« So sagte ich halb scherzend, denn die Oberin — das war mir schon von früher her bekannt — versteht auch Spaß. Sie lächelte denn auch zu meinem Vorschlage, drohte aber mit dem Finger; vor einem, der so redet, müsse man sich erst recht in acht nehmen. Indes falle ihr ein Ausweg ein, der ihr ermögliche, den Eintritt zum Festgottesdienst zu gestatten.

»Und der ist?«

»Sie müssen dafür etwas leisten.«

[S. 61]

»Herzlich gern. Wie viel denn?«

»Nein, in Geld nicht,« rief sie fast fröhlich. »Aber an der Feier mitwirken, wenn Sie das wollten. Können Sie an der Orgel den Blasebalg treten?«

»Das Blasebalgtreten, ehrwürdige Mutter, wäre keine Kunst, wenn der Blasebalg nicht gerade im Winkel hinter der Orgel wäre, wo man nichts sieht.«

»Ach ja,« sagte die Äbtissin, »das ist wahr, da sehen Sie nichts.«

»Natürlich,« glaubte ich sogleich beisetzen zu müssen, »geht es mir nicht bloß ums Sehen. Wohl auch der Erbauung wegen —.«

»Na na,« unterbrach sie mich, »das wissen wir uns schon zu reimen. Die Künstler sind ja alle mehr oder weniger Heiden. Nun — fällt mir was ein. Wollen Sie Himmel tragen? Da wären Sie mitten im Einzug und könnten alles gut sehen.«

»Himmel tragen? Das wäre schön, Euer Ehrwürden,« stotterte ich, »allein, da werden gewiß andere sein, Bestimmte, Würdigere.«

»Es sind ihrer vier. Aber einer ist krank. Eine Stange ist augenblicklich vakant. Dann hätte es weiter kein Bedenken.«

»Meinen ehrerbietigen Dank, aber ich muß mir's doch erst überlegen, ob — ob ich zu diesem ehrenden Amte nicht etwas zu ungeschickt bin.«

»So überlegen Sie sich's. Und lassen mir's bis morgen sagen. Der Herr mit Ihnen.«

So die Unterredung mit der Oberin. Dann überlegte ich. Eine Stange des viereckigen Baldachins tragen, unter dem ein wohlgenährter Prälat einherschreitet. Ob sich das mit dem akademischen Künstler und dem kaiser-königlichen Professor wohl verträgt? Aber das glänzende Gepränge. [S. 62] Meiner Hände Bildwerk in einem Meere von Lichtern und Rosen. Und dann die weißen Jungfrauen. Besonders die eine mit dem länglichen Angesichte, die großen blauen Augen drin und die Wangengrübchen ...

Am nächsten Morgen, als ich auf dem Bette saß, während meine Frau mir einen entsprungenen Knopf an die Weste heftete, begann ich über die Sache mit ihr zu sprechen. Sie blickte mich befremdet an und sagte endlich: »Mann, das soll wohl nur ein Witz sein? Mit drei Banausen Himmel tragen — du!«

»Das einzige Mittel, um diesen interessanten Aufzug mit ansehen zu können.«

Sie lachte laut, sehr laut und grell — fast widerwärtig.

»So ein Künstler hat seine Sachen,« sagte ich. »Man bedarf Anregung.«

»Die du zu Hause natürlich entbehren mußt!«

»Und gerade will ich diesen Aufzug sehen.«

»So tu's eben.«

»Ist verboten, wie gesagt. Ist nur erlaubt, wenn ich etwas zu der Begehung leiste. Wir haben beraten, die Oberin und ich; es gibt kein anderes Mittel, als daß ich eine Stange des Baldachins übernehme.«

»Im roten Radmantel natürlich!« lachte sie.

»Was es da nur so dreist zu lachen gibt. Von einem roten Mantel ist ja keine Rede. Ob man nur so an einem Einzuge teilnimmt oder ob man pro forma eine rote Stange in der Hand hat. Sind stets nur die würdigsten Männer dazu ausersehen.«

»Und das Gerede der Leute, daß Professor Hertner bei den Marienschwestern Himmelträger geworden ist?«

»Aber es erfährt's ja kein Mensch. In so einem Kloster, das ist ja eine geschlossene Gesellschaft.«

[S. 63]

»Ich sage dir, in allen Witzblättern bist du nächstens mit deiner Himmelstange. Nein, so was könnte einem doch im Traum nicht einfallen! Herr Jesses, wenn der Zaruzel draufkäme!«

Sie legte die Weste hin und ging etwas lebhaft ins Nebenzimmer. Ich mußte sehr den Kopf schütteln. Wie die Frauen gleich alles auf die Spitze treiben! Wo sie doch sonst so viel Verständnis für meine künstlerischen Interessen hat! — Der Zaruzel, meinte sie, dieser Karikaturenschmierer! In die Witzblätter! Na, das wäre so was! — Aber all diese Vorstellungen und Bedenken verblaßten vor den weißen Jungfrauen, die ich just einmal sehen wollte. Der Oberin wurde angezeigt, daß ich mich zum Feste rechtzeitig einfinden würde.

Meiner Frau sagte ich nichts mehr davon und auf ihre Frage, weshalb ich mich so feierlich schwarz ankleide, schützte ich dreist eine Aufwartung beim Statthalter vor. Du kannst dir denken, daß ich an diesem Tage nicht auf geraden Wegen dem Kloster zuging, sondern durch die Gassen und Gäßchen hinterwärts, wo man durch ein Pförtlein in den Klostergarten gelangen kann. Das Pförtlein war natürlich versperrt. Auf mein Läuten erschien der alte Gärtner, der mich auf meine Versicherung, ein Himmelträger zu sein, mit einiger Säumnis passieren ließ. Im großen Klosterhof wurde der Festzug zusammengestellt. Meine drei Berufsgenossen waren alte Männer mit Glatzen und grauen Bärten, die sich über den fremden vierten, der statt des erkrankten Schusters da war, ein wenig zu wundern schienen. Wir bekamen scharlachrote Mäntel; eiskalt ging es mir durchs Gebein, als ich den meinen über die Achsel legte. Doch für alle Fälle war das eine willkommene Vermummung. Wir holten aus der Kirche den rotseidenen, goldbefransten Baldachin [S. 64] mit den vier Tragstangen. Der Hof füllte sich mit ornadierten Priestern, dunkelgekleideten Nonnen und den weißen Jungfrauen. Nachdem der Patriarch in golddurchwirktem Meßkleide unter dem Himmel stand, bewegte sich der Zug um die Kirche und zum Hauptportal hinein. Ich sage dir, es war eine Pracht! Dieses Lichtgespiel, diese bunte Gestaltenreihe. Die weißen Jungfrauen, eine lange Reihe, waren geschmückt mit roten und blauen Schleifen; ihre Locken schwarz und gold und bis zum lichtesten flachs, wallten über den Nacken; ihre Augen, ganz entweltlicht, möchte ich sagen, schauten groß und unschuldig gleichsam in die himmlischen Räume auf; andere senkten die Lider oder schlossen sie ganz. In den Händen trugen sie brennende Kerzen. Und dieses Singen, Freund! Man hört manchmal das Wort Engelsgesang und denkt sich nichts dabei. Ganz himmlische Stimmen sind es gewesen, auf Erden gibt es keine solchen. Die rote Stange in meiner Hand und der rote Mantel über mir waren rein vergessen über dieses wunderschöne Bild, über diesen bezaubernden Gesang. Nun in der Kirche angelangt, stellten die Jungfrauen sich am Altare auf in Reihen, die rückwärtigen höher als die vorderen, so daß es ein wunderbares Mosaik aus Engelsgesichtern ward — ein unbeschreiblicher Liebreiz. Der Himmel, umdrängt von andächtigen Frauen, hatte mitten in der Kirche angehalten, der Prälat stieg zwischen den Jungfrauen zum Altar hinauf. Es begann das Hochamt. Die Priester knieten nieder, die Nonnen knieten nieder, die Jungfrauen knieten nieder. Alles kniete in großer Demut nieder auf beide Knie. Auch meine drei Himmelträgergenossen. Und auch ich. Aber die Minute, die der erste Segen dauerte, war schmerzlich lang, denn die feinen Sandkörnchen des Steinbodens bissen durch das Beinkleid in das verweichlichte Knie, das seit meiner Knabenzeit [S. 65] nicht mehr geübt worden war. O Freund! Ich ahnte nicht, daß es erst der Anfang einer qualvollen Stunde sein sollte. Unmittelbar nach dem Segen wollte ich mich aufrichten, aber — alles blieb knien. Auch meine Banausen knieten so fest, als ob sie in den Steinboden hineingewachsen wären. Ich allein aufstehen und stehen bleiben neben der Stange? Unmöglich. Abgesehen von dem unsühnbaren Ärgernisse, das damit gegeben worden wäre, hätte ich mich unberufenen Blicken ausgesetzt — der akademische Bildhauer Professor Hertner als Himmelträger hätte alles überragt. Ich blieb knien, aber frage nicht wie und in welchem Jammer. Es war eine wahre Folter. Ein weniges geschah mir wohler, daß ich mich fest an die Stange klammern konnte, erst mit der einen Hand, dann mit beiden Händen. Aber diese Stütze wurde bald belanglos und die Last des Körpers lag auf den armen Knien, die auf dem unbarmherzigen Stein laut geächzt hätten, wenn Knie ächzen könnten. Ich konnte es, durfte es aber nicht. Mußte in schweigender Frommheit bewegungslos daknien. Die anderen, so weit ich sie beobachten konnte, knieten ganz behaglich, dem regen Mundgebete, den weidenden Augen sah man an, daß sie alles eher als an ihre Knie dachten. Keiner ahnte den Büßer in ihrer Mitte, der seinen Vorwitz so blutig sühnen mußte. Ich hatte es ja versucht, mich in die Schönheit des Bildes zu versenken, das gerade vor mir so lieblich und licht entfaltet war, dem Gesang zu lauschen, dessen Klang in die Hallen aufstieg, aber ich empfand nichts, als den Schmerz an den Knien. Das Ovalgesicht suchte ich, das mit den runden Blauaugen und den Wangengrübchen; dort hinten, zwischen zwei brünetten Lärvchen guckte es hervor, schier himmlisch verzückt und ein bißchen schalkisch. Allerlei liebliche Gedanken und Vorstellungen wollte ich anspinnen an dieses [S. 66] Engelsbild, aber es gelang nichts — mein Knie, mein Knie! Da gedachte ich der Warnung meiner Frau, doch es war zu spät. Ich fühlte mich als Verdammter unter den Seligen. In meinem Leben nie hatte ich mich so heiß dem Evangelium entgegengesehnt als in dieser Stunde. Du weißt es, beim Evangelium steht man auf. Es kam endlich, alles erhob sich, ich mich fast zu früh, und atmete auf. Eine kleine Hoffnung leuchtete, als würde man von nun ab stehen dürfen, doch als das Evangelium vorüber war, kniete alles wieder nieder. In Gottesnamen, fest an die Stange geklammert, kauerte ich da und war entschlossen, knien zu bleiben, bis sie mich ohnmächtig hinaustragen würden. Aber so weit kam es nicht. Als die Not wieder sehr groß geworden war, entdeckte ich eine Kunst, die, auf den Waden zu sitzen. Was die anderen darüber dächten, das kümmerte mich nicht mehr, in dieser Selbsterniedrigung sahen mich ja auch nur die nächsten der dichtgedrängten Nachbarn und sie waren mitleidig. Die Knie waren sanft entlastet, ich saß auf meinen Beinen. Jetzt dachte ich wieder an das Gesicht mit den Wangengrübchen, aber ich konnte über die Köpfe nicht mehr hinwegsehen, der breite Buckel meines Vormannes begrenzte meinen Horizont. Doch nun war leicht standzuhalten und als es endlich vorüber, kräbelte ich mich mit Hilfe der Himmelstange krampfhaft und schier ungern empor.

Gesehen hatte ich's also. Dann den Mantel los, das Beinkleid an den Knien mit dem Taschentuch entstaubt, durch das Gartenpförtchen wieder hinaus und mit der unschuldigsten Miene die Gasse entlang. Rief mich eine bekannte Stimme an: »Professorlein, he! Ich dachte, wer einmal im Himmel gewesen, der käme nicht wieder zurück.«

Und war's der kleine Zaruzel, der berüchtigte Karikaturenzeichner für Witzblätter.

[S. 67]

»Woher des Weges?« fragte ich mit kühn gespielter Harmlosigkeit.

»Von der Kirche der Marienschwestern, wo es heute so schön gewesen ist!« antwortete er mit widerlicher Süßlichkeit. »Du kennst ja den gelbhaarigen Teufelszwerg.«

»Von der Klosterkirche?« tat ich überrascht, »aber da darf ja kein Mannsbild hinein.«

»Doch, doch,« antwortete er. »Entweder es geht hinten durch das Gartenpförtchen oder es geht durch ein Dachfenster der Sakristei. Ersteren Weg pflegen die Bildhauer zu wählen; der letztere, beschwerlichere, bleibt für arme Witzblattzeichner übrig. Ich sage dir, Freund, köstlich warst du im roten Mantel an der Himmelsstange, unbezahlbar. An fünf Witzblätter verschicke ich.«

Hub ich an stark zu leugnen. Da sagte er ganz gütig: »Mühe dich nicht, es hilft dir nichts,« und zog seinen photographischen Momentapparat aus der Tasche.

Der schneidigste Mut kommt allemal, wenn nichts mehr zu verlieren ist. Ich blieb stehen und sagte leise: »Also Zahn um Zahn. Gut. An dem Tag, als das Bild im Blatt steht, wirst du umgearbeitet. Ich bin Bildhauer in Stein und Bein!« — — Das hat er verstanden. — Seitdem sind Jahre vorüber, es hat niemand etwas erfahren. —

So erzählte mir der Professor am Fußsteig entlang. Da wunderte ich mich laut, daß er es selbst ausplaudere, was ein so tiefes Geheimnis hätte bleiben sollen.

»Jetzt ist alles verjährt,« entgegnete er. »Wenn's die Leute nun auch erfahren, sie glauben es nicht. Und wenn sie es glauben, so macht's mir nichts mehr. Übrigens geschah es doch nur aus Liebe zur Kunst und das vorzeitige Eindringen unter den Himmel habe ich an Ort und Stelle ja gründlich gebüßt.«


[S. 68]

Der unglückliche Kammerdiener.

»Glauben Sie ja nicht,« sagte die Königin zur Gesellschaft, die nach dem Diner im Zerkle sich um sie versammelt hatte, »glauben Sie ja nicht, meine Herrschaften, daß unsereins so mächtig sei und alles nach Herzenswunsch schlichten könne. In vielen Fällen können wir das weit weniger als andere Leute; oft nicht einmal das Selbstverständlichste. Ach allzuoft war ich schon in heller Verzweiflung darüber, wie uns die Hände gefesselt sind, und das Herz, und ich sage sogar, auch der Kopf. Soll ich Ihnen eine Geschichte erzählen? Die Geschichte hat sich vor etwa einem halben Jahre im Schloß zugetragen und ist sehr tragisch. — Wollen die Damen und Herren nicht rauchen? Schön, ich will, wie es Pflicht der Fürsten ist, mit gutem Beispiele vorangehen.«

Bei dieser launigen Bemerkung nahm sie aus der Kupferschale eine Zigarette und der Lakai hielt ihr das Flämmchen vor. Die Königin sog es mit einem Atemzug in die »Ägypter spezial« und winkte dem Diener mit einem gütigen Blick, daß er sich entfernen könne.

Der General strich seinen langen weißen Schnurrbart und horchte schmunzelnd der tragischen Geschichte entgegen, die im phantastischen Lockenhaupt Ihrer Majestät sich wieder zugetragen haben mochte.

»Die Herrschaften erwarten jetzt den Vortrag einer Romanze oder dergleichen,« lächelte die Königin, weil sie zum schwarzen Kaffee manchmal eine ihrer neuerstandenen Poesien zum besten zu geben pflegte. »Diesmal werden Sie irren. Die unerhörtesten Geschichten macht nicht der Dichter, macht [S. 69] das Leben. Und Sie, mein General, dürften der Tragödie wohl etwas weniger skeptisch entgegensehen, als es offenbar der Fall ist. Vielleicht werden die kommenden Dinge sogar Ihr Herz engagieren!«

»Mein Herz wird nicht mehr engagiert,« lachte der alte Weißbart, »außer Majestät geruhen zu gestatten, daß ich mir Kognak einschenke.«

»Der König,« so begann die Königin zu erzählen, »hatte einen Kammerdiener aufgenommen. Ein junger Magyar wars, ein hübscher sympathischer Bursche mit braunen Augen und perlweißen Zähnen. Die blaue Livree mit den weißen Seidenschnüren stand ganz prächtig zu seinem frischen, glattrasierten Rundgesicht. Sehr bald wußte er sich in seine Stellung zu finden, bei seiner ruhigen und flinken Art. Dabei hatte er einen heimlichen Humor, der sich allerdings nur in den Mienen ausdrückte, trotzdem aber nicht weniger sprechend war. Anfangs war er zum Laufburschen aufgenommen worden, allein, nachdem unser alter Onkel Tom gestorben, machte ihn der König zu seinem Kammerdiener. Obschon der Bursche einige Jahre Soldat gewesen, hatte er von seiner Einfalt, die er aus der Pußta mitgebracht, noch den Löwenanteil bei sich behalten. Es war ein guter braver Junge, der sich selbst die Stiefel putzte, weil er es für unbegreiflich hielt, daß der Kammerdiener wieder einen Kammerdiener hätte. Wenn er dann im Vorzimmer nach dem Takte eines Tschardas drauf losbürstete, oder wenn er schwermütige Pußtalieder sang, da habe ich manchmal ein wenig an der Türe gehorcht. Das Liebchen und die Mutter, diese zwei Frauen rangen in den Liedern um sein Herz — es war ganz rührend. Der kleine Prinz stand oft bei ihm und hatte seinen Spaß, wenn Lajosch sang und die Melodie manchmal lustig mit ein paar hüpfenden Sprüngen mittanzte, [S. 70] in der einen Hand die Bürste, über die andere den Stiefel gestreift — es war furchtbar komisch. Einmal machte er dem Prinzen den Vorschlag, ob sie nicht miteinander Sprachstudien treiben wollten. Er möchte von dem Prinzen französisch lernen und würde hingegen diesem das Ungarische beibringen. Der Prinz ging darauf ein und ich glaube, er hat bei dieser philologischen Gegenseitigkeit mehr profitiert als der andere. Doch glaubte der Prinz eine Klage verstanden zu haben, die Lajosch in seiner Sprache ausdrückte: Nichts sei ihm furchtbarer als die drei Tage in der Woche! — Was sind das nur für drei Tage in der Woche? Wir verstanden es nicht. Wenn durch den Schloßhof die bärtigen Husaren in ihrer schmucken Uniform ritten, und hinaus ins Weite, da konnte Lajosch ganz melancholisch werden. Da vergaß er sein Singen und Tanzen, ging schwermütig umher und versah mürrisch seinen Dienst. Oft, wenn der König vorüberging, blickte er ihm verstohlen nach und einmal will die Kammerfrau ihn murmeln gehört haben: Wie beneide ich ihn! Werde ich's auch einmal erreichen? Da soll ihr schrecklich unheimlich geworden sein. Mit der übrigen Dienerschaft hat er gar nicht verkehren wollen. Diese nackten Rundscheiben! Diese Vollmondgesichter! So soll er bei sich geknirscht haben, und es hätte ihn der Ekel geschüttelt. Dann hat er die braune Gesichtsfarbe verloren und das Feuer in den Augen und ist abgemagert und ist immer trauriger geworden. Da fragte ich ihn eines Tages: Lajosch, hast du noch eine Mutter? Er antwortete auf ungarisch. Hast du Heimweh? Was ist dir, Lajosch? Er brummte etwas und wendete sich ab. Gerne hätte ich ihm noch wegen einer unglücklichen Liebe auf den Zahn gefühlt, denn nach meiner Überzeugung konnte es nur die Liebe sein. Mein Gott, vielleicht wäre dem Braven zu helfen. Warum sollte [S. 71] er sein Magyarenmädchen nicht an den Hof bringen? Es ist gewiß sehr hübsch. Ich liebe Naturkinder und brauche ein Kammermädchen. Aber es war nichts herauszukriegen vom armen Lajosch. Wieder einmal hörte man eine Klage über die drei Tage in der Woche. Dann versank er ganz in eine stumme Schwermut. Der König sagte, er würde den Lajosch weggeben müssen, der Arme müsse krank sein. Dem Arzt, der ihn konsultieren wollte, rief er ein ungarisches Fluchwort zu. Dann ging er auf sein Zimmer und zertrümmerte den Toilettespiegel. Nun dachten wir allen Ernstes an eine Geisteskrankheit. Der arme junge Mensch! Es war furchtbar traurig. Dabei war eine so weiche, ich möchte sagen, um Hilfe flehende Melancholie in ihm, daß uns allen betrübt zu Mute ward und wir uns entschlossen, doch noch eine Weile mit dem Burschen Geduld zu haben und recht gütig mit ihm zu sein. Wäre es irgend ein Anliegen gewesen, gewiß — hatten wir gedacht — ließe es sich erfüllen. Aber eine solche Krankheit — das ist schrecklich. Auch weinen soll man ihn einmal gesehen haben, und bei sich jammern, daß es ein Unglück sei, wenn er einen solchen Posten verlassen müsse. Aber es sei gräßlich, es sei zu gräßlich, das zu ertragen! Die Kammerfrau glaubte nicht an Krankheit. Sie meinte, da sei ein Geheimnis dahinter. Mein Himmel, ein dunkles, wenn nicht gar blutiges Geheimnis! Ich habe ihn gar nicht mehr sehen können, ohne daß mich Grauen anwandelte. Die Entlassung wird notwendig werden. Doch habe ich mir vorgenommen, ihn erst noch einmal ernstlich zur Rede zu stellen. Da findet sich eines Tages unter den eingelaufenen Bittschriften auch ein Gesuch von unserem Kammerdiener Lajosch. — Ich merke, die Herrschaften werden aufmerksam,« unterbrach sich die Königin. »Sehen Sie, das war ganz mein Fall. Neugierde [S. 72] kann man es nicht mehr nennen. Ein Taumel höchster Spannung, unter dem ich die unbehilfliche Schrift entzifferte, die schlechte Behandlung der Landessprache nicht achtete, um das Geheimnis endlich zu enthüllen. — Ich könnte die Herren nun raten lassen. Doch abgesehen davon, daß Sie es kaum erraten würden, ist es nicht danach. Ich habe ja gesagt, daß es eine tragische Geschichte ist, vielleicht eine tragisch komische — ich finde es geradezu packend und das Herz seiner Exzellenz wird am Ende doch noch engagiert —«

Denn der General lehnte nachlässig und ziemlich teilnahmslos in seinem Fauteuil und drehte seine Schnurrbartspitze.

»Wir brennen, Majestät!« sagte der Graf.

»Meine Herren, nur Geduld! Es wird episch erzählt,« entgegnete die Königin. »Man sollte das Schriftstück ja eigentlich vorlesen. Aber es ist besser, ich ziehe bloß den Inhalt heraus. Es ist zu rührend. Lajosch dankt für die Auszeichnung, ins Schloß aufgenommen worden zu sein. Er sagt, so gut wie jetzt ihm, sei es in seinem Heimatskomitat noch keinem Menschen ergangen, seit die Welt steht. Nur ein Anliegen trage er, es sei vielleicht dumm, aber er könne sonst nicht leben. Beim Militär sei er es so arg gewohnt worden und bei ihm zu Hause sei ein Mannsbild gar nicht anders denkbar. Gut und Blut wolle er mit Freuden opfern für den König, nur um die eine Gnade bitte er; wenn er schon bei Hof bleiben dürfe, so bitte er um einen Schnurrbart. Daß er nicht wöchentlich dreimal unter das schreckliche Messer kommen müsse, daß er einen Schnurrbart tragen dürfe, das sei sein untertäniges Bitten.«

»Einen Schnurrbart?!« Die Gesellschaft brach in ein unbändiges Gelächter aus.

[S. 73]

Die Königin machte eine Gebärde des Mißmutes: »Ich wußte ja, daß Sie lachen würden. Mir war nun aber gar nicht ums Lachen. Der arme Bursche bittet ja um gar nichts anderes, als um seine Persönlichkeit, um das Selbstbestimmungsrecht über sich selbst. Kann man in unserer Zeit der Freiheit und der Menschenrechte um weniger bitten? Kann man um etwas Selbstverständlicheres bitten, als um sich selber? Um seinen Schnurrbart bittet er, der aus seiner eigenen Haut hervorwächst — und siehe, ich kann ihm den Schnurrbart nicht bewilligen . Ich bin Königin und habe nicht einmal die Macht, zu sagen: Ja, mein Junge, deinen Schnurrbart sollst du haben. Ist das nicht tragisch? Ist es nicht lächerlich tragisch? Wir regieren die Völker, und den Sitten unseres Hauses gegenüber sind wir ohnmächtig. Hofetikette! Die Diener haben stets in vorgeschriebener Livree und glatt rasiert zu erscheinen — punktum. Welche Palastrevolution, wenn der König entschieden hätte: Lajosch, dir ist gestattet, den Schnurrbart zu tragen! Nach einem Monat prangten alle Diener in Schnurr-, Backen-, Spitz- und weiß der Himmel was für Bärten. Was bliebe dem König übrig, als sich den Bart — rasieren zu lassen! Es ist ja ein Unding und man kann's nicht ändern, man kann nicht. Wahrlich, diese Bartgeschichte des armen Lajosch hat mich sehr demütig gemacht. Wir, die sogenannten Mächtigen, in welchen Fesseln wir liegen! Spinnengewebe und doch unzerreißbar, so lange wir der Vorurteile nicht Herr werden können.«

»Wenn ich mir eine Bemerkung gestatten dürfte,« sagte mit einer Verneigung der Professor.

»Die kann ich nicht zulassen!« rief halb ernsthaft, halb humoristisch erregt die Königin. »Um höfische Torheiten zu schützen, muß ich die Zensur verhängen. Denn ich weiß, [S. 74] was sie sagen wollen, Professor. Sie wollen sagen, der König habe gottlob doch noch andere Eigenschaften, um sich von den Lakaien zu unterscheiden, so daß er für sich wie für jeden andern die Bartfreiheit unbedenklich gestatten könnte. Dem Könige eines freien Staates gezieme es, von freien Männern umgeben zu sein, selbst in seinem eigenen Hause, so daß das Volk sehe: im persönlichen Dienste des Königs zu stehen sei Rittersart, aber nicht Lakaienart. Das wollten Sie sagen!«

»Ei doch nein, Majestät, so weit hätte ich mich nicht erdreistet —«

»Ich bitte Sie, Professor, Sie sind zufällig glücklicher Besitzer Ihres Schnurrbartes — behalten Sie ihn oben und gestehen Sie offen Ihre Meinung.«

»Nun allerdings, wenn auch nicht ganz so geradeweg, ungefähr allerdings hatte ich mir so gedacht. Mir fällt nur noch ein, daß man — anstatt den Schnurrbart bis auf das »Es ist erreicht« aufzustrammen — auch sagen könnte: Wenn einer, so sollte der König bartlos gehen, weil er der erste — Diener des Staates ist.«

»Das nenne ich Schnurrbart!« lachte die Königin.

Die Königin-Mutter hatte diesem Gespräche anfangs mit freundlichem Kopfnicken, nun aber mit einiger Unbehaglichkeit zugehört. Sie war auf Besuch im Schlosse und der freie Ton, der hier herrschte, war ihr neu und befremdlich. Sie warf nun die ablenkende Frage ein, ob der arme Lajosch sich getröstet habe.

»Nein, teuere Mama,« antwortete die Königin, »der hat sich nicht getröstet. Wir haben uns trösten müssen. Als er merkte, daß sein Bittgesuch unberücksichtigt bleibe, hat er kurz und höflich den Dienst gekündigt. Noch nie habe ich [S. 75] einen Diener so ungern ziehen sehen als diesen, der seine Existenz dem Schnurrbart opferte.«

»Dem Manne kann geholfen werden,« sagte nun der General. »Ich rekrutiere ihn neuerdings zum Heere. Dort muß der Mann — sozusagen — zwar auch manchmal Haare lassen, doch der Schnurrbart bleibt ihm stehen.«

»Ich wußte es ja, General, daß Ihr Herz engagiert wird. Und Sie werden ihn doch gleich wenigstens beim Hauptmann anfangen lassen?«

»Das allerdings, Majestät, dürfte sich schwer machen lassen. Es rückt alles nach der Rangordnung.«

»Auch im Fall, daß einmal Verdienst und Tüchtigkeit —?«

»Alles stets nach der Rangordnung, Majestät.« —

Als der Zerkle aufgehoben war, die Gäste vor der Königin ihre gebührende Reverenz gemacht hatten und davongegangen waren, trällerte der Professor, auf der Straße dahinschlendernd: »Trallala, trallala! Rangordnung! Stehen die Haare vorne, so heißen sie Schnurrbart, stehen sie hinten, so heißen sie Zopf — trallala, trallala!«

Daß nun der General die Allerhöchste Protektion unberücksichtigt ließ, das hielt er für Schnurrbart, war in diesem Falle aber — Zopf.


[S. 76]

Die Einsiedler.

Vom alten Hofe des Plattenbauer auf der Hohe steigt ein junges Frauenzimmer talwärts gegen die Grazerstadt. 's ist ihr schon seit etlichen Jahren vorgegangen, sie müßt' ins Kloster gehen. 's ist nichts, weltlicher Weise, 's freut sie nichts mehr, so lustig sie früher einmal ist gewesen. Bauernweis' ist allerweil arbeiten, aber der Mensch kann nicht genug beten. Immer ist ihr auch nicht so zu Mut gewesen. Aber — die lieben Leut' laufen davon oder sterben ab.

Abgestorben ist ihr Vater vor zwölf Wochen und jetzt hat sich's herausgestellt, daß sie ihrem Wunsch kann nachgehen. Zweihundert Gulden und noch was dazu hat sie Erbschaft. Jetzt hindert sie nichts mehr daran, sie kann in's Kloster gehen. Aber wie fängt man das lauter nur an? In der Grazerstadt gibt's ja Klöster genug, um den ganzen Schloßberg herum. Doch sie sagen, der Kaiser wollt' sie abstiften. 's wird nicht wahr sein, so grob wird er doch nicht sein. Wer schon einmal drin ist, wird ja sitzen bleiben dürfen. Aber wie hineinkommen? Halt aufnehmen werden sie niemand mehr wollen. Frauenkloster natürlich! Einen Bekannten wüßt' sie wohl, der sie könnt' weisen und der's gewiß auch gerne tät, weil er selber auch ist in die Buß' gegangen. Aber mein Eid, wo wird dieser Mensch zu finden sein. In einer Schloßberghöhle, hört man, soll er Einsiedler sein. Aber Schloßberghöhlen gibt's viele und in etlichen, sagen sie, täten Räuber hausen. Da kann ein schwach Weibsbild doch nicht gehen suchen. Daheim die Knechte haben eh schon g'lacht. Daß man's nit tät wissen, ob der [S. 77] Markel ein Einsiedler sei worden oder ein Räuberhauptmann. 's ist nur G'spött, weiß doch jeder, daß es dem Markel um den Himmel geht und nit um die Höll. Wenn er die Höll' hätt' wollen, hätt' er auch in Rinneg verbleiben können und ich hätt' leicht Ursach' sein können; nein, vor dem hätt' ih mich nit lang mögen derwehren. Aber jetzo, wenn er in der haarenen Kutten steckt — und die Raben werden ihm mit dem täglichen Brot auch nit gar zu ratlich (reichlich) sein — da wird er schon frumm Lampel worden sein. Der kunnt mir freilich raten, der Markel. Wills halt doch probieren, ob ich ihn find.

Das waren der Maid trautsame Gedanken, als sie herabstieg von der Plattenhöhe. Ein gesund Bröckel Weibsbild war's: wie alt, wie schön, das weiß man nicht genau. Sie hatte einen Stecken bei sich und um die Faust, in der sie ihn hielt, einen Rosenkranz gewunden, da war sie doch wehrhaft genug. Im Mariagrünerwald sah sie einen Hasen; er war vor ihr über den Weg gelaufen — von links nach rechts. Das hat was zu bedeuten. Bei den Elisabetherinnen wird sie aufgenommen — sicherlich. Lauf' nur, lauf' Has', daß dich der Jäger nit derwischt! Um dich wär's schad. Oder gar bei den Ursulinerinnen! Wenn sie fromm ist und zweihundert Gulden mitbringt! Aber sie kennt sich nit aus in der großen Herrenleutstadt. Ein einzigesmal ist sie drinnen gewest mit Milch. Hat ihr einer's Geld herausgelogen. Seitdem nimmermehr. Ganz schlechte Leut und ganz gute Leut sind bei einand in so einer Stadt. Achtgeben muß man.

Ein Obersteirer begegnet ihr, oder wer er ist. Just so gewandet mit der ledernen Kniehose und dem grünen Hut. Der lange schwarze Backenbart dazu, der steht nit gut. Da tät ehenter ein Schnurrbartel gehören. — Wie er vorbei [S. 78] ist, wendet die Maid sich um und schaut ihm nach. Der, wenn er nit so ein Bauerngewand tät anhaben. Den möcht' eins für den Mariagrüner Waldbruder halten — so ähnlich ist er ihm. Den kunnt sie eigentlich auch aufsuchen, den Waldbruder. Nein, da geht sie doch lieber zum Markel, mit dem ist sie besser bekannt. Lachen wird er schon, der, daß sie jetzt auch so was Heiliges will werden.

Wie sie über den Rücken des Rosenberges hinausgeht, sieht sie schon den Schloßberg. Der steht mitten auf aus der Eben' — wie ein Heuschober, vergleichsweise. Und um und um die Laster von Häusern. Hoch auf dem Berg steht ein großes Schloß, viel Spitztürme und graue Mauern. Der steile Berg ist nackend über und über und lauter Steinwänd' und Löcher hinein. Dort, in einer solchen Höhl' wird er hocken, der Markel, und bußwirken. Aber nirgends ein Weg hinauf, man sieht keinen. Die Straßen zum Schloß ist auf der anderen Seiten. Jetzt läutet die Liesel [1] — 's ist Mittag, die Maid steht still und betet den Englischen Gruß.

Fußnoten:

[1] Name der großen Glocke auf dem Grazer Schloßberg.

Nachher steigt sie den Steig hin bis zu den Häusern. In einer Krämerei fragt sie an, ob man nichts wisse von einem Einsiedler Markel; am Schloßberg soll er seine Höhl' haben!

»Wird's halt derselbig sein, der Markarius heißt und den Leuten die Schwindsucht kann abbeten. Schau hinauf einmal, dort zwischen den zwei Steinwandeln, siehst das schwarze Loch? Dort is er drinnen.«

Denkt sie sich: Ist eh merkwürdig genug, daß ein Landmensch in die Stadt geht, um Einsiedler zu werden. Aber da oben, das glaub' ich, da bleibt er freilich hübsch allein. Möcht' schon wissen, wie ich da hinaufkomm'!

[S. 79]

Zur selbigen Stund' ist es gewesen, daß der fromme Einsiedler Markarius seine Lodenkutte sich vom Leibe reißt und heftig in den Winkel schleudert: »Jetzt soll dich schon der Teufel holen — hätt' ich bald gesagt!«

Lodenhosen hat er noch an, die gehen ihm bis unter die Achseln hinauf. Hemed keins, mit nackten Armen steht er da, schier glatt und weiß. Oft scheint die Sonne nicht drauf. Ist's doch das allererstemal, daß er tagsüber seine Kutte wegschmeißt. Aber das Gesicht voller Haar. Der Kopf geschoren wie ein Schaf zu Micheli. Die Kapuze hängt an der weggeschmissenen Kutte.

Was ist denn das? Über dem Steinwall schaut ein Weiberkopf her. Auf allen Vieren ist sie emporgeklettert und ist rot im Gesichte und schnauft:

»Markel!«

»Katzl!«

»G'funden hab' ich dich!« lacht sie auf. »Aber jetzt mußt dein' Rock anlegen.«

»Die Kutten meinst. Die leg' ich nimmer an, mein liebes Katzel!«

»Wir dürfen ja kein Fleisch mehr anschau'n. Denk dir Markel, ich auch. Ich will ins Kloster!«

»Du?« sagt er. Dann patscht er mit den flachen Händen auf seine Schenkel: »Du ins Kloster?!« Und lacht hell heraus.

»Wenn du ein frommer Einsiedler bist worden!« erinnerte sie vorsichtig.

»Bins ja nimmer!« rief er und hob ein Papier auf, das im Schutte lag. »Da les'!«

»Mein Gott, wie kann denn ich lesen!«

»Der Kaiser hat mir schreiben lassen. Uns allen, uns Klosterleuten und Eremiten. Sollten schauen, daß wir [S. 80] weiterkommen, Faulenzer kunnt er nit brauchen. Alles aufgehoben. Nur die schulhaltenden und krankenwartenden Klöster hat er ausgenommen. Den Mariagrüner-Bruder sollen's auch schon abgesetzt haben. Ist aller Einsiedler um Graz Oberhaupt gewest.«

»Jesses, ich hab's Haupt ja laufen sehen.«

»Was für ein Haupt?«

»Nau, euer Oberhaupt. Ist schon im Steirerg'wand g'west.«

»Wird mir auch nix anderes übrig bleiben. Wenn ich in drei Tagen nit weg bin von da, so kommt der Wachter. Les' nur, da steht's.«

»Was sagst denn, Markel!« schrie sie auf. »Ja, nachher wär's bei mir auch nix. Schulhalten kann ich nit, krankenwarten mag ich nit.«

»Und mir gehts auch nit anders. Heut' steig' ih noch auffi, da ins Gschloß und red mit dem Guferneer!«

»Red' für mich auch. Wenn ich nu wieder müßt' heimgehen zum Plattenbauer! Hab'ns dich nit brauchen können! möchtens sagen, und das G'lachter! — Na, heim geh' ich nimmer. Ein bissel ein Kloster wird doch noch wo übrig bleiben für unsereins. Ich zahl' ja mein' Sach' und mein Beten und Fasten und Frommsein wird doch niemand irren. Geh', Markel, tu' anfragen. Im Kapuzinergraben wart' ich, bei der Kirchen.«

So tat der Eremit Markarius seine alte Bauernjoppen wieder an und den schwarzen Strohhut mit dem breiten Dach und ging hinauf ins Schloß, um sich zu beschweren. Bis zum »Guferneer« kam er zwar nicht vor, aber der Schreiber in der Kanzlei hat ihn ins Gebet genommen. »Ja, mein Lieber,« sagte der, »jetzt ist eine andere Zeit, jetzt heißt's arbeiten. Unser Kaiser Josef ist der erste Arbeiter [S. 81] im Reich, der kann die Müßiggänger schon einmal gar nicht leiden, und sollten sie noch so fromm sein.«

»Herr Amtmann,« antwortete der Bruder Markarius, »wenn unsereiner einmal nit mehr fromm sein darf, dann wird einer ein schlechter Mensch und tut Leut' ausrauben!«

»Und wenn einer Leut' ausrauben tut,« antwortete der Schreiber in gleichem Ton, »dann lassen wir ihn henken.«

»Beileib' nit,« sagte der Einsiedler und zog sein bärtiges Gesicht ins Lachen, »kein schlechter Mensch, das mag ich dennoch wohl nit werden. 's ist nur so ein G'spaß gewest. Halt anfangen, wenn ich wüßt, was ich jetzt sollt!«

Hat der Schreiber mit den Achseln gezuckt:

»Sollt' ich etwan dem Kaiser nach Wien nachlaufen und fragen, was alle die Leut', die er aus den Klöstern und Höhlen verjagt hat, jetzt machen sollen? Arbeiten soll'ns. Gestern hättet Ihr auf der Triesterstraße ganze Scharen von Klostergeistlichen wandern sehen können, etliche noch in der Kutte, die andern schon in ihrem weltlichen Gewand und auf dem Buckel Zegger und Binkel. Die einen taten laut Rosenkranz beten, die anderen greinen und lachen, und gejuchzet haben ihrer auch ein paar, daß sie wieder in der lustigen Welt taten sein. So sind sie fort. Loschament und Arbeit suchen, wo sie sie halt finden. Euch kann ich auch nichts anders raten. Fleißig arbeiten, vor der Arbeit eins beten, nach der Arbeit eins juchzen, so wirds dem Kaiser am liebsten sein und dem Herrgott auch.«

Mit diesem Bescheid hat der Bruder Markarius wieder gehen können. Unterwegs in den Kapuzinergraben wollte er bei dem Eck-Kramerstandel für das Katzerl einen Wecken kaufen. Etliche Pfennige hatte er noch in der Wilflingjacke gefunden. Aber das Standel war heute geschlossen und die [S. 82] Kramerin war gestorben am Tag zuvor. Bleibt er stehen, denkt nach und geht weiter.

Vor der Kirche steht sie.

»Bist da, Katzerl?« ruft er ihr zu. »Ist's dir recht, daß ich alleweil noch Katzerl zu dir sag'?«

»Wennst schon Katherl ganz und gar nit kannst sagen, muß es mir wohl recht sein. Magst's Katzerl derleiden, mußt auch 's Kratzerl derleiden.«

»Will dich Katherl nennen. Ist eh ein schöner Nam'! Weil wir zwei itzo allein dastehen und zusamm'halten müssen.«

»Was hat er denn gesagt, der Guferneer?« fragte die Maid.

»Nix. Bin nur bei seinem Schreiberknecht gwest.«

»Und was hat der gesagt?«

»So viel wie nix. Das hätt' ich selber auch gewußt, daß 's jetzt arbeiten heißt. Wenn ich ein bissel Geld hätt'! Da enten beim Wildkästenbaum ist eine Kramerin g'west. Die ist gestorben. Das Standel möcht' ich gleich, da wollt' ich drauskommen. Kein schlecht's Platzl beim Kästenbaum, gehen drei Straßen z'samm!«

Da sagte sie ihm nahe ans Ohr: »Ein bissel Geld hätt' ich.«

Und ist's also geworden. Sie haben sich das Kramerstandel erworben, haben gehandelt mit Wecken, Bockshörndln und Feigen, mit heilsamen Wurzeln und Kräutern und anderlei guten und nützlichen Dingen. Drüben in Geidorf haben sie sich zwei Wohnungen genommen; denn das stand fest, hatten sie auch das Geschäft gemeinsam, persönlich wollten sie Einsiedler sein und verbleiben. Und die zwei Wohnungen sind gleim nebeneinandergestanden. Die Tür dazwischen war fest zugesperrt. Hat sich also jedes in seiner [S. 83] Stuben ein Altarl aufgerichtet an dieser Tür und hielt jedes für sich seine Vesper ab jeden Abend, so daß es war, als stünden zwei Klöster nebeneinander, ein Mannskloster und ein Frauenkloster. Und just an der Verbindungstür, damit sie nicht konnte aufgemacht werden, hatten sie ihr Altarl errichtet, sie herüben, er drüben. Und wenn sie davor knieten bei der Vesper, so knieten sie eigentlich voreinander, und ob die Andacht just immer am Altar haften blieb und nicht bisweilen durchs Türholz ging, das getraue ich mir nicht zu entscheiden.

Beträchtlich klostermäßig ging es auch im Kramerstandel her. Das einemal saß der Markel drin, das anderemal die Kathel; beisammen nie, hätten auch schwer Platz gehabt. Die Preise waren christlich, maßen sie sich mit wenigen Pfennigen Gewinn begnügten im Erdentag. Ging ein armes Weibel vorbei, so erhielt es wohl gar den Wecken umsonst; schnaufte ein alter Mann daher, so schenkte ihm der Markel eine Gamswurzel, so für schweren Atem heilsam ist. Das alles sah sich gar erbaulich an für die Nachbarschaft, und dennoch ist der Spott laut geworden über das Einsiedlerpaar. Ein Schustergeselle erdreistete sich, das alte Volksliedel für den Markel umzubiegen:

»Der Mann auf dem G'wänd
Hat die Kutten verbrennt,
Hat die Beten verschmissen,
Ist dem Dirndl nachgrennt.«

Ob solcher Kränkung wollte der Markel sich doch einmal gründlich verteidigen bei der Kathel, und eines Abends begann er das Altarl wegzuräumen, das an der Verbindungstür stand. Sie aber räumte das ihre derweil noch nicht weg, versuchte vielmehr den Schlüssel, ob er wohl sicher umgedreht war. Er war nicht umgedreht, die Tür war nicht verschlossen, [S. 84] was die Kathel für ein Mirakel hielt, weil sie sich alle Abend von dem Gegenteil überzeugt hatte. Fest glaubte sie das erstemal noch nicht dran; aber wenn das Mirakel ein zweites- und gar ein drittesmal geschehen sollte, dann müßte sie dem Altarl schon einen andern Platz anweisen. Aber wo ist der »Geistler« dazu?

Zur Zeit war der Markel viel auswärts und stieg mit Krampen und Kräunzen auf dem Plawutsch oder auf dem Geierkogel herum, oder gar auf dem hohen Schöckelberg, um heilsame Wurzeln und Kräuter zu sammeln, weil er sich bei derlei wohl auskannte. Solche Waren wurden von den Käufern auch belobt. Aber der Pfarrer vom Kapuzinergraben blieb eines Tages stehen vor dem Standel und fragte deutsam an, ob da nicht auch ein Kräutel für den Tod zu haben sei?

Bisher, antwortete der einfältige Markel, hab' er so eins noch nit gefunden.

»Nun also, wenn du weißt, daß du sterben mußt, was lebst denn nachher mit dem Kebsweib? Kommst ja in die Höll' mit ihr!«

Der Kramer verstund' die Lehr' nur zu halb und am Abend räumte er das zweitemal sein Altarl weg, um die Kathel fragen zu gehen, wie die Ansprach' wohl gemeint sein könne? Aber der Schlüssel war umgedreht. — Ihr alter Brauch; ganz nach dem Sprüchel: »Schmecken laßt sie, anbeißen nit.«

Und ereignete es sich dann, daß der Markel von seinen Bergwanderungen einmal mehrere Tage lang nicht zurückkehrte. Zwei Tage war er öfter schon ausgewesen, aber drei Tage noch nie und jetzt fiel es der Maid aufs Herz, wie die wahrhaftige Einsiedelei ganz und gar nicht zu ertragen sei. Am vierten Tage kam er. Die Kräunzen voller Krautwerk [S. 85] und den Mund voller wundersamer Berichte. — Er sei weiter hinteri gegangen, ganz hinteri ins Gebirg. Was es da für Wildnis gibt überall! Wald soweit das Aug' tragt. Und mitten auf steht er. Das ist ein Steinberg! Da ist der Schloßberg wie ein Schotterhäuferl dagegen. Wundershalber steigt er hinauf, schier einen ganzen Tag. Und oben Arnika, ganze Wiesen voll zwischen den Steinen. Und Speik und Gamswurzeln und sonst Wurzelwerch allerhand. Und ist er über einem schaudervollen Gewänd gewest, wohl wie zwanzig Kirchtürm so hoch, und kirchturmsteil nieder ins tiefe Tal. Ist aber so ein Gamssteig zwischen den Wänden niedergangen und denkt er sich: Vielleicht sogar Edelweiß! und knorzt hinab ins Gewänd soweit er kann, und wo erst der schauderhaft Abgrund anhebt. Und findet unter der Wand ein eben Platzl und ein Wasserbründel, und darüber ein Bildnis: Unser' liebe Frau! — Fallts ihm ein: Hier ist das recht Ort für einen Einsiedler! In der Grazerstadt tun's eh alleweil spötteln. Was gilts, er packt z'samm, nimm sein Katzl und geht hinauf in die Felsenwildnis! Ein Hüttel sei leicht gebaut, habe sich das Fallholz und die dicken Baumrinden schon ausgeschaut. Kein Mensch hätt' ein' festere Burg.

So lang und so viel erzählt er und macht alles so gut, daß die Kathel zuletzt sagt: Ihr sei's schon bald recht auch. Hätt' man sich das fromm Leben schon einmal vorgenommen — dort oben gibts keine spöttelnden Leut', und dem Kaiser seine Hand wird wohl auch nit so lang sein. — Ob sie nit vorher der Geistler sollt' zusammentun allzwei, fällt ihr ein; und lacht sich auch schon darüber aus: Verheiratete Einsiedler! Ein bissel ein' Anfechtung macht ja nix. Wo wär' denn das Verdienst, wenn's kein' Anfechtung nit hätt! — Geht in ihre Kammer und versucht den Schlüssel, der ist in Richtigkeit.

[S. 86]

Und eine Woche nachher: Die Waren haben sie teils verkauft, teils verschenkt und wie das Standel leer ist, rucken sie sich ihre Kräunzen mit Gewand und Werkzeug auf den Buckel und wandern ab. Einen Tag lang auf der Straßen der Mur entlang ins Gebirg. Dann rechterhand in eine Schlucht, und dräuen die Wänd schon himmelhoch herab, daß der Maid ein Schauder durch den Leib geht. Begegnet ihnen ein Halter, hat statt der Gert eine Flinten und sagt, sollten sich in acht nehmen vor Wölfen und Bären.

»Hat mich keiner g'fressen, frißt mich keiner!« ruft der Markel — und nachher halt anwärts, steil, durch Strupp, über Gefäll und Gestein. Mit ehrfürchtiger Freud sieht es die Kathel, wie in der Wildnis überall der Tisch ist gedeckt. Erdbeeren, Heidelbeeren, Himbeeren, Pilze und Tierwerch zu fangen überall, wer geschickt ist. Und überall frisches Wasser, und ein Brunnen ist, der fällt so dick wie ein Startinfaß viele Klafter hoch herab und ist's kein Rauschen mehr, ist's ein Krachen, daß man sein eigen Wort nicht versteht.

Mit harter Plag sind sie endlich oben auf der wüsten Höh'. Die Kathel muß sich die Augen verhalten, so packt sie der Schwindel, wie sie in die Tiefen will schauen. Da ins G'wänd soll sie hinab? Das Gamssteigel, wo sie nachher nit weiter kunnt und nit mehr zurück! — Just einmal probieren! sagt der Markel und führt sie niederwärts in die schauderlich Felswand, bis zum Platzel, wo das Bildnis ist und das Brünnel in eine Steinschale tut rinnen.

Gott wird's mit Willen gemacht haben, daß es zurzeit wochenlang ist schön geblieben und warm Tag und Nacht. Jedes in einer andern Felskluft hat geschlafen auf Moos und des Tags haben sie gesammelt und gebaut an der Klause bei dem Brünnlein. Also, da lehnt die Hütte an der überhängenden [S. 87] Wand. Eine Rindentür hat sie und zwei Fensterlein und einen Steinblock zum Tisch und zwei Holzblöcke zum Sitzen und eine Steingrube für das Herdfeuer und zwei Lager aus Bergheu und Moos. Und an der Wand zwei Baumäste gequert zu einem Kreuz. Die Vorratskammer ist draußen in einer Felsspalte, und hätten sie denn alles beisammen, was der Mensch braucht, um so lang zu leben, bis er selig ist. — Seligwerden, das ist beider ernsthaftes Fürnehmen.

»Sie taten beten und arbeiten,« heißt es von den beiden Menschen in einer Chronik zu Breitenau. Und ist derselben zu entnehmen, daß sie allerlei wilde Früchte sammelten, daß sie aus Kraut und Wurzeln und manchen Beeren einen »Geist« haben gebrannt, mit dem der Markarius zeitweilig in den umliegenden Tälern hausieren ist gegangen. Auch sollen sie Wallfahrern, die weit her zum Bildnisse »Unserer lieben Frau« auf den Berg gekommen, mancherlei Dienste geleistet und Stärkung gespendet haben. Etliche Zeit der Einsiedler soll bitter hart gewesen sein. Es ist nicht gemeint die kalte Winterszeit, da sie monatelang eingemauert waren mit Schnee und den unbändigen Alpenstürmen preisgegeben. Es ist nicht gemeint der Mangel mancher Lebensmittel und es ist auch nicht gemeint die Bedrängnis, wenn eins krank war oder Steinlawinen sie bedrohten. Ein anderes Bedrängnis war's, das ihnen bisweilen bitterhart hat zugesetzt. Da ist der Markarius wohl aufgestanden in der Nacht und hinausgegangen zur Quelle, um kaltes Wasser zu trinken. Und wenn er, von Frost geschüttelt, in die Hütte zurückgekehrt und auf seinem Lager zur Ruhe gekommen war, stand die Kathel auf und ging auch hinaus, um zu trinken. Einsiedler sein, meint besagte Chronik, sei nicht das härtest', aber sotane Zweisiedler sein und gleichwohl Einsiedler verbleiben [S. 88] wollen, das sei vergleichbar einem Fegefeuer, wo ein Mensch all' Sündhaftigkeit könnt' löschen. Und hätten es nicht erzwungen, wenn der heilige Brunn' nicht wär gewest, also, daß der Gnadenquell sich geoffenbaret. So haben sie das Klosterleben, als davon sie vertrieben worden, auf hohem Birg streng geführet, als Zeugnis, was möglich ist an starkem Willen. Sind aber sonder Rast gewest und ist solchen Anachoreten das Fleisch abgefallen von den Knochen, und doch ein Augenlicht, brennend und begehrend, so daß sie angefangen, sich voreinander zu fürchten. Und ist dem Einsiedler die heilige Jungfrau erschienen und der Einsiedlerin der heilige Jüngling Aloisius. Und haben die Anachoreten vor Verzückung einander mit Wacholdergerten gegeißelt bis aufs Blut.

Einer der Ortskundigen will aber dieser Schrift nicht Glauben schenken; sie sei aus einer alten Sagung gezogen und zum Spott auf die Leutlein oben am Schüsserlbrunn angewandt worden. Wahrheit sei vielmehr solches: Eines Tages seien die zwei herabgekommen zum Kuraten von Sankt Erhard und hätten lachend erklärt, die Sach' tät ihnen auf die Läng zu dumm werden. Gar jung seien sie freilich nicht mehr, aber auszahlen tät sich's vielleicht noch alleweil. Sie hätten einmal ernsthaftig Einsiedler werden wollen, jedes für sich, seien nachher der Umstände wegen Zweisiedler worden. Und jetzo möchten sie halt wiederum Einsiedler werden, ein einziger, aus zweien einer. Aus ihrer zwei eins machen, wenn er so gut wär'.

Der Kurat war schon einer von solchen, die man später Josefiner genannt hat. Er sagte also: »Leutlein, das ist gescheit. Eins in der Gesinnung und in der Lieb', das ist eine gar heilsame Einsiedelei.«

Und lacht die Kathel auf: Was sie doch einfältig wär'! [S. 89] Solang' hätt' sie sich vor dem Geistler gefürchtet und jetzo tät sich das so leicht! — Der Wochen zwei und sie sind eins gewesen.

Aus einem solchen Eins kommt gerne noch Eins. An drei Jahr' später ist's, an einem Hochsommermorgen, hält der Markari ein blondhaarig Bübel auf dem Arm. Das Bübel juchzet und schlagt die Ärmelein auseinand, als wollt' es den Sonnenball auffangen, der dort hinter den Bergspitzen aufsteigt. Und sagt der Vater: »Kerl, kleiner! Schau sie nur an. Wo sie aufgeht, dort weit hinterwärts ist die Wienerstadt. Und dort ist der Kaiser daheim. Und wenn der nit wär g'west, tätest du jetzt freilich kaum juchezen auf derer Höh'!«

Zur Zeit ist anstatt der schlechten Klausen schon ein besseres Häuslein fertig gewesen und daneben ein Ziegenstall und daneben eine Kapelle mit Turm und Glöckel. Und die Wallfahrer, wenn sie von Schüsserlbrunn heim sind gekommen, haben erzählt von den guten Leutln, die mit gar Geringem so glückselig leben da oben auf wildem Birg. Also daß wir ohn' Sorg und Kümmernis können von ihnen scheiden.


[S. 90]

Ein Wildling Christi.

Gregor, der Hirtenhauser auf der Niederalm, hatte nun glücklich abgewirtschaftet. Das zerlemperte Gütel hatte er seiner Tochter übergeben, diese ihrem Mann, und der Alte hatte sein Ziel erreicht — er war der irdischen Sorgen und Güter frei geworden und konnte sich den himmlischen Freuden hingeben, mit denen er längst umgegangen, die ihm das kindliche Gemüt bewahrt, aber ihn um Haus und Vieh gebracht hatten. Er war ihnen dafür dankbar. Wozu braucht der Christenmensch solche Sachen! Hat der Apostel Jacobus ein Haus gehabt? Oder der heilige Joseph ein Vieh? Man liest nichts davon. Dach findet der Mensch, dessen Hut der Himmel ist, überall. Und wo er um einen Löffel Suppe zugesprochen, da hatte er stets auch die Brocken dazubekommen. Der Gregor war ein kluger Mann, doch benutzte er seine Klugheit nicht, um zu gewinnen, was Sorgen macht, vielmehr um die Sorgen und ihre Ursachen zu verlieren. Sein Lebtag war's ihm nicht so gut ergangen, denn jetzt als Bettelmann. Bettelmann? Ein Mann Gottes wollen wir werden, wenn uns nicht etwa die Demut abhanden kommt. Des Frommen größte Gefahr, er fürchtete sie, ist heimliche Hoffart.

Der Halter-Gregl, wie er genannt war, hatte für sein gottseliges Leben einen besonderen Hinterhalt, an den er sich aber bisher nicht gelehnt. Sein einziger Bruder war Ordenspriester im Stift Hubertusbrunn. Seit der Gregl damals brieflich angesucht hatte, als Laienbruder in das Kloster eintreten zu dürfen und ihm vom Abte die Antwort zurückgekommen war, er möge nur hübsch bei seinem angestammten [S. 91] Beruf bleiben und die Arbeit auf Wiese und Feld zur Ehre Gottes verrichten, das wäre für ihn gescheiter als das Kloster — seit dieser wunderlichen, ganz unpriesterlichen Antwort wollte er mit Hubertusbrunn nichts zu tun haben. Nun war's aber in diesem Stifte anders geworden. Und schon wie anders! Der alte Abt war gestorben, und Gregors Bruder, der Pater Dominikus, war zum Prälaten gewählt worden.

Ob man in der Gegend der Niederalm umherbettelt, wo es doch immer nur in der Runde geht, oder einen mehr geraden Weg nimmt, den Häusern der Straße entlang — für die alten Beine bleibt das gleich. Weiter kommt man aber auf gerade Art. Und kommt wohl gar bis Hubertusbrunn. Ob die Herren dort die Klostersuppe einem wildfremden Menschen vorsetzen, oder dem alten Bruder des Prälaten, das wird für Kloster und Suppe auch gleich sein. Ihm, dem Gregl, wäre doch damit gedient, daß er endlich in den Mauern des Gebets, der Betrachtungen und der guten Werke für seine letzten Lebenstage könnte Unterschlupf finden.

Also hat der Halter-Gregl seinen Sack genommen und seinen Stecken, und ist barhäuptig, wie er stets gewesen, straßab und talaus gegangen, bis er am dritten Tage im weiten fruchtprangenden Talkessel auf einer Anhöhe stolz und herrlich das Gebäude ragen sah. Es war nicht wie ein Schloß, es war wie sieben Schlösser neben- und übereinander, mitten aufragend zwei Türme, eine Kuppel und die Schindeldächer schimmerten wie Silber. Um die Anhöhe schlang sich in Halbrund ein breiter, glitzernder Fluß, kleine Ortschaften und große Gärten bestreichend, die sich hinten in Laubwäldern verloren. Der Gregl saß am Wegrand und wollte von der einen langen Front die Fenster zählen. Bis achtzig oder neunzig kam er hinauf, dann vergingen ihm die Augen.

[S. 92]

Und das war Stift Hubertsbrunn.

Der Erzähler ist in Klostersitten nicht recht bewandert, er muß sich auf die Berichte verlassen, die ihm zugekommen von den Berichterstattern zu dieser Geschichte.

Am nächsten Tage wußte der Hirtenbauer Gregor schon, wie es da zuging. Aber es gefiel ihm nicht. Über die Aufnahme war so weit keine Klage gewesen. Der hochwürdige Bruder, Seine Gnaden ward er genannt, hatte ihn an beiden Händen gehalten, ihn besorgt angeblickt und gesagt: »Bruder Gregor, du gefällst mir gar nicht. Hast du denn kein besseres Gewand?«

Und der Gregor: »Bruder Benedikt, oder wie du heißt, du gefällst mir auch nit. Was ich zu wenig am Leib han, das hast du zu viel.«

Denn der Prälat trug einen Talar aus Seiden und Schuhe mit Silberschnallen und über der Brust eine Kette und ein Kreuz aus schwerem Golde. Der hochwürdige Herr lachte zum Ausspruch seines Bruders, tätschelte ihm mit zwei Fingern die rauhbraune Wange und sprach:

»Na na, du bist immer noch der Alte. Glaubst du mir's, daß ich so arm bin, wie du? Dieses Kleid siehe, das deinen Augen Ärgernis gibt, es gehört nicht meiner Person, es gehört meiner Würde. Und das Stift gehört dem Orden. So viel erlaubt mir aber meine Armut, daß ich dich einlade, etliche Tage im Stifte zu bleiben und daß du dir gut sein lassest.«

»Du sagst etliche Tage! Und ich wollte als Laienbruder eintreten, die Kirche ausfegen jeden Tag oder die Glocken läuten, oder wozu ihr mich verwenden möget, daß ich dem Herrgott ein wohlgefälliger Knecht sein darf.«

»Tue dieser paar Tage gerade einmal, was dich freut, [S. 93] Bruder Gregor. Wie du doch unserem Vater ähnlich siehst, Gott habe ihn selig!«

Und der Alte antwortete: »Wenn du mägerer wärest, kunnt ich dasselbe auch von dir sagen. Unser armer Vater, gelt! Wie sich der hat plagen müssen und sich die Bissen absparen, daß er dich hat können in die Studie geben.«

»Laß es gut sein, Gregor, nach den ersten paar Jahren hat mich ja schon das Stift versorgt, so daß ich den Orden für meinen wahren Nährvater halten muß.«

»Immer einmal wirst wohl doch noch eine heilige Messe lesen für unseren Vater?«

»Wir beten für alle,« antwortete der Prälat.

Da deuchte es dem Gregor schier, daß im Stifte auf Blutsverwandtschaft wenig gegeben würde. Trotzdem genoß er die Gastfreundschaft so gut es anging. Zufrieden fand er sich nicht, es war ihm alles zu viel, zu gut, zu weltlich, was es da gab. Des Prälaten abgelegte Hosen und Stiefel, die er geschenkt bekommen, waren — von der vornehmen Art abgesehen — immer noch weit kostbarer als das schönste Ostersonntagsgewand, das er je auf der Niederalm getragen hatte. Desgleichen auch die Wäsche, in der so gar nichts von den härenen Hemden und stacheligen Gürteln zu spüren war, die nach seiner Heiligenlegende die Mönche gerne am Leibe gehabt.

Eine einzige Weltsorge hatte der alte Mann noch an sich, die ihn manchmal sehr beunruhigte. Als vor Jahren sein Weib gestorben, hatte sie auf dem Totenbette ihm ein Lederbeutelchen um den Hals gehangen mit der Bitte, daß er es am bloßen Leib trage und nur in höchster Not davon Gebrauch machen solle. Der Gregor versprach das, weil er der Meinung war, es sei ein Amulett darin. Erst später kam er darauf, daß im Lederbeutelchen fünf Dukaten enthalten [S. 94] waren, die das gute Weib dem unpraktischen Mann als Notpfennig hinterlassen hatte. Dieses Geld nun brannte ihn, erstens aus Besorgnis, daß es sündhaft sein könne, nebst dem beinernen Kreuzlein, das er an der Brust trug, auch Geld dort verborgen zu halten, und zweitens aus Angst, er könne die Dukaten — verlieren. Oft war er daran, diesen Mammon, der ihm so manche Unruhe machte, von sich zu werfen, aber es war ihm leid drum. Und das beunruhigte ihn noch mehr, weil es das Zeichen eines geldgierigen Herzens wäre.

Nicht ungern ging Gregor mit dem Pater Isidor, dem die Landwirtschaft anlag, über die Felder. Da standen an Wegen und Rainen Kreuzsäulen und Heiligenstatuen, vor denen der Gregor zwar nicht den Hut zog, weil er eben keinen auf seinem weißhaarigen Kopf hatte, wohl aber niederkniete, um ein paar Vaterunser zu beten. Pater Isidor achtete nicht darauf, sondern besah sich die herbstlichen Ackerfurchen, ob sie tief genug wären und Erdschmalz hätten, und wenn der Gregor ein Gespräch über die Himmelskönigin Maria anheben wollte, wies der Pater ihm froh gestimmt die weiten Kohlgärten und Rübenfelder. Der Gregor ärgerte sich darüber, hielt sich aber vor: Du hast kein Recht, es ihm zu verübeln, so lange du selbst noch am Gelde hängest.

Ein anderes Mal zog er mit dem Pater Hubert aus, der die Flinte auf der Achsel trug, auf dem Kopf den Federhut, und der die Forst- und Jagdangelegenheiten zu besorgen hatte. Als sie ins finstere Gebirge kamen, wo im tiefen Grund ein schwarzer See lag und zackige Schroffen in den hellen Himmel emporstanden, legte der Gregor seine Hände zusammen und sagte die Worte: »Wenn man's betrachtet! Die Allmacht Gottes!«

»Pst!« machte der Pater. »Sie müssen still sein. Dort [S. 95] im Lärchschachen — sehen Sie? Zwei Rehe! Ein altes und ein junges! Und ein — Gott verdamm' mich, hätte ich bald gesagt, wenn das kein Bock ist, dort hinter dem Fichtenbusch. Ah, sapperment!« Er riß die Flinte von der Schulter, durfte aber nicht schießen.

»Sie müssen dableiben bis zur Jagd!« sagte er zum Alten, »da sollen Sie einmal sehen, wie es purzelt! Da geht's lustig her!«

»Tun Ihnen die armen Tiere denn nit derbarmen?«

»Gott hat alle Kreatur erschaffen zur Freude und zum Nutzen des Menschen.«

Dachte sich der Gregor: An Gott denkt er halt doch. —

Dann suchte er weiter unter den Mönchen des Stiftes. Einen würde er doch finden, mit dem sich auch was Erbauliches reden ließe. Freundlich waren ja alle mit ihm, doch wenn er des Rosenkranzbetens erwähnte, sprachen sie vom Kugelschieben; wenn er der Wallfahrten gedachte, kamen sie auf Scheibenschießen und Fischfang, und wenn er über die Notwendigkeit des Bußwirkens sprach, meinten sie, das wäre brav von ihm, nur solle der Mensch die lieben Gottesgaben auch nicht verschmähen, und machten sich mit Behagen an den Krug. Freilich sah er, daß sie zu gewissen Tageszeiten auch beteten und Psalmen sangen, daß sie die Fasttage strenge einhielten, daß sie Almosen gaben. Ja, es war sogar ein Pater bestellt, der tat gar nichts anderes, als für die Armen zu sorgen, wie sie da dreimal in der Woche am Vormittag in der rückwärtigen Halle zusammenkamen. Da wollte auch der Gregor einmal sein Lederbeutelchen loslösen und dessen Inhalt den Armen auf die Hand schütten. Doch fiel ihm ein, so viel würde sie verderben, sie sind nur Kupferstücke gewohnt. Behielt seine Goldenen am Busen, war bekümmert sie zu besitzen und war bekümmert sie zu verlieren.

[S. 96]

Eines Tages gegen die Vesperzeit geschah es, daß der Gregor einen Mönch wandeln sah entlang den Kreuzgang und hinabsteigen eine dunkle Treppe in unterirdische Räume. Da war am Ende so etwas wie Katakomben, in denen die ersten Christen ihre Zusammenkünfte und Gottesdienste gehalten, nachdem sie überirdisch ein scheinbar ganz weltliches Leben geführt hatten. Gregor schlich dem Mönche nach und kam in die Weinkeller. Der Mönch lud ihn ein, sich mit einem Krüglein das Herz zu stärken, was denn auch geschehen ist, so gründlich, daß der alte Hirte in den feuchten Dämmerungen herzhaft anhub zu jodeln, wie er es in früheren Zeiten auf der Niederalm getan hatte. Am nächsten Tage hatte er wieder Durst, und zwar nach Wasser. Er stellte sich im Garten zu dem rieselnden Brunnen und schaute ihm zu. Er lechzte nach Wasser, sah es immer an, trank aber nicht, und das war seine Buße für gestern. Dann geschah es, daß er glaubte, endlich auf dem Wege nach dem Rechten zu sein. Er hörte von dem großen Büchersaale und wollte nun auch einmal all die frommen Gebet- und Erbauungsbücher sehen, in denen die ehrwürdigen Brüder den gottseligen Geist aufbewahrt hätten. Er hatte nicht gedacht, daß es auf der Welt so viele Bücher gebe; der große Saal war über und über mit Büchern bestanden, man sah nicht ein handbreit Stück Wand. Ein paar fremde Herren waren da, denen der Mönch immer wieder Bücher und Schriften hervorholte und auf den Tisch legte. Gebetbuch war keins dabei, fast lauter alte weltliche Schriften und — wie es dem Gregor vorkam — sogar heidnische darunter. Einige vorhandene Bildwerke, die so herumlagen, zeigten geradezu entsetzliche Sachen in den offenen Tag hinein. Weil dem Alten unheimlich ward, so ging er hinaus. In einer Wegkapelle, wo das Volk vorüberzog, war die heilige Jungfrau, [S. 97] darunter die Darstellung der armen Seelen im Fegefeuer. Hier kniete der Gregor nieder und murmelte seine altgewohnten Gebete. Er betete um Bekehrung der Heiden; plötzlich kam ihm das an sich selber ganz abscheulich pharisäerhaft vor und er betete demütig um Demut. Das erleichterte seine Bange.

Am unbegreiflichsten war es schon im Speisesaal. Der Bruder des Prälaten sollte auch an der Tafel sitzen, wenn zwar weiter unten; allein die silbernen Schüsseln und die kristallenen Becher kamen auch zu ihm. Es wird halt heut ein Festtag sein, dachte er und ließ sich's nicht schlecht schmecken. Sein Beisitzer hatte ihm gesagt, daß auch Christus der Herr gerne Lammbraten gegessen und Wein getrunken habe. — Es ging mäßig ruhig und gemütlich dabei her.

Gerne saß er im kühlen und stillen Münster. Die Kirche war sehr groß und herrlich anzuschauen — aber zumeist ganz leer. Er saß in einem der schöngeschnitzten Chorstühle und betete stundenlang den Rosenkranz ab und konnte es nicht verstehen, daß die Mönche lieber weltlichen Freuden nachgingen, als hier im lieben Frieden zu sitzen und sich mit Gott zu unterhalten. Hatte er sich endlich müde gebetet, so nahm er den Besen oder den Fächel und fegte die schönen Steinbodentafeln, und staubte die Stühle ab, die Heiligenstatuen aus weißem Marmelstein, und scharrte das von den Kerzen abgetropfte Wachs zusammen und bat seinen Gott, er möge sich den armseligen Dienst gnädig gefallen lassen. In solchen Stunden war er am glücklichsten.

Da kam der Sonntag. Alles Volk strömte bei dem Geläute der Klosterglocken zusammen und füllte die weiten Kirchenräume. Die Mönche, ihrer dreizehn waren, kamen in kirchlichen Gewändern, der Prälat, eine wahre Würdegestalt, [S. 98] im Ornat von lauter Seide und Gold. An allen Kronleuchtern brannten die Kerzen, aus silbernen Rauchfässern qualmten die Schleier des Weihrauchs am Hochaltare empor bis zu den dunklen Spitzbogengewölben. Wie ein jubelnder Sturm, so brauste die Orgel, und der Gesang der Chorknaben klang wie das lieblichste Glockengeläute. Und als im Hochamte das Sanctus kam, da erhob der Prälat seine Stimme und sang hell und feierlich das hehre Lied zum Allmächtigen. — Der Gregor war außer sich vor Entzücken. Jetzt erst ging's ihm auf, was das heißt: Klosterleben, Priesterleben!

Darauf im Refektorium, als Seine Gnaden schon bei Tische saß, kniete der Gregor nieder und wollte dem hochwürdigen Bruder die Schuhe küssen. Der Prälat lachte ihn stark aus und sagte: »Vorhin haben wir Gott gelobt im Gebete und jetzt wollen wir ihn loben in seinen Gaben. Tue das deine, Gregor!« Was nun alles erschien, das mußte der beisitzende Mönch dem alten Hirten erklären: Einmal das Gläschen »Sherry«, das schließt Magen und Herz auf. Die Krebssuppe drauf, die weckt den Appetit auf. Dann der Hummer, der frißt Sorg' und Kummer. Dann beim Fleisch vom Rind das Essen eigentlich beginnt. Dann auf Schweinskopf und gebrat'ne Enten muß man auch noch Andacht verwenden. Von den Eier- und Mandelkuchen lassen wir uns auch gerne versuchen. Käse, Obst und Kaffee tut keinem Christenmenschen weh. Und Bier und Wein laß dir gesegnet sein. Endlich und schließlich ist ein feiner Rauchstengel alleweil der beste Friedensengel. — So lebhaft der Mönch seine Tafelsprüche belachte, so wenig zeigte der alte Hirte dafür Verständnis. Der hielt sich mehr an das Gemüse, obschon das gar nicht besungen wurde. Vom Glase hielt er — Erfahrungen beherzigend — sich fern. Nur als der Prälat [S. 99] ein feierliches Prosit ausbrachte auf das Kirchweihfest, das heute begangen wurde, trank auch der Gregor in Ehrerbietung seinen Becher aus. Die Festheiterkeit war in sangliche Tafellustigkeit übergegangen. Dann stand Bruder Isidor auf, klopfte ans Glas, erhob es, hielt eine frohe Rede von seinen Krautköpfen und Kartoffeln. Der Bruder Hubertus feierte mit vielem Humor die Rehböcke und Hirsche, die sich demnächst das Vergnügen machen würden, bei Seiner Gnaden Tafel die Aufwartung zu machen. Der Bruder Kellermeister erinnerte bei seiner Ansprache sogar an Luthers Wein, Weib und Wonnesang, bedauernd, daß die Klosterbuße nicht vollständig sei, weil von den drei W leider eins fehle.

Das helle Gelächter, das diese Rede entfesselte, wurde unterbrochen. Am anderen Ende der Tafel war der alte Hirtenbauer aufgestanden und hatte, wie es die Redner vor ihm getan, mit dem Messer an sein Glas geschlagen.

»Hört, hört! der Gregor!«

»Ja freilich,« sagte dieser in gemütlicher Art, »der alte Gregor will auch was sagen.« Erst lugte er ein Weilchen vor sich hin und dann begann er halb grollend und halb schmunzelnd mit einigem Stottern anfangs, dann immer geläufiger also zu sprechen: »Der alte Halter von der Alm hat zwar das Predigen nit gelernt, will euch aber doch eine Predigt halten. Nehmt Ihr's für Spaß, ist's mir recht, nehmt Ihr's für Ernst, ist's mir noch lieber. Ich will nur sagen: Was die hochwürdige Geistlichkeit auf dem Stift Hubertusbrunn für ein Leben führt, das ist ein recht lustiges Leben, ist aber wenig Christentum dabei. Mit Verlaub, ihr seid viel zu weltliche Herren! Wie wollt ihr denn in den Himmel kommen, wenn ihr schon drinnen seid? 's Hineinkommen ist nit mehr möglich, aber 's Hinauskommen ist möglich. Alltag leset ihr Zeitung, wie viel Jammer [S. 100] und Pein es gibt auf der Welt, und ihr lebt in Freud, als ob euch allmiteinand nix tät angehen. Und nachher — auweh, mich deucht, ihr seid mir schon bös'. Alsdann will ich gleich aufhören. Amen.«

Die Wirkung dieses Sermons war fürs Erste überlautes Gelächter. Doch soll es im Augenblicke einem der Festgenossen eingefallen sein: Bei diesen zwei Brüdern müsse es eine Verwechslung gegeben haben. Pater geworden sei der Unrechte! — Der Prälat, ob der rechte oder unrechte, hatte ein schier röteres Gesicht bekommen, als es sonst bei Tafelfreuden der Fall war. Er trommelte mit den Fingern, an deren einem der große Ring funkelte, auf den Tisch, die andere Hand spielte mit dem goldenen Kreuz, das ihm über der Brust hing. Dann schüttelte er ein paarmal den Kopf. In dieser Beklemmnis erhob sich der Pater Franziskus, der Bibliotheksverwalter war, gab das Zeichen, daß er sprechen wolle und begann in wohlgesetzten Worten — er war ja zugleich auch der Stiftsprediger — zu sprechen, wie folgt:

»Teure, ehrwürdige Patres und Fratres! Wir haben eben ein Beispiel erlebt, wie über einen der Geist kam, bei dem wir es nicht vermeint hätten. Vielleicht hat sich Gott der Stimme dieses einfachen Mannes deshalb bedient, um uns Ordenspriestern wieder einmal zu Gehör zu führen, wie die Welt über uns denkt. Wenn da draußen Leute wären, so möchte ich ein wenig zum Fenster hinaussprechen. Die draußen haben nämlich jetzt das Christentum entdeckt. Sie sagen, es sei eine Religion für die Welt, Christus selbst habe die Lebensfreuden geliebt, nur müsse man in Vertrauen und Liebe das Reich Gottes im Herzen haben. So sagen sie, ob sie das letzte tun, weiß ich nicht. Wenn ja, so bin ich damit einverstanden. Nun höret: Wenn wir Priester so leben, wie sie sagen, daß man solle, nämlich in der weltsinnlichen [S. 101] Gottfreudigkeit, dann heißt es gleich, es wäre unchristlich und wir sollten in Armut und Entsagung leben. Wenn wir's aber wirklich tun, wie ja gar viele Welt- und Ordenspriester in Armut und Entsagung leben müssen, hei, da nennen sie uns Mucker, Heuchler und Aszeten. Kurz, wir können machen was wir wollen, so ist es denen nicht recht. Anders ist es mit unserem lieben Gregor. Das ist die ehrliche Haut, die bloß zurückruft, was wir hingerufen haben. Wir, das heißt, viele von uns. Diese haben Aszese gepredigt, so verlangt der Mann, daß die Priester selbst das halten, was sie anderen predigen. Das ist ganz in Ordnung. Wir aber — und nun wende ich mich an unsern Freund Gregor — wir Ordenspriester im Stifte Hubertsbrunn predigen nicht Aszese, sondern Freude in Gott. Wem sie gegeben wird, der soll sie nehmen. Sie haben selbst gesagt, lieber Gregor, daß es in der Welt draußen viel Jammer und Pein gibt. Ist es ein Wunder, wenn mancher ins Kloster flüchtet, wo man im Vereine mit Gleichgesinnten seiner Seele lebt? Wir persönlich besitzen keine weltlichen Güter, aber wir verwalten mit Fleiß und Gewissenhaftigkeit die Güter des Ordens, die gestiftet worden sind, damit die Brüder im sorglosen Frieden des Herrn leben können, wie heute, so auch in Zukunft. Ebenso verwalten wir viele Wissenschaften, die durch Klöster aus alten Zeiten der Zukunft übermittelt werden. Wir pflegen die Künste und schmücken damit unser Gotteshaus, unsern Gottesdienst, erhöhen damit unsere Freude am Göttlichen, unsere Liebe zu Gott. So sind wir fern dem Unfrieden der Welt, sind eingefriedet ins Bereich, wo Lebensfreude und Gottseligkeit eins geworden sind. Das findet man nur im Kloster so, und nirgends anders. Und ich sehe die Zeit, da viele, des Streites und der Ungerechtigkeit da draußen übersatt geworden, [S. 102] die Klostermauern suchen werden. Vielleicht wird man ihrem Klosterleben einen anderen Namen geben, in der Tat wird es dasselbe sein, denn das Bedürfnis vieler Menschen nach Weltabgeschiedenheit und Frieden, nach harmlosem Lebensgenuß und nach Gottesfroheit wird nicht aussterben. Wenn sie, die weltlichen Leute da draußen, die Freiheit, die persönliche Freiheit so hoch halten, so wird man doch, wenn man will und kann, auch in das Kloster gehen und ein ruhiges beschauliches Leben führen dürfen? Unser Herrgott will nicht, daß der Mensch sich um Geld und Gut, um Lust und Ehre zu Tode hetze, er will auch nicht, daß einer Not leide, hungere, von anderen zertreten werde und zugrunde gehe, wie ein Wanderer bei den wilden Tieren in der Wüste. Denket doch an die übelriechenden Städte mit ihrem törichten Jagen; denket an die großen Fabriken, überfüllt mit Unzufriedenen und Mißgünstigen; denket an das kümmerliche, halbvertierte Leben in den Bauerndörfern — und betrachtet euch diese friedensvolle Stätte des heiligen Hubertus, von lachenden Tälern und grünen Bergen umgeben, und wie wir hier leben in trauter Gemeinschaft mit allen großen Geistern der Erde und der Himmel. So zu leben ist Gotteswille, und daß wir den Himmel schon auf Erden anfangen sollen. Eigentlich gerade das, was die draußen auch angeblich wollen. Also warum gönnen sie uns nicht den Klosterfrieden? Und auch unser Freund Gregor hat unrecht, wenn er meint, der Christenmensch sei auf der Welt zur Selbstqual, anstatt zum Glücklichsein. Er soll das eine sein lassen und das andere bei uns versuchen. Fröhlich leben und selig sterben, das muß dem Teufel die Freud' verderben. Amen.«

In fröhlichem Tone hatte der Pater also gesprochen, dann war er zum alten Hirtenbauer hingetreten, hatte ihm [S. 103] die Hand gekneipt, und er möchte die redlichen Worte nicht übelnehmen.

»Hau,« sagte der Gregor, »so schön kann ich freilich nit. Da muß ich schon still sein. 's wird eh wahr sein, was ihr gesagt habt. Für's Gutleben laßt sich der Mensch gerne überzeugen, ich bin ganz bekehrt. Jetzt bleib' ich im Kloster, bitt' schön, kleidet mich ein. Und weil ich schon der Ältere bin, komm' ich vielleicht bei der nächsten Prälatenwahl dran. Will gleich anheben und Lateinisch lernen, hi, hi.«

So war alles wieder ins Gemütliche übergegangen und als sie dann zur Vesper in die Kirche zogen, fand sich der Alte schon drein und während der Litanei dachte er, es wäre gescheiter gewesen, das Hirtenhaus auf der Niederalm dem Stifte Hubertsbrunn zu vermachen als dem groben Schwiegersohn, der sich mit seiner unfreiwilligen Elendigkeit doch nicht den Himmel, nur die Hölle kauft.

Von diesem Tage an gefiel es ihm im Stifte besser und er fand, daß eine solche Vereinigung irdischer Freuden und himmlischer Beseligung eigentlich recht annehmbar wäre. Beten und Bußwirken könne ja auch jeder noch ein übriges. Der Klostergehorsam, nächtlicherweile doch manchmal aus dem warmen Bette aufzustehen zur Gebetstunde, hatte für ihn einen besonderen Reiz. Leider wurde er nicht geweckt, weil er ja nicht zum Orden gehörte, sondern nur Gast war. Dafür kniete er, wieder bange geworden, sonst lange Stunden auf dem kalten Kirchenpflaster und bat Gott in flehenden Gebeten um den rechten Weg in den Himmel. Sei der Weg dornig oder blumig, nur gottgefällig sein, das war sein einziges Verlangen.

Da kam jene Nacht mit dem glühenden Atem Gottes. In einer Scheune war Feuer ausgebrochen und ein rasender [S. 104] Novembersturm hatte die brennenden Latten auf die Schindeldächer des Stiftsgebäudes gepeitscht. Die Flammen lohten nicht aufwärts, sondern gruben sich, vom Sturm geschärft, mit tausend Zungen pfeifend ins Gebäude ein, so daß nach kaum einer halben Stunde alle Fenster des weitläufigen Stiftes in weißem Lichte standen. Die Mönche huschten, nicht in ihrem priesterlichen Gewande, nur mit gekrümmten, schlecht verhüllten Körpern stumm oder angstvoll stöhnend durch die rauchigen, qualmenden Gänge, durch die Höfe, ins Freie; sie dachten nicht an die Güter, die verbrannten, sie dachten nicht an Gott — ihr Einziges und Alles war die Rettung des nackten Lebens. Am nächsten Morgen war die Stätte ausgebrannt und aus hundert kahlen, dachlosen Mauern und geschwärzten Löchern stieg träger Rauch auf. Die Kirche allein war verschont geblieben und in der waren die Mönche versammelt, klagend, weinend, fröstelnd und schaudernd. Etliche brüteten stumpf vor sich hin. Andere verbanden mit feuchten Lappen ihre Brandwunden, wobei ihnen der alte Gregor beistand. Einer war da, der Pater Hubertus, der schüttelte fortwährend den Kopf und war sehr nachdenklich. Er hatte sonst manchmal an die Stunde des Unglücks, an Todesnot gedacht, aber so hatte er sich's nicht gedacht, daß man dabei ganz an alle Gottheit vergessen könne! Man rief wohl im Schreck die heiligen Namen, ohne auch nur flüchtig an die Himmlischen zu denken. Nicht einmal die Todesangst war eine christliche. Der stumpfe Instinkt des Tieres allein waltet, jagt dich, rettet dich. Und da fiel es ihm ein: Mensch, in solchen Stunden bist du just so gottlos und hilflos wie das arme Tier des Waldes, das du so oft verfolgt hast! — Die Steinplatten der Kirche waren kalt und die Mönche hatten keine Decken, keine Kleider. Es kam der Hunger und sie hatten [S. 105] nichts zu essen. Ein Einziger war gefaßt. Auch dem Gregor war sein Bündel verbrannt, doch er fror nicht so sehr in seinem schlechten Nachtgewand, als die anderen, ihm tat der Hunger nicht so weh, ihn schüttelte die Verzweiflung nicht so arg, denn er hatte ja eigentlich nicht viel verloren. Er hatte nicht verloren die großen Vorratskammern, nicht verloren das heimliche Stübchen mit dem vergoldeten Marienbildnisse, nicht die fürstlichen Säle mit den Kunstwerken, nicht die Schriften der Weisen und der Dichter aller Zeiten. Da wollte er sagen zu den händeringenden Vätern und Brüdern: »Ihr habt ja doch wohl auch nix verloren, denn ihr habt ja nix besessen!« Aber er sagte es nicht, der Spott schien ihm zu herzlos. Umso eifriger wusch er die Brandwunden, deckte er die Fiebernden mit Stroh, machte Botengänge in die nächsten Ortschaften und tat, was er konnte. Sein Bruder, der Prälat, der auch nichts anderes hatte, als ein blaues Unterkleid, um sich zu schützen, der klopfte ihm einmal halb weinend auf die Achsel: »Bruder, jetzt bist du reicher und stärker als wir. Du bist das gewohnt, wir sind es nicht gewohnt. Und da wir's verloren und da wir jetzt nichts haben, deucht mich doch, es wäre unser Eigentum gewesen.«

»Deucht dich, Bruder?« antwortete der alte Gregor. »Mich deucht auch. Aber wenn euer Christentum das richtige ist, so müßt ihr auch in schlechten Zeiten feststehen.«

»Das werden wir auch, mein guter Gregor. Nur weh tut's, wenn's so plötzlich trifft. Das große Kreuz wird uns heilsam sein, wir wollen beten und uns kasteien.«

Bald merkte es der alte Hirtenbauer, wie das gemeint war mit dem Beten und Kasteien. Wie Ameisen am zerstörten Haufen, so begannen die Mönche zu arbeiten, jeder in seiner Art. Was der Brand übrig gelassen, sie rafften [S. 106] es zusammen und bargen es; mehr war's, als man erwartet. Bauleute wurden herbeigezogen, anfangs für den Notbau, später für die Wiederaufrichtung des Stiftes, das allmählich aus seiner Asche herrlicher erstand. Wie Wunderbrunnen, so flossen die Hilfsquellen von allen Seiten, besonders von dem in der Welt weit verzweigten Orden. Die Mönche waren ohne Rast. Sie nahmen fürlieb mit spärlichster Kost; mancher brachte seinen heimlichen Pfennig herbei und gab ihn dem entstehenden Vaterhause. Der unermüdlichste und froheste aller Arbeiter war der alte Gregor. Jetzt konnte er nach Herzenswunsch »bußwirken«, nämlich Hand anlegen zum Wiederaufbau des Reiches Gottes. Nicht wie einst handelte es sich um eine melkende Kuh oder um einen fetten Ochsen, es handelte sich um eine Friedensstatt auf Erden. Brauchen ließ er sich überall, beim Steinegraben, beim Ziegeltragen, beim Karrnen und Zimmern und bei viel schlechteren Verrichtungen. Als sich niemand finden wollte, der auf den Dachgiebel das dreifache Kreuz trüge, gab er sich dazu her. Er sei in der Jugend auf allen hohen Bäumen der Niederalm umhergeklettert; fehle ihm jetzt gleichwohl die Eichhörnchengelenkigkeit, so werde doch der Schutzengel seine Schuldigkeit tun. An Nahrung und Verpflegung war er ganz anspruchslos. Lohn nahm er überhaupt keinen, sondern sagte, bei den Bauern sei der Brauch, daß die Kinder des Hauses umsonst arbeiteten.

Der Prälat war schon lange wieder wohlgemut geworden, und so sagte er nun lachend einmal zu seinem Bruder: »Aber Gregor, wenn du immer so fleißig gewesen wärest, so müßtest du ein reicher Mann sein!«

»Reich! Reich!« antwortete der Alte. »So ein schlecht Wort sollten Gnaden Herr Bruder nit im Mund haben!«

Freilich hatte der Gregor ein heimliches Glück im [S. 107] Herzen, von dem er niemandem was sagte. Er war seines nagenden Kummers losgeworden. Das Ledersäckchen war ihm beim Brande abhanden gekommen, die fünf Dukaten verbrannt. Jetzt brauchte er sich nicht mehr zu fürchten, sie könnten seiner Seele schaden, sich nicht zu ängstigen, er könnte sie verlieren. Sie hatten seiner Seele geschadet, nun erst merkte er es recht. Nun war er frei. Alle Existenzsorgen hatte ihm ja der hochwürdigste Bruder abgenommen: »Du gehörst unserem Orden, Bruder Gregor, und daß du nicht Latein kannst, je nun! Du bist halt ein Wildling. Ein Wildling Christi. Ich meine, man könnte dich trotzdem weihen.«

»Ich dank' dafür,« antwortete der Alte. »Bin einer Last glücklich los, will keine andere mehr haben. Wenn mir Gott zur Armut noch die Demut schenkt, dann bin ich aus dem Gröbsten heraußen.« —

Nach fünf Jahren stand das neue Stiftsgebäude fertig und in hohem Glanze da. Jeder der dreizehn Mönche hatte es erlebt, nicht einmal der dreizehnte war gestorben. Einer von ihnen gestand, seit dem Unglücke fühle er sich ein wenig besser und stärker, er habe gelernt, etwas zu ertragen. Man stimmte ihm bei. Nur den Prälaten hatten die Sorgen der Wiedererrichtung alt und kränklich gemacht. Er erklärte, seine Würde und Bürde ablegen zu wollen. Alles war unschlüssig, ratlos darüber und mancher der Brüder verwahrte sich schon vorwegs gegen die Möglichkeit, Abt zu werden. Jeder wollte der Unwürdigste sein, vielleicht heimlich erwägend, daß gerade der erhöht werde, der sich selbst erniedrige. Bei der Wahleinleitung für seinen Nachfolger erzählte der Prälat die Geschichte von der Taube. Einmal bei einer Papstwahl zu Rom — bei welcher, das wußte er nicht genau — hätten die Kardinäle sich nicht einigen können. [S. 108] Da sei zum Fenster eine weiße Taube hereingeflogen, sei dreimal über den Köpfen der Versammelten herumgeflogen und habe sich dann auf das Haupt des Geringsten gesetzt, des Türhüters an der Pforte. Der sei auf diesen Wink Gottes zum Papste gewählt worden. »Und meine hochwürdigen Brüder,« so schloß der Prälat, »wenn heute auf dem Stifte Hubertusbrunn der heilige Geist in Gestalt einer Taube käme, um uns die Wahl des Oberen anzudeuten, auf wessen Haupt würde er sich setzen?«

Die Brüder neigten sich und einer flüsterte dem andern zu: »Vielleicht gar auf das Haupt Gregors?«


[S. 109]

Der mißratene Evangelist.

In einer Tischgesellschaft von ernsten Männern kam eines Abends das Gespräch auf die Welttauglichkeit des Evangeliums. Mehrere der Anwesenden behaupteten, die christliche Lehre trage nicht allein die Bürgschaft der ewigen Seligkeit an sich, sondern auch das Glück der Erde, den Frieden in der Gesellschaft, das Gedeihen jedes einzelnen.

Einer war da, der solches bestritt. »Wenn jedermann nach der christlichen Lehre lebt,« sagte dieser, »dann vielleicht. Dann gebe ichs zu, daß sie auch auf Erden zum Glücke führen kann. Anders ist es, wenn nur einzelne darnach leben. Für diese ist sie dann durchaus nicht förderlich, der einzelne geht vielmehr zeitlich daran zugrunde. Vorausgesetzt, daß es möglich ist, die Lehre in ihrer ganzen Strenge zu befolgen, macht sie den Menschen für die Aufgaben und Bestrebungen der modernen Gesellschaft ganz und gar unfähig, ja kann — mißverstanden — auf Irrungen und Abwege führen, wovon ich ein Beispiel aus dem Leben zu erzählen wüßte.«

Hierauf sagte ein anderer: »Wenn Sie ein Beispiel wissen, daß die Befolgung der christlichen Lehre auf Abwege leitet, so weiß ich hunderte und tausende von Beispielen, daß die Nicht befolgung zum Verderben führt.«

Nun, das sei selbstverständlich, meinten mehrere und sei längst bewiesen. Merkwürdig jedoch dürfte der Ausnahmsfall sein, wenn ihn jener erzählen wolle.

Der Aufgeforderte sprach: »Da wohl nicht zu befürchten ist, daß das Schicksal des Helden meiner Geschichte einen von uns der christlichen Lehre noch mehr entfremden könnte, [S. 110] als es, wie wir uns kennen, wahrscheinlich ohnehin schon der Fall ist, und da sich ferner von uns wohl überhaupt keiner so wörtlich in die Bergpredigt einlassen wird, als es mein Herr Eberhard getan, so werde ich die Geschichte ohne jeden Widerspruch erzählen dürfen. Die Lehre, wenn man schon eine daraus ziehen wollte, könnte ja immerhin die sein: der eine ging an der Befolgung des Christentums nur deshalb zugrunde, weil es nicht auch die übrigen befolgten.«

Und hierauf begann er zu erzählen.

Im Landstädtchen K. lebte ein junger Buchhandlungsgehilfe namens Eberhard Roland. Er war aus einem Nachbarsorte eingewandert, nachdem er dort seine Mutter und seine Schwester begraben hatte. Das waren seine einzigen Verwandten gewesen, er hatte ihnen wacker leiden geholfen. Die Rolande waren einst eine geachtete Bürgersfamilie gewesen und dann von einem unermeßlichen Unglück heimgesucht worden. Ein Roland war nämlich einer schweren Gewalttat wegen zum Tode verurteilt und dann durch den Strang hingerichtet worden. Das war der Großvater des Eberhard gewesen. Von jener Zeit an war es mit der Familie abwärts gegangen, sie war entehrt, gemieden, verachtet. Das Geschäft stockte, ging zu Grunde, die Familie verarmte, brachte sich viele Jahre lang zwar redlich, aber kümmerlich durch. Man hatte nichts einzuwenden gegen die fleißigen Leute, daß aber jener Roland gehenkt worden war, blieb ihnen unvergessen und blitzte bei jeder Gelegenheit hervor. Eberhards Vater war als Leineweber in jungen Jahren gestorben, er selbst hatte die Buchbinderei gelernt und mit diesem Handwerk Mutter und Schwester recht und schlecht ernährt, bis beide bei einer Seuche in einer und derselben Woche verschieden.

Seither wohnte Eberhard in der Stadt K., wo er vom [S. 111] Buchbinder zum Buchhändler aufstrebte, nachdem er es vorher mit mehreren anderen Erwerbsarten vergebens versucht hatte. Er war ein unruhiger Geist und sprang in Gegensätzen hin und her. Von einigermaßen beschaulicher und sogar schwärmerischer Naturanlage, trug er sich eine Zeitlang mit dem Gedanken, in ein Mönchskloster zu gehen, bis er in ein Bankgeschäft als Briefschreiber eintrat. In kurzer Zeit war er Buchhalter und hatte sich etliche hundert Taler Vermögen erspart. Da mietete er sich vor der Stadt einen Heuschoppen und begann mit Holz und Kohlen zu handeln. Als höchst anständiger Geschäftsmann bald bekannt, begann der Handel zu blühen, aus dem Schoppen ward ein stattliches Magazin, dem sich größere Lager anschlossen, aus dem schlichten Buchbinderjungen war ein geachteter Kaufmann geworden. Bei dem allein blieb es aber nicht. Von hübscher Gestalt und freundlichem Wesen, gewann er die einzige Tochter des Bankinhabers, bei dem er in Diensten gestanden und wurde ein wohlgesetzter Ehemann und Hausvater. Ein Jahr später kam ein kleines Kind und ein großer Treffer, er hatte in der Staatslotterie das Hauptlos gezogen. Jetzt war er auf einmal halber Millionär und wußte eigentlich selbst nicht, wie das zugegangen.

Nun hatte in ihm aber sachte eine Änderung stattgefunden, die er wohl selber erst etwas spät bemerkte. Einst in armen Kreisen lebend, war er sehr mitleidig gewesen und hatte er schon in der Tat nur wenig Gutes tun können für die Notleidenden, so hatte er für sie doch stets ein warmes Herz, und das Wort der Teilnahme tröstete manchen Leidenden mehr, als eine Gabe auf die Hand. In dem Maße aber, als Herr Eberhard wohlhabend wurde, kühlte sich sein Gemüt ab für die Armen. Er war zwar wohltätig, gab Almosen, doch weniger aus innerem Drange, denn weil er sich [S. 112] als reicher Mann dazu verpflichtet fühlte. Die Armut vor sich zu sehen, war ihm unangenehm, und manchmal erschien sie ihm wie ein Makel, das etwa dem Leichtsinnigen oder Fahrlässigen anhaftet. Einst hätte er den hungernden Bettler sättigen mögen, ohne ihn erst seines Hungers wegen zur Rechenschaft zu ziehen, jetzt fragte Herr Eberhard schon: »Warum arbeitet Er nicht? Was hat Er getrieben, daß Er so verkommen ist?«

Früher hatte er sich zu den wenigen Feierstunden in seinem Stübchen mit den paar Holzmöbeln und den kleinen Bildern seiner Mutter und Schwester an der Wand sehr heimlich und behaglich gefühlt. Jetzt in seinen reich ausgestatteten Gemächern war ihm einmal dieses, einmal jenes nicht recht und seine Wünsche und Bedürfnisse waren den Tatsachen immer um eine Spanne voraus. Manchmal empfand er die Last des Reichtums, die Last der damit verbundenen Pflichten, dann wieder kam es ihm vor, als nütze er seine Kraft, seinen Kredit, die Verhältnisse zu wenig aus und als sei es seine Aufgabe, noch reicher zu werden — so reich als nur menschenmöglich. Er gönnte sich daher nur wenig Ruhe, rechnete, plante neue Unternehmungen, und wenn er dann zum Jahresschluß die Bilanz zog, soweit sie bei den ausgedehnten Besitzungen und Geschäften zu ziehen war, sah er immer mit freudigem Schreck, wie rasch die Millionen wachsen. Aber schon allemal in den nächsten Stunden fragte er sich, warum sie denn eigentlich nicht noch schneller wüchsen und was daran wohl die Ursache sein könne?

In einer solchen Stunde, als er über den Teppich seiner Treppe herabstieg zum bereitstehenden Wagen, um auszufahren zur Sitzung in einem wohltätigen Verein, kauerte an der Pforte eine verwahrloste Bettlergestalt, schlotternd, mit eingefallenem, grünem Gesicht und verglastem Auge. Fast [S. 113] verstellte er dem Herrn den Ausgang, zudringlich hielt er seine mumienhafte Hand hin und verlangte ein Almosen.

»Wie?« fragte Herr Eberhard aufgebracht über den vordringlichen Gesellen, »bin ich dem Kerl was schuldig? Arm? Aus Ihm riecht der Branntwein, dünkt mich. Warum arbeitet Er nicht? Schämt Er sich nicht, von anderer Leute Arbeit zu leben? Und frech?! Fort, Er ist mir zuwider, ich teile nichts!« Damit stieg er rasch in den Wagen, aber noch bevor der Diener den Schlag zuwarf, stürzte der Bettler zusammen und ein Blutquell sprang aus seinem Halse. Mit einem spitzen Messerchen hatte er sich den tödlichen Stich versetzt.

Von diesem Tage an stieg der Reichtum des Herrn Eberhard nicht mehr. Nicht etwa, als ob auf dem Hause von nun an ein Fluch lastete, vielmehr ein Segen. Herr Eberhard hatte sich vorgenommen, mehr den Armen zu leben. Er verzichtete auf den bisher bezogenen großen Gewinn seiner Geschäfte und begnügte sich mit geringerem, den er nicht allein an wohltätige Anstalten, sondern auch an einzelne Arme verteilte. Dadurch aber wurde sein Geschäftshaus nur noch gesuchter und er konnte kaum so viel Wohltaten üben, daß der Reichtum nicht doch immer wieder stieg. Von seinem Katecheten hatte er als Knabe »Die Nachfolge Christi« zum Geschenk erhalten. Das war sein Lieblingsbuch gewesen in der leidensreichen Zeit seiner Jugend. Jetzt holte es Herr Eberhard wieder hervor und anstatt im Kurszettel las er im Erbauungsbuche. — Es war ihm ernst. — Den schweren Prunk hatte er aus seiner Wohnung entfernt. Mit seiner Familie gab's Kämpfe, als es daranging, einen Überfluß um den anderen abzuschaffen, er aber sagte: »Meine Lieben, wir haben uns verirrt in die Wüste des Geldes, wir müssen umkehren und Menschen werden.« Die jungen Herrschaften [S. 114] mußten sich's wohl oder übel gefallen lassen, Menschen zu werden — sie wurden es. Die Söhne entsagten dem Sporte, die Töchter dem Putze. Das taten sie aber erst, als Herr Eberhard ihnen eines Tages mitgeteilt hatte, bei einer großen fehlgeschlagenen Spekulation hätte er beinahe sein ganzes Vermögen verloren. In Wahrheit war dem nicht genau so, nur daß er selbst täglich tausende von Talern hinweggab an Armenhäuser, Krankenhäuser, Schulen, Kirchen und Bettler. Er arbeitete noch einige Stunden des Tages, die übrige Zeit verbrachte er, um Statistiken zu studieren, Armut und Elend zu erforschen und da sah er denn freilich, daß Armut und Elend über alle Maßen unergründlich sei, mit keinem Reichtum der Welt wett zu machen. Das ließ ihn nicht verzagt werden. Er wollte das Seine tun und sich ganz den Nebenmenschen opfern. Er las fleißig im Evangelium Christi: — Selig sind die Armen im Geiste, ihrer ist das Himmelreich. Selig sind die Barmherzigen, sie werden Barmherzigkeit erlangen. Gib dem, der dich bittet, und wende dich von dem nicht ab, der von dir borgen will. Deine Linke wisse nicht, was deine Rechte tut und achte, daß dein Almosen verborgen bleibe. Sammle nicht Schätze auf der Erde, wo Rost und Motten fressen; sammle Schätze für den Himmel. — Und wenn Herr Eberhard sich so versenkte in diese Lehren und sie befolgte, da atmete er oft wie erleichtert auf. Jener Sterbende an seiner Tür, er starrte ihn nicht mehr an mit seinem unendlichen Vorwurf, er blickte fast freundlich auf ihn ...

An der Pforte des reichen Mannes drängten sich die Armen aller Art. Herr Eberhard unterschied nicht mehr strenge zwischen verdienter und unverdienter Armut, er half wo und wie er konnte. Dem einen zahlte er die Zinsen, dem anderen die Steuern, dem dritten schrieb er sich als Bürgen [S. 115] auf den Schuldschein. Einem Geldunterschlager, dem die Entdeckung drohte, gab er Geld zur Ersetzung des Abganges. Und wenn er von seiner Gemahlin, von seinen Kindern gefragt wurde, was denn die vielen Leute immer wollten, wenn sein Geschäft so ganz und gar ruiniert sei, so antwortete er: »Das sind eben die Gläubiger, die ihre Güter holen kommen, die ich ihnen bisher verwaltet habe.«

Die Frau schwieg und blickte ahnungsvoll einer schlimmen Zukunft entgegen. Dabei war ihr aber süß, daß ihre Familie von der Bevölkerung geradezu vergöttert wurde, daß sie als die Gemahlin des reichen Wohltäters bei jeder Gelegenheit Ehren genoß, als wäre sie die Fürstin der Stadt und des Tales. Allerdings wurden im Hintergrunde auch Stimmen laut: Die Eberhardischen würden wohl wissen, warum sie so viel Gutes tun; sie könnten wohl noch mehr geben. Wenn so einer, wie der Eberhard hundert Taler gibt, die er nur aus der Kasse zu nehmen braucht, da ist's gerade so viel, als wenn der arme Mann einen Kreuzer schenkt. So einer kann eine Million verschenken und er tut sich nicht so weh, als wenn ein Armer ein Paar Stiefel versetzen muß.

Herr Eberhard hörte von solchen Stimmen wenige, denn im Vordergrunde stand das laute Lob. Er kam sich selbst manchmal vor wie ein Heiliger, der aus Nächstenliebe die Güter der Erde hingibt. Seinen Kindern sprach er von der Unsittlichkeit ererbten oder nicht persönlich erworbenen Reichtums und wies sie an, ihren Lebensunterhalt sich selbst zu verdienen. Es ward ihm bitter hart, er kämpfte übermenschlich, ehe er sie verstieß, doch endlich siegte er durch den Ausspruch: Du sollst deine Familie verlassen und mir nachfolgen! — Und er fuhr fort, die Reste seines Vermögens hinzugeben. Seine Gemahlin hätte ihn wohl rechtzeitig unter gerichtliche Aufsicht stellen lassen, wenn sie von seiner [S. 116] Darstellung, als wäre längst durch unglückliche Spekulation alles verloren worden und die seitherigen Weggaben seien nichts als das Zurückstellen aufbewahrten Geldes, sich nicht hätte irreführen lassen. Nun fiel sie ihm freilich um den Hals und sprach: »Lieber Mann, wir werden noch selber betteln gehen müssen.«

»O kurzsichtiges Menschenkind,« sagte zu ihr Herr Eberhard, »denke an das Wort des Heilands: Wer zwei Röcke hat, der gebe den einen davon dem, der keinen hat. Siehe die Blümlein auf dem Felde, sie säen nicht, sie ernten nicht, und der himmlische Vater ernährt und kleidet sie doch. Wenn mir ein kleines Dachstübchen bleibt, wie ich es einst besessen, dann bin ich schon zufrieden.«

Darauf vergingen noch wenige Jahre, dann war sein Ziel erreicht. Herr Eberhard wohnte in einem schiefwändigen frostigen Dachstübchen. Und wenn seine Frau, die auf dem Siechenbette lag, seinen Rock flicken wollte, so konnte er nicht ausgehen, um Lebensmittel zu sammeln, denn er hatte nur einen Rock. Seine in der Jugend verweichlichten Söhne hatten dem harten Existenzkampfe nicht standzuhalten vermocht und waren verkommen, die Töchter hatten sich einem Gewerbe ergeben, das ihnen unmöglich machte, noch einmal unter die Augen der Eltern zu treten. So waren die zwei alternden Leute nun ganz allein. Herr Eberhard hatte in seinem Dachstübchen aber doch die Beschaulichkeit und den Herzensfrieden nicht wieder gefunden, den er sich erhofft. Sein christliches Wohltun — wie Schuld pochte es nun manchmal an sein bangendes Herz, besonders wenn er an die verlorenen Kinder dachte. Dazu ward er täglich beleidigt von der Roheit derer, zu denen er bittend kam; sie nannten ihn einen Verschwender, dem jetzt ganz recht geschehe. Von den nachgerade zahllosen Leuten, denen er einst Gutes getan im [S. 117] großen wie im kleinen, waren nur wenige vorhanden; von diesen entschuldigte sich der eine mit eigenen Sorgen, der andere reichte ihm widerwillig eine kleine Gabe und den guten Rat, sich doch selbst wieder etwas zu verdienen, auch der Hände Arbeit schände nicht. Von der Verehrung, die er einst genossen in der Gegend, war nichts mehr übrig geblieben, ja man erinnerte sich nun wieder, daß der Taugenichts doch im Blute liegen müsse, da ja sein Großvater stranguliert worden sei. — Für solche Herzensbitterkeit fand Herr Eberhard in seinem Evangeliumbuche keinen rechten Spruch. Und bei den schönen Worten von der Seligkeit der Sanftmütigen, Traurigen und Verachteten war ihm, als paßten sie nicht auf seine Verhältnisse, als habe der Heiland eine so ungeheuerliche Undankbarkeit der Welt nicht voraussetzen können.

Eines Tages kam ein gerichtlicher Auftrag, Herr Eberhard Roland habe tausendfünfhundert Taler zu zahlen für eine Bürgschaft, die er einst geleistet. Darauf antwortete er: »Machet, was ihr wollt, ich habe nichts.« Da erschien nach einem Weilchen ein Gerichtsbeamter mit zwei Dienern, und mit ihnen der Gläubiger, ein reicher Bäckermeister von K. Dieser riß seine große, mit Banknoten wohlgefüllte Brieftasche aus dem Sacke, zog aus derselben aber keine Banknoten, sondern den Schuldschein, unter dem Herr Eberhard als Bürge stand. Der Bäcker schimpfte und fluchte eine Weile über den voreinstigen Prasser und Windbeutel, der jetzt von anderer, von ehrlicher Leute Arbeit leben wolle und dann wurden die wenigen Möbel und Einrichtungsstücke in Beschlag genommen und dem Herrn Eberhard die Wohnung gekündigt.

Am rechten Arm ein Bündel, am linken sein krankes Weib, so wankte Herr Eberhard hinaus. Bei wohlhabenden Leuten klopfte er an, die einst seine Nachbarn gewesen, sie [S. 118] hatten Ausflüchte. Eine alte arme Tabaksverkäuferin, die selber fror in ihrer Bude, lud die armen Leute ein, bei ihr zu rasten. Dem Herrn Eberhard aber war jetzt nicht ums Rasten; als er sein Weib in die Obhut der Ständlerin gegeben hatte, ging er hinaus in die Auen. In ihm war ein unerhörter Sturm. Er verfluchte nicht die undankbaren Menschen, nein, er wütete in grenzenloser Bitterkeit gegen das Evangelium, dem er so gläubig und opferwillig gefolgt war, und das ihn dahin geführt hatte, wo er sich jetzt befand.

Dem Mühlbache ging er entlang. Da fiel ihm etwas ein. Er schlug es rasch von sich, sein Weib konnte er nicht verlassen. Aber was sonst? Was nun sonst? — Nach langem Irren kehrte er um gegen die Stadt, es begann schon das Dunkeln des Abends. Vor sich sah er einen großen dicken Mann dahinwackeln, sein Stöcklein bei jedem Schritt gar selbstbewußt auf den steinigen Boden stoßend. Das war der Bäckermeister, der ihn vorher entheimt hatte. Er war wohl bei seiner Mühle draußen gewesen. Dem Herrn Eberhard wurde das Blut rasend, als er in diesem Manne gleichsam verkernt seinen ungeheueren Irrtum, sein Unglück sah. Der Bäcker war durchaus nicht christlich; er war hart und rücksichtslos, er zertrat unbedenklich Existenz um Existenz, wenn er daraus Nutzen ziehen konnte. Und wie ging's ihm gut und wie lief er sogar nicht Gefahr, einmal zu verarmen, einmal die Achtung der Mitmenschen zu verlieren. Hatte er diesen Bäcker nicht einst selbst aus einer großen Geschäftsverlegenheit gerissen? War das Geld seiner heute gefüllten Brieftasche nicht vielleicht Eberhards Geld? Konnte er es nicht wieder zurücknehmen jetzt ...?

Plötzlich bückte sich Herr Eberhard, hob einen scharfkantigen Stein auf und schleuderte ihn nach dem Kopfe des Bäckers. Dieser stürzte fast zusammen.

[S. 119]

Herr Eberhard vergaß, weshalb er den Stein geworfen, ließ den Sterbenden liegen und ging der Stadt zu, um sich dem Gerichte zu stellen. Da lief ihm jemand nach und flüsterte: »Herr Eberhard! Herr Eberhard! Sie wollen Ihrem Großvater nach! Das dürfen Sie nicht.«

Herr Eberhard blieb stehen und fragte den etwas unheimlich aussehenden Mann, was er wolle.

»Nein,« wiederholte dieser, »das dürfen Sie nicht. Den Bäcker nehme ich auf mich. Wissen Sie noch? Der Geldunterschlager auf der Post! Der Fundler!«

»Der Johann Fundler sind Sie? Jener Johann Fundler.«

»Der bin ich. Und wissen Sie, was Sie damals gesagt haben, wie Sie mir die veruntreute Summe vorgestreckt? Der Herr im Himmel freue sich über ein verlorenes Schaf, das gerettet werde. Ich bin wieder ein ordentlicher Mensch geworden damals, ohne daß jemand eine Ahnung hatte, daß ich ein Lump gewesen. Und habe noch manch glückliches Jahr genossen.«

»Wollen Sie mir jetzt etwa das Geld zurückzahlen?« fragte Herr Eberhard.

»Das kann ich nicht.«

»Ich brauch's auch nicht.«

»Ich habe weniger als nichts,« sagte der Postbeamte, »ich habe wieder gestohlen und die Polizei ist mir schon auf den Fersen, jetzt hilft mir nichts mehr, und deswegen nehme ich auch gleich den Bäcker auf mich und Sie sind so gut und streichen mir die Schuld.«

So hatte der Mensch in hastigen Stößen gesprochen und dann eilte er dahin.

Herr Eberhard lehnte sich an den Stamm einer Wildkastanie. — Also doch noch Dankbarkeit!

[S. 120]

Spät abends kam er zu seinem Weibe zurück, das in der Kammer jener Tabakverkäuferin auf einem alten Tuchmantel lag, und zu ihr sagte er: »Wärest du nur bei mir gewesen auf diesem Spaziergang, so hätten wir in Zukunft beide ein Quartier, nicht bloß ich allein. Weißt du etwas Neues? Just haben sie den toten Bäcker vorbeigetragen, der uns gepfändet hat. In der Au mit einem Stein erschlagen. Der Postbeamte Fundler will's getan haben. Der Fundler ist ein Lügner. Ich werde es den Herren schon beweisen, daß der Fundler ein Lump ist. Aber dieser schlechte Lump ist der bravste Mensch in der ganzen Stadt. — Er ist dankbar.«

Am nächsten Tag wurde das Weib ins Armenhaus gebracht und Herr Eberhard ins Gefängnis. Er hatte tüchtig zu tun gehabt, seinem dankbaren Postbeamten den erschlagenen Bäcker zu entwinden; es schien auch so unglaublich, daß Herr Eberhard einen Mord sollte begangen haben. Er legte einen freiwilligen Eid drauf ab. Ob's ein Rachemord oder ein Raubmord hätte sein sollen, das wüßte er selber nicht. — Und nun hatte er wieder seine Beschaulichkeit. Nun konnte er nachdenken, warum er eigentlich dem Heiland bis zum Dachstübchen nachfolgen wollte, und nicht weiter — nicht bis zur Kreuzigung? Warum er denn seine gesellschaftliche Stellung, sein Vermögen, ja selbst seine Familie hingeopfert hatte, um dem Evangelium gerecht zu werden, wenn er dann doch auf einmal der menschlichen Natur nachgab? Jetzt sah er, wohin die Nachfolge Christi führt: Wenn man dem Heiland auf dem ganzen Wege nachfolgt, so kommt man freilich in den Himmel, wenn man auf halbem Wege ablenkt, so kommt man in den Kerker. Und das passiert manchem.

So der Erzähler. Die Gesellschaft schwieg.


[S. 121]

Der alte Adam.

Mit vernünftigen Gründen vermag die Weiserin Natur bei uns vernünftigen Leuten selten was auszurichten, und so steckt sie sich zuweilen hinter Sonderlinge und Narren; denn nur den Unverständigen belehrt der Vernünftige, des Weisen Lehrmeister aber ist und bleibt in Ewigkeit der Narr.

Allerdings scheint es, als hätten die Strubacher-Leut' vom Lehm-Lamel nicht viel gelernt; der Lamel war gerade noch um ein halb Köpflein zu vernünftig für sie.

In vergangenen Jahren war er eigentlich gar sehr vernünftig und tüchtig gewesen, der Lamel. Er besaß eine Lehmgrube, die ihm guten Gewinn und den Namen Lehm-Lamel eintrug; zu Recht aber war er Wegwart an der Reichsstraße, die damals in weißen staubigen Bändern mit Wagengeknarre, Rossegewieher, Fuhrmannsgeschrei, Peitschengeknatter und Handwerksburschengetriller durch die Länder schlängelte. Damals war noch die Zeit, in der die Dörfer und Flecken groß, die Postmeister reich, die Wirte dick wurden, die Städte aber, durch steinerne Gürtel zusammengeschnürt, an Engbrüstigkeit litten.

Damals sind Wegwarte bedeutende Leute gewesen, ohne sie hätte das Räderwerk der Straße, des Landes, des Reichsverkehres gestockt, wäre versunken in Schlamm. Der Lamel hatte seine Pflicht wohl erfüllt, seine Strecke war stets die bestgeschotterte, auch hatte er an derselben eine Allee von Obstbäumen gepflanzt, wofür er anfangs gerügt, später aber, als sie zwar nur wenig Schatten, aber um so mehr Obst [S. 122] gaben, belobt wurde. Und er freute sich baß, wenn ihm Handwerksburschen Äpfel und Zwetschken stahlen, weil er wohl wußte, daß verbotene Früchte süß schmecken. So war er stolz auf sein süßes Obst, das geschenkt oder selbst gegessen schier ein wenig stark säuerlich schmecken wollte.

Auch um sein Haus hatte der Lamel einen Garten von Obstbäumen; der war seine Erquickung, denn die Bäume trugen Äpfel, die ließ er pressen, den Most wahren und gären, und wenn das Getränke klar und herbe geworden, so trank er es als echten Wein. Und der Apfelwein — dem Vater Noah zu Trutz sei's gesagt — gab dem Traubenwein nichts nach, hingegen gab der Lamel dem Apfelwein nach, und zwar nicht selten auf Kosten seiner Selbständigkeit.

Auf die kleine Schwäche müssen wir einen großen Vorzug erwähnen. Der Lamel war schriftgelehrt und ging in den Feierstunden daran, die sieben Siegel der Bibel zu lösen, wobei ihm der Apfelwein stets behilflich war, so daß er schließlich die Offenbarungen des heiligen Johannes leibhaftig um sich herumtanzen sah, mitsamt den vier Ältesten und dem Lamel.

Eines Abends sprach ein alter hinkender und schielender Handwerksbursche im Hause des Wegwarts zu, nahm am Brunnen einen Trunk und wusch sich hierauf den Staub von den Füßen. Weil der Wegwart nicht weit davon stand und dem Alten lächelnd zusah, so wurde dieser dreist und bat um Nachtherberge. Bei Wegwächtern kehrt man sonst nicht zu, aber der Lamel wollte auch einmal ein Hausvater sein und sagte: »Hat Er ein Wanderbuch?«

»Ein Wanderbuch?« fragte der Geselle schielend entgegen, »— ein Wander — — das heißt — ja freilich, freilich hab' ich ein Wanderbuch.«

Der Lamel nahm das blau eingebundene Ding in Empfang, [S. 123] legte es in seinen Schrank und ließ dem Fremden Nachtmahl und Nachtlager geben.

Am anderen Morgen, noch ehe die Sonne und der Lamel aufgingen, war der alte Wanderbursche davon und mit ihm das neue Paar Juchtenstiefel des Wegwart. — Fand es eigentlich soweit in Ordnung, der Lamel, denn gute Stiefel müssen wandern und ein echter Haderlump muß stehlen. Aber wie ein Mensch so leichtfertig sein kann, sein Wanderbuch im Stiche zu lassen! — Das blaue Buch lag noch im Schranke, der Lamel öffnete, durchblätterte es — ja, was ist denn das für ein wunderlich Wesen? Ein Wanderbuch allerdings, aber ein gedrucktes. »Das Buch über die Seelenwanderung« war es benamset und bei näherer Untersuchung enthielt es große Abhandlungen in langen Kapiteln mit geheimnisvollem Dunkel und tiefer Weihe geschrieben. Der Verfasser war nicht genannt — so konnte es auch der heilige Geist selber diktiert haben.

Und als wieder die Feierstunden kamen, da schaffte sich der Lamel einen Krug Weines ins Stübchen und begann das Buch von der Seelenwanderung zu lesen. Das erzählte fürs erste die Geschichte des Glaubens an die Seelenwanderung, wobei natürlich viel von den alten Ägyptern die Rede war, kam auch später auf das Feld der Spiritisten. Und schließlich verharrte das Buch gläubig bei folgender Lehre:

»Jene Engel, die im Himmel sich versündigt hatten, verstieß Gott in eine Ödnis, so die Erde heißet. Auf der Erde lebten die Verstorbenen in Leibern aus Lehm und waren anheimgestellt der Drangsal und sollten ihren Fehltritt sühnen, bevor ihr Leib wieder zu Lehm sich lösete. Wenigen gelang es, in ihrer irdischen Natur, sozusagen in einer Hülle von Kot, sich zu reinigen; denen es gelang, die wurden wieder in die Himmel aufgenommen; denen es nicht [S. 124] gelang, die mußten von neuem in irdische Leiber zurückkehren, und dies immer wieder und so lange, bis sie durch Not und Trübsal genugsam rein geworden, etwas Großes hier gewirkt hätten und endlich dereinst in die Himmel aufgenommen werden. So ist das Menschengeschlecht entstanden und so muß es fortbestehen, bis der letzte Engel seinen letzten Fehl, er rühre noch vom himmlischen Reiche oder von seinem vorhergegangenen Erdenleben her, gesühnt hat. Zum Beispiel Abraham, Moses, Paulus, Mohammed, Karl der Große, Kolumbus, Schiller usw. gehören nun zu den Erlöseten, die, wie oft sie auch früherhin in Erdenleibern gewesen sein mögen, ihre Büßerbahn erst mit dem Dasein, in dem sie das Große gewirkt, beschlossen haben. Hingegen, um nur weltberühmte Übeltäter zu nennen, zum Beispiel Pharao, Herodes, Nero, Alexander V., Napoleon und andere haben mit diesen ihren Existenzen nicht abgeschlossen, müssen so oft und so lange wieder in menschliche Leiber zurückkehren, bis nicht allein ihre Verbrechen in den Himmeln, sondern auch ihre bösen Taten auf Erden gebüßt sind. Wie oft, Leser — so schaltete das Buch packend ein —, magst du schon auf Erden gewesen sein? Wer weiß es denn, ob du nicht der Kain warst, oder Alexander der Große geheißen, oder Pontius Pilatus, der unsern Herrn ans Kreuz schlagen ließ, oder Robespierre, der Wüterich von Paris? Der Urvater Adam selbst kann heute noch auf Erden wandern, etwa in deinem Gebietiger (so zu lesen), der dich schützt und schlägt, etwa in dem Bettelmann, der dich um Almosen anfleht, etwa in dir, in deinem Sohne!« —

Fast hätte der Lehm-Lamel über das merkwürdige Buch des Apfelweines vergessen. Das war ein Buch. Das leuchtet ein. Ja, jetzt ist das Rätsel gelöst. Darum die Welt, darum die vielen armseligen Menschen, darum die wenigen [S. 125] großen Taten und darum das Sprichwort von einem großen Wohltäter: »So einer kommt nicht wieder!« Und das Böse wird bestraft und das Gute belohnt und die Erde ist eigentlich das Fegefeuer. Wie das stimmt! — Und ein solches Licht für ein paar Juchtenstiefel! Wer weiß! Der alte Handwerksbursche kann ein guter Engel gewesen sein; man kann's nicht wissen — gar nichts kann man wissen auf der Welt, als was in diesem Buche steht.

Und wieder und immer wieder las der alte Wegwart in der wunderlichen Schrift. Oft sann er lange und ernstlich über sich selbst. — »Jetzt steht die Welt schon sechstausend Jahr', und du bist noch nicht fertig, Lehm-Lamel, gefallener Engel, bist noch immer da? An die neunzig Menschenalter sind seit der Erschaffung der Welt, hast sie alle durchgemacht und bist erst noch nichts als der dumme Wegwächter, dem alle Rösser der Welt auf die Arbeit pissen. Was hast denn immer getrieben, du Haderlump? Viel mag ich nicht wetten, du bist bei den Zigeunern gewesen ...«

Er las sich streng die Leviten und trank Apfelwein dabei, und tatsächlich, es war ihm zumute, als hätte er auch vor mehreren tausend Jahren schon aus dem Kruge getrunken — zu Noahs Zeiten — nur bedünkte ihm, der Wein wäre damals nicht ganz so sauer gewesen als heute. — Der Wein hat auch seinen Geist; seine Seele demnach. Wie wenn auch diese wanderte? Der Saure, der Gewässerte, der künstlich Gezuckerte und Durchgeistigte — nimmer erfüllte er seinen Beruf, er muß noch einmal in die Kelter. Aber der Apfelwein ist ohne Falsch und vermag — wenn man betrachtet, wie der kräftige Lamel zuweilen auf dem Boden liegt — Großes zu vollbringen. — So wird der Apfelwein über kurz den reinen Geistern beigesellet sein ...

Der Lamel war bisher Junggeselle geblieben, so war [S. 126] fürs erste niemand da, der zu seiner seelischen Reinigung beitrug, und der ihn fürs zweite in seinen Grübeleien zerstreut hätte. Also verbiß er sich immer mehr in das Buch von der Seelenwanderung, und also wurde er allmählich ein Narr. Die Idee, ob er nicht etwa doch einer aus dem Alten Testamente sei — er las nebenbei auch immer die Bibel — und ob nicht gar die Seele des unerlösten Adam in ihm stecke, trug er lange mit sich herum. Und in seiner Vermutung wurde er bestärkt, als er sich jählings in ein junges Weib verliebte. Er war noch nicht zweimal zwanzig Jahre alt und durchaus, vom Fuß bis zum Kopf, ein Wegwart, der sich sehen lassen durfte. Sie war eine Kalkbrennerin in der Gegend; die schöne Strinerl geheißen; ihre Haare waren so gelb wie das Korngehalme auf dem Felde zur Zeit, wenn der Schnitter kommt. Ging der Lamel zur Schnittzeit über die Felder, so las er nicht ungerne die bauchigen Körnlein aus den Ähren und zermalmte sie mit seinen urtüchtigen Zähnen. Und dachte dabei an den Schatz.

Aber — Lehm-Lamel-Adam, kannst du dich denn nicht mehr erinnern, das voreinstmalen die goldhaarige Eva schuld war an deinem Falle, an deiner Austreibung aus dem Paradiese und an deiner ruhelosen Seelenwanderung durch die Geschlechter der Menschen? — Der Apfelbiß in der Bibel! nichts als Blumensprache, du weißt es recht gut. Lehm-Lamel-Adam! Was zieht doch täglich für ein Volk die Straße entlang, an dir vorbei? Ein unselig Volk von Bettlern, Vagabunden, Tagedieben! Dort wankt ein Blinder, geführt von seinem halbnackten Kinde; dort schleppt ein kraftloses Maultier einen lahmen Mann; dort geleiten Schergen einen Übeltäter heran und drüberhin flattern und krächzen die Raben. Hier sprengt mit Roß und Wagen ein anderer Übeltäter vorüber; dort liegt ein Waisenknabe im [S. 127] Straßengraben und ächzt. Sechs schwarze Hengste führen die Leiche eines reichen Selbstmörders ihrer prunkenden Gruft zu. Dort am Steinhaufen kauern Mann und Weib und Kinder in Lumpen; die Kinder schreien nach Brot, der Mann verflucht sein Geschick. Und hier wankt ein Enttäuschter, Vernichteter des Weges zurück, den er vor kurzer Zeit erst mit fliegenden Plänen und Hoffnungen gezogen. Und so zieht's Tag für Tag und Jahr für Jahr die breite Straße entlang; ganze Kriegsheere dazwischen, ausfahrend, um zu morden und zu rauben. Und das — all das ist das Menschengeschlecht. Adam, das ist deine Sippe! — Und wiederum gehst du auf Freiersfüßen, anstatt anzupacken, daß die ganze mißratene Brut vertilgt werde!

So schrie das Gewissen dem Wegwart in die Ohren.

Es war nur ein alter Eseltreiber, der eines Tages beim Wegwart zusprach.

»Lehm-Lamel!« rief er durchs Fenster hinein, »weißt du schon, daß die Strubacher-Leut' nicht mehr sprechen können? Sie heißen dich den Lahm-Limmel.«

»Treib' deine Esel in meinen Obstgarten,« sagte der Lamel, »und setz' dich zu mir, ich muß dir doch etwas aus diesem Buche vorlesen.« Dann hub er an und teilte dem Treiber die Lehre von der Seelenwanderung mit. — »Und für ein Paar Stiefel hat mir ein Landstreicher dieses Werk im Haus gelassen!«

»Der hat gewußt, was er getan hat,« rief der Eseltreiber und schlug mit der flachen Hand aufs Buch, »aber Leder ist hier mehr drin.«

Als sie tiefer in das Gespräch kamen und der Lamel mitgeteilt hatte, daß mutmaßlich die Seele des Adam aus dem Paradiese in ihm stecke, neigte der Treiber zustimmend den Kopf. Und als sich jener Rates holte, was er denn eigentlich [S. 128] werde tun müssen, um sich zu erlösen, sagte dieser: »Luderleben sollst keins führen, das ist die verbotene Frucht. Selbst meine Esel möchten Heu haben und müssen Stroh fressen. Aber das Müssen gilt nicht. Wer's freiwillig tut, dem ist's ein Verdienst.«

»Ich hüte mich wohl,« sagte der Lamel, »da schau meine Obstbäume an, die schönsten Äpfel, die prächtigsten Äpfel! Du, ich sag' dir, nicht einen einzigen ess' ich im Jahr. Gott hat schon im Paradiese den Apfel verboten.«

»Geh,« lachte der Eseltreiber, »du bist schlau, die Äpfel ißt du nicht, aber ihren Saft pressest du heraus und damit trinkest du dir die Räusche!«

Schier zu Tode erschrak der Lamel über diesen Vorwurf; er sah es plötzlich ein, der Eselmann hatte recht, im Apfelwein genoß er die verbotene Frucht.

Und von dieser Zeit an hatte sich der Wegwart fest vorgenommen, nicht einen Tropfen des falschen Getränkes mehr zu trinken, als bis er im Reiche Gottes zur »Rechten« säße. Es gelang ihm eine erkleckliche Weile, seine argen Gelüste zu zähmen und seinen sündigen Menschen zu verleugnen, und er hatte schon gegründete Hoffnung, daß Adams langwierige und langweilige Seelenwanderung in dem schlichten Wegwart endlich ihren guten Abschluß finden würde.

Da war einmal ein heißer Sommertag und da kam die schöne Strinerl die staubige Straße gegangen. Sie sah den Schatten in des Wegwarts Obstgarten, sie hörte den Brunnen rieseln; so trat sie in den kleinen Hof, um zu trinken.

Schon hielt sie die braune, hohle Hand unter den klaren Strahl, als sie der Lamel vom Fenster aus bemerkte.

»Närrchen, Närrchen!« rief er, »was wirst Wasser trinken! Ich habe einen guten Apfelwein im Keller, ich selber brauch' ihn nicht; für wen hätt' ich ihn, Dirndl, als für dich?«

[S. 129]

Er eilte in den Keller, entspundete ein Fäßchen und steckte einen Schlauch hinein, um die Gottesgabe in den bereiten Krug herauszuheben. Doch, als er mit dem Atem hob und als es kühl und feucht wurde unter seinem lechzenden Gaumen, da kam er ins Saugen und der Wein ging durch den Schlauch geradewegs in seine Gurgel. Er trank herzhaft drauflos, vergaß die gelblockige Strinerl, vergaß den Adam, trank und trank die langentbehrte Labe — trank und sank endlich auf den kühlen Lehm des Kellers hin.

»Lamel!« lallte er schläferig, »war das ein Durst! Und er ist noch — nicht gelöscht. Will ihn gründlich löschen — den Durst, weil ich schon dabei bin. — Strinerl, komm' her! — 's hilft nichts dafür, der Mensch ist wie er ist. Er mag sich drehen und spreizen wie er will, er mag ein Röckel tragen, blau oder rot. Oder gar keins. Er mag sich die Haut umwenden. Mag auf dem Fuß stehen oder auf dem Kopf. 's ist alles eins. 's ist und 's bleibt der alte Adam ...«


[S. 130]

Der Säemann.

Seit Jahrhunderten gab es im Tale keinen merkwürdigeren Mann als den Samstag-Christof. Er hätte dreimal Anrecht gehabt auf das Spital, denn er war übel geboren. Eine Krankheit hatte ihn zugerichtet, er war stocktaub und einäugig und hatte eine verstümmelte rechte Hand. Aber seine Linke war gesund und ernährte drei Gemeinden. Der Christof war arm und wohnte unter dem Strohdach einer Scheune. Als Knabe entsprang er dem Krankenhause, in das ihn der Vormund nach dem Tode der Eltern gesteckt hatte; die erste Nacht nach seiner Flucht verschlief er in der Scheune, und seitdem war diese sein Daheim gewesen, und er hatte in ihr seinen ersten Bart und seine weißen Haare erwartet. Aus Stroh hatte er sich ein Stübchen geflochten, das sah aus wie ein mächtiger Korb, und hielt die Kälte und Hitze ab. Das Stroh beschützte den Mann ja gern, denn jeder Halm verdankte ihm das Leben und die Ähren ließen gerne ihre rundesten Körner dem guten Christof zum Brot. Der Mann war eine Gestalt zum Erbarmen; aber es gab keinen Amtmann weit und breit, der so geehrt und in sich so glückselig war, als der Samstag-Christof.

Der Samstag-Christof war wie die Kraft Gottes, des Schöpfers, könnte man sagen; worüber er seine Hand ausstreckte — und es war doch nur die linke — das wurde gesegnet. Man wußte nicht, woher es kam, es war eine angeborene Eigenschaft; Christof war der berühmteste Säemann im ganzen Bergland. Es gab sehr geschickte und erfahrene Bauern im Tal, sie hatten — darüber war nicht zu klagen — fleißige Hände und volle Speicher, sie verstanden das [S. 131] Ernten — aber das Säen verstanden sie lange nicht immer. Einmal ging das Korn zu dicht auf und erstickte sich, das andere Mal standen die Halme schuhweit auseinander und jede Ähre hatte ein ganzes Ländchen für sich — dafür trugen sie auch den Kopf hoch und waren leer und spießig, statt voll und glatt. Oft waren mitten in den Äckern leere Gassen, durch die Roß und Wagen hätten ziehen können, ohne ein Hälmlein zu beschädigen. Ein Sträfling kann die Gassen, durch die er Spießruten laufen muß, kaum stärker hassen, als der Bauer solch eine leere Gasse durch sein Kornfeld haßt. Die Samenkörner mit vollen Händen hinzuwerfen, ist freilich leicht, aber das Erdreich ist braun und die Körner sind braun, und es ist schwer, die Gleichmäßigkeit einzuhalten, daß kein Fleckchen leer bleibt oder keine Handvoll auf die andere fällt. Gute Augen, ein gleicher Schritt und eine sichere Hand gehören dazu.

Der Samstag-Christof hatte nur ein einziges Auge, das gewiß nicht über die Ecke der Nase sah, und er hatte sichelkrumme Füße, und er hatte nur die »dengge« Hand, und dennoch blieb, wenn er säete, auf dem ganzen weiten Felde keine Handbreit leer und kein Korn fiel auf das andere. Wenn auf Christofs Acker der Same aufging, so war das so gleichmäßig wie eine grünende Wiese, und wenn er reifte, legte ein Halm seine schwere Ähre auf die Achsel des andern.

Darum suchten alle den Christof auf in seinem Strohkorbe, darum tat der Christof im Frühjahre und Herbste zwei Monate nichts als säen, und er säete auf allen Feldern des ganzen weiten Tales. Da trug er ein großes, weißes Tuch um die Lenden, und darin hatte er das Samenkorn, ein strotziges Bündel. So legte er fast mit Grazie seine Linke hinein und schwang sie dann gefüllt — nicht auf das gelockerte Feld. — Die erste Handvoll warf er auf [S. 132] sandigen Boden oder auf einen Felsen, oder hin über das Heidekraut des Raines. Warum er's tat, das sagte er nicht und keiner stellte ihn darob zur Rede. Dann aber ging's über das Feld, von einem Rain bis zum andern. Wie er die Hand so schwang im Halbkreise, da zogen von ihr die braungelblichen Strahlen der Körner aus, und sie verdünnten sich in der weiten Runde und wurden unsichtbar, bis sie zur Erde fielen. Gleich kamen auch die Vöglein herbeigeflogen von den nahen Bäumen und von den Büschen. Sonst hüpfen sie gerne auf den Erdschollen herum und picken die frischgesäeten Körner auf, aber dem alten Christof flogen sie auf die Achsel oder die Lederhaube, und einmal ließen sie sich gar wundersam nieder zum Kornsack und schnappten nach Lust die Dingelchen heraus. Als ob es ihnen gesagt worden wäre, daß das Körnlein im Sacke geradeso sättigt wie das Körnlein im Erdreiche, obwohl das erstere nur ein einzig Körnlein bedeutet, das letztere aber eine ganze schwere Ähre.

Keine Handlung im formreichen Kultus des Landmanns ist so würdevoll und heilig wie das Hinlegen des Samenkornes in die Erde. Das ist Glaube und Hoffnung, das ist ein Begräbnis mit der kindlichsten Zuversicht an die Auferstehung. Ich habe noch keinen lachenden, singenden oder plaudernden Säemann gesehen; der tollste, ausgelassenste Bursche schreitet bei dieser Arbeit still und ernst einher, als sei er zur selbigen Stunde ein Wundermann, der mit wenigen Broten viele speist. Es ist, als ob den Säemann bei dieser Handlung eine Ahnung überkäme von seinem eigenen Hinsinken in das Erdreich und Wiederhervorgehen zu neuem Leben.

Freilich wohl liegt über diesem tiefen Meere der Poesie, sowie immer im Volke, der Schaum des Aberglaubens. Der Säemann soll ein Sonntagskind sein und die Arbeit nur bei [S. 133] aufnehmendem Monde verrichten. Gesagt ist, daß der Same besser gedeiht, wenn er früher mit Weihwasser übergossen wird; das Wasser müßte aber nicht gerade geweiht sein, die Hauptsache ist nur, daß es befeuchtet. Sonst wird beim Säen die erste und die letzte Handvoll kreuzweise hingeworfen, damit nicht etwa der böse Feind Unkraut unter den Weizen menge. Aber der Christof tat das nicht, die erste legte er auf unfruchtbaren Grund und die letzte — es war recht und billig — behielt er sich zum Eigentum. Hatte er an einem Tage zehn Äcker besäet, so hatte er sich zehn Hände voll Korn erworben; so ließ sich in der Säezeit der Lebensunterhalt für das ganze Jahr zusammenbringen.

Im Tale lebte ein häßliches Weib, die Brennessel-Gret. Es war eine arme Witwe, mit drei kleinen Kindern; es war auch ein Säeweib und hatte sich und anderen durch seine böse Zunge schon viel Unkraut ausgestreut. Die Gret liebte keinen Unglücklichen, umsomehr haßte sie den Glücklichen. Der Samstag-Christof, arm und häßlich wie sie, aber geachtet von allmänniglich und geliebt von jedem Kinde, selbst von den Vöglein der Lüfte, war ihr ein Dorn im Auge. Im allgemeinen achtete man nicht auf die Brennessel-Gret, was sie auch sagen und tun mochte. Auf einmal aber ging ein Gerücht durch aller Leute Mund: Nun, endlich wisse man's, warum der Samstag-Christof so trefflich säe, er benütze den Bösen dazu, der müsse ihm jedes Korn auf den genau abgemessenen Platz in die Erde legen und bekäme dafür die erste Handvoll, die der Christof auf unfruchtbaren Boden wirft. Der Samstag-Christof sei ein Hexenmeister.

Man weiß, wie Bauern sind — im nächsten Jahre säete jeder sein Kornfeld eigenhändig, und dem alten Christof wich man aus und grüßte ihn kaum mehr. Dieser lebte verborgen in seiner Scheune, während draußen der Frühling [S. 134] war. Aber als die Saat aufging, gab es über die Felder hin viele aschgraue, kahle Streifen und zur Blütezeit wucherte Nesselkraut und Hederich zwischen den Halmen und in den Erntetagen lagen die Garben dünn zerstreut auf den Stoppeln.

Im nächsten Herbste wurde in der Hütte der Brennessel-Gret viel gebetet und geflucht. Das Weib hatte sein Kornackerl bestellt, aber nun bekam es, wie sonst alljährlich, keinen Samen von der Nachbarschaft; erstens, weil solcher in diesem Jahre rarer war als sonst, zweitens, weil sich das Weib immer mehr verhaßt gemacht hatte. Alles bestellte seine Wintersaat, aber der Acker der Witwe blieb brach liegen. Christof hatte in seinem Vorrat einen Kübel Korn; da dachte er bei sich: Streue ich diese Körner auf ihr Feld, so bin ich wieder der Hexenmeister, und bleibt ihr Acker leer, so verhungert sie mit ihren Kindern. — Da war der alte Mann einmal über eine Nacht nicht in seiner Scheune.

Der Winter kam und ging vorüber; in der Hütte des Nesselweibes war Trostlosigkeit; die Grete betete für ihre Kinder und verfluchte alle übrigen Menschen. Aber im Frühjahre, als alle Felder grünten im weiten Tale, grünte auch das der Witwe; es ging aus demselben das Korn auf in saftiger Fülle und schöner Gleichmäßigkeit, erquickender zu sehen, wie alle Äcker der Großbauern. Der Samstag-Christof hatte hier gesäet, es ließ sich nicht leugnen. Nächtlicherweile mußte er es getan haben, und dennoch stand jedes Hälmlein von den anderen wie abgemessen. Das hätte den Argwohn von dem »Hexenmeister« wohl bestärkt, aber der Pfarrer sagte: »Er hat Almosen gegeben mit der Linken, ohne daß es die Rechte wußte; er ist, umgekehrt wie im Evangelium, gegangen auf den Acker des Feindes um Mitternacht und hat das Unkraut zertreten und guten Samen gestreut.«

[S. 135]

Ich habe den alten Samstag-Christof noch gekannt. Über seinen Körper schienen alle Übel kommen zu wollen; in seinen letzten Jahren war er so buckelig, daß er wie ein Ballen herangewandelt kam. Sein niedergebeugter Kopf war kaum einen Fuß von der Erde entfernt, seine hageren Hände, wovon die Rechte fingerlos war, hingen nieder bis zum Boden; es war, als ob er alle Körner wieder auflesen wollte, die er in seinem Leben ausgestreut hatte. An einem Samstagabend fand man ihn mitten auf einem reichen Kornfeld leblos, tief zusammengekauert wie ein Samenkorn, das, in Verwesung übergehend, keimen will. Man konnte den Greis nicht mehr gerade legen, der Sarg mußte kurz und breit sein.

Das Grab des alten Christof wurde bald weit und breit bekannt; es wuchsen Halme auf ihm und Kornähren daran. Die alte Brennessel-Gret führte ihre drei Kinder zum Hügel, pflückte jedem eine Ähre und sagte: »Nehmt und bauet sie an.«

Zwei dieser Kinder besitzen heute weite Kornfelder, herausgewachsen aus den zwei Ähren; das dritte aber hat seine Ähre verworfen und zieht hab- und heimatlos durch die Länder.


[S. 136]

Der scheltend' Schuster.

Da stand in den Zeitungen der Bericht von einem Manne in Boston, der jedesmal, wenn er fluche, ein Geschenk zu kirchlichen Zwecken gebe, auf diese Art bereits ein Bethaus erbaut habe und nun dabei wäre, einen Turm auf die Presbyterianerkirche zu fluchen.

Dieser Bericht erinnerte mich an den Flucher Martin Leitner in Fischböckgraben, welcher Leitner unter dem Namen: »Der scheltend' Schuster« weit und breit bekannt war. Um ein guter Flucher zu sein, braucht man rhetorisches Talent; mit etlichen groben Redensarten allein ist's da nicht abgetan, die bringt jeder ungehobelte Bauer zuweg, ja selbst der Stadtherr und die Stadtfrau, was mir eine ganze Welt von dienstbaren Geistern beweisen helfen kann. Der geborene Flucher flucht mit Grazie, mit Humor, mit Wärme und Empfindung, mit schönem Pathos, kurz, mit dichterischem Schwung. Ihm steht eine unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der Form zu Gebote, ein Bilderreichtum gewaltiger Phantasie, sein Fluch ist als Ausdruck der Empfindung ein poetisches Werk lyrischer Art. Fluchen und Beten sind scheinbar sich ganz entgegengesetzte Dinge, in Wahrheit aber gleichartiger Natur: Beides ist eine Wunschäußerung des Gemütes gegenüber einem übernatürlichen Geiste. Zum Glücke wird so selten andächtig geflucht als andächtig gebetet.

Der Schuhmachermeister Martin und sein Geselle, der fromme Barthel, leisteten in beiden Fächern ganz Erkleckliches. So oft der Martin den Mund auftat, zitterten alle tausend Mordelemente im Himmel und auf Erden; und wenn der alte Barthel während des Drahtziehens seine frommen [S. 137] Stoßgebetlein ins Pech oder ins Leder murmelte, hatte es eine Art, daß, wie der Meister sagte, nur gerade das kreuzweis verschweifelte Donnerwetter dreinpfeifen müßte! Sie eiferten sich gegenseitig an zu ihren Tugenden; je mehr der eine fluchte, je mehr betete der andere, und je mehr dieser betete, je mehr fluchte jener. So gab es denn in der Schusterwerkstatt oftmals einen Geruch wie von Weihrauch und Schwefel durcheinander.

Den Meister ärgerte des weiteren das Beten nicht, insofern war er duldsamer als sein Geselle, dem das Fluchen seines Herrn ein Greuel war.

Nicht ungern erzählte der Schustergeselle die Geschichte von dem fluchenden Weber, der so lange in das bei einem ungeduldigen Weber stets verknüpfte und verworrene Garn hineinfluchte, bis er umgarnt war und ihn mit Haut und Haar der Böse holte, den er so oft angerufen hatte.

»Das muß schon ein sternhageldick verzweifelter Narr gewesen sein,« meinte der Meister, »wer wird denn so fluchen?«

Der Barthel glotzte ihn ganz dumm an, und eines Tages rückte er den Dreifuß und sagte: »Der Meister ist sonst kein zuwiderer Mensch nicht, aber halt das gottlose Schelten und Eitelnennen Gottes! So oft der Meister tut fluchen, gibt's mir einen Stich ins Herz, als wie wenn eins mit dem Ahl-Ertel ohne Schmer hinein tät' rennen. Das bin ich gar nicht gewohnt, und jetzt sag' ich meinen Dienst auf.«

Wickelte der Meister den Pechdraht um die Hand, rückte auch seinerseits den Dreifuß und antwortete: »Was heißt das, Barthel? Wer nennt den Gottesnamen eitel, ich oder du? Schelten! Fluchen! Du tust ja, als wie wenn ich ein siebendoppelter Heid' tät' sein! So ein blitzblau vernagelter Unsinn! Ob mich schon wer fluchen gehört hat, möcht' ich [S. 138] wissen, du gottverdammter Ehrabschneider, du vermaledeiter, daß dich der Teufel hol—lertee trink' ich gern.«

Aber fluchen tat er nicht.

So klagte der Barthel seine Not einmal den Kirchenpröbsten, unter welchen die Sakristeidiener und Vorbeter verstanden sind, und zu denen er selber gehörte. Und sie einigten sich darin, daß der Meister Mirtl (Martin) wirklich der greulichste Flucher sei, der je Menschenfüße in Ochsenhaut steckte, daß man ihn allerwärts den scheltenden Schuster heiße, was dem Sprengel, in dem er lebe, keine Ehr' sei, und daß der Mann stumm gemacht werden müsse. — Was half's, daß der Geselle nach jedem Fluch des Meisters ausrief: »Gott verzeih'!« wenn der andere sofort wieder mit einem: »Gott verdamm'!« dreinfuhr, und es drauflosging, daß sich ordentlich das bockigste Stierleder unter dem Knieriemen wand vor Entsetzen.

Wenn der Meister bei guter Laune war, so hörte man von ihm fortwährend Gefühlsausbrüche harmloserer Art, als: »Bassama hint' auf d' Höh'!« oder: »Kruzi-Adaxel-Türkensabel, Ludervieh und Heugabel!« oder: »Kreuz-divi-domini, daß dich!« oder auch: »Fixzaunmarter-dürre-Krautstingelbutten!« Wenn er aber in Zorn und Wut kam, da ging ein ganz anderes, ein schweres Wetter nieder.

»Geldstrafe!« sagte einer der Kirchenpröbste, »sonst weiß ich kein Mittel. So oft der Mirtel einen Flucher laßt, zahlt er einen Kupfersechser. Barthel, du passest auf und verwahrst das Geld, das nachher der Kirchen gehört.«

»O, ihr lieben Eselein!« rief der Barthel, »da möcht' ich wohl wissen, wer ihm das Zahlen wollt' schaffen. Den schilt er maustot.«

»Das laß gut sein, Schuster,« sagte der andere, »ich werd' mit dem Kaplan reden.«

[S. 139]

Und nach einiger Zeit, als der Meister Mirtel eines Tages von der Kirche heimkehrte, war er verzagt und fluchte nicht, so daß der Barthel glaubte, sein Meister müsse krank sein, und ihn darob befragte.

»Ja, mein lieber Barthel,« antwortete der Meister traurig, »'s ist nicht richtig mit mir; bei der Beicht' bin ich gewesen. 's mag wohl sein, daß meine arme Seel' zum Teufel geht. Weil ich so viel schelten tät', sagt der geistliche Herr. Glaub's aber nicht, 's müßt mich nur zeitweilig der Höllsaggra so viel reiten. Sollt' mir's abgewöhnen, sagt der geistliche Herr. Der hat leicht reden, der hat alleweil die sieben Sakrament' im Mund und ist fromm dabei; und unsereinem darf nur eins auf die Zungen kommen, so heißt's, man schilt! Muß aber doch derlogen sein, daß ich mir das mordsschwerenots Fluchen nicht sollt' können abgewöhnen. — Nu, so hat halt der geistliche Herr gesagt, sagt er: so oftmals ich einen feisten Flucher tät' loslassen, sollt' ich allemal einen Dreier für den Opferstock geben.«

»Einen Sechser, Meister, einen Sechser!« rief der Barthel drein.

»Einen Sechser? Wie kannst denn du das wissen, du neunmal verzweifelte Judashaut; hast leicht gelost?!«

»Gar nicht, Meister, gar nicht; hab' nur gemeint, so ein Flucher vom Meister ist seinen Sechser schon wert.«

»Hat's auch gesagt, der geistliche Herr, daß ich mich allemal um einen Sechser sollt' strafen. Meint er 'leicht, ich hätt' nicht Herr über mich! Justament will ich ihm's zeigen, dem Sakermenter, daß ich das Schelten kann lassen.«

»Meister, ich bitt' um den Sechser.«

»Was hast denn? Es gilt auch: so oft ich was fluch', kriegst du für die Kirche den Sechser. Daß ich euch weis', was ich kann, und das verdammte Gered' einmal aufhört: [S. 140] nicht einen setzt's, oder es soll mich das Kruzifix-Millionen-Donnerwetter in den Erdboden schlagen!«

»Meister, ich bitt' um den Sechser.«

Das Donnerwetter schlug nicht, aber er gab den Sechser: den ersten und bald noch etliche dran in derselbigen Woche. Jeder »Satan« und jedes »Mordselement«, jede »Pestilenz«, jeder »pechrabenschwarze Gallteufel«, sogar jede »Galgenstrick-Latern'« und jedes »Saggramosthosen« wurde mit einem Sechser belegt. Allerlei Drohungen und Träume, die dem braven Schuhmachermeister nächtlicher Weil' vorkamen, bewirkten es, daß er die Strafgelder nicht verweigerte, sondern mehr und mehr seinen Mund in acht nahm.

Als die Kirchenpröpste wieder zusammenkamen, brachte der Barthel zwar ein nettes Häufchen Sechser mit, tat aber gleichzeitig kund, daß die Kupferquelle allbereits versiegt sei.

»Das kömmt mir recht verdrießlich,« meinte der Lichtanzünder, »wie ihr sehen könnt, ist der Weihbrunnkessel an der Kirchentür kaputt geworden, worauf wir beim heurigen Geldanschlag nicht gezählt haben. So ist mir der Einfall gekommen, ob uns nicht der Schustermeister einen neuen Kessel zusammenfluchen wollt'.«

»Flucht nimmer,« berichtete der Barthel. »Es müßte denn sein, daß man ihn reizen tät'. Wenn's zum Besten des Kessels ist ...«

Und was geschah?

Der Barthel ging heim in die Werkstatt, verknüpfte in Abwesenheit des Meisters den Draht, tauchte das Pech in kaltes Wasser, verklebte auch ein wenig den Leisten in den halbfertigen Schuh, brach ein paar Ahl-Erteln die Spitze ab, versteckte den Knieriemen unter das alte Lederwerk und bereitete in schöner Dienstfertigkeit noch dies und das für ein ausgiebig Flucherstündchen. Dann rückte er sich in seine [S. 141] Ecke und stach und schmierte und nähte mit der harmlosesten Miene von der Welt an seinem Stiefel.

Bald darauf trat der Meister lustig pfeifend in die Stube und setzte sich an die Arbeit. Fürs erste wackelte der Dreifuß; den rückte er gelassen zurecht. Dann langte er nach dem Garnknäuel, um die Drahtfäden auf seine Finger und den Ellbogen zu haspeln. Dabei murmelte er etwas Unverständliches, denn das Garn war ein wenig verworren. Der Geselle lauerte, aber es kam weiter nichts. Das Pech zeigte sich heute, obwohl in der Stube geheizt war, ausnehmend spröde, das Schmer hinwiederum floß schier auseinander. Als der Meister den Leisten aus dem Schuh ziehen wollte, brach der Zughaken und er schleuderte die Trümmer zu Boden und starrte stillen Grimmes auf den Gesellen hin, der in musterhafter Ordnung weiter arbeitete. Der Meister nahm die Ahle zur Hand, da war die Spitze weg — wieder ein Blick auf den Barthel. Bebend vor Wut, aber stumm wie ein Fisch, suchte der Meister den Knieriemen, schleuderte alle Leisten und Lederfetzen durcheinander, fand ihn endlich unter der zerfahrenen Beschuhung, stürzte damit auf den Gesellen und salbte ihm kräftigen Armes mit dem Riemen den Rücken.

Und fluchte nicht.

Aber der Weihbrunnkessel ist neu. Man sagt, der Barthel selbst hätte ihn zusammengescholten an demselbigen Tag.


[S. 142]

Herr Trotzkopf, der Heiratsbeflissene.

Bertram Siebener ging auf dieser Erde fünf Jahre lang mit Heiratsgelüsten um. Es tat ihm die Wahl weh unter den schönen Töchtern des Landes, und aus lauter Bedenken und Zuwarten passierte es mehrmals, daß ein anderer ihm die Braut vor der Nase weg heiratete. Denn gern haben die Frauen des Mannes Herz, aber dessen Hand haben sie noch lieber. Zudem hatte Bertram Siebener — ein so prächtiger Mann er sonst war — keinen sehr starken Willen, hingegen besaß er einen kräftigen Widerspruchsgeist. Ein Trotzkopf war er. Bei allem, was er vorhatte, befragte er seine Freunde um Rat, um hernach gerade das Gegenteil zu tun von dem, was sie ihm rieten.

So saß er eines Tages im Extrastübel des Eschenwirtshauses und sagte zum Wirt: »Julius, was sagst du dazu? Jetzt hab' ich eine aufgestöbert. Blutjung ist sie und bildsauber. Hast noch keine gesehen, die so schön wäre. Ganz dumm bin ich dir vor Liebe. Die werde ich nehmen — was meinst?«

Der Wirt zuckte die Achseln: »Wenn du verliebt bist, dann ist dir nicht mehr zu raten.«

»Daß man sich's halt etwa noch überlegt.«

»Das tät' ich auch an deiner Stell', und diesmal schon gar.«

»Meinst also, daß ich's bleiben lassen soll?«

»Weißt, Bertram, ein anderer kann da nichts sagen, das kommt auf dich selber an. Ich red' nur das: geheiratet ist's bald, aber das Hausen währt lang'. Und just auf die Schönheit allein ginge ich auch nicht. So lang' das Weibel [S. 143] schön ist, gehört es oftmals nicht dem Ehemann allein; und ist es nicht mehr schön, nachher magst es leicht auch selber nicht. So ist die Sach'.«

Der neidet mir die schöne Braut, dachte Bertram, als ob just ich kein sauberes Weib haben sollte! —

Er ging zu seinem Freunde, dem jungen Tischlermeister, einem sehr einsichtsvollen Mann, der selber noch ledig war und bei seiner dicken Stiefmutter lebte.

»Du, Franzel,« rief Bertram Siebener, »eilends laß dir Tanzschuhe machen. Ich bin Bräutigam. In die Allerschönste bin ich vernarrt, in die schöne Traut. Ich denk', ich mach' Ernst! Rate mir, Freund, aber rate mir nicht ab.«

»Dazu läge nach meiner Meinung keine Ursache vor,« sagte der Tischler, »daß sie deinem Auge gefällt, und daß du sie lieb hast, ist die Hauptsache. Alles andere findet sich.«

»Nur Vermögen, wenn sie zu ihrer Schönheit hätte, würde ich nicht verachten,« meinte Bertram.

»Vermögen, Vermögen,« sagte der Tischler, »dann bist du der Herr im Hause nimmer. Du bist der Anwalt ihres Geldes und mußt durch das Kapital deiner Arbeitskraft den täglichen Bedarf schaffen, und dennoch würde sie dir's bei jeder Gelegenheit zu verstehen geben, daß sie dir Geld mitgebracht hätte.«

»Wenn sie nur auch ein gutes Herz hat?« wendete Bertram ein.

»Pah, ein gutes Herz haben alle, wenn es der Mann verlangt; nur häßliche Weiber sind auch böse Weiber. Greif' zu, Bertram, greif' zu mit allen Vieren!«

Was der nur hat? dachte der Freier bei sich. Gerade auf der Stelle will er mich verheiraten. Er hat leicht reden; leben müßte ich mit ihr. Spät gefreit hat niemand gereut. Ich warte noch. —

[S. 144]

Ein halbes Jahr später saß Bertram Siebener wieder im Eschenwirtshause und zupfte den Wirt am Ärmel: Er hätte etwas zu reden.

»Wenn's nur auch was Gescheites ist!« sagte Julius.

»Das will ich schon meinen. Ich habe wieder eine Braut — eine mit Geld!«

»Das läßt sich hören!«

»Aber gerade nicht mehr ganz jung — so in den besten Jahren, eine Vierzigerin.«

Der Wirt tat einen lauten Pfiff. — »Nachher könnte sie ja deine Mutter sein.«

»Ist's aber nicht. Ist eine recht angesehene Hausbesitzerin, auch gesund und heiter. Ich setz' mich in die Wirtschaft und bin ein gemachter Mann.«

»Mensch!« rief der Wirt, »ich sage dir, nimm eine ältere! Eine Achtzigjährige, die wenigstens bald stirbt. Die Vierzigerin überdauert deine schönsten Jahre; du bist an sie gebunden wie der Kettenhund ans alte Hoftor. Bertram, ich bitte dich: renn' nicht in dein Unglück!«

»Du hast ja selber eine Alte.«

»Eben darum rede ich aus Erfahrung. Junge, nimm eine Häßliche, eine Dienstmagd, eine Dirne — nur keine Alte!«

Bertram ging mißmutig davon. — Just weil sie glauben Nein, so sage ich Ja. Möchte doch sehen, wer mit mir schaffen kann! —

Er ging zum Tischler.

»Freund, du wirst Augen machen. Wie du mich da stehen siehst: ich bin so viel als Großbauer! Ich heirate die Hochschlagerin.«

»Was?« lachte der Tischler, »o du Schelm du! So bist du's, der den fetten Vogel abschießt! Ich gratuliere!«

[S. 145]

»Sie ist just nicht alt.«

»Na freilich nicht,« sagte der Tischler. »Vierzig ist ja noch kein Alter. Und so gut erhalten!«

»Just, daß halt ich ein bissel jung für sie bin.«

»Ist nicht deine Schuld. Brauchst du nicht eifersüchtig zu sein. Eifersucht ist ein Elend. Auf die Hochschlagerin kannst dich verlassen — bist geborgen. Und sind die zufriedensten Ehen, dergleichen. Dann keine Brotsorgen, mein Lieber, keine Brotsorgen, das ist die Hauptsache.«

»Es ist wahr,« bemerkte Bertram sinnend, »daß man auch — der Nachkommenschaft wegen — Kinder —«

»Eins kriegst, mehr brauchst du nicht. Denke dir das Kinderkreuz! Den Kummer! Ich selbst, wenn ich heiraten würde, nähme so eine, wie die brave Hochschlagerin.«

»So nimm sie!«

»Ei, du siehst ja, daß ich mit meiner Stiefmutter ganz zufrieden lebe. Sie ist eine gutherzige, praktische Frau, besorgt mir die Wirtschaft. Und so lebt man fröhlich dahin.«

»Und warum man just mich in den Ehestand jagen will?«

»Jagen? Das nicht, aber mit gutem Gewissen dazu raten kann man dir. Du zögerst, aber du wirst heiraten, es ist eine Naturnotwendigkeit für dich. Du bist vielleicht gar nicht für den Ehestand geboren. Aber du bildest dir einmal ein, zu heiraten, du wirst keine Ruh' und keine Rast haben, so lange du nicht verheiratet bist.«

»Und dann?«

» Dann gibt es keine Wahl mehr.«

»Also gezwungen und gebunden leben!«

»Bertram, du bist eine unentschlossene Natur, jede Wahl peinigt dich. Immer hin und her. Das Muß tut dir besser, das ist der Stock, an den gebunden du erstarken wirst.«

[S. 146]

»Franz, du redest in den Tag hinein. Du verstehst mich nicht. Weißt du, was ich tun werde? Ich bleibe ledig!« —

Darauf verging ein Jahr. Die schöne Traut hatte einen schönen Förster, die reiche Hochschlagerin einen reichen Holzhändler geheiratet. Bertram Siebener war noch frei.

Da saß er eines Tages wieder beim Eschenwirt und trank sich ein Herz an. Es war bei ihm, als ob er den Apfelwein nicht in den Magen, sondern in das Herz hinabschlürfte; denn mit jedem Humpen schwoll dieses und wurde voll, und wurde schwer. Und endlich begann er zu schluchzen ob seiner großen Verlassenheit.

»Ich glaube gar, du hast Zahnreißen?« sagte der Wirt.

»Laß mich gehen. Ihr alle miteinander versteht mich nicht — ich fühle mich so einsam auf der Welt. — Ich werde doch noch einmal mit der Meisterin reden.«

»Am Ende hast du schon wieder eine Braut?«

»Ich habe auch eine, ich verhehle dir's gar nicht, gleichwohl ich weiß, daß du mir sie wieder abreden wirst wollen.«

»Abreden? Ich abreden? Was dir nicht einfällt. Im Gegenteile, ich habe dir immer gesagt, daß du heiraten mußt. Aber eine, die für dich paßt. Zweimal fragtest du mich schon, und ich will nicht fürchten, daß du es bereuest, mir gefolgt zu haben.«

»Ich dir gefolgt, Julius! Nicht im Traume. Wenn ich zwei Weiber bisher laufen ließ, so waren es andere Gründe.«

»Die dritte wirst du doch nicht mehr laufen lassen? Sie ist wahrscheinlich sehr hübsch?«

»Sie ist nicht hübsch.«

»Oder wenigstens jung?«

»Sie ist nicht jung.«

[S. 147]

»So doch reich?«

»Ist auch nicht reich.«

»Also häßlich, alt und arm. Bertram, sei versichert, die rede ich dir nicht ab. Es ist nicht nötig.«

»Und gerade die werde ich heiraten.«

»Ich gratuliere!«

»Du höhnst mich. Ich aber sage dir: Die werde ich heiraten.« —

Aufgebracht ging er davon — ging zu seinem andern Freunde, dem Tischler.

»Hast du wieder eine?« rief ihm der entgegen.

»Eine gutmütige, bescheidene, ältliche Person, arm, aber häuslich und brav.«

»Siehst du, das ist die Rechte.«

»Eine Witwe ohne Kinder. Nur ein Stiefsohn ist da.«

»Für einen gescheiten, anspruchslosen Mann gewiß eine passende Partie. Mache nur diesmal Ernst.«

»Aber —«

»Ist sie eine Hiesige!«

»Freilich, du kennst sie recht gut. Und daß der Sohn um ein paar Jahre älter sein wird als der Vater, hörst, das macht nichts.«

»Was sprichst du denn?«

»Geh', geh', ich laß dich nicht raten. Wir sind auch schon auf gleich. Hat sie dir wirklich noch nichts gesagt?«

»Wer?«

»Deine Frau Stiefmutter.«

Der Tischler schrak zurück. — Meine Stiefmutter will er heiraten? Meine Mutter, von der ich hoffe, daß sie mir in nächster Zeit die Wirtschaft übergibt, und mich zum Erben ihres Ersparten machen wird?

»Freund!« sagte er mit dumpfer Stimme und legte seine [S. 148] Hand dem Heiratsbeflissenen auf die Achsel: »Das wäre ein unglücklicher Gedanke. Glaube mir, ich würde sehr erfreut sein, dich in unserer Familie zu wissen. Aber als Freund muß ich dir im Vertrauen mitteilen: Meine Stiefmutter ist kein Weib für dich. Erstens hat sie das Alter wirklich etwas sehr häßlich gemacht; die Leute würden ordentlich zurückschrecken, wenn du sie ihnen als deine Braut aufführtest.«

»Was geht das die Leute an!«

»Dich, dich geht's an. Und das eben ist das Schlimme. Ferner glaube ja nicht, daß diese Frau so überaus gutmütig ist. Ich kenne sie besser!«

»Du kennst sie als Stiefmutter, da glaub' ich's schon.«

»Wenn es je eine eitle, geschwätzige, geizige, schmutzige, launenhafte und mürrische Alte gibt, so ist es meine Stiefmutter.«

»Du übertreibst, wie hätte denn dein seliger Vater —«

»Der nahm sie vor einem Vierteljahrhundert. Und wenn es je ein Mann bei diesem Weibe aushalten könnte, so würde mein Vater noch leben.«

»Diesmal ist alles dagegen,« murmelte Bertram, »nur mir keine Frau. Jetzt möchte ich aber doch sehen, wer mir das Heiraten wehren kann. Justament!«

O, Tischler Franz, das hast du schlecht gemacht. Warum fielest du ihm nicht in die Arme und riefst: »Bertram Siebener! ja und tausendmal ja, werde mein Vater! Meine Stiefmutter ist das schönste, liebenswürdigste Weib unter der Sonne. In üppigster Reife prangt sie dir entgegen! Und wie sinnig weiß sie sich zu schmücken, wie anmutig versteht sie zu plaudern, wie sparsam ist sie im Haushalte, wie anregend ist die Mannigfaltigkeit ihrer Stimmungen und neckischen Launen, wie reizend ist ihr erkünsteltes Zürnen [S. 149] und Schmollen. Wie selig war mein seliger Vater in ihrem Besitze, der, ach, so kurz war. Tritt in seine Fußstapfen, mein Freund, ich beglückwünsche dich aus voller Brust!«

So mißrät man einem Bertram Siebener die Partie. Ei geh', Tischler, du verstehst dich nicht aufs Leimen. Was du zusammenfügen willst, das geht auseinander, was du trennen möchtest, das kittet sich zusammen.

Jetzt lauf' zum Schneider, er soll dir flugs ein Hochzeitsjöppel machen, deine Mutter heiratet dir einen Vater ins Haus, und aufs Jahr vielleicht — kommt der Storch! —

Die Hochzeit ist lange über ein Jahr schon vorbei. Das Ehepaar lebt im Frieden. Der erheiratete Sohn wird ganz anständig gehalten, denn er leitet das Geschäft. Der Storch kam, setzte sich aber auf den Giebel der Mägdekammer, und wenn man den Bertram Siebener fragt, wie er ihm denn anschlage, der heilige Eh'stand, so antwortete er: »Dank' der Nachfrag'!« Und wenn man sagt: Es wäre ja zu erwarten gewesen, daß er mitten in sein Glück hineinsäße, so entgegnet er: »Na, na!« Und wenn ihm einer zuflüstert: »Armer Bertram, du bist bei dieser Tischlermeisterin wohl recht jämmerlich auf den Leim gegangen!« so ruft er aus: »Auf den Leim? Zum Lachen, so was! Ich bin über und über zufrieden, ich verlange nichts Besseres.«

Auch solche Käuze gibt es.


[S. 150]

Der Samer-Sim.

Es ist doch recht schmeichelhaft für diese Welt, daß keiner aus ihr hinaussterben will. »Das Sterben, das spar' ich mir bis zuletzt,« sagt ein Volkswort, aber wenn dieses »zuletzt« kommt — es kommt zu früh. Die Jungen möchten alt werden, die Alten möchten sich am Sonnenlichte ein Jährchen oder zweie noch erfreuen; der Gesunde möchte leben, der Kranke gesund werden; der Arme möchte sich erst Schätze erwerben, der Reiche sie genießen; der Totengräber hängt mit denselben Stricken am Leben, als die in Weltlust badende Tänzerin auf der Bühne. Der Familienvater will leben, um der Seinen Glück zu gründen und sich daran zu laben. Dem Junggesellen ist es schon gar bitter, von der Erde zu scheiden, denn er weiß, er läßt keine Spur zurück, ist mit seinem letzten Atemzuge verweht und vertilgt — wahrhaftig gestorben.

Denen aber der Tod nicht zu früh kommt, denen kommt er — zu spät; sie wollten ja sterben, wenn's nur schon — geschehen wäre. Es liegt ihnen am Leben nichts, aber ihnen graut vor dem Todeskampf.

Zu diesen letzteren gehört auch der Samer-Sim. Dem kann am Leben freilich nichts liegen, er ist im Dorf der Einleger. Vor Zeiten hat er mit einem Maulesel Kornsäcke übers Gebirg' gesäumt; den Namen hat der Sim noch davon, aber sonst nichts. Er weiß, wie der Hunger schmeckt und wie der Frost bohrt; weiß, wie die Gicht tut und wie böser Leute Spottreden und geiziger Leute Nachreden klingen. Er weiß auch, daß nichts Besseres für ihn mehr kommen [S. 151] wird, daß er nichts mehr wünschen darf, daß er zeitlebens der Schuhhadern des Dorfes sein wird — aber nur leben, lange leben, immer leben — nur nicht sterben.

Der Samer-Sim meidet den Friedhof, der außer dem Orte liegt, aber auch den Weg dahin; er tut oft einen halbstundenlangen Umgang, nur um den Friedhofsweg nicht zu kreuzen. Vor Leichen fürchtet er sich wie vor der Pest, und es geht ihm wie allen, die selten Leichen sehen und also glauben, was ihnen die Einbildung vormacht, daß nämlich die Toten so grauenhaft zu schauen wären.

Am Ende des Dorfes steht eine Wirtskeusche; diese ist dem Sim der liebste Ort; nicht als ob er den schlechten Krätzer, den man in der Keusche haben kann, gerne tränke, sondern weil der Wirt ein Geschichtenbuch besitzt. In diesem Buche steht die anmutigste Geschichte, die der Sim je gehört hat, die Geschichte von dem ewigen Juden — das ist der Mensch, der nicht stirbt.

Beim Wirt sitzt zuweilen auch der Bader des Ortes, ein Spaßvogel. »Ja, mein Lieber,« sagte der eines Tages zum Sim, »letzthin hätt's den Mann doch bald getroffen — nu, wie lange mag's sein, Hirschenwirt, daß der ewige Jude bei dir da vorbeigegangen ist?«

»Je,« antwortete der Wirt, auf den Scherz eingehend, »das wird sein höchstens sechs Wochen — nit länger. Hat bei mir eingekehrt; just da auf der Ofenbank, wo der Sim sitzt, ist er gesessen.«

»Ja, schau,« fuhr der Bader zum alten Sim gewendet fort, »und da hat der Mann unvorsichtigerweis', wie er schon von seinem ewigen Herumvagabundieren erhitzt ist, ein Glas von Hirschenwirts Vierziger getrunken. Augenblicklich hat er auch das schauderlichste Bauchgrimmen gehabt und Krämpfe dabei, wie mir erzählt ist worden — hat [S. 152] schon alles gemeint, 's wär' das letzt' End' mit dem ewigen Juden.«

Der Hirschenwirt stutzte, als er die Spitze des Scherzes nicht gegen den Sim, sondern gegen sich selber gekehrt sah. — »Na wart', Bader — dachte er — du kriegst mir auch eins.«

»Ja, ja,« bekräftigte der Wirt dem Sim gegenüber, »'s ist, wie der Herr Doktor gesagt hat. — Leut'! schreit er jählings, der ewige Jud', mir ist auf einmal nit gut — lauft's geschwind um einen Doktor! — Ich schick' den Halterbuben eilends ins Dorf, aber der Herr Doktor da ist nit zu Haus gewesen; der arme kranke Mann hat keine Hilf' können haben und so ist er richtig wieder gesund worden.«

Der Bader hat einen klanglosen Lacher gemacht und nichts mehr gesagt. Der Sim aber, die zwei scharfen Nadeln des Gespräches nicht ahnend, schüttelte verwundert sein Haupt. »Welch' Seite ist er denn zugegangen?« fragte er angelegentlich. Es fiel ihm ein, dem ewigen Juden nachzugehen, ihn aufzusuchen und nicht mehr von seiner Seite zu weichen, auf daß auch er dem Tod entrinne.

Es sind der kleinen Geschichten und Wunderlichkeiten mehr, die man von dem Alten erzählt. Vor kurzem wollte er, der Siebzigjährige, mit einem zwanzigjährigen Mädchen eine Liebschaft anfangen, weil man ihm gesagt hatte, er müsse, um den Tod zu hintergehen, sich wieder jung stellen. In vollem Ernste machte er seinen Liebesantrag, und das ganze Dorf hatte was zu lachen.

Das Lachen war dumm. Der Samer-Sim ist ein armer schwachsinniger Greis, der mit Angst die letzten Körner seiner Sanduhr verrinnen sieht. Das falsche Leben, das ihm vorenthalten, was es anderen in reichem Maße hingeschüttet, das ihm keinen seiner Wünsche erfüllt hat, das ihn um seine berechtigtesten Hoffnungen betrog — dieses [S. 153] falsche Leben will der alte Mann noch zurückhalten am Mantelsaum, wie man einen fliehenden Dieb zu halten sucht. Das Gebaren des alten Samer-Sim, die vieljährige Todesangst des im Sonnenlicht Wandelnden ist seltsam genug — aber etwas zum Lachen ist es nicht.

Als ich dem Manne begegnete und er mir wie so vielen anderen Leuten seine Todesfurcht bekundete, suchte ich ihn zu trösten. — »Wenn's dereinst dazu kommt, guter Sim, so ist es nicht halb so schrecklich, als es von weitem aussieht. Bei betagten Leuten gar ist es wie ein ruhiges Einschlummern nach der Lebensmüh' und sie wissen gar nicht, daß es der Tod ist.«

»Aber Herr,« rief der Alte, »der Todesstoß, der Todesstoß im Herzen! Und nachher, wenn sie einen hineinlegen in den Sarg, hinabsenken in die Erden und es kriechen die Würmer heran!«

»Mußt denken, Simon, du liegst nicht lebendig drin, und es ist ja ein Glück, daß du früher gestorben bist.«

»Und erst die arme Seele!« sagte darauf der Alte, »die muß in den glühenden Ofen des Fegefeuers!«

»Wer hat dir denn das gesagt, Sim?«

»Das? — Ach, ich hab' doch so viele Sünden und keinen Kreuzer Geld für ein paar heilige Messen!«

»Lieber Sim,« sagte ich und faßte seine kalte Hand. »Glaubst du nicht, daß Gott besser ist als die Menschen?«

»Das glaub' ich wohl.«

»So siehe, gute Menschen verzeihen ihren Beleidigern, anstatt sich an ihnen mit Feuer oder anderswie zu rächen.«

»Ja freilich,« unterbrach mich der Sim, »so hat's Gott gelehrt!«

»Und wird er's nicht auch selber halten?«

[S. 154]

Alte Menschen lassen sich aber nicht umwenden wie alte Röcke.

Der Samer-Sim murmelte was und holperte seines Weges. Einige Wochen später erhielt ich vom Schullehrer jenes Dorfes folgenden Brief:

»Geschätzter Freund!

Sie haben sich immer für den alten Samer-Sim interessiert. Den haben wir heute begraben. Der Mann ist lachend gestorben. Seit längerer Zeit schon lag er beim Moosbrunner auf dem Oberboden krank. Ich habe ihn selber einmal daselbst besucht; er war stets der Alte mit seiner Todesfurcht und meinte, er wollte gern alles Böse ertragen auf dieser Welt, wenn er nur wisse, daß er nicht auf dem Todbette liege. — Nun, es ist eigentlich komisch, hat ihn eine Maus umgebracht. Eine solche war unter seine Decke gekommen; vor Zappeln und Lachen über den Gast fiel der Alte in einen Krampf und nach wenigen Minuten war's vorbei. Der plötzliche Überreiz der Nerven, sagt der Arzt, habe ihn getötet. — Vielleicht vermag Ihre Feder etwas aus der Sache zu machen« usw.

So das Schreiben. Ich habe aus der Sache nichts anderes zu machen versucht, als was sie in Wirklichkeit ist. — Der Samer-Sim hat seit vielen Jahren nicht mehr gelacht aus Angst und Furcht vor dem Tode. Derselbe Samer-Sim ist lachend gestorben.


[S. 155]

Der Zillacher-Anderl.

Samstag war's. Der Anderl saß in der Flachsdörrkammer, wo er auch sein Bett hatte, und tat sich den Bart rasieren.

Die jungen Stadtherrchen kratzen mit dem Schermesser zumeist just dort herum, wo sie gerne einen Bart haben möchten. Der Bauernbursch rasiert sich, wo ein Bart steht. Freilich war der Anderl schon fünfunddreißig Jahre alt und sein Bart so steif, daß man nach der Bauern Sprichwort den Dreschflegel daran hätte hängen können. Trotzdem ließ der Anderl vor dem Scheren die Seife ordentlich in die Borsten trocknen und kramte mittlerweile seine grauen Backen vollblasend in den Hosentaschen herum. Da drin hatte er einen alten Taschenveitel, ein Stück Zunder und einige Kreuzer, die sich aber bei näherer Untersuchung in der Mehrzahl als Messingknöpfe herausstellten. Der Anderl blies die Backen noch bauchiger. Messingknöpfe? Für den morgigen Sonntag Messingknöpfe! Mit derlei hat der Hirschenwirt seine Hosen und Wämser sicherlich versehen. Heute schon hätte der Anderl Durst.

Jetzt trat eine alte Magd in die Flachsdörrkammer: Der Anderl möge eilends in die Stube zum kranken Vater kommen. Und als der Bursche bei dessen Bette stand, sagte der alte Zillacher: »Anderl, nimm deine Zipfelmütze ab. Anderl, paß auf, dein Vater macht's Testament. — Aha! gelt, jetzt kannst losen! Hast gleichwohl nicht immer so auf mich hören wollen; soll dir aber geschenkt sein, will dich nicht verkürzen. Deine Brüder und Schwestern, die haben [S. 156] das Ihrige. Wenn ich die Augen zugemacht hab', Anderl, so weißt es, die braune Kuh ist deine Erbschaft.«

»Vergelt's Gott!« rief der Anderl.

»Aber sei brav und tu' dir das Trinken ab, und der himmlisch' Vater soll dich beschützen und bewahren.«

Der Alte schwieg. »Kann ich jetzt die Zipfelmütze wieder aufsetzen?« fragte der Anderl.

»Jetzt kannst du machen, was du willst,« sagte der Zillacher.

Als nach einigen Tagen der Alte tot und begraben war, führte der Anderl die braune Kuh aus dem Stall. Er trieb sie die Straße entlang, und da er so hinter dem Tiere dahertrottete, führte er mit ihm folgendes Gespräch: »Du alte Kuh, du bist ein zaunmarterdürres Vieh. Ich möcht' meine Joppe an deinen Hüftknochen hängen.« Und als sie zu einem Wassertrog kamen und das Rind stehen blieb und trank, sagte der Anderl: »Ja, meine liebe Kuh, ich hätte auch Durst!« Er trank aber doch nicht.

Da kam ein Bauer des Weges, der fragte: »Wo treibst du deine Haut hin?« Der Bursche knirschte die Zähne und schritt fürbaß. Mittlerweile war das Euter voll geworden, und als sie zu einer Schenke kamen, unterhandelte der Anderl mit der Wirtin, ob sie nicht seine braune Kuh melken und ihm dafür ein Krügl Wein geben wolle. Das Geschäft war abgemacht. Und so trieb der Zillacher-Anderl seine Erbschaft viele Stunden weit fort, weidete sie an guten Rasenplätzen, tränkte sie an den Brunnen, und wenn das Euter voll war, so vertauschte er die Milch gegen Wein. Für die Länge aber blieb das Euter der braunen Kuh immer kleiner, während der Durst des Burschen größer wurde. Da dachte der Anderl, das muß anders gemacht werden, und verkaufte das Rind an einen Wegmacher. Der Wegmacher [S. 157] vermied die Frage, ob die Kuh nicht etwa gestohlen sei, bot hingegen nur fünfunddreißig Gulden Kaufpreis. »Meinetwegen!« sagte der Bursche, und als er das Geld in die Tasche schob: »Hab' ich noch weit zu einem Wirtshaus?«

Fünfunddreißig Gulden, das ist meine Erbschaft, dachte er dann, mit dieser will ich recht wirtschaftlich umgehen. Mit dreißig Gulden läßt sich schon was anfangen; die weiteren fünf Gulden — damit will ich jetzt gründlich meinen Durst löschen. Einmal im Leben muß der Mensch seinen guten Tag haben; — dann heißt's arbeiten und fleißig sein.

Als er zum nächsten Wirtshaus kam, suchte er sich den bequemsten Tischwinkel aus und hub an zu trinken. Die Wirtin setzte sich zu ihm und schwätzte und sagte, sie hätte frische Butterkrapfen in der Küche, die seien ihr diesmal vortrefflich geraten; ob er — der Anderl — denn nicht ein paar verkosten wolle. Ihm war's recht, und die umsichtige Frau Wirtin wußte wohl, daß nach den Butterkrapfen wieder neuer Durst kommen müsse. Der Wirt jedoch hatte sich seinem Gaste gegenüber so verhalten: In das erste und das zweite Glas schenkte er reinen Wein; in das dritte und vierte tat er ein wenig Obstmost dazu; dann tat er zur Hälfte Wein und zur Hälfte Most in den Becher; später goß er die Hälfte Obstmost, ein Viertel Wein und ein Viertel Wasser zusammen. Als endlich dem Anderl auf seiner Bank einmal ordentlich warm geworden, sein Durst doch immer noch nicht gelöscht war, da schüttete ihm der Wirt im Keller bloß Obstmost mit ein wenig Zwetschkenbranntwein vermischt in das Weinglas, hernach nur mehr Most allein, und endlich, wer am dritten Tage den Wein des Anderl vorurteilslos untersucht hätte, der würde gefunden haben, daß der Bursche gut gegorenen Apfelmost mit frischem Wasser trinke.

Natürlich tat dieses der Rechnung keinen Eintrag, und [S. 158] am dritten Tage waren fünf Gulden vertrunken. Zu dieser Zeit hatte die Wirtin jedoch bereits für frischen Durst gesorgt. Da sagte sich der Anderl: im Grunde ist es eine Narrheit, wenn ich mir jetzt einen Abbruch tue, der leicht der Gesundheit schaden könnte. Der Fieberdurst muß gelöscht, durch und durch gelöscht werden. — Dasselbe sagt auch der Bader daheim. Zwei Gulden spendier' ich noch.

Er bleibt wieder ein paar Tage sitzen; dann aber brach er auf, um mit seinen achtundzwanzig Gulden ein nutzbares Geschäft zu beginnen. Als jedoch der gute Zillacher-Anderl im heißen Tage auf der staubigen Straße so wanderte, da kam er mit sich überein, daß er seine Erbschaft auf ein viertelhundert Gulden abrunden wolle! Blieben ihm drei Gulden gut, die er in der nächsten Schenke vertrank.

Da war aber in demselben Jahre ein sehr heißer Sommer; entweder es war die Hitze oder es waren die heftigen Gewitterregen unerträglich, in beiden Fällen muß der Mensch ein Dach haben, und dazu hat Gott die Wirtshäuser erschaffen. Als die Barschaft des jungen Zillacher auf beiläufig zwanzig Gulden herabgesunken war, da sagte er: »Jetzt, Anderl, ist's g'nug!« Da er nun die Zeche gezahlt hatte, blieben ihm bloß neunzehn Gulden und fünfundneunzig Kreuzer in der Tasche. Ei, dachte er sich, der Gulden ist angezwickt, weg damit! — Und in ähnlicher Weise ging's auf fünfzehn, auf zwölf, auf zehn herab. Und nun sagte der Zillacher-Anderl das denkwürdige Wort: »Mit zehn Gulden richtet einer heutzutage nicht viel aus. Der Mensch, der auf eine Erbschaft ansteht, ist eh nix nutz; mit eigener Kraft muß der Mann das Seine erwerben.«

Er ging von einem Wirtshaus ins andere, und trank und trank. Und endlich war nichts mehr in seiner Tasche, [S. 159] als die Messingknöpfe. Da haben aber die Wirte neben der Wanduhr oder neben der Stubentür so schwarze Tafeln hängen, auf die mit der Kreide allerhand Buchstaben geschrieben werden können. Sagte eines Tages der Anderl: »Herr Wirt! Meines Vaters Sohn trägt einen ehrlichen Namen; tät Euch keine Schand' machen auf der Tafel.«

»Das nicht,« antwortete der Wirt, »aber die Tafel könnte leicht dem ehrlichen Namen was herabzwicken. Traue dieser schwarzen Tafel nicht, Freund!«

Der Anderl stutzte und war trübsinnig. Endlich sagte er zu sich: Was braucht man auch so einen dicken Brustfleck in der heißen Zeit? — Er verkaufte seine Tuchweste und vertrank das Geld. Dann vertauschte er seine Ochsenlederstiefel gegen ein paar leichte Schuhe, sein Lodenwams gegen ein kühles Leinwandröcklein; das dadurch gewonnene Geld vertrank er.

Wohl hatte er sich mittlerweile auch ein paar Groschen Taglohn erworben; aber das liebe Wirtshaus hatte ihm's angetan, und ehe noch zwei Monde nach seines Vaters Tod verflossen waren, saß der Anderl da, arm wie eine Kirchenmaus, bärtig wie ein Waldteufel; auch sein Schermesser hatte er vertrunken.

Jetzt war er tief verzagt. — Wenn einer nichts mehr hinabzugießen hat, so muß man die Gurgel zubinden, hat einmal einer gesagt — das leuchtete dem Zillacher-Anderl ein. Wenn der Fisch nicht mehr trinken kann, was hat er sonst auf dieser Welt? — 's ist gar grausam bitterlich! — Aber was kannst machen?

Der Anderl wußte draußen in der Dorfau einen alten Birnbaum. Zu dem ging er hinaus, an dem kletterte er empor mit harter Mühe bis zum Aste, von dem aus er das Dorf sehen konnte mit seiner Kirche und mit seinem Wirtshaus. [S. 160] Hierauf machte er Reue und Leid, nestelte sein Hosenband los und schlang es um den Hals.

Zur selben Stunde ging der Pfarrer am Birnbaum vorüber, er erschrak, als er das Beginnen des Mannes da oben bemerkte. — Zachäus, steig' eilends vom Baum herab! heißt's in der Bibel. Jener hörte es nicht. »Anderl,« rief der Pfarrer, »tu' dir das nicht an! Aufknüpfen, na, das wär' doch eine Dummheit, die dich dein Lebtag reuen würde!« Vergebens, der Anderl wand bereits das Hosenband um den Ast. Der Pfarrer versuchte auf den Baum zu klettern, um die Tat zu verhindern, und der Selbstmörder kam mit seinen Vorbereitungen schon zu Rande. Da fiel dem Priester was ein. »Anderl!« rief er auf den Baum, »du mußt herabsteigen, ich such' dich schon seit einer Stunde, ich habe just ein frisches Faß angezapft.«

»So!« sagte der Anderl, »ja das ist schon wieder ganz was anders,« und sogleich kletterte er dem Erdboden zu. Sie gingen mitsammen in den Pfarrhof. Der Pfarrer schoß eine Weile im Hause herum, dann kam er zurück. »Das ist schon eine verzwickte Sach', Anderl, jetzt haben wir den Kellerschlüssel vertan. Die Köchin war beim Teich unten, hat Karpfen ausgeweidet, da ist ihr der Schlüsselbund ins Wasser gefallen. Was wir nur anfangen?«

Der Anderl riet den Schlosser an, allein der Pfarrer versicherte, das Kellerschloß sei so gar heiklich bestellt und ein hiesiger Schlosser könne es justament nicht aufsperren. — Die Tür erbrechen, schlug der Durstige vor; nicht möglich, meinte der Pfarrer, sie sei mit eitel Eisen beschlagen über und über. Das einzige Mittel: der Schlüssel müsse aus dem Wasser hervorgeholt werden — ob der Anderl dazu behilflich sein wolle? — Das versteht sich. — Wurde denn fürs erste der Teich abgelassen, der da war, um des Pfarrers [S. 161] Kornmühle zu treiben; und als das Wasser verflossen war, machte sich der Anderl an den Schlamm, hub ihn schaufelvoll um schaufelvoll an das Ufer, arbeitete bis spät in den Abend und suchte den Schlüsselbund.

Und als es finster geworden, rief ihn der Pfarrer ins Haus und sagte: »So, mein lieber Zillacher-Anderl, jetzt hast du mir ein gut Teil Schlamm aus dem Teich gefaßt, dafür sollst heut' fünf Groschen haben und das Nachtmahl und ein Krügel Wein — der Kellerschlüssel hat sich vorgefunden.«

Glotzte der Anderl verwunderlich drein.

»Und wenn du mir den ganzen Teich ausschaufelst,« fuhr der Pfarrer fort, »so sollst du für das Tagwerk zwölf Groschen haben und die Köstigung und dein Krügel Wein.«

So wurde es abgemacht. Und als der Teich in Ordnung und wieder mit Wasser gefüllt war, da bekam der Anderl Geschäfte in der Mühle. Nur immer hübsch beim Wasser, daß der Durst nicht zu stark wird. — Es ist gar nicht zu glauben, wie ein Mensch sich ändern kann, wenn er danach geleitet wird. Der Pfarrer wußte den Zillacher wohl zu behandeln, und der Anderl wurde der beste Arbeiter, den er je noch gehabt hatte.

Wenn sie dann abends beim Krügel Wein saßen, das dem braven Hausgenossen bislang vorenthalten wurde, und es anmutig zu sehen war, wie glatt und lind die lieben Tropfen ihrer Wege gingen, sagte einmal der Herr Pfarrer, dem Anderl auf die Achsel klopfend: »Wär' doch jammerschade um deine Gurgel, wenn du sie dazumal zugeschnürt hättest!«


[S. 162]

's Guderl.

Wenn ich bei dir, mein lieber, himmlischer Vater eine Bitte frei habe: dem »Guderl« bereite ein recht feines, warmes Plätzchen dort oben in Deinem Himmel, vielleicht ganz nah' bei der Lieben Frau, sie wird sich mit dieser Nachbarin aus dem Steirerland nicht zu schämen brauchen. Aber eilen brauchst nicht, wir mögen die alte Ludmilla recht gern noch eine Zeitlang bei uns herunten haben und sie — so arm und mühselig sie gleichwohl ist — hat auch noch kein Verlangen, dieses Jammertal mit der himmlischen Freud' zu vertauschen. Sie fürchtet, dort oben wird sich niemand von ihr was Gutes tun lassen wollen, weil es ja ohnehin jedem so göttlich gut gehen soll — und nachher freut sie der ganze Himmel nicht. Vielleicht, wenn sie einmal kommt, ist der heilige Laurentius so gut, seine Brandmale von ihr mit frischem Leinöl bestreichen zu lassen; oder der heilige Sebastian, sich von ihr die Pfeile aus den Wunden ziehen zu lassen; oder die blinde heilige Ottilia, sich von der Ludmilla herumführen zu lassen im Paradies, sich von ihr die himmlische Pracht erzählen und manchmal eine Butterbirne reichen zu lassen vom Baume. Ja dann, wenn sie wem einen Gefallen tun kann, wird es ihr auch selber gefallen im hohen Himmel oben, einstweilen paßt sie aber für die Erde besser.

Alt und mühselig ist sie, und das kann ihr niemand nehmen. Seit sie im Vorbeigehen einmal jene Erklärung vom Schulmeister gehört hat, daß nach den Aufmerkungen im Lande eine gewisse, sich fast gleichbleibende Anzahl von [S. 163] Krüppeln vorkomme, seither trägt sie ihre verkümmerten Beine noch lieber, weil sie denkt: Gut ist's, ich trag' sie für einen anderen. Sie trägt die Beine, anstatt, wie sonst gebräuchlich, von ihnen getragen zu werden. Einmal ist auch die Ludmilla jung und gesund gewesen. Da ist vor Jahren drüben auf der Reisinger-Seiten ein Pferd scheu geworden, an das Pferd war ein Streuwagen gespannt, und auf dem Streuwagen hockten zwei Knaben, die sich krampfhaft an die Sprosseln klammerten und jämmerlich schrien. Der Reisinger reckte seine Arme zum Himmel und rief Gott und die Heiligen um Beistand an für seine Söhnlein. Gott und die Heiligen schoben rasch die Ludmilla voran, die am Feldraine Strauchwerk schnitt: Der alte Narr steht da und kann nichts als schreien, lauf du, Ludmilla, und pack' das Roß, ehe es zur Schlucht hinabkommt! — Die Magd lief hinzu, erfaßte das Pferd am Kopfriemen. Eine Strecke weit wurde sie mitgeschleppt hinab über den steinigen Hang, endlich stand das Fuhrwerk still, die Knaben sprangen unversehrt davon, aber der Leib der Magd war arg zerschunden und zerrissen, ein Bein gequetscht, das andere gebrochen.

Der Reisinger sagte hierauf zu seinen Söhnen: »Wenn die Ludl nicht wär', so wäret ihr jetzt auch nimmer. Wäret auch nimmer, daß ihr es wißt. Und sie ist jetzt ein elendiger Krüppel, und wenn ich nicht mehr bin und ihr seid auf dem Hof und sie ist noch am Leben, weil solche Leut' leider Gottes oft eine zähe Natur haben, so müßt ihr sie behalten, das ist eure verfluchte Schuldigkeit, daß ihr es wißt!«

Als die Ludmilla das gehört hatte, packte sie still ihre Sachen zusammen. Da hatte sie warten wollen im Reisingerhof, bis ihr Sebast zurückkäme aus dem Strafhaus; in einem Jahr muß er ja endlich kommen und dann sind zwei arme Leut' mehr in der Gegend. — Kaum noch zur Not geheilt, [S. 164] stolperte sie zu vier Füßen, wovon die zwei hölzernen verläßlicher waren als die zwei beinernen, vom Berg herab nach Bärndorf und bat um einen Platz im Armenhaus. Das ward ihr natürlich versagt, denn sie gehörte in die Gemeinde zum »Steinernen Elend« hinauf. Das Steinerne Elend aber hatte kein Armenhaus und auch kaum ein anderes mehr. Schier die ganze Gemeinde war abgestiftet worden und Abstifter war der Staat mit seinen Lasten, und jetzt wußte das Restlein der im Steinernen Elend Geborenen nicht einmal, wo es daheim war, und die arme Ludmilla hatte keine Heimgemeinde. Aber das unfreiwillige Gnadenbrot beim Reisinger wollte sie einmal nicht essen; es wäre ihr zu stark gesalzen, sagte sie. Dann kam sie doch noch in das Bärndorfer Armenhaus hinein.

Als Aushilfswärterin kam sie zuerst nur auf ein paar Tage. Als diese paar Tage vorbei waren, ersuchte man sie um Verlängerung ihrer Aushilfstätigkeit und bald war ihr stillgeschäftiges, ratsames, sanftes und stets munteres Wesen den Kranken und Bresthaften so unentbehrlich geworden, daß sie im Armenhaus verblieb. »Und da g'freut's mich!« sagte sie nun oft. Dem Einen bettete sie das Lager bequemer, dem Anderen teilte sie etwelches von ihrem Brot, dem Dritten stellte sie was Grünes und Blühendes ans Fenster, dem Vierten besserte sie ein Kleid aus, sie konnte ja gar schneidern; und wo sie ein Zwirnfädlein liegen sah, und war es auch nur fingerlang, da tat sie es in ihren Nähkorb, der jedem, so ein Bändlein oder eine Nadel oder Schere oder ein Knöpfel brauchte, zur Nutzung stand. Für lange Abendstunden, wann sonst Tratsch und Mißlaune und Streit sich einzustellen pflegten unter den müßigen, mürrischen Bewohnern des Armenhauses, erzählte sie Geschichten, sang Lieder, wobei freilich ihre Lebhaftigkeit im Vortrag, sie half auch mit den Händen [S. 165] mit, die Stimmittel ersetzen mußte. Die dankbaren Gemüter behaupteten rundweg, die Ludmilla sei ein Engel, worauf sie allemal entgegnete: »Ja, wär' schon recht, wenn ich Flügeln hätt', auf den Füßen will's eh nit gehen.«

Das Elend der Armut liegt zumeist nicht im Nichtshaben und Nichtssein allein, es liegt vielmehr noch in der Giftigkeit des Herzens, in der Scheelsucht des Armen gegen die Mitmenschen, selbst im Mißtrauen gegen die Wohltäter. So war ein Mann im Armenhause, sie hießen ihn den Einhandel, weil er nur eine Hand hatte. Der hatte sich in der Jugend aus Furcht vor dem Soldatenleben mit einer Zimmermannshacke den Zeigefinger der rechten Hand abgehauen; zur Wunde kam der »Brand« und mußte ihm die ganze Hand abgenommen werden. Viele Monate war er im Spitale gelegen und als er endlich geheilt war, kam er seiner Selbstverstümmelung wegen auf Jahre in das Zuchthaus und dann von diesem schnurgerade in das Armenhaus. Am meisten beklagte er hier den Verlust seiner Hand, weil er beim Beten den Rosenkranz nicht so handhaben konnte wie andere Leute, denn zwei Dinge waren seine Hauptbeschäftigung: das Beten und das Ehrabschneiden. An jedem und jeder wußte er was auszusetzen, gegen jedes Gute hatte er sein Bedenken, und es ging kein braver Mann um im Dorf, der nicht doch ein »schlechter Kerl« war. Gegen die Ludmilla wußte der Einhandel aber spottwenig aufzubringen und so ließ er gelegentlich nur durchblicken, sie würde es schon wissen, warum sie so fromm tue, und trotz ihrer Demütigkeit würde sie am Ende doch lieber mit neun Teufeln in die Hölle fahren, als mit einem Engel in den Himmel.

»Geh, geh, Einhandel,« sagte ihm die Ludmilla einmal, »mach' dich nicht gar so bös' mit deinem losen Maul, bist ja doch ein guter Lapp.« Und schnitt ihm das Suppenfleisch [S. 166] klein, denn — so scharf sein Mund sonst war — mit dem Gebiß stand's schlecht.

Am Armenhaus führte ein Feldweg vorbei, der gewöhnlich durch eine Torschranke abgesperrt war. Wenn nun die Ludmilla durchs Fenster ein Fuhrwerk daherkommen sah, torkelte sie allsogleich hinaus, um die Torschranke zu öffnen, damit der Fuhrmann sitzen bleiben konnte auf seinem Karren.

Vor dem Armenhaus war auch ein Brunnen, der aus dem Ständerrohr armdick und rauschend in den Trog schoß. An diesem Brunnen hatte ich die Ludmilla das erstemal gesehen. An einem heißen Sommertag war's, ich kam als unbedachtsamer Student halbverschmachtet vom Gebirge über die sonnigen Felder her und nun eilends dem Brunnen zu, daß ich mich erquicke. In demselben Augenblicke, wie ich mein glühendes Gesicht zum Wasserquell senkte, kam das kleine, runde, wackelnde Weiblein aus dem Hause und erhob ein Zetergeschrei, daß ich emporfuhr und glaubte, es schlügen zum Dach die Flammen heraus. »Kruziwetter Paraplie, du leichtsinnig Volk du!« rief sie, dann nahm sie mich an der Hand und sagte ganz ruhig und warmherzig wie eine Mutter: »Mußt nicht trinken, Bübel, der Brunnen ist giftig. Nur ein Vaterunser lang wart', ich bin geschwind wieder da.« Damit verschwand sie im Hause, kam im nächsten Augenblick mit einer Schnitte Brot hervor: »So, da im Schatten setzest dich jetzt nieder und das issest schön langsam und wenn du es gegessen hast, netzest die Hände mit Wasser und den Nacken mit Wasser, und nachher kannst ein wenig trinken.«

Aus dem Hause heraus hörte ich später noch sagen: »In der Hitz' so hineintrinken! — Ich weiß zwar nicht, wem er gehört, hat aber gewiß Vater und Mutter, und so ein Bürschel darf man heut' noch nicht auf die Bahr legen.«

Als ich mich hernach im Dorf erkundigte nach der Person, [S. 167] antwortete man mir: Das »Guderl« wäre es gewesen. Das Guderl, so wäre sie ihres guten, dienstfertigen und einfältigen Herzens wegen von den Insassen des Armenhauses getauft worden. Und sie wäre ein ganz merkwürdiges Geschöpf, hieß es, in der Jugend sei sie gar fein gewesen und man höre Geschichten, die sich ihretwegen einstmals zugetragen, aber man wisse nichts Sicheres; in der Gegend sei sie damals nicht gewesen und erzählen wollte sie auch nichts davon.

Das hat mich denn gleich gepackt, und ein nächstesmal — ich fand sie auf dem Dorfweg damit beschäftigt, eine Wasserkehre auszukrauen, damit die Gieß ablaufen konnte — suchte ich mit ihr anzuknüpfen. Sie wäre wohl keine hiesige? fragte ich.

Wie ich ihr das ansehe? fragte sie entgegen und stützte sich ein wenig auf den Haustiel, weil sie doch recht unsicher stand auf ihren Füßen.

»Ansehen nicht, aber anhören am Sprechen.«

»So, haben die Leut' im Steinernen Elend eine andere Sprache, wie die Bärndorfer dahier?«

»Also vom Steinernen Elend seid Ihr? Das muß aber eine traurige Gegend sein.«

»Das kommt auf die Leut' an, junger Herr,« gab sie zur Antwort, »die Steine sind überall hart.«

»So ist es. Und die Leut' sollen auch im Steinernen Elend recht brav sein. Ich habe gehört, Ihr wisset so schöne Geschichten vom Steinernen Elend herab.«

»Das hast du gehört!« rief sie aus, sie nannte mich »Du Herr«. »Aber,« fuhr sie lachend fort, »was doch die Leut' alles reden. Schöne Geschichten weiß ich! und etwan rechtschaffen lustige, nit?«

»Rastet ein wenig, mit dem Weg eilt's nicht; ist ja der [S. 168] Himmel über und über blau, da ist die Gieß noch weit. Unter den Kirschbaum setzen wir uns hin und Ihr erzählt mir was.«

»So närrische Sachen da!« rief sie, »ich weiß nix, ich weiß nix!« Damit schob sie sich um, daß das Röcklein flog, und kraute mit Hast an der Wasserkehre.

Ein zweitesmal erging es mir nicht besser. Halb schmollend und halb bittend sagte sie, ich solle nicht kindisch sein, ich solle mich an junge Dirndeln machen, wenn ich was wissen wolle, und nicht an alte. Die alten hätten lauter Sauerampfergeschichten und möchte sich so ein flotter Herr leicht daran langweilen und darüber lustig machen.

»Die Leute sagen, es hätte sich mit Euch etwas Besonderes zugetragen.«

»Mein lieber Herrgott in der Krüppelkapellen!« lachte sie auf, »zutragen tut sich mit jedem Menschen was, wenn er sich's aufmerken will. Und das mag für ihn selber was sein, aber für andere nit. Ich erzähle nix.«

Zwei Jahre später kam ich wieder nach Bärndorf, aber unfreiwilligerweise. Ich hatte mir bei einem kleinen Sturz im Gebirge die Kniescheibe verletzt, mußte zwei Tage lang in einer Köhlerei liegen und wurde dann nach Bärndorf hinabgebracht, wo ich beim »Weißen Lamm« eine Woche lang im Bette lag. Wer war's, der mich pflegte? Das alte, runde Guderl. Aber es war kaum mehr zu erkennen, über die ganze linke Seite des Gesichts, von der Stirne bis zum Halse hinab, hatte sie einen schier zinnoberroten Flecken und das linke Auge war geschwollen und hatte die Brauen und Wimpern verloren.

»Gelt, jetzt gefall' ich dir, junger Herr?« sagte sie, als sie mein Befremden merkte, »jetzt, weil ich so schön rotwangig worden bin!«

Des Einhandel wegen war sie rotwangig worden, und [S. 169] das ging so zu: Der Einhandel rauchte starken Tabak und rauchte den ganzen lieben Tag lang, und wenn er keinen Tabak hatte, dann rauchte er gedörrte Sauerampferblätter. Saß er zusammengekauert, einen Fuß über dem anderen und den Ellbogen auf dem Knie, auf der Ofenbank; die beiden Mundwinkel zog er tief hinab, in einem derselben stak das Pfeifenrohr, aus dem andern stieß er den Rauch herfür. Wenn die Pfeife nicht brannte, so machte er Gestank mit dem Ausputzen derselben, beim Anzünden wieder mit den Schwefelhölzern, die nicht brennen wollten. Und so ging es den ganzen Tag. Da hatte ihn die Ludmilla einmal in Güte gebeten: »Geh, Einhandel, sei so gut und tu nit gar so stark nebeln, oder rauch' beim Fenster hinaus, wenn du's schon eineinmal nit lassen kannst. Mußt halt betrachten, daß du nit allein im Haus bist. Schau, in der Stuben ist die alte Sanna, die muß so viel husten, und der Stindl hat Augenweh, weißt es eh, da tut der kratzend' Rauch halt wohl gar nit gut. Ist dir was übel, so wird man's auch ändern, wenn's sein kann. Sei gescheit.«

Auf so was wurde der Einhandel giftig wie ein welker Schierling. Er sagte es zwar nicht laut, aber zu seinem Kameraden, dem Marter-Hies, knurrte er: »Da hast es. Hab' ich nit alleweil gesagt, dieses Weibsbild ist ein Teufel! Und schon gewiß auch. Mir hat ihre Frommheit und Gutherzigkeit niemals gefallen, mir nit, mir! Hab's doch gewußt, es steckt ein höllischer Drach' dahinter. Desweg hinkt sie auch; der Teufel hinkt allemal. Guderl! ein sauberes Guderl, das! Luderl, ja, das ist das Richtige. Schau da her! Einem armen Menschen, der eh nix hat auf der Welt, als das bissel Rauchen, das auch noch nit gunnen mögen! Aber wart', jetzt erst zu Fleiß rauch' ich ihr recht unter der Nasen herum und das stinkendste Kraut, das ich auftreib'!«

[S. 170]

Er tat's, und wo die Ludmilla ging und stand und saß im Haus, immer war der Einhandel da und dampfte, daß man vor lauter Giftnebel die Stubenwände kaum sah. Sie hüstelte wohl und fuhr sich mit der Schürze über die brennenden Augen, sagte aber nichts, als einmal: »Wenn's schon sein muß, ich dertrag's, nur die Kranken tu ein wenig verschonen.«

Von jetzt an dampfte der Einhandel den Augenleidenden und den Lungensüchtigen ins Gesicht. Nun beschwerten sie sich beim Armenhausverweser, dem Fleischhacker Marner, der zumeist auf Viehhandel aus war und sich daher um das Armenhaus nicht viel kümmern konnte. Es war auch schon wirtschaftlich so geboten: Das Vieh bringt Geld, die Armen kosten Geld. Nun, auf die Beschwerde konnte er doch nicht leicht ausweichen, der Verweser. »Da muß Ordnung gemacht werden!« sagte er großsprecherisch. Wurde der und die und auch das Guderl befragt, ob es denn wirklich so arg sei mit dem Rauchen des Einhandel? »Wenn er's nit just in der Stuben tät,« antwortete die Ludmilla, »draußen auf der Gartenbank kunnt' er rauchen so viel er wollt'; man sieht's ja ein, daß er auch was haben muß.«

Auf das bekam der Einhandel einen Verweis, der noch um einiges stärker war als sein »Tubak« und der ihm so lange in der Nase rauchte, bis er eines Tages ein Fläschchen Scheidewasser von der Stelle nahm, wo er es »zum Putzen des messing'nen Pfeifenbeschlachtes« aufbewahrt hatte, und es der Ludmilla ins Gesicht goß.

Es sei aus Zufall geschehen, behauptete nachher der Einhandel, er habe das Fläschchen zum Putzen hernehmen und den Stoppel herausziehen wollen, aber mein Gott, mit einer einzigen Hand! es sei halt ein Elend auf der Welt. Die Ludmilla sah wohl ein, daß sie und der Einhandel nun nicht mehr unter einem Dach hausen konnten, und um ihn nicht [S. 171] unterstandslos zu machen, ging sie selbst davon. Sie ging in den Häusern um, und gerade in solchen, wo das Elend war, sie brachte sich mit Krankenwarten durch. Es war ein rechtes Geriß um sie, überall in der Gegend, wo ein Kranker lag, wollte man das Guderl haben, und als ich nun mit meinem verletzten Knie beim »Weißen Lamm« darniederlag, hatte die Wirtin eben auch das alte Dirndl, die hinkende Ludmilla rufen lassen. Wie sie da geschäftig um mich herumtat! einmal den Eisumschlag, dann das Auswaschen der Wunde mit Arnikatee, dann jede halbe Stunde ein frisches Glas Wasser auf den Bettisch, falls ich trinken wolle; hernach den Fenstervorhang zugezogen, daß mir die Sonne nicht ins Gesicht scheine, oder das Kissen aufgeschichtet, daß ich hübsch lehnen konnte im Bett, auch unter den Arm einen Polster zur Stütze gelegt, damit mir beim Lesen das Halten des Buches die Hand nicht ermüde. In allem wußte sie mir es besser zu machen als ich es selbst konnte, ja besser, als ich es ahnte, wie man unermüdlich in liebevollem Sorgen und Erfinden allerlei kleiner Vorteile und Annehmlichkeiten gar das Kranksein zu einem Genuß machen könne. Dabei war sie doch so unaufdringlich und war so still heiter, wußte auch ein fröhliches Sprüchlein, ein anregendes Geschichtchen zu rechter Zeit.

Und der rote Brandflecken auf ihrem Gesicht, der mir anfangs so häßlich erschienen — ich sah ihn nicht mehr; ihre freundlichen Züge, der sanfte, gütige Glanz ihres Auges verbreitete eine andere Schönheit über die kleine verkümmerte Gestalt.

Als ich endlich wieder laufen konnte, nahm ich die Ludmilla so an den beiden Händen, wie man seinen Schatz nimmt, wenn man ihm in die Augen sehen will, und sagte: »Mir tut nur eines leid. Daß ich schon laufen kann.«

[S. 172]

»Da sollst du froh sein, junger Herr, und unserem Herrgott Dank sagen,« so war ihre Meinung. Sie riß ihre Hand aus der meinigen, erfaßte den alten Strumpf, den sie zur Ausbesserung vorgenommen hatte und strickte emsig.

Jetzt kam mir der Schalk und da rede ich allemal anders, als es einem Christenmenschen ansteht. »Heut' die ganze Nacht,« sagte ich, »hab' ich unserem Herrgott Dank gesagt. Auf das schaut er endlich herfür aus seinen Wolken und sagt: Geh' zu der Ludmilla. Die laß ich heilig sprechen, wenn der Papst einverstanden ist. Du hättest sie aber in der Jugend kennen sollen — sie ist jetzt noch nicht alt — aber in ihrer besten Jungheit, da ist sie ein lustig Dirndl gewesen!«

»Wer sagt das?« fragte die Ludmilla scharf.

»Unser Herrgott sagt's. Und wird auch nicht anders sein, brave Leut' sind immer lustig. Aber Esel müssen sie gewesen sein, die Burschen zu deiner Zeit!«

»Warum?«

»Daß dich keiner geheiratet hat.«

Der Grund, warum ich so niederträchtig war, ihr ein solches Wort zu sagen? Weil ich endlich einmal ihre Jugendgeschichte hören wollte, und richtig, sie ging augenblicklich ins Garn.

»Das just nit, Herr, daß mich keiner geheiratet hat,« sagte sie mit leiser Stimme und einem eigentümlichen Nachdruck. »Ich bin neunzehn Jahre lang verheiratet gewesen.«

Ich erschrak ordentlich. Die Ludmilla, die man seit Gedenken als lediges Dirndl und Dienstbot kennt in und um Bärndorf herum, soll eine alte Witwe sein?

»Jetzt gleich kannst du ohnehin nit fortlaufen, junger Herr,« sagte sie nun, »es ist ja der Socken noch nit fertig.« Ich gewahrte, daß es mein Socken war, an dem sie die durchgetretene [S. 173] Ferse anstrickte. »Haben noch ein Randl Zeit, wenn so einem Herrn mein Plaudern nit zuwider ist. Unterhaltsames ist halt nit dabei, da kann ich aber nix dafür. Ja, wenn sich der Mensch seine Lebensgeschichte kunnt anfrimmen (bestellen), ich hätt' mir die meinige schon besser eingerichtet. — Willst den Fuß nit dieweil noch auf den Polster legen? er wird noch harten Weg genug unter sich kriegen, bis er heimkommt.«

Sie wollte das gesunde Bein betreuen, als ob es noch immer das kranke wäre, und erst als sie sah, daß mein Körper in durchaus behaglicher Stellung war, setzte sie sich in den dunklen Winkel am Ofen, strickte und begann die Geschichte ihrer Jugend zu erzählen.

»Gar gut,« so hub sie an, »ist es mir mein Lebtag nit ergangen, aber die liebste Zeit ist mir doch im Steinernen Elend gewesen. Mein Vater ist Bretterschneider gewesen im Steinernen Elend, hat jung sterben müssen. Wie ich ihm einmal — just am Mittwoch ist's vor Fronleichnam — das Essen in die Brettersäge trag', wundert's mich, daß das Werk steht, darauf sehe ich auf dem Sägespänhaufen, der unterhalb drin ist, eine blutige Hand liegen. Der Vater ist oben gelegen neben dem Bretterblock. Ist mit seiner Hand in die Säge hineingekommen, ist die Hand abgeschnitten worden, ist der Vater ohne Hilf' verblutet. Ich bin dazumal ein Dirndl gewesen, mit zehn Jahren; die Leut' haben mir und der Mutter gesagt: sterben müßten wir alle; das ist halt der Trost gewesen. Meine Mutter hat mir nachher das Gewandmachen gelehrt und sind wir zu den Häusern umgegangen und haben genäht. Etliche Jahr d'rauf ist meine Mutter auch gestorben. Hat sie mir auf einmal die Hand hergehalten über den Tisch, als wollt sie mir Behütgott geben, ist an die Wand zurückgesunken und eingeschlafen. — [S. 174] »Du sollst,« so unterbrach sie sich, »den Fuß besser ausstrecken, sonst schlaft er dir ein.«

»Erzähle nur weiter,« sagte ich.

»Ja,« fuhr sie fort, »jetzt kommt bald das, was die Leut' so gern hören. Hast du vom Preishubinger noch nix gehört? Gewiß wohl, das Haus steht heut' noch und wird schier das letzte sein im Steinernen Elend. Dazumal, wie die Gemeinde noch größer, ist er ehrengeachtet gewesen, der Preishubingerhof. Von seinem Wald hat mein Vater die meisten Bretterblöck' bekommen. Der junge Preishubinger und ich haben uns gern gesehen. Und wie jetzt sein Vater stirbt und er den Hof muß übernehmen, will er mich heiraten. Ja gewiß auch noch, vom Fleck weg heiraten! Aber seine Mutter hat nit wollen. Die ist ein gestrenges Weib gewesen und hat gesagt: Keine Arme wird nit Preishubingerin, so lang' ich die Augen offen hab'. Aber sonst war sie gut, die alte Preishubingerin. Der Donat ist sonst woltern weich gewesen und hat gern bei allem nachgegeben; aber jetzt hat er sich auf seine zwei Füß' gestellt, und wenn er vier hätt' gehabt, hätt' er sich auf vier gestellt, und hat gesagt: ich heirate für mich und nit für die Mutter und ich laß mir keine aufmessen. Fest hat er sich gehalten. Ist bald alles richtig gewesen und hat uns der Pfarrer schon von der Kanzel geworfen. Denk' ich mir, das wird nit gut sein und wird der Donat sein Lebtag d'ran zu tragen haben, daß er ihren Segen nit hat. Und schon gar, wenn sie einmal gestorben ist. — Nein, Donat, sage ich zu ihm noch zwei Tage, ehvor die Hochzeit hätt' sein sollen; ich sehe ihn noch, er ist an der Kirchhofplanken gelehnt und ich bin neben ihm gestanden und hab' die Händ' zusammengehalten. Nein, Donat, ohne ihren Willen tun wir's nit. Sie ist deine Mutter und meint dir's gut. Sie soll im Bett sein vor lauter Kränkung. Schieben wir's auf. Ich gehe [S. 175] hin zu ihr und sie soll mich kennen lernen, wie ich bin, und sie muß sehen, daß ich nicht so bin, wie sie denkt. Nachher ist's gut, wir haben uns keinen Vorwurf zu machen und deine Mutter — schau, sie hat auch niemand mehr auf der Welt als dich — soll sich auf ihre alten Tage nit kränken. — Der Donat sagt darauf: Wenn wir's jetzt nit fortmachen, was wir haben angefangen, so bleibt's aus. — Nein, sage ich, es bleibt deswegen nit aus, man soll nur nix übereilen. — Du kennst meine Mutter nit, sagt er, hat sie uns nur erst all zwei bei sich, so zerstört sie alles. Wir lassen uns nix zerstören, sage ich, und wenn wir unseren Fleiß haben angewendet und alles getan haben, wie es Brauch und Pflicht ist, dann mach' ich mir nix mehr d'raus, dann heiraten wir zusammen, ist's ihr recht oder nit. Und jetzt komm', hab' ich gesagt, wir gehen zu deiner Mutter. — Da hat er nachgegeben. Wie wir in die Stuben eintreten, wo die alte Preishubingerin im Bett liegt und sie mich sieht, tut sie einen Schrei, als hätt' ihr einer mit der Hack' auf den Kopf geschlagen; die Decken zieht sie über ihr Gesicht hinauf und schreit: Das Unglück ist da! und setzt sich im Bett auf und ruft die Hausleute, man sollt' mich aus dem Haus jagen, und gibt mir einen Namen, daß ich gerade genug hab' gehabt. Ich bin fortgegangen, und dem Donat hab' ich gesagt, er soll' bei seiner Mutter bleiben und sie beruhigen und wenn's so wär', da wollt' ich auf alles verzichten. — Nein! sagt der Donat, du wirst mein Weib, und fallt mir um den Hals.«

Das Guderl war still und ganz ruhig; ich merkte warum: wenn sie sich jetzt bewegt und noch ein Wort sagt, so überkommt sie's. Ich wartete, und da sie nicht mehr anhaben wollte, so sagte ich: »Erzähle doch weiter, Ludmilla.«

»Das ist nix zum Erzählen, ich sehe es wohl,« versetzte [S. 176] sie gedämpft. »Nun, wenn du schon willst, Herr, du kannst dir ja wohl denken, wie es kommt. — Die Preishubingerin ist in eine Krankheit gefallen, der Donat ist bei ihr geblieben. Sie hat viel geweint, hat ihn gehalst und geherzt und er wäre ihr Einziges auf der Welt, und er sollt' ihr nit untreu sein. Die Steffen-Tochter wäre ein gutes, braves Dirndl, die sollt' er nehmen. Mit der Bretterschneider-Dirn' würde er nie glücklich werden, die schnitte ihm die Bretter zum Sarg.«

»Du mußt dieses Weib doch einmal beleidigt haben, daß es so gegen dich sein konnte,« wendete ich jetzt der Erzählerin ein.

»Ja, ich weiß es wohl,« antwortete sie, »ich bin unbedacht gewesen und hab's versäumt, ihr den Besuch zu machen wie es schon Zeit gewesen wäre. Aber weil ich immer gehört, sie wäre eine hitzige Frau, im guten wie im harten gäh und wild, so habe ich Angst vor ihr gehabt. Hätte ich mich schicken können zu ihr! Im Grund' soll sie doch eine gute Frau gewesen sein, sagen die Leute. Nun, Gott tröste ihre Seel'. Das ist lang vorbei.«

»Der Donat wird doch fest geblieben sein?« war meine Frage.

»Wie es ans Sterben ist gegangen bei der Preishubingerin,« sagte die Ludmilla, »da hat ihr der Donat das Versprechen geben müssen« ....

»Und hat er's wirklich gegeben?«

»Er hat nit anders können, er ist ein guter Sohn gewesen,« antwortete die Ludmilla. »Ich bin ihm nachher ausgewichen. Gottlob, habe ich gedacht, wir sind einander nix schuldig worden, und es ist das beste, wenn wir uns nimmer sehen. Er hat nachher die Steffen-Tochter geheiratet; das ist auch ein braves Weib gewesen, arbeitsam und [S. 177] zu der Wirtschaft tüchtig und gut auf den Donat. Aber das hat man wohl gemerkt: Glücklich ist er nit viel mit ihr. Ist mir heiß und kalt worden, wenn mich auf dem Kirchweg sein Blick hat getroffen. Und einmal, wie ich — just am Mariahimmelfahrtstag ist's gewesen, ich weiß es noch wie von gestern — auf dem Friedhof bei meinem Elterngrab knie und der Donat von dem seinigen über die Hügel hergeht! Wie er neben mir vorbeigeht, da stolpert er, stützt sich noch an einem Holzkreuz, daß es kracht, und ohne daß er mich anschaut, höre ich, wie er sagt: Hinfallen? Soll sein, heut' lieber als morgen. — Ich rühr' mich nit und tu' als wär' ich im Gebet, und mir ist zum Umsinken so schlecht. — Er ist davongewest: Da habe ich mir gedacht: Jetzt muß was geschehen. Was, das weiß ich selber nit. Er denkt noch auf mich, und das darf nit sein. — Und wie sich schon oft was schickt auf der Welt — ich will nit sagen, unser Herrgott hat's so haben wollen; ich denk', es kommt auch auf die Leut' selber an — auf dem Heimweg gesellt sich der Vorholzer Sebast zu mir. Der hat mir schon lang' alleweil schön getan. Und wie wir jetzt zum Lindenhäusel kommen, wo zu derselbigen Zeit Most und Branntwein ausgeschenkt worden ist, will er mich mit ins Wirtshaus haben. Das tue ich nit. Gut, sagt der Sebast, wenn du nit magst, mag ich auch nit — und geht mit mir weiter. Da denke ich bei mir: Kannst dir was einbilden d'rauf, wenn der deinetweg das Wirtshaus fahren läßt! Wie wir durch den Waldschachen gehen, es ist dem Preishubinger sein Wald, da hat er mich gefragt, der Sebast, ob ich ja sagen wollt', er hätt' ein Häusel und zwei Gaißen und braucht' ein Weibsbild dazu. — Das Häusel ist im Steinwald drinnen; vom Preishubinger-Haus braucht man länger als zwei Stunden hinein. Das wird doch weit genug sein, denke ich mir und habe ja gesagt.«

[S. 178]

Nun schwieg sie und zählte die Maschen am Strickstrumpf.

»So bist dem Vorholzer-Sebast sein Weib geworden?«

»Ich hätt's nit schlecht getroffen,« fuhr die Ludmilla fort, »der Sebast ist ein braver, fleißiger Mensch gewesen, aber das Wirtshaus hat er sich halt nit mögen abgewöhnen, und wenn ihm dann der Branntwein in den Kopf gestiegen ist! So viel jäh ist er gewesen. — Mein Gott, es hat halt jeder Mensch seinen Fehler. Ich werd' wohl auch nit gar zu fein gewesen sein, wenn er so heimgekommen ist. 's geht eins aufs andere. — Aufkommt auch alles auf der Welt und alles wird viel stärker gemacht, und soll jetzt der Preishubinger gehört haben, mein Mann tät mich schlagen. Und da hat ihm halt einmal, wie er meinen Mann betrunken hat heimgehen sehen, der böse Feind den Einfall gegeben: geh ihm nach und schau', was Wahres ist am Gered'. — Wie der Sebast heimkommt, laß ich ihn an: Es wäre doch Sünd' und Schad' ums Geld; sich im Wirtshaus Kopfweh trinken und daheim treibt der Holzknecht Thomas die Gaiß weg — weil wir ihm Geld schuldig gewesen sind. Da kommt meinem Mann der Zorn und er fahrt über mich her. Jetzt ist auf einmal der Preishubinger da und schleudert meinen Mann an die Wand. Und darauf —« Die Erzählerin wendet sich ab und murmelt gegen die Ofenmauer hin: »Darauf ist das Unglück geschehen.«

»Was ist geschehen?« fragte ich und stand auf.

»Mein Mann hat die Holzhacke von der Wand gerissen und den Donat niedergeschlagen.«

Weich und leise hatte sie das gesagt, dann legte sie das Strickzeug auf die Ofenbank und ging still zur Tür hinaus.

— Niedergeschlagen! Erst später erfuhr ich den Rest. Der Donat hatte sich nach dem Schlage auf den Sebast gestürzt, [S. 179] war dann zu Boden gesunken und hatte den Geist aufgegeben. Der Vorholzer Sebast schrie noch der Ludmilla zu: »Du bist sein Unglück und bist mein Unglück!« Dann ergriff er die Flucht. In der Niederau drüben, unter einem Heuschober hatten ihn die Gendarmen gefunden und gefangen. Zwanzig Jahre Kerker!

Die Ludmilla hatte hernach wieder ihr Gewerbe, die Nähterei ergriffen, arbeitete und darbte und wartete auf den Sebast. »Wenn ich's nur erlebe,« sagte sie oft, »krank und mit weißen Haaren wird er mir zurückkommen, aber ich will ihm die alten Tage so gut machen, als es sein kann. Wenn ich's nur erlebe.«

Von dem Donat sagte sie kein Wort mehr. Aber auf seinem Grabe — trotzdem die Witwe der großen Wirtschaft und vielem Sorgen wegen nicht Zeit hatte, es zu zieren — fand sich immer ein grünender Strauch, ein helles Blümel. — Als die Leute im Steinernen Elend durch Holzhändler verarmt, durch die Steuern abgestiftet waren und auswandern mußten, fand auch die Ludmilla keinen Erwerb mehr in ihrer Heimat. So kam sie herüber in die Bärndorfer Gegend und suchte ihr Brot als Dienstmagd, wo nachher das mit dem Pferde geschehen ist. Immer zählte sie die Jahre, bis ihr Mann zurückkehren sollte vom Strafhaus. Schon im voraus suchte sie die Leute für ihn zu gewinnen, erzählte von seinen Vorzügen, von seiner Bravheit. Man wartete schon mit einer gewissen Neugierde auf den Sebast und mehrere Bauern in Bärndorf stellten ihm der Ludmilla wegen, die sie überall gerne hatten, Dienstplätze in Aussicht. So hielt sie ihr Haupt aufrecht und ebnete — wo sie konnte — die Wege für ihren Mann. Da starb der Sebast ein Jahr vor Ablauf seiner Strafzeit!

Nun wußte ich alles. Als ich dann den frisch beguteten [S. 180] Socken am Fuß hatte und den Wanderstab in der linken Hand, und ihre Hand in der rechten — es war unter dem Tore des Wirtshauses — da sagte ich zu ihr: »Ja, die Leute haben recht, du bist das Guderl. Aber wie es schon schlecht eingerichtet ist auf der Welt, dir ist das Gute schier noch allemal zum Schlimmen ausgefallen.«

»Wie sie ihn festhält bei der Hand!« rief jetzt im Hofraum eine der Stallmägde der anderen zu. »Wie sie ihn festhält! Hat sie ihm ein Pflaster auf die Füß' bunden, daß er nit fort kann! Jetzt ist er doch auf der Höh'.« Und dann zur Ludmilla: »Nur nit auslassen, Luderl! So ein feiner Stadtherr kommt dir nimmer.«

Erschrocken ließ ich ihre Hand los.

»Hast du's gehört, Herr?« lachte die Ludmilla. »Es wird mir auch das schlimm ausfallen. Aber das macht nix. Wenn sie ihre Mäuler schon alle Tage füttern müssen, so wollen sie sie halt auch brauchen. Das schadet mir nimmer, gleichwohl ich manchmal über und über möcht' rot werden im Gesicht, wenn mich nicht schon der Einhandel so schön gefärbt hätt'. — Daß ich aber nicht vergess', ein Töpfel hätt' ich da, es ist ganz klein, du bringst es leicht ins Rocktaschel und macht nicht einmal einen Kropf.« Damit schob sie mir was Rundes in den Rocksack: »Arnikasalben ist drinnen, und ein Leinwandfleckel dabei. 's ist nur für den Fall, wenn der Fuß wieder sollt' anheben weh zu tun, oder sonst — ei geh nein! Mußt halt sauber achtgeben, junger Herr, daß nit wieder was passiert. Behüt' Gott schön!«

Sie rieselte davon, ich sah sie nimmer.

Seither sind fünfzehn Jahre vergangen. Das Guderl lebt noch immer als Krankenwärterin in Bärndorf. Vor einigen Jahren habe ich ihr, eingedenk der Wohltaten, die sie mir erwiesen, einen kleinen Geldbetrag geschickt. Den soll [S. 181] sie zur Hälfte verschenkt haben, zur anderen Hälfte ist er ihr von einem ihrer Pfleglinge gestohlen worden. Später sandte ich ihr ein silbernes Kreuzlein; das ist ihr — auch abhanden gekommen. Nun habe ich ihr vor einigen Monaten, als ich sie in Bärndorf wieder aufsuchte, zum Andenken ein aus Holz geschnitztes Kreuz gebracht. Das hat sie heute noch und das wird ihr bleiben.

Jetzt, da ich fertig bin mit meiner Geschichte, höre ich meinen Leser entrüstet ausrufen: Elende, gottverlassene Welt, in der die Güte und die Treue so undankbar vergolten wird!

Darauf antworte ich: Glückselige, gottbegnadete Welt, in der trotz alles Undankes die Güte und Treue nicht ausstirbt.


[S. 182]

Der Figurlmacher.

Es mag nun an die dreißig Jahre her sein seit jener Fahrt durchs Pustertal. Aber ich vergesse sie bis an mein Lebensende nicht. Nie vor- und nie seither hatte ich einem weltfremden Menschen so rasch und so tief in seinen Mittelpunkt geschaut, als diesem schlanken Knaben.

Es war ein Sonntagsnachmittag. Über den Dolomiten war ein Gewitter gestanden, das nach einigen scharfen Tropfen, die es an mein Waggonfenster geschleudert, sich sachte verzogen hatte. Abendlicher Sonnenschein brach hervor und beleuchtete die Berge und die Kirchtürme und die frohen Menschen, die auf dem Bahnhofe versammelt waren, in den der Zug eben einfuhr. Aus der Gruppe von Männern und Burschen sprang jetzt ein junger, schmucker Mann mit Stock und Handbündel, verabschiedete sich rasch, schwang seinen Spitzhut, stieß einen grellen Juchschrei aus und stieg in mein Abteil, wo ich bisher allein gesessen war. Voll überlauter Lust rief er jedem einzelnen noch neckende Grußworte zu, und die Zurückbleibenden schrien: »Figurlmacher, behüt dich Gott, laß dir's schmecken, das Herrenleben!« Er sang einen schalkhaften Vierzeiler, jauchzte wieder, und der Zug fuhr ab. Ohne mich zu beachten, warf mein Reisegefährte den kurzen Kranabetstock und das rote Handbündel neben sich auf die Bank, setzte sich hin, trommelte mit der Fußspitze und pfiff ein heiteres Liedel. Vielleicht, so dachte ich, ist er darum so lustig, weil er seine ganze Sach' in einem Sacktuche mit sich tragen kann. Nicht jeder ist so glücklich, ich zum Beispiel war schon der Sklave meines Reisekoffers.

Der Bursche war so, daß er den Weibern hätte gefallen [S. 183] müssen: schlank, stramm, und trug ein keckes falbes Schnurrbärtel; nur das Auge war zu zahm; das war mattblau und hatte einen feuchten Glanz wie bei einem Weibe, in dem die sittsam bezähmte und doch begehrende Liebe ist. — Endlich war er ruhig geworden, stemmte seine Ellbogen auf die ausgespreizten Knie, und den Kopf auf die Hände gestützt, starrte er in den Boden hinein. Manchmal schaute er zum Fenster hinaus in die abendlich dämmernde Landschaft, dann hob sich seine Brust, als sollte wieder ein Jauchzen herauskommen, aber es kam keines, und mit einem leisen Seufzer sank sie wieder ein.

Der Zug rollte fort und fort, an der Decke brannte zuckend die Lampe; schon lange mochte sie keine so stillverschlossenen Insassen gesehen haben, als an diesem Abende. An drei Stunden mochten wir so gefahren sein, als der Bursche ganz plötzlich an meine Brust sank und schluchzte. Ich war fast zu Tode erschrocken und tat mehrmals nacheinander die Frage, was das bedeute, was ihm geschehen wäre?

»Ich kann's nit tragen!« stieß er hervor, »ich kann's allein nit tragen. Es ist zu hart.«

Ich sprach ihm freundliche Worte zu. Wenn er ein Anliegen habe, so möge er es mir vertrauen, der Mensch dem Menschen. Bei Kummer und Leid, da gebe es kein Fremdsein. — Denn ich kann niemanden weinen sehen; Frauentränen wird man zur Not gewohnt, aber ein solches Schluchzen aus der Mannesbrust ist erschütternd wie der Ausbruch eines Vulkans. Ich legte die Hand auf sein Haupt, das an meinem Busen lag, und sagte noch einmal: »Freund, Freund, was ist dir?«

»Es ist so hart,« sagte er und sein Körper bebte.

»Du bist ja erst so lustig gewesen?«

Da lachte er krampfhaft auf: »Lustig! — Mein Elend habe ich totschreien wollen.«

[S. 184]

»Ist dir ein lieber Mensch gestorben?«

»Wie sie meinen Vater ins Grab gelegt haben,« entgegnete er, »und ich allein dasteh auf der weiten Welt — es ist auch ein Schmerz gewesen. Aber so! So wie jetzt! — Ich kann's nicht aushalten, ich muß es wem erzählen. Meine Kameraden daheim wissen nichts und wollten mich nur auslachen. Mit Spott will ich nit fort.«

»Wenn ich recht verstehe, es ist gewiß ein Weibsbild im Spiele!« sagte ich.

»Ja freilich,« antwortete er.

»Ich habe mir's gedacht. Ein rechter Mann weint nur dreimal in seinem Leben: Wenn ihm Vater und Mutter gestorben sind, wenn ihm seine Ehre vernichtet wird und wenn er unglücklich in der Liebe ist. Zweimal habe ich auch schon geweint, mein Lieber, du kannst mir schon etwas vertrauen.«

Es dauerte eine Weile, bis er so weit mit sich zurechtkam, daß er ruhiger sprechen konnte. Dann begann er zu erzählen:

»Meine Eltern, die sind kleine Häusler gewesen, kümmerliche Leut'. Ich hab' mir mit Heiligenschnitzen die Groschen verdient und es werden nit viel Kirchen und Kapellen sein in der Gegend, wo nit von mir ein Figurl steht. Ich hätt' eine Freud' zum Schnitzen, aber mir fehlt's halt noch. Die Leut' loben mich überall und zahlen oft mehr, als ich verlang'. Nur eine —.« Da brach er ein wenig ab, fuhr sich mit der flachen Hand über die Stirn, machte dann eine Bewegung mit ihr, als wollte er etwas von sich scheuchen. »Es ist eine Torheit,« fuhr er nachher fort, »daß sich der Mensch so was zu Herzen nimmt. Aber halt gefreut hätt's mich, wenn sie mir ein einzigmal 'kommen wär' mit einem guten Wort über meine Figurln. Ja, den krummen Fuß [S. 185] oder die schiefe Nasen, oder wie schon was fehlschlagen kann, das hat sie gleich gesehen und hat mit ihrer Red den Fuß noch verkrüppelter und die Nasen noch birniger gemacht. Und ist mir was geraten, daß die Leut' gesagt haben: Schau' das kann er! — da ist sie still gewesen und nit ein gutes Wörtel! Hab ich ihr's hingehalten: Was sagst zu diesem Herrgottel? Nit übel, gelt? Hernach ihre Antwort: Ist gut, wenn es dir gefällt, Figurlmacher. — Jetzt, sie heißt Kathrin, und da hab ich ihr eine heilige Katharina geschnitzt, auch mit dem Rad, und sauber gemalt, daß solches Figurl ganz nett ausgesehen hat. Sie tut nit viel um und nimmt's und ich denk, gefreuen wird sie's, wenn sie es auch nit so scheinen laßt. Bei ihr ist alles inwendig, und in Ehren halten wird sie das Bild wohl dennoch, ich wette drauf, sie stellt's über ihr Bett aufs Wandkastel. — Hernach nächstens wie ich wieder einmal zu ihr komm, ist mein erster Blick an ihr Bett hin auf die Wand. Was ich nit seh, das ist mein Figurl. Herentgegen hängt am Nagel ein mit Silber beschlagenes Gamsfüßel, wie solche Sachen der Knopfdrachsler, der Marx Zeindler, so hübsch herrichten kann. Mir fallt aber nichts ein und wie wir miteinand ein bissel heimgarten, frag ich so nebenhin, wo sie das Figürl hätt? — Ja richtig, sagt sie, das muß ich wo vergessen haben, jetzt fallt's mir ein, das steht gewiß bei der Ahndl oder wo. — Laß es stehen, sag ich, und bald nachher richt ich mich zum Fortgehen, weil mich die Sach ein klein bissel verdrossen hat. Jetzt, wie ich aber nit bei ihr gewesen bin, hab ich doch alleweil an sie denken müssen. Kein Mensch glaubt's. Ich kenne Schönere, als wie sie, und solche, die mich lieber hätten, aber es ist just, als ob mir die ins Herz gebrannt wär'.«

Da der Bursche einhielt, so sprach ich: »Mein Lieber, das geht nicht dir allein so. Die Leute haben das Wort Liebe [S. 186] dafür erfunden, ist aber nicht das rechte. Verhext, wahnwitzig, das würde besser stimmen. Ein schwarzes Weiberauge und eine Tollkirsche haben auf uns Männer manchmal die gleiche Wirkung. Gegen Tollkirschengift ist frische Kuhmilch das beste Mittel, gegen das schwarze Auge hat es mancher mit dem Wein versucht.«

»Trinken!« rief der Bursche, »hab mir's auch schon gedacht, aber wenn ich ein Anliegen hab, da schmeckt mir kein Wein, und es schmeckt mir keiner. Ich brauch wen, den ich gern hab und der mich wieder gern hat, und der meine Figurln mag — wenn das ist, nachher bin ich zu allem aufgelegt. Aber so —«

Er ließ den Kopf hängen.

»Du bist auch so einer, der auf der Welt schon den Himmel haben möchte,« sagte ich. »Schau um, ob es einer so gut hat! Denke, du bist auf der Welt und halt dich an die Arbeit. Das Figurnschnitzeln wird dir dein Lebtag mehr Freude machen, als alle Weiber zusammen.«

Jetzt begann er ganz unvermittelt vom Blitz zu erzählen: »In der Siebenbrunnkirche hat der Blitz eingeschlagen. Beim Turm ist er herab, hat die Orgel zerrissen, nachher zur Kanzel, zum Altar, zertrümmert die Mutter Gottes, und beim Taufstein wieder hinaus. Jetzt sind sie kommen und ich hab müssen ein Muttergottesbild schnitzen. Ist auch alles zufrieden gewest damit, nur der Marx Zeindler hat gesagt: Zu dieser Sternguckerin ging er nit beten, da ginge er schon lieber zu einer, die ihm keck ins Gesicht schaut und die Händ zum Halsen auseinander tät. — Weil ich meiner Mutter Gottes die Augen gegen Himmel hab richten lassen und die Händ' zusammenhalten, auf ein Gleichnis, als wollt' sie für die Siebenbrunner Pfarr fürbitten. Nun, so hat er gespottet, der Marx, und ich hab mir weiter nichts draus gemacht; er ist auch sonst [S. 187] so viel roh, wie soll er just bei mir fein sein. Es gibt ja allerhand so Leut auf der Welt. Sollt bei seiner Arbeit bleiben, Knöpfe drachseln, Hirschzähne einfassen, wie man sie so an den Sackuhren baumeln hat, Gamsbart und Schildhahnstöße binden für die Jäger, und so Sachen, das kann er, aber vom Figurlschnitzeln versteht er nichts. Hab ihm's gesagt. — Jetzt hab ich mich aber doch gefreut auf die Kathrin. Das Muttergottesfigurl wird ihr wohl recht sein, und wenn sie sieht, wie die Leut zusammenlaufen und davor beten und ihm die Füß küssen — und hat's der ihrige gemacht. Und einmal nach der Kirche, da frag ich sie: Du, was sagst denn eigentlich zu meinem Bildnis? — Geh laß mich aus, dalkerter Figurlmacher, ist ihre Antwort, eine solche Sternguckerin da! — Hab ich einmal gestutzt. Wie ist das? Jetzt haben die zwei, die Kathrin und der Marx, gleiche Gedanken! — Und von dieser Stund ist meine Pein angegangen. Die zwei halten zusammen, hab ich gedacht, wo ich geh und steh. Sonst alles überhört, vergessen, ganz dumm im Kopf, nur alleweil denken: die zwei halten zusammen! Sie lachen die Figurln aus und den Schnitzler, und was sich der immer sittsam hat aufgespart für den Ehestand, an dem prassen sie allbeid, und ich bin der Gefoppte. — Nit essen und nit schlafen hab ich können, zugrund gehen, hab ich gemeint, muß ich vor lauter Kränken; hab mir aber nichts merken lassen. Bin ich mit ihr zusammenkommen, so tut sie nit süß und nit sauer, spricht aber ein paarmal vom Heiraten, denn es ist schon ausgemacht gewesen zwischen uns, und einmal hat sie noch im Spaß gesagt: den Figurlmacher mag sonst keine, so will ich ihn aus Barmherzigkeit nehmen. — Tut mannigmal weh, so was, aber laß mir's gefallen. Jetzt aber wird's mir ungleich und hab ich's versuchen wollen, ob's denn nicht möglich wär, sie zu meiden und mit einer anderen was anzuheben, [S. 188] weil ihrer genug sind gewest, die mir nachgeschaut haben. Aber je weniger ich an die Kathrin denken hab wollen, je fester ist sie mir im Sinn gelegen, und je höllischer ich sie hassen hab wollen, je höllischer hat's mich zu ihr gezogen, und wenn ich mir gar vorstell, daß sie mit ihm beisammen ist — deutlich hab ich alles gesehen im Geist — da hätt ich rasend werden mögen vor lauter Wut und Lieb. — Herr, wenn sie einen Mörder henken, ich werf keinen Stein auf ihn! Gott hüt uns, kein Mensch weiß es, wie nah er am Abgrund steht.«

»Also weißt es, was noch schlimmer ist, denn so eine dumme Liebe!« bemerkte ich.

»Am vorigen Samstag ist's gewesen,« fuhr der junge Mann fort. »Ich geh ins Breit-Viertel hinüber, Lindenholz kaufen. Wie ich im Wald bin, seh ich einen Knaben, der sich einen Peitschenstecken brechen will, das Lärchbäumerl ist aber zäh, läßt sich winden und drehen und will nit los. Halt, denk ich, nimm mein Messer, schneid's ab, äst's auch aus und richt's gerad, — hat das Bübel eine Freud gehabt. Wie ich in den Graben hinab komm, wird's schon dunkel. Auf der Wiese ist Heu und mitten drin sitzt der Marx-Zeindler. Mit seinem braunen Schnurrbart und Funkelaugen und wie die Haarfetzen über die Stirn herabfahren — ein schöner Mensch. Jetzt, wie ich noch ein paar Schritt weiter geh, sehe ich neben seiner die Kathrin. Reden tun sie nichts miteinand, schauen sich aber fest in die Augen, also daß man meinen kunnt, ihr Blick wäre ein eiserner Nagel, der die zwei Köpf zusammenheftet. Ich hab's meiner Hand nit befohlen, sie greift von selber um's Messer. Sucht im Sack und in allen Säcken und findet es nit; hab das Zeug unversehens liegen lassen oben im Lärchenwald. So schön! denke ich, einen Schutzengel haben die auch noch! Jetzt, was soll ich machen? Ich geh langsam rund herum; bin ich herüben, [S. 189] so hab ich sein Gesicht, bin ich drüben, so hab ich ihres. Eine so verdammte Unterhaltung hab ich mein Lebtag nit gehabt! — Wenn die Liebe nit blind machen tät, sie hätten mich sehen müssen. Auf einmal, wie ich wieder hinschau, kommen sie mir allzwei häßlich vor, so häßlich, daß mir übel wird. — Jetzt weißt es, sage ich zu mir, jetzt, was willst anfangen? Willst Lärm schlagen zu deiner Schand? Willst ihn erwürgen und sie heiraten? Nein. Da gibt's nichts, als still davongehen. — Schon lang mein Wunsch nach Innsbruck in die Schnitzerschul. Eine ganze Nacht hat's gearbeitet in meinem Kopf: Sollst gehen? Sollst bleiben? Und je länger ich sinnier, je enger wird mir die Siebenbrunner Gegend und je breiter die Straßen nach Innsbruck. Wie die Sonn aufgeht, steht's fest. Und heut — heut geh ich halt.«

»Ich gratulier!« Mit diesem Wort wollte ich seine Hand fassen, er zog sie rasch zurück.

»Denke dir, lieber Mensch,« sagte ich, »sie hätte sich dir angesüßelt und du kommst erst nach der Hochzeit zum Heu auf der Wiese!«

»Mich däucht,« knirschte er und holte die Faust wie zum Stoß aus.

»Das ist nichts,« unterbrach ich ihn, »du mußt dich weit furchtbarer rächen. Laß sie zusammen heiraten, er mit der Roheit, sie mit der Untreue, das geht weit über's Schnitzmesser! Und das bedenk: ein gleichgültiges oder absprechendes Wesen paßt nicht für einen Figurlschnitzler. Das würde dich mutloser machen, als alle absprechenden Urteile neidischer Kollegen, und deine Kraft lähmen. Die Mitfreude des geliebten Weibes an seinem Werke bedarf der Künstler, wie die Blume den Sonnenschein. Kein Mensch glaubt's, welch ein Segen für den Künstler das rechte Weib ist. Bedenk's und danke Gott.«

[S. 190]

»Aber —« entgegnete er, und die Stimme brach sich im Halse, »ich — hab sie lieb.«

Es ist ewig dieselbe Geschichte. Da hatte er aus Trotz gejauchzt, aus Wut sich zum Auswandern entschlossen, aus Rache nach dem Messer gelangt und muß sie lieben, als wäre sie ihm ins Herz gebrannt.

Wir waren in Franzensfeste, wo unsere Straßen sich trennten, die meine ging nach dem Süden, die seine über den Brenner nach der Hauptstadt. Vor dem Scheiden hatten wir gegenseitig unsere Namen genannt. Er hatte mich noch um Verzeihung gebeten, daß er mir sein Anliegen so vor die Füße geworfen, und gedankt, daß ich gut mit ihm gewesen. Jetzt sei ihm schon leichter. Dann gab ich ihm noch den Rat, er solle aufhören, sie zu hassen, dann würde er auch aufhören, sie zu lieben, und falls uns der Lebensweg noch einmal zusammenführe, würde er wirklich so lustig sein, als er es heut scheinen wollte. —

Acht Jahre später brachte ich folgendes in Erfahrung. Die Katharina Zeindlerin machte eine Wallfahrt nach Maria im Anger. Die Kirche ragte in einer Waldgegend, in der manch freundliches Dörfchen und manch schmuckes Landhaus stand. Aber die Katharina schleppte eine Last von Kummer daher. Ihre Kinder waren teils blöde, teils ungeraten; ihr Mann war ein Wüterich, der sie mit seiner Eifersucht zu Tode quälte, während er selbst unlauteren Schlichen frönte, und so frech, daß die betrogene Gattin von seinen Zuhälterinnen noch verhöhnt wurde. — Nun trat das arme, vor Schmerz gebeugte Weib in die Kirche. Auf den Knien rutschte sie bis zum Hochaltar, auf dem die Mutter des Heilandes stand. Das Angesicht von himmlischem Frieden verklärt, die Hände über der Brust gekreuzt, die Augen zur Höhe gehoben voll heiliger Inbrunst, so stand die hehre Gestalt da; und Katharina, [S. 191] als sie emporblickte zu ihr, mußte weinen. Vielleicht gedachte sie einer vergangenen Zeit, in der sie ein Bildnis mit gen Himmel gehobenem Blick spottweise die Sternguckerin genannt; heute war sie selber eine solche Sternguckerin, und es tat ihr wohl, daß das Auge der Gottesmutter ihrem trostlosen Herzen ein Wegweiser war empor zu himmlischer Erhebung.

Und als das so hohen Fluges ungewohnte trübe Auge des Weibes wieder erdwärts sank, blieb es haften an dem Sockel der Bildsäule, in dem der Name des Schöpfers derselben eingegraben war. Ihr Herz hub zu pochen an, sie kannte den Namen.

Aus der Kirche tretend, fragte sie den Beschließer, ob denn vielleicht der Künstler noch lebe, der das schöne Gnadenbildnis gemeißelt habe?

Der Beschließer streckte seine Hand aus, nach einem stattlichen Landhause weisend, das auf einer sachten Höhung stand und von schönen Bäumen umgeben war: »Das dort ist sein Haus, und da wohnt er drinnen.«

Also schlich nun in der Abenddämmerung das Weib zu dem bezeichneten Hause hin, und zwischen den Planken lugte sie hinein in den Garten. Da hörte und sah sie eine Schar hübscher, munterer Kinder, da sah sie eine schöne, freundlichschauende Frau, und mitten unter diesen Menschen sah sie ihn. In seinem Wesen lag eine Ruhe, aus seinen Augen strahlte lauteres Glück.

Der Figurlmacher! — Das Weib taumelte wegshin. Sie sah jetzt den Unterschied, der da ist, wenn man den Blick zur Höhe richtet, wo freudige, himmeldurchfliegende Gläubigkeit herrscht, oder der schmutzigen Erde zu, wo solche krauchen, die nichts können, als Knöpfe drachseln, Gamsfüßeln beschlagen und auf dem Heu liegen.


[S. 192]

Der junge Geigenspieler.

Eines Tages sah der junge Ministrant Giedel bei seinem Pfarrer in Schwandau ein Holzkistchen. Er betrachtete es über und über; es war von länglicher Form, inwendig leer, und hatte sehr dünne Wände. Als der Herr Pfarrer dem Knaben den Ministrantenanteil von der Messe — zwei Kreuzer — ausbezahlte, sagte der Giedel bescheidentlich: Auf Bargeld gehe er schon weniger, aber wenn der hochwürdige Herr ihm das Holzkistel schenken wollte, so würde er dafür gerne den Winter über umsonst ministrieren.

»Kind!« rief der Pfarrer, »wozu willst denn das Ding? Es ist ja ganz leer!«

»Just deswegen,« antwortete der Kleine, »ich kann bloß die leeren Sachen brauchen.«

»Du bist nicht klug, Giedel. Das Zigarrenkistel kannst mitnehmen, und für die Meß kriegst täglich deine Kreuzer, wie sonst. Bist ja ein braver Bub du! Gott behüte dich!«

Voller Freude lief der Knabe mit seinem hohlen Schatze heim in des Vaters Hütte. Dort hub er an zu schaffen. Er bohrte durch das Kistchen Löcher, zog einen Balken durch, so daß dieser an beiden Seiten hervorstand. Dann erbettelte er von der Mutter mit List einige Fäden Hanfgarn, glättete sie mit Harz und spannte sie über das Kistchen, ähnlich wie man auf eine Geige die Saiten spannt. Und als er mit den Fingern die Fäden zupfte, wohl, wohl, da gab's einen Ton, der im Kistchen eine Weile nachklang. Der Giedel hatte auf dem Kirchenchor Pfeifen- und Saitenspiel gehört, er war dabei bis in den dritten Himmel verzückt gewesen, aber jetzt war er's bis in den siebenten, denn der Klang war von ihm selbst [S. 193] erfunden und erzeugt, und je nachdem er mit dem Finger den Faden strammer oder loser spannte, gab es einen höheren oder tieferen Ton. Als das so weit war, wagte der kleine Giedel einen schweren Gang. Der Pferdeknecht des Nachbars war sein Feind, denn er war ein roher Geselle, und die Töne, die der rote Rupert durch Fluchen, Peitschenknallen und andere Mittel hervorbrachte, waren dem Giedel verabscheuenswert. Und gerade dieser Mensch konnte ihm jetzt helfen.

»Guter Roßknecht Rupert!« redete ihn der Kleine an. »Hast du keinen Roßschweif?«

»Ich nicht, Narr, aber mein Pferd.«

»Verkauf mir davon ein Strähnl?«

»Was zahlst?«

»Das Ministrantengeld bis Weihnachten.«

Der rote Knecht glotzte mit seinen unterlaufenen Augen den hübschen, treuherzig blickenden Knaben ein Weilchen an, dann sagte er: »Pferdeschweifhaare willst. Sollst ihrer haben. Dein Ministrantengeld? den Bettel behalt' selber, aber zu mir herüber in den Stall kannst du manchmal kommen, wenn du Zeit hast. Weißt, wenn ich am Feierabend meinen Tabak rauch', da hab' ich's gern, wenn mir wer das Haar kraut. Bin's von Kindes her so gewohnt. 's tut mir halt wohl. Wenn du manchmal herüberkommst krauen, so kannst Pferdeschweif haben, so viel du willst.«

Dem Knaben ging es ganz kalt über den Rücken. Diesem Menschen das Haar krauen! »Die Mutter laßt mich halt nicht,« sagte er dann verzagt, »aber das Ministrantengeld bis Heiligdreikönig!«

»So wart' ein wenig,« sprach der Pferdeknecht, und der Giedel bekam einen silbergrauen Strähn vom alten Schimmel. Jetzt war's gewonnen.

Er schnitt einen Weidenzweig, spannte daran die Haare, [S. 194] und der Fiedelbogen war fertig. Dann hub er an auf seiner Geige zu fiedeln. Es war außerordentlich! Es war darum außerordentlich, weil das ganz anders stimmte, als andere Geigen, wenn auch nicht schöner, aber durchaus anders. Tagelang spielte der kleine Musikant auf seinem Instrumente, anfangs mit großer Selbstbefriedigung und Hoffnung, daß sich das Zeug vervollkommnen lassen werde, allmählich aber mit weniger Zuversicht, und als gar sein Vater, der Weber Franz, ein Donnerwetter losließ über das schauderhafte Gekrächze, das da sein Bub hervorbringe, war es geschehen. Der Giedel legte seine Geige auf den Holzblock, ging hinaus unter den Apfelbaum und war betrübt. Musizieren, geigen! Er schnitt sonst Pfeifen und blies hinein, er machte Pauken und trommelte darauf. Alles ging leidlich, nur die Geige nicht. Wenn er dann am Sonntage den Schulmeister das Meßlied geigen hörte, da vergaß er seine lateinischen Sprüche und horchte versunken dem Spiel. Minutenlang konnte der Pfarrer seinen Kelch hinhalten, der Knabe hielt die Wein- und Wassergefäßchen in den Händen und goß nichts hinein. Er horchte auf das Geigen. Der Pfarrer schalt ihn nicht, es wurden ihm die Augen feucht. In diesem Kinde der glühende Drang nach dem Schönen, und es kann sich nicht helfen? Wie reich ist die Welt an Herrlichkeit und Kunst! Wie üppig blüht in den Städten und Höfen der Großen die göttliche Musik auf! Die Harfe, die in einem Dorfe zu Gottes Lob ertönt, ist nur ein Stammeln dagegen! Und selbst dieses Stammeln ist dem Knaben unerreichbar ...

Ging der Pfarrer zum Weber Franz und bettelte ihm mit vieler Mühe den Giedel ab für eine tägliche Musikstunde.

»Du lieber Gott!« sagte der Weber: »Eine Stunde des Tages haben ihn Hochwürden ohnehin bei der Messe; jetzt soll ich ihn noch eine zweite Stunde herlassen? Muß ihn ja [S. 195] doch für mich abrichten, und er soll arbeiten lernen. Wir sind halt arme Leute. Aber wenn er um eine Stunde früher aufsteht, — der Junge liegt mir jetzt alle Tage bis sechse in der Früh'! — so kann er meinetwegen seine Musikstunde haben.«

Nun, da hätten wir ihn ledig. Jetzt ging der Pfarrer zum Schulmeister und sagte: »Unser Giedel. Mir tut er ins Herz hinein weh. Probieren Sie es alle Tage ein Stündel mit ihm. Zahlen kann sein Vater nichts, aber ich meine, es ist so viel als Kirchenmusik zum Lobe Gottes, wenn Sie diesem musikbegeisterten Kinde das Saitenspiel lehren?«

Der Schulmeister reichte dem Pfarrer schweigend die Hand, da war es abgemacht.

Also geschah es nun, daß der Giedel täglich in das Schulhaus kam und auf einer alten Geige, die der Schulmeister ihm lieh, nach mühesam eingelernten Noten die Saiten strich. Es war ein Glück, und es war ein Fleiß, und es war eine Plage. Nach etwa einem halben Jahre waren sie soweit, daß der Schulmeister zum Pfarrer sagte: »Mit dem Knaben ist es ein Elend. Ich bringe ihm keine Noten und keine Regeln in den Kopf. Wo er nach der Vorschrift sich üben soll, ist es gar nichts; er vergreift sich, und man kann ihm auf die Finger klopfen wie man will. Wenn er aber für sich phantasieren kann, da ist es manchmal erstaunlich, geradezu erstaunlich! Das hilft alles nichts, wenn er das Theoretische nicht inne kriegt, so ist alle Mühe verloren.«

Doch taten sie eine Weile so fort. Allmählich aber änderten sich die Zeiten. Der gute alte Pfarrer zu Schwandau ging zum Altenruhsitz in ein Kloster. Der Schulmeister wurde versetzt, der Weber Franz starb, und der Giedel mußte als Majoratsherr in der armen Hütte die Ernährung der Familie über sich nehmen. Die Geige, schon mit [S. 196] Abgang des Schulmeisters ihm aus der Hand gesunken, mußte er sich nun auch aus dem Kopfe schlagen. Es kamen die Jahre, in welchen dem Menschen der Himmel voller Geigen zu hängen pflegt; an Giedels Himmel hing nichts als eine große Flöte, auf der er Trübsal blasen konnte, wenn er das Blasen überhaupt gelernt hätte.

Eine halbe Wegstunde von Schwandau in einem Seitengraben stand damals ein kleiner Eisenhammer. Heute ist er ganz verfallen, nur der blockige Schornstein steht noch da, und rings um ihn wuchert Holundergesträuche und Nesselwerk. Der voreinstige Besitzer ist hinausgezogen in das weite Tal, hat dort ein großes Sensenwerk gegründet, hat Ländereien und Wald dazugekauft, und als der Besitz recht groß und die Werkschaft recht angesehen war, hat er alles an eine Aktiengesellschaft abgetreten und sich selber in die Stadt gezogen, wo er sein Geld in vornehmer Weise und sorgenlos genießen konnte. Zu jener Zeit, von der hier die Rede ist, pochte das emsige Eisenhämmerlein in der Waldschlucht Tag für Tag, und dem Weber Giedel pochte fast noch heftiger das Herz, wenn er es hörte. Denn im Hammerhause war Eine! Jung und gut und lieb! Das war ihm schon recht, wenn sie nur nicht so schön gewesen wäre! Wie kann ein armer Weberbursche sich an eine Hammerschmiedstochter wagen, wenn sie so gottlos schön ist! Er kriegt sie nicht. Hundert andere sind, reiche, vornehme, kecke! So gern kann sie freilich keiner haben, als der Giedel, aber sie weiß es nicht, und er kann es ihr nicht sagen, und so wird der Jüngste Tag kommen und die Paula Radhuberin wird es immer noch nicht wissen, daß sie auf Erden einer so über alle Beschreibung gern gehabt hat. Denn wie kann er es sagen und schreiben, wenn es unsagbar und unbeschreiblich ist! — Einmal an einem Sonntage hatte er sie von der Kirche aus begleitet [S. 197] bis zur Brücke, über die der Weg zum Eisenhammer hinanführt. Garnkaufen müsse er gehen, hatte der Giedel gelogen, um eine Weile neben ihr herschreiten zu dürfen. Sie plauderten und es war von sehr wichtigen Sachen die Rede: Daß doch die Straße einmal geschottert werden sollte! Daß es wieder gar so viel regne in diesem Sommer! Daß Korn und Obst verderbe! Nur das Heu würde geraten! Und beim Heu hielten sie sich so lange auf, bis die Brücke kam. Dann wünschte sie ihm einen guten Garnhandel, und er sagte: »Dank' schön!« und also stand er wieder allein. Hinter einer Fichte stand er und guckte ihr nach, solange der rote Punkt, denn sie hatte ein kirschrotes Kittlein an, im Hohlweg zu sehen war.

Nach diesem Spaziergange verschloß sich der junge Weber in seine Stube und verfaßte ein Schreiben an die ehr- und liebsame Jungfrau Paula Radhuberin. Als er das Schreiben durchlas, war es trocken wie ein dürrer Ast. Kein grünes Blatt und keine rote Blüte war daran und doch wucherte in seinem Herzen ein so üppiger Rosengarten, daß der arme Junge fast erstickte. Den Brief zerknitterte er und warf ihn in die Asche des Ofens.

Leute, die vielleicht noch Hemden am Leibe tragen aus jener Zeit und von jener Leinwand, die der verliebte Weberbursche Giedel gewoben, müßten es eigentlich heute noch spüren, das trostlose Herzweh, das er in die Fäden hineingewebert. Damals hat's kein Mensch geahnt, wo es fehlte; weil er so blaß und traurig war, der Giedel, so meinten etliche, er hätte es auf der Brust. Sie hatten recht, aber anders, als sie meinten. Seine alte Mutter riet ihm oft, er solle nicht immer am Webstuhl sitzen, er solle sich besser zerstreuen. — Wieso denn? Lieben darf ich nicht, und geigen kann ich nicht. — Denn er hatte gar keine Geige, und es [S. 198] war noch nie möglich gewesen, sich eine anzuschaffen. Da kam eines Tages eine große Aufregung.

In Schwandau lebte seit kurzer Zeit ein ausgedienter Major, der eine große Geigensammlung besaß. Wie es schon allerhand Sammler gibt auf der Welt: Käfersammler, Tabakspfeifensammler, Hosenknöpfesammler, Spielkartensammler, Spazierstöckesammler, Uhrschlüsselsammler und immer so fort, so kam es dem Major, als er in seinem Ruhestande nichts zu tun hatte auf der Welt, plötzlich in den Sinn, er müsse eine Geigensammlung haben. Da er, wie gesagt, selbst nicht geigte und sein Museum auch selten einem neugierigen Auge aufschloß, so hatten die guten Leute zu Schwandau kaum eine Ahnung von all den Walzern, Ländlern und anderen Weisen, die ungeweckt in ihren Mauern schliefen. Da kam jener Sonntagnachmittag, an dem der Weber am Waldhange die zwei Ziegen weidete. Sein Schwesterl, das sonst den Hirtendienst zu besorgen hatte, war in den nächsten Kirchort zur Firmung gegangen. Wie er im Moose so dalag und ganz gedankenlos in das offene Fenster eines gegenüberstehenden Hauses blickte, ging es sachte und traumhaft in ihm auf wie eine übernatürliche Erscheinung. Dort drin an der Wand hing eine Geige, ihr zur Rechten hing auch eine solche, ihr zur Linken hingen deren zwei kleine, ihr zu Füßen war eine Riesengeige — aus dem Stubenschatten immer deutlicher hervortretend Geigen und Geigen.

Dem Burschen begann fast zu schwindeln, die Wangen, die Stirne waren ihm heiß, das Herz wurde ungeberdig, die leidenschaftliche Gier zur Geige war wieder da. Als er am Abend nach Hause kam, und die Mutter nach den Ziegen fragte, war er verwundert, weshalb just er von den Ziegen etwas wissen sollte. Zum Glück kamen sie selbst heim und meckerten ihre Ankunft. In der darauffolgenden Nacht schritt [S. 199] der Giedel den Weg hin und wieder von Schwandau bis zum Eisenhammer. Als er das erste Mal vor ihr Fenster kam, war noch Licht darin, das zweite Mal war schon alles finster. Unterwegs begegneten ihm Nachbarsburschen, die zu den Fenstern ihrer Liebsten gingen, dort allerlei Ständchen brachten und getröstet heimkehren konnten. Der eine spielte unterwegs eine Mundharmonika, der andere eine Maultrommel, der dritte jodelte und der vierte pfiff vergnüglich vor sich hin. Und jener, der ganz still war, atmete die Harmonie inneren Glückes. Also ist die Liebe stets musikalisch. Nur der arme Giedel empfand keinen Wohlklang in seinem Wesen. Er kam sich dumm und häßlich vor, ihm mangelte jener Wohlklang des Herzens, der zu rechter Zeit mutig macht, ein Glück zu erringen. Im Dorfe stand der Giedel vor dem Hause, in dem der Major mit den Geigen wohnte. — Daß es so herzzerdrückend still sein kann auf dieser Welt! Da haben die Leute einen Mund und eine Sprache, und Geigen, und sind doch stumm.

Lange nach Mitternacht ging er zu Bette, erst gegen Morgen schlief er ein und geigte und geigte.

Noch ganz verschlafen war er, als übertags zwei Frauenzimmer ins Haus kamen mit Körben Garn; das eine war die Magd vom Eisenhammer, das andere war die Paula. Diese blickte den schlanken, blondhaarigen, sanftdreinschauenden Burschen frisch an und sagte: »In vier Wochen müssen wir Leinwand haben. Sie ist zur Ausstattung!«

»Will wohl trachten,« antwortete der Giedel, hatte aber nicht den Mut zu fragen, wer denn heirate? Man atmet ja gern noch ein wenig in der süßen Ungewißheit. Dann ist ohnehin alles aus.

Auf dem Heimweg sagte die Magd zur Hammerschmiedstochter: »Etwas antappert ist der Weber.«

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»Ich denk', der ist ein bissel gescheiter wie du!« entgegnete strafend die Paula. Weiteres wurde nicht gesprochen.

Der Giedel wußte wohl, daß er als einzige Stütze seiner Familie wehrfrei war. Dennoch ging er eines Tages zum Major, um Rat zu bitten, wie er dem Soldatenleben entkommen könne.

Der Major, eine schlanke, hagere Gestalt, deren einzige Lebensaufgabe es noch war, den dummen, krummen, plumpen Dorfleuten militärische Haltung zu zeigen, strich heftig seinen Bart und ließ den Burschen die Oberkleider ausziehen.

»Bravo!« schnarrte der alte Offizier, »das ist wieder einmal ein Brustkorb!« Mit der Faust hieb er darauf, daß es dröhnte. »Hören Sie! Das ist Grundton. Nein, nein, lieber Junge, Sie brauchen sich gar nicht zu grämen, Sie sind tauglich. Gerad' halten!«

Giedels Blicke waren mittlerweile wirr im Zimmer umhergeflogen, aber nicht so sehr aus Angst vor dem Militär, als vielmehr aus Hoffnung, durch irgendeine halbgeöffnete Tür ins Geigenzimmer lugen zu können. Da er aber nichts dergleichen entdeckte, da er wieder vollkommen angekleidet zum Fortgehen bereit war und seine ganze Falschheit umsonst zu sein schien, hob er mit einem tiefen Atemzug sein Herz aus der Brust und fragte: »Haben der Herr nicht eine Geigensammlung?«

»Wissen Sie mir ein interessantes Instrument?« fragte der Major rasch entgegen.

»Das nicht, aber,« stotterte der Giedel, »ein wenig anschauen, wenn ich sie dürfte!«

Allsogleich war die Tür offen in das Nebenzimmer. Ehrfurchtsvoll wie in ein Heiligtum trat der Bursche ein, so daß er vor lauter Andacht über die Schwelle stolperte und »oha!« rief. Er war ganz rot im Gesicht, teils wegen [S. 201] seiner Ungeschicklichkeit, teils vor innerer Erregung. Die Wände des Zimmers waren mit grauem Tuche überzogen, und daran hingen sie nun in allen Größen, Arten und Formen. Wie schön geflammt war das Ahornholz dieser Instrumente, wie fein geschwungen und gewölbt war der Bau, wie reizend waren die langen Hälse mit ihren köstlich gewundenen Schnecken! Und die Fiedelbögen: schlanke und kurze, breite und schmale, gerade und gebogene in allen Farben! Der Major, sich darüber freuend, daß einmal eine menschliche Seele Anteil nahm an seinen Schätzen, begann zu erklären, von wem diese und jene stamme, welche Seltenheit an dieser und jener wäre, er hatte da Geigen von Amati, von Montana, von Guarneri, von Bergonzi, von Jakob Stainer usw. »Und hier!« flüsterte er, eine sehr flachgebaute Violine mit fast hellrotem Anstrich feierlich von der Wand nehmend, »hier, die ist von Stradivarius! — Eine Cremoneser! — Geradhalten, saperment!«

Unserem Giedel waren nun zwar die fremden Namen ziemlich gleichgültig, doch hörte er sie mit Ehrerbietung nennen. Als der Major an der Cremoneser mit dem Finger die Saiten berührte, um den herrlichen Ton zu zeigen, sagte der Bursche: »Bitte, geigen Sie eins!«

»Ich spiele nie,« antwortete der Major, hing das Instrument mit größter Sorgfalt wieder an seinen Platz und schob den Burschen sachte zur Tür hinaus.

Seit diesem Tag war's schier vorbei mit dem Giedel. Er dachte Geigen, er weberte Geigen, er träumte Geigen, und wenn er Zeit hatte, ging er hinaus und schaute auf das Haus hin, in dem der Major die Geigen hatte. Eines Tages hörte er vom Schulmeister sagen, der Major sei ein Fex. Hoffentlich habe er einst den Säbel besser zu handhaben gewußt, als jetzt den Fiedelbogen, denn er könne gar nicht [S. 202] Violin spielen und habe die Sammlung nur so aus Rappelköpfigkeit zusammengekauft und erbettelt. Es sei an dem ganzen Quark nichts, eine einzige ausgenommen. — Schulmeister! dachte sich der Giedel, wie du nur so sprechen kannst! Ich wollte, ich hätte die geringste dieser geringen! Aber, daß er nicht soll geigen können? So viele Geigen haben und nicht geigen können! — Nur auf ein paar Stunden möchte ich eine haben!

Nicht lange hernach, und es ergab sich eine zufällige Gelegenheit, daß der Weber den Major fragen konnte, ob er ihm nicht eine Geige borgen wollte für einen Tag, nur für einen einzigen! Und nur jene, an der ihm, dem Herrn Major, etwa am wenigsten gelegen wäre! Er, der Giedel, setze eine Ziege dafür zum Pfand.

Ein plumpes Lachen stieß er aus, der Herr Major, ein schreckbar hochmütiges Lachen, dann wandte er sich ab. Und das war der Bescheid gewesen. —

Ein stiller, warmer Herbstsonntag. Die Dorfleute ergingen sich draußen auf Feldrainen oder saßen im Wirtshause. Der Major war mit einem Steirerwägel in den nächsten Ort gefahren zu einem alten Kameraden, der ihm — so viel verlautete — geschrieben, daß er irgendwo eine uralte Violine entdeckt habe. Sie stamme noch aus den Zeiten der Minnesänger und ein Zigeuner gehe damit um, der darauf ohrenzerreißend spiele und von dem Werte des Instrumentes gewiß keine Ahnung habe. Hau, das mußte unser Major näher erfahren, und er fuhr hinüber. — In der Wohnung des Majors waren ein paar Fenster offen geblieben. Der Giedel kauerte am Berghang und schaute hinein zu den Geigen. Die Haushälterin des Majors war auch fortgegangen, nachdem sie das Haustor mit großem Gerassel verschlossen hatte. Der Giedel blickte hinein zum offenen [S. 203] Fenster. »Der hat so viele, und ich hab' gar keine!« murmelte er. Plötzlich schlug er mit dem Daumen ein Kreuz über sein Gesicht und lief davon. Er ging den Weg hinein bis zur Brücke, er schritt hinan bis zum Hammerhaus. Auf dem Fenster, hinter dem sie wohnte, standen schöne Blumen, sonst sah er nichts. Das Wasser rauschte und der Berg legte schon seinen dunkelblauen Schatten über das Haus. Ein paar junge Männer gingen im Garten umher mit spitzen Schnurrbärten und unternehmenden Mienen. Dann traten sie ins Haus. Ob das Verwandte sind von ihr, oder Eisenhändler?

Der arme Giedel ging wieder gegen das Dorf zurück. — Am Werktage, dachte er bei sich, da ist die Arbeit, da geht's zur Not; aber am Sonntag, wenn einer in der Müßigkeit so umherstreicht, da ist's schier nicht auszuhalten. Der Druck in der Brust, der grausame Druck! Mit dem Taschenmesser ein Loch aufmachen hinein, daß dieses wilde Blut heraus könnt' springen ....

Als er zum Hause des Majors kam, dunkelte es schon ein wenig, und im Tale dem Bache entlang war ein bläulicher Dunsthauch. Kein Vogel, kein Heimchen, kein Mühlrad — nichts. Daß es doch so still sein kann auf der Welt! ...

Um das Haus war es öde, und nichts rührte sich. Die Fenster standen offen. Der Giedel kletterte an einem Mauervorsprung empor und stieg zum Fenster hinein. An der Wand huschte er hin, nahm die Cremoneser Geige mit dem Fiedelbogen von der Wand, barg sie unter seinen Rock, sprang rasch zum Fenster hinaus und eilte davon gegen den Wald hin.

In der darauffolgenden Nacht war's. Über den Wipfeln des Bergwaldes stand der Mond. Der Eisenhammer stand still, das Wasser rieselte leise über das hinterseitige Floß. Wer das Rauschen und Pochen gewohnt ist, dem wird's unheimlich. Paula lag in ihrem Bette, konnte aber vor lauter [S. 204] Ruhe, die sie umgab, nicht schlafen. — Sie dachte an ihre Mutter, die seit langem schon auf dem Kirchhof lag. Sie dachte seufzend, wie das jetzt werden würde, wenn der Vater wieder heiratet. Die reiche Sensenschmied-Witwe von Tiefwasser. Dann will er den kleinen Eisenhammer hier verkaufen und hinüberziehen und in Tiefwasser eine Gewerkschaft bauen. Was das noch werden wird? ...

Als das Mädchen im einsamen Stübchen so sann und dabei recht traurig ward, hörte es draußen einen klingenden Ton. Es war anfangs wie eine leise vor sich hin singende menschliche Stimme. Sie wurde lebhafter, es klang wie ein süßes Locken und dann wieder wie ein betrübtes Klagen. Es war wie ein allmähliches Aufschwingen, wie ein Anklopfen und treues Bekennen und endlich wie das Freiwerden und Übersprudeln eines warmen, leidvollen Menschenherzens. — Nie in ihrem Leben noch hatte Paula so singen, so weinen gehört. Sie war selbst einmal in einer Singschule gewesen, aber dieser unendlich rührende Tonhauch, den sie jetzt vernahm, er hatte keine Ähnlichkeit mit anderen Kehlenklängen, und doch war er das unmittelbare Aufquellen eines Geheimnisses. — Sie konnte sich das nicht so denken, aber ein Gefühl war in ihr wach, als ob sie in diesem Augenblicke sterben müßte, und als ob sie im nächsten Augenblicke eingehen würde zur himmlischen Seligkeit. —

Nach einer Weile richtete sie sich auf und blickte hinaus zum Fenster. Da unten auf weißem Kieswege stand eine dunkle Gestalt. Sie erkannte den Weber Giedel und sah jetzt, wie er eine Geige spielte. Sie verhielt sich ganz ruhig, sah hinab und horchte. Sie horchte so lange, bis ihr die Tropfen von den Augen rannen. So über alle Maßen lieb hatte sie diesen Menschen. So viel Mitleid hatte sie empfunden, seit sie ihn kannte, weil er so sanft, so freundlich und still, so [S. 205] brav und so verlassen war. Als sie einst, ein kleines Mädchen, das erste Mal in die Kirche mitgenommen wurde, war am Altar neben dem Priester ein schöner blonder Knabe gestanden, und so oft sie an Engel dachte, von Engeln hörte, kam ihr dieser Knabe zu Sinn. Allmählich, ganz allmählich wuchs dieser Engel heran zu einem Menschen ...

Paula öffnete das Fenster, da hörte der Bursche unten auf, zu geigen.

»Giedel,« sagte sie mit vor Innigkeit zitternder Stimme, »Giedel, geh' jetzt heim. Die Nacht ist kühl.«

Da trat er ein paar Schritte gegen das Fenster und flüsterte herauf: »Paula, ich hab' dich lieb!«

»Nimm ihn hopp!« rief plötzlich eine Männerstimme. Da sprangen aus dem Schatten zwei Gesellen mit Waffen und glänzendem Riemzeug herbei und rissen den Burschen nach rückwärts zu Boden. Noch hielt der Giedel trotz des Schrecks die Geige hoch in die Luft, daß ihr nichts geschehe, weiter wehrte er sich nicht, biß die Zähne zusammen und ließ sich fesseln.

Mittlerweile war es im Hammerhause lebendig geworden, die Leute eilten auf die Gasse: was da geschehen wäre, was das bedeute?

»Den Dieb haben wir,« berichtete einer der Gendarmen. »Dem Herrn Major Stramper ist er in die Wohnung gestiegen. Eine Violine gestohlen.«

»Der Weber Giedel!« schrien nun die Schmiede und das Gesinde. »Das ist nicht übel!«

Auch der Schmiedmeister war, flüchtig in seine Bettdecke gehüllt, hervorgekrochen. »Ein Dieb? Ein Eisendieb?«

»Ein Bettelgeiger.«

»Der Strolch!« knurrte der Schmiedmeister, »was hat er denn vor meinem Hause gesucht, bei der Nacht?«

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»Das Töchterl hat er angegeigt!« lachten sie.

»Ein anderes Mal stiehl Butterbrot! Das frißt man ungehört,« höhnte ein Knecht. »Geigen krächzen zu viel, kommst allemal auf.«

»Was kostet der Bettel?« rief jetzt Paula, die sich schneidig in den Handel mischte.

»Jungfer!« antwortete der Gendarm, »es handelt sich nicht um die Geige, es handelt sich um den Diebstahl.«

»Sag' etwas!« forderte das Mädchen den Giedel auf. »Verteidige dich!«

»Das hilft nichts,« antwortete der Bursche ganz ruhig. »Sie glauben es mir nicht. Morgen hätt' ich sie dem Herrn ja wieder zurückgebracht. Sie glauben es mir nicht. Aber macht nichts, jetzt ist mir ganz leicht. Sei nur so gut, Paula, und stell' sie ihm zurück. Und daß ihr nichts geschieht. So leicht ist mir schon lang' nicht mehr gewesen, wie jetzt. Vergiß nur nicht ganz auf mich, Paula, wenn ich gestorben bin.«

Das Mädchen wollte darauf etwas sagen, konnte aber vor Bewegung nicht mehr sprechen, und also führten sie den armen Jungen davon in der stillen Mondnacht, führten ihn hinaus in das Dorf und taten ihn in den Gemeindekotter.

Am nächsten Morgen war ganz Schwandau außer Rand und Band. Das Unglaubliche! Manche meinten, der Giedel sei irrsinnig geworden. Etliche fluchten über die Hexe, die ihm's angetan. Nur wenige gaben sich stiller Schadenfreude hin. Im Gemeindehause kamen um die Mittagsstunde mehrere Männer zusammen, der Dorfrichter, der Pfarrer, der Hammerschmiedmeister und auch der Major Stramper.

»Ist es Ihr Ernst, daß Sie klagbar werden wollen?« fragte der Richter den Major.

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»Bare achtzig Gulden hat sie mich gekostet, die Cremoneser!« antwortete der Major.

»Aber sie ist ja doch wieder in Ihrem Besitze,« sprach nun der Pfarrer, »und gänzlich unversehrt. Den Burschen haben wir alle gern, er ist fleißig, gutmütig, keiner weiß sonst etwas Ungutes von ihm. Auch wir haben Torenstreiche gemacht in der Jugend. Lassen Sie es gut sein, Herr Major!«

»Von mir soll niemand sagen, daß ich sein Unglück gewesen bin,« antwortete der alte Soldat. »So vernarrt zu sein! Na ja, auch wir einmal! — Gerad'halten soll er sich! Es ist gut.«

»Wenn's gut ist,« sprach jetzt der Hammerschmiedmeister, »so möchte ich auch noch ein paar Worte sagen. Mein Mädel ist wie verrückt. Ich habe keine Ahnung gehabt. Wenn es so steht mit den zwei jungen Leuten, und daß sie toll werden, wenn sie einander nicht kriegen — ich sag': in Gottesnamen.«

Denn er hatte sich's überlegt, daß es besser ist, wenn er die erwachsene Tochter an den Mann bringt, ehe er selbst noch einmal zugreift drüben in Tiefwasser. Es bleiben auf solche Weise allerhand Unannehmlichkeiten aus. Das Mädel hat seine mütterliche Sach', damit kann es dem Weber aufhelfen und die Wirtschaft herrichten. Also ist's recht, und der Vater und die Tochter sollen an einem Tage Hochzeit halten.

Als der Giedel aus dem Kotter trat, wartete schon die Paula, fiel ihm lachend und schluchzend um den Hals: »Wir haben uns!«

Am Tage der Hochzeit kam der Major mit der Geige. Die Cremoneser war's.

»Mir steht ein Duplikat in Aussicht,« sagte er einleitend. [S. 208] »Auch dem Zigeuner mit der alten Fiedel bin ich auf der Spur. Diese da — ein sehr seltenes Stück! — sie gehört dem Bräutigam. Er hat damit der Seinigen das Ständchen gebracht, er wird sie noch öfter brauchen können. Ist die Geige verstimmt, so soll er küssen, und ist das Weibchen verstimmt, so soll er geigen. Und jetzt einen kecken Steirischen aufgefiedelt! Gerad'halten, Junge!«


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Der singende Schabelwirt.

Der dicke Schabelwirt in Rusterholz hatte zwei Stimmen, eine im Gemeinderat und die andere auf dem Kirchenchor. Die erstere war so gewichtig, daß sie mit Leichtigkeit ein halb Dutzend Häuslerstimmen in die Luft schnellte; die zweite war so mächtig, daß in der Kirche die Leute sich umwendeten, um diese Stimme nicht bloß zu hören, sondern auch zu sehen. Sie mußte wie ein Strick von Bärenhaar aus dem viereckig aufgespreizten Munde des Schabelwirtes hervorgewirbelt kommen. Die Stimme dieses Chorsängers weckte Skalen in der Menschenbrust; wer sie das erstemal hörte, dem war zum Lachen, wer sie oft hörte, dem war zum Weinen.

Selbst dem Chormeister war zum Weinen. Allein ohne Schabelwirtsgesang in der Kirche gab's keinen Kaffee zum Frühstück. Mehrmals hatte er es versucht und nur solche Messen auf die Pulte gelegt, die ohne Männerstimme gegeben werden konnten. Allsogleich jammerte der Wirt seinen Gästen vor über den Niedergang der Musik und daß der Chormeister Sägespäne im Kopf haben müsse! Ob die menschliche Stimme nicht der Höhepunkt aller Musik wäre — besonders eine schöne kräftige Männerstimme! Wenn dieser Herr töricht werde, so müsse man ihm die Zitzen höher halten! — Und dem Chormeister blieb die Milch aus. Des Wirtes Kuhmädel kam des Morgens nicht mehr mit der Zinnkanne, wie sonst, und da fand der Chormeister endlich doch allemal wieder, daß zur würdigen Kirchenmusik auch eine kräftige Männerstimme gehöre. Der Schabelwirt [S. 210] »mußte« wieder singen, und das Mädel erschien mit der Zinnkanne.

Kamen Fremde nach Rusterholz, so eiferte sie der Wirt an, doch auch die Kirche zu besuchen, womöglich beim Gottesdienst, es wäre sehr feierlich, besonders mit der Musik wären sie gut bestellt. Der Chormeister hingegen, der sonst auch nicht unchristlich dachte, riet den Fremden lieber einen Ausflug auf den Schirmberg, oder auf den Rotkofel an, als den Gottesdienst in Rusterholz. Die einheimischen Kirchenbesucher opferten ihre Ohrenpein für die armen Seelen im Fegefeuer auf und so oblag der Schabelwirt ungestört seinem Gesang. Ein halbberauschter Zecher wagte eines Tages den Zweifel laut werden zu lassen, ob der Wirt wohl auch alle Noten kenne! Der kam an! Prügel bekam er nach Noten! Da hatte er's blau auf weiß! Aber ungarische Schweinetreiber, die eines Tages während der Messe ihre Herde vorbeiführten, machten doch halt vor der Kirche und der eine lugte zum Tore hinein, ob nicht Hilfe nottäte. Er schien sich nicht sicher, ob es Gesang oder Notschrei wäre. — Sollten sich nur beruhigen, die Herren Sauhändler — es ist Gesang!

Auch in dem Jungen steckte es, in Schabelwirts Sohn, dem Damian. Stimme hatte der keine zum Singen, sie gixte. Eine Weile meinte der Chormeister, sie mutiere; wenn das vorüber, würde die Stimme des Burschen alle anderen Sänger der Erde gründlich ausstechen. Nun war der Junge mannbar geworden, allein die Stimme gixte noch immer, der Chormeister hatte Todesangst. Wenn ihm der auch noch auf den Chor kommt!

»Dem Damian seine Stimme muß geschont werden,« sagte er vorbeugend, »wenn sie jetzt einige Jahre lang auf das Sorgfältigste geschont wird, dann können wir einmal etwas Phänomenales erleben!« Einstweilen schlug er dem [S. 211] Burschen vor, geigen zu lernen. Das Geigen aber gefiel dem Alten nicht. »Die Geige ist ein Konkurrent der menschlichen Stimme, aber ein ganz unfähiger! Trompetenblasen, das ist das richtige. Blech, das gibt Musik!«

Indessen — ein großes Dorfwirtshaus hat noch andere Aufgaben, als Singen und Trompetenblasen. Man weiß ja doch nicht, wann er einmal dazukommt, der Blitzstrahl, und das neuerrichtete Thörlwirtshaus da drüben in den Boden zündet! »Der Thörlwirt ist ein hautfalsches Luder! Sein Süßtun mit den Gästen — alles nur ums Geld! das kennt man. An Süßtun bist ihm nicht gewachsen, Damian!« So der Schabelwirt, und dann kamen Lehren und Ratschläge.

»Es ist möglich, mein Sohn, daß ich mich einmal vom Geschäfte zurückziehe, um ganz der Musik zu leben. Da mußt du wissen, wie man es mit den Gästen macht, daß sie sitzen bleiben. Unser Herrgott, mußt bedenken, schickt einem Gastwirt allerhand Kostgänger ins Haus. Wie viel Geld sie dalassen, das ist deine Sache. Daß du die Tanzpfeifen hernimmst, wenn junge Leut' kommen, so gescheit wirst wohl selber sein. Daß du sie wegschmeißt, wenn Viehhändler und Hausierer vom Geschäfte reden wollen, na, das wirst auch noch einsehen. Selber mußt dich ausspielen, mein Lieber! Tut einer bei seinem Glas Trübsal blasen, so mußt dich zu ihm hinsetzen und ihm allerhand vorreden, bis du draufkommst, was ihm ist. Nachher, wenn er mit seinem Anliegen ausrückt, hör' ihm aufmerksam zu, nicke bisweilen mit dem Kopf und schlag' mit der Hand immer einmal vor Überraschung oder Entrüstung, woran es halt ist, auf den Tisch, damit er sieht, daß du Anteil nimmst und er sein Glas nachfüllen läßt. Überhaupt, bei Gästen, die gern schwatzen, die mußt schwatzen lassen und dich aufs Zuhören verlegen — denken kannst dabei, was der will. Merk' [S. 212] dir nur das: hast ein gutes Benehmen, so brauchst keinen guten Wein. Unterhalten sie sich mit dir, ist auch das wohlfeile Gesüff gut. Wird manchmal ein besoffener Patron ungut, so mußt du ihn der andern wegen hinauswerfen, aber ja nicht so, daß er's merkt. Ich hab' zu so einem halt allemal gesagt: Geh, sei gescheit, Michel, laß die dummen Leut' dort sitzen, die verstehen keinen Spaß. Geh' einmal bissel in die frische Luft hinaus. Halt, ich führ' dich, daß du nicht stolperst! — und derweil hab' ich ihn hinausgeschoben. So einer hält dich für seinen besten Freund und kommt dir allemal wieder, wenn er Geld hat. Gibt dir aber auch Bockige. Der Riffel-Toni, das ist noch der harbste! Wenn der anhebt zu schimpfen, so muß man alle Stalltüren zusperren, sonst laufen die Vieher davon. Am besten ist's, man schimpft mit. Wenn man ihm hilft, da wird er ehzeit fertig, wenn man ihn löschen will, da zündet er sich erst rechtschaffen an und schlagt drein. Und so wie du beim Riffel-Toni mitschimpfen mußt, so mußt beim Krautruben-Barthel mitröhren! Weißt eh, daß der Alte allemal zum flennen anhebt, wenn er einen Rausch hat. Lachst ihn aus, so vertreibst ihn. Wär' ein Unsinn! Der Krautruben-Barthel zahlt allemal fleißig die Zech'! So Leut' muß man estimieren! Ist eh ein Kreuz. Wer heut' im Dusel nicht zahlt, zahlt morgen beim Kopfweh noch weniger. Daß man die Tafel mit den Angekreideten an die Wand hängt, wo sie jeder vor der Nase hat, brauch' ich dir wohl nicht zu sagen. Überhaupt wirst du mit der Zeit selber drauf kommen, wie die Leut' behandelt, gefoppt, gerupft sein wollen. — Ich hab' in den ersten Jahren mit dem Singen die Leut' vertrieben. Und das hab' ich dumm gemacht. Wer ein so Mordsochs war und über den Gesang geschimpft hat, den hab' ich hinausgeschmissen, aber anders, als ich es grad' vorher auseinandergesetzt hab'. Den hab' [S. 213] ich das letztemal gesehen gehabt. Den anderen, den mehr Gebildeten, die eine Musikfreud' gehabt und mir zugehört haben, ist immer einmal eine Maß vom Bessern aufgetischt worden, geschenkterweis'. Wie ich aber seh', daß trotzdem einer um den andern bei der Tür hinausschlupft, hab' ich mir gedacht: Die Pölli verstehen nix. Was sollst deine Perlen den Säuen vorschmeißen! und hab' im Wirtshaus das Singen sein lassen. Jawohl, mein Sohn, ein Wirt muß sich aufopfern können für seine Gäst' — wenn er ein Geschäft machen will.« —

Man wird nun wohl überzeugt sein von dem großen Takt des Schabelwirts. In der Kirche, allerdings, wollte er seine Perlen nicht zurückbehalten; er sei sein Talent dem Herrgott schuldig! war sein Bescheid, wenn er manchmal teilnehmend befragt wurde, warum er sich auf dem Chor so abmühe für nichts und wieder nichts, und hätte doch nur Undank dafür. »Undank ist Künstlerlos!« Diesen Spruch hatte er sich aus einem alten Volkskalender herausgeschrieben, zitierte ihn aber nicht oft, weil er überzeugt war, daß seine Stimme wohl von allen Verständigen gewürdigt werde. Nun, und die Unverständigen? Auf die pfeift die Katz, damit sie auch was Musikalisches haben.

Beim Schabelwirt hielt sich zeitweise ein hinkender Mann auf, der hatte ebenfalls was Musikalisches. Nämlich einen redenden und singenden Kasten. Hielt man sich daran zwei Schläuche an die Ohren, so hörten sich die Stimmen berühmter Redner und Sängerinnen und ganze Musikchöre heraus, wie sie einst in großen Städten und anderswo hineingesprochen, gesungen und gepfiffen worden waren. Diesen Kasten verehrte der Wirt als den größten Künstler der Neuzeit, der — wie er liebenswürdig scherzend sagte — deshalb auch in den Grafenstand erhoben worden sei. Denn es [S. 214] war der Phonograf. Für das Horchen zog der Hinkende Geld ein, nur der Wirt zahlte nichts, leistete dafür jedoch dem Eigentümer freie Kost und Verpflegung; bloß das Getränk mußte bezahlt werden. Als der Mann den Schabelwirt einlud, einmal mit seiner phänomenalen Stimme etwas in den Kasten hineinzusingen, gab der Wirt das Lied »In diesen heiligen Hallen« ab. Der Hinkende jedoch tat geheimnisvoll und ließ ihn das gesungene Produkt nicht zurückhören, denn er fürchtete für seinen Kasten ...

Eines Tages kehrten zwei Herren aus Murstadt beim Schabelwirt ein. Er war sehr artig, ließ vom »Besseren« auftragen, in der Absicht, ihnen nachher etwas vorzusingen. Denn das waren offenbar gebildete Leute. Die Fremden hinwiederum luden ihn ein, mitzutrinken, in der Absicht, ihm dann eine Angelegenheit vorzutragen. Und als sie beiderseits lustig waren, meinte einer der Fremden, so ein wackerer Gastgeber, wie der Schabelwirt in Rusterholz, verdiene, daß er ein Geschäft mache. Sie wollten an einem der nächsten Sonntage seinen großen Tanzboden mit Gästen anfüllen. Sie möchten bei ihm nämlich eine Volksversammlung veranstalten und Reden über den Fortschritt und über die Freiheit halten.

»Ah, meine Herren, seid ihr die Aufklärung?« fragte der Wirt, »hab' schon gehört davon. Tut einer eine Red' reden? Schön, brav! Tu' meinen Tanzboden schon hergeben dazu. Nachher zum Schluß können wir auch was singen — daß es recht lustig wird.«

So wurde ein Freidenkertag beschlossen. Waren die Rusterholzer auch nicht gerade fortschrittlich gesinnt, so waren sie doch neugierig. Und waren durstig. Je mehr ihrer zusammenkamen in die warme Stube, je durstiger waren sie allemal. Das sollte sich wieder einmal machen.

[S. 215]

Nun sandte der Schabelwirt seinen Laufburschen aus: »Geh' im ganzen Gai um, von Haus zu Haus, und die Leute sollen nächst' Sonntag zum Schabelwirt und Gemeinderat kommen, nachmittags nach dem Segen wäre dort Freidenkerversammlung!«

Der Knabe lief mit dieser Freudenbotschaft, so schnell er konnte und überall schrie er es gleich zur Tür hinein: »Nächst' Sonntag nach dem Segen ist beim Schabelwirt Freitrinkerversammlung. Alle sollt's kommen!«

»Donnerwetter noch einmal, der dicke Wirt! Will er bei der nächsten Wahl wieder in die Gemeinde?« Die Klügeren rieten: Ansingen wird er uns wieder einmal wollen, und da gibt er halt einen Labetrunk. — Nun, sie wollten dabei sein bei dieser Freitrinkergesellschaft. »Müssen ihn in der Kirche umsonst anhören; dasmal kriegen wir dafür was zu trinken. Nett von ihm, daß er was lohnt.«

Der Pfarrer von Rusterholz jedoch hatte ein feineres Ohr, oder eine bessere Nase. Kam er kurz nachher ganz langsam ins Wirtshaus getreten, ging aber nicht in das Extrastübel, wo der Tisch mit einem rot und weiß quadrierten Tuch bedeckt war, sondern stand in der großen Stube ein wenig so herum, lehnte endlich seinen Stock an den Uhrkasten, den Hut behielt er heute auf und so setzte er sich zum Leutetisch. Als auch diesen der geschäftige Schabelwirt rasch mit einem roten Tuch überziehen wollte, tat der Pfarrer mit der Hand einen Deuter: »Lassen Sie's, lassen Sie's. Es ist auch so gut.«

Aber feierlich war heute der alte Herr und es wollte keine Ansprache recht verfangen. Von dem Achtel Wein, das er sich bestellt, hatte er kaum erst genippt.

»Es wird ein anderes Wetter kommen,« meinte der Wirt.

»Ich muß Sie doch fragen,« sagte nun der Pfarrer, [S. 216] »sollte es wahr sein, daß Sie in Ihrem Hause eine Freidenkerversammlung abhalten wollen?«

»Ah na, ich nicht,« antwortete der Wirt. »Ein paar Herren aus Murstadt sind dagewesen und haben sich angefragt. Wenn sie wollen, hab' ich gesagt. Muß eh froh sein, wenn man wieder einmal was hört. Über das elektrische Licht, oder so was, werden sie sprechen.«

»Das sehe ich wohl nicht gern, lieber Nachbar. Schauen Sie, unsere Leut' sind alle gut christlich. Die verstehen solche Sachen ja gar nicht und wozu sie beunruhigen?«

»Bei unserer Wasserkraft, sagen sie, könnten wir soviel Elektrizität haben, daß die Mühlen und Dreschmaschinen davon gehen könnten und extra noch für Licht genug übrig bliebe.«

Unterbrach der Pfarrer den Wirt: »Gehn's, gehn's! Für die Elektrizität wird man Freidenkerversammlungen machen! Da ist was anderes dahinter. Sie lesen doch von der Übertrittsbewegung. Die Lutheraner kommen, und weil Sie ein alter Liberaler sind, so will man Sie mit der Freidenkerei fangen. Ist übrigens eins wies andere. Tun Sie mir den Gefallen, Nachbar, und sagen Sie ab.«

Der Wirt hatte eine dicke Zigarre angeraucht, es war eine mit der Bauchbinde.

»Will mir's noch überlegen,« sagte er dann.

Das überlegen fiel aber zu ungunsten des Pfarrers aus. — Wesweg soll just in Rusterholz keine Versammlung abgehalten werden? Von überall hört man. Wenn der Wirt einmal ein volles Haus haben will, wen geht's was an? Und eine Unterhaltung. Ist ohnehin so selten Gelegenheit zum Singen. Weil sie von Musik nichts verstehen, diese Bauerngogel. Und wenn sich einmal ein Schüberl gebildete Leut' ansagen — gleich das Geschrei: die Lutherischen! [S. 217] Freidenker, was schadet's denn? Wird eh jeder denken, was er will. Und wer anders denkt als er spricht, ist eh ein Lump! Abhalten tun wir die Freidenkerversammlung!

Und am Vortage derselben schrieb der Pfarrer an den Schabelwirt solchen Brief:


»Euer Wohlgeboren!

Indem Sie sich trotz wohlmeinender Abratung doch für eine Freidenkerversammlung bestimmt gefunden haben und hiemit offenbar gegen die Absichten der Kirche verstoßen, so muß ich zu meinem Bedauern für die Zukunft Ihre musikalische Mitwirkung auf unserem Kirchenchore ablehnen, denn Gott kann unmöglich Gefallen finden an dem Gesange eines Freidenkers, der die christliche Gemeinde in Gefahr bringt.

Mit gebührender Achtung

N. N., Pfarrer.«


So! — — So! — —

Der Schabelwirt war empört. Hat der Mann das Recht, mir den Kirchenchor zu verbieten? — Aber an demselben Tage bedeutete ihm auch der Chormeister, daß er mitsamt allen Musikern leider unter Botmäßigkeit des Pfarramtes stehe. Es tue ihm aufrichtig leid! — Um was es ihm leid tat, hat er weiter nicht dargetan. Aber bitter ist es schon, anstatt des gewohnten Frühstückkaffees sich mit Einbrennsuppe abfinden zu müssen.

Gut. — Auch Kaiser Heinrich ist nach Kanossa gegangen, was liegt dran. Das will der brave Schabelwirt dem Herrgott nicht antun, daß er an Sonntagen seines Gesanges entbehren müsse. Auch die Mehrzahl der Andächtigen wird sich eine ungesungene Messe nicht gefallen lassen wollen. Und dann trägt auch der Gesang zur Herzensbildung bei. Vielleicht mehr, als ein Freidenkertag. Den Freidenkern [S. 218] aus Murstadt wird schleunig und heimlich abgewinkt. Den Leuten braucht man nichts kundzutun, sie sollen nur zusammenkommen. Statt so einer gespreizten Freidenkerrede wird gesungen, da unterhalten sie sich weit besser und ist nach keiner Seite hin Verdruß.

Also am folgenden Sonntag nach dem Segen kamen sie zusammen, die Bauern und Häusler und Handwerker von Rusterholz beim Schabelwirt zum — Freitrinken. Der Tanzboden wurde viel zu eng, die Gaststube und das Extrazimmer waren so gesteckt voll, wie bei einem Viehmarkt. Mehr als vier Bierkrügeln in jeder Hand kann die Kellnerin auf einmal nicht befördern. Der Sohn Damian schoß auch herum, goß aber den größten Teil seiner Bierkrüge über die Achseln der Gäste aus, weil das nicht geht, Getränk auftragen und dabei mit jungen Weibsleuten schäkern. Der Wirt selber machte es sich mit dem Wein leichter, er schleppte Tonplutzer aus dem Keller und ließ daraus ununterbrochen in die Gläser rinnen. So nagelt man sie fest auf ihren Bänken und dann wird gesungen.

Als sie nun aber merkten, daß der Wirt mit dem blauen Sacktuch seine Augengläser putzte — denn ohne Augengläser konnte er nicht singen — da schlichen sich etliche sachte ins Vorhaus und von dort ins Freie. Auch der Steinbrecher Einsel wollte es so machen, den hielt jedoch der Wirt an und fragte, ob er in der Stube nichts vergessen habe? Der Einsel tastete nach dem Haupte — der Kopf war da, der Hut saß auch drauf; den roten Regenschirm hatte er in der Hand. Nein, vergessen hätte er nichts. — Ob er doch wohl das Geldtaschel in den Sack gesteckt habe, als er die Zeche beglich?

Bei dieser Erinnerung machte der Einsel große Augen.

»Zech? Zech' sagst, Wirt? Wer wird denn heut' Zech' [S. 219] zahlen, wenn Freitrinkertag ist!« — Dem Schabelwirt gab's einen Stoß in der Brust. Wenn es ein Mißverständnis wäre? Er hatte sich ohnehin gewundert, daß die Rusterholzer so plötzlich bildungsdurstig geworden und so zahlreich erschienen waren! Wenn's ein verhängnisvoller Irrtum wäre? — Sogleich stieg er auf eine Bank und machte laut, daß heute bei ihm nicht eine Freitrinker -, sondern eine Freidenker versammlung hätte stattfinden sollen, daß aber die Herren aus Murstadt nicht gekommen seien.

Himmel Hagelstern, wurden jetzt die Gesichter unschön! Die einen krebsrot, die anderen käseblaß — in die Länge zogen sich alle.

»Du Wirt!« begehrte ein alter Pechbrenner auf, »wenn du wieder einmal einen Boten schickst, so schau erst, ob er auch reden kann. Alle ehrenwerten Manner, die da sind, werden meine Zeugen sein, daß dein Schickbub Freitrinker versammlung hat gesagt!«

Des stimmten ihm alle bei. Der Wirt zuckte die Achseln. Das sei ihm wohl höchst unlieb. Darum, das undeutliche Reden hätt' er eh auf dem Zug! Da käme gewiß allemal ein Balawatsch heraus. Übrigens werde es ja kein Unglück sein, am Sonntag nach dem Segen einmal ins Wirtshaus zu gehen, besonders, wenn gesungen würde. Er wolle sie für die ausgebliebenen Freidenker entschädigen und ihnen jetzt eins vorsingen.

»Für die Freidenker brauchen wir keine Entschädigung,« sagte der Pechbrennen, »aber zahlen tun wir heut' nix!«

Sie stimmten alle bei, schrecklich stimmten sie bei. Ein Gelächter war entstanden. Allein der Bauer kann »Krowaten zerreißen und lachen dabei«, ein Sprichwort, das dem Wirt nicht unbekannt war.

»Alles, was recht ist,« sagte der Wirt und stellte sich [S. 220] mit Geistesgegenwart auf einen Dreifuß. In der Hand hielt er ein Notenblatt, aber — wie ein Nebenstehender wissen wollte — verkehrt. Wie sein Singen zu hören war, das soll ein anderer sagen, ich kann bloß beschreiben, wie es zu sehen gewesen ist. Mit ausgespreizten Beinen, über deren eines noch die weiße Schürze niederhing, stand er da, den Bauch weit hervorgewölbt, den Oberkörper nach rückwärts gebogen. Das Doppelkinn quoll vorne und der wulstige Nacken hinten über den Rockkragen hinaus. Das rote Gesicht breit gepolstert, den Mund aufgesperrt und ausgeböscht, daß er schier viereckig wurde — so kam es nun hervor aus dem mächtigen Brustkorb und das Blatt wurde von einem zarten Sprühregen befeuchtet.

Nach dem ersten Liede »Im tiefen Keller« — erschollen einige Rufe. Das »Bravo« ist in Rusterholz nicht der Brauch, aber nach Vergeltung riefen sie und frisch Bier und Wein wollten sie haben. Auf der Ofenbank, in den Wolken des Tabakqualms verschleiert, stand ein Mensch und der rief, sie sollten einmal auf ihn hören, er wisse auch was. Das war der Riffel Toni.

»So red', Toni!« sagte der Wirt. Es war zwar der harbe Kampel, doch man kann vorbauen. »Willst noch ein Glas Wein haben?« Denn er dachte, der Mensch wolle ihm vielleicht doch eine Gesundheit ausbringen.

»Wein ist mir allemal recht,« hub der Riffel Toni knurrig an. »Erst will ich dich aber einmal fragen, Schabelwirt, was wir heut' sind, da in der Stuben — Freitrinker oder Freidenker?«

»Freidenker, schon gewiß!« beschied der Wirt.

»Das glaub' ich auch,« rief der Toni. »Und dazu brauchen wir nicht einmal die feinen Herren aus Murstadt. Und derohalben wollen wir reden, was wir uns denken.«

[S. 221]

Dann riß er mit den Fingerspitzen der beiden Hände den wüsten Bart auseinander, daß die freie Rede auch freien Ausweg habe durch den Mund, aus dem ein paar scharfe Oberzähne hervorstanden, wie bei einem Eber.

»Schabelwirt!« begann er, »willst du wissen, wie du singst? Sollst es hören. — Wenn ein kropfeter Hahn in einen alten Kochhäfen hineinkräht, wenn der Altweibersommer-Wind ein rostiges Stadltor auf und zu wirft und dem Elmbauern sein Moidel mit dem Nussensack reixelt, so meinen die Rusterholzer allmiteinand, es singt unser Schabelwirt!«

»Hau!« lachten die Bauern, »hau saxen, das lei schon ah!«

»Du bist ein Lästermaul!« rief der Wirt, doch sein Gelächter, das er dazu ausstieß, ging ihm nicht vom Herzen. Allein, wenn er nicht gute Miene macht, so gehen sie mit der Zeche durch und zum Thörlwirt hinüber.

Der Riffel Toni hielt einen alten Hut hin, als wolle er Geld sammeln. »Zusammenschießen, Leut', daß uns der Maurer und der Schmied-Franzl in der Kirchen die Heiligen festmacht, die wackelig sind worden an der Wand vom Schabelwirt seinem Singen! Und wegen was soll der Krämer-Bastel just mit der Baumwoll ein so gutes Geschäft machen? Stecken wir uns Lärchenzapfen in die Ohrwaschel, die tun's auch und halten besser. Den Engeln über dem Altarl binden wir mit den blauen Fastentüchern die Köpfe ein — nachher soll er halt wieder singen, der Schabelwirt.«

Stürmisches Gelächter und etliche warfen Kreuzer in den Hut, um gegen den bedrohlichen Gesang Vorkehrungen treffen zu können.

»Wie du das nur anstellst, Schabelwirt,« setzte der [S. 222] schreckliche Mensch auf der Ofenbank seine Auslassungen fort, »daß du selber nichts hörst von deinem Singen. Sonst wär' es weiger nicht möglich, daß du so gesund und wohlgenährt könntest ausschaun. Oder nimmst Gegengift ein?«

Der Wirt rief heiser nach dem Hausknecht. Die Versammelten jedoch erinnerten ihn an den Freidenkertag, wo man wohl frei denken und reden werde können. Und riefen weiter durcheinander: »Laß das Singen sein, wir lassen das Frozeln sein und tun dich nächstmal wieder in den Rat, daß du deine Stimm' besser kannst brauchen. — Erkennst es denn nicht selber, daß du ganz schandmäßig singst? Narr, daß du's nicht besser kannst, ist kein Gespött, aber daß du's nicht sein laßt, ist dumm. Wir lachen dich ja all aus, ha, ha, ha, ha, ha!«

Der Wirt hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und schoß von einem Winkel zum andern. — Wenn ich sie jetzt hinausschmeißen lasse, dachte er, so ist die Zeche verloren und sie laufen zum Luderskerl hinüber. Ach, Künstlertum! Künstlertum! In der Stadt sind es die Zeitungsschreiber, hier sind es die Bauernmäuler. — Aber ich werde singen, justament, und sie werden ihr Trinken bezahlen. Das möcht' ich schon sehen, ob man kein Recht mehr hat, in seinem eigenen Haus!

Dieweilen war jener hinkende Mann zur Tür hereingetorkelt, der Besitzer des in den Grafenstand erhobenen »großen Künstlers der Neuzeit«. Heute fand er sich gedeckt und so lud er den wütenden Schabelwirt wohlwollend ein, die Schimpfer schimpfen zu lassen und in das hehre Bereich der Kunst zu flüchten. Er habe im Kasten einen großartigen Sänger.

Der Wirt beruhigte sich gutmütig, ging in die Vorlauben, wo das Zeug stand, steckte die Gummischläuche in [S. 223] die Ohren und horchte, während der Hinkende das Werk spielen ließ.

»Abscheulich!« schrie der Wirt zurückfahrend, »das kräht ja wie ein altes Kamel!«

Drinnen schnarrte und pfauchte und röchelte und gixte das Lied: »In diesen heiligen Hallen, da herrscht die Rache nicht!«

Der Wirt rannte umher nach einer Axt, um den Kasten zu zertrümmern. Der Hinkende jedoch sagte besänftigend: »Herr Vater, der Phonograf kann nichts dafür. Der singt halt heraus, wie hinein gesungen worden ist —«

»Ja Teuxel, welches Ungeheuer hat denn hineingeplärrt?«

Der Hinkende grinste niederträchtig und verneigte sich vor dem Wirt. — —

Dieser befahl seinem Sohn, seiner Kellnerin und seinem Hausknecht, strenge achtzugeben, daß niemand ungebüßt entkomme. Er selber zog sich zurück in seinen tiefsten Keller.

Von solcher Zeit an hatte der Schabelwirt zu Rusterholz keinen Freidenkertag mehr veranstaltet und keinen Sang mehr getan. Seine Wirtschaft gedieh, seine Person gewann an Vertrauen — denn man fühlte sich endlich in seiner Nähe sicher. Und im Gemeinderat wurde seine Stimme geachtet.


[S. 224]

Das reiche Waldschulmeisterlein.

Über den schwarzen Waldbergen lag schon der Goldgrundhimmel des Abends, als im Wiesentale ein Dörfchen dalag vor dem müden Gebirgswanderer. Eine verwitterte Wegtafel hatte gerade noch so viele leserliche Buchstaben, um dem hinkenden Fremden zu sagen, das Dorf heiße »In der Krumpa«.

Auf meine Frage an einen heimwärts treibenden Ziegenhirten, welches in der Krumpa wohl das beste Wirtshaus sei, blickte mich der Junge verblüfft an — Wirtshaus? Ist keins.

»Aber mein Gott! Mindestens ein halbes Dutzend Häuser, und kein Wirtshaus darunter! Und das will ein deutsches Dorf sein?«

Zu essen bekäme man manchmal im Forsthause etwas — das große steinerne Haus, dort bei der Linde.

Ein Forsthaus, um so besser. Das läßt sich romantisch, besonders wenn, so Gott will, auch noch eine Försterstochter dazukommt. Also ins Forsthaus.

In der großen Stube gab es wohl Hirschgeweihe und Tabakrauch, aber keine Försterstochter. Ein kleiner, hagerer, spießiger Alter, die Knie nackt, hingegen das Gesicht verdeckt mit einem wildwuchernden Schnauzbart. — Das war der Förster und Jagdheger. Er brachte in einem Kruge Wein, sagte mir Nachtquartier zu, setzte sich dann mit seinem Dampftiegel zu mir an den Tisch und fragte gleich, ob ich unterwegs nichts gesehen hätte. Ich zählte Berge auf, Felswände, Wasserfälle, hohe Brücken, Wegkreuze und Martertafeln, wie sie im Laufe des Tages dem Wanderer [S. 225] vorgekommen waren. Darüber tat der Alte verwundert und murmelte etwas. Endlich merkte ich doch, was er wissen wollte, nämlich, ob mir Wildspuren, Rehe, Hirsche, Waldhühner und dergleichen aufgestoßen wären.

Meine Antwort: darauf hätte ich gar nicht geachtet, derlei läge mir ferne, und ich verstünde nichts davon. Es mochte wohl etwas geringschätzig gesagt sein. Der Alte blies ein paar starke Rauchwolken von sich, stand auf und ging hinaus. Er verachtete mich.

Nach einer Weile, als es schon finster und in der Stube kein Licht angezündet worden war, fragte ich nach meinem Abendbrot. Da kreischte der Alte aus der Küche her: »Wenn man das Wild nicht will, wird 'leicht auch der Hirschbraten nicht genehm sein!«

Jetzt schlich ich im Dunkeln zu ihm hin und sagte schon ein wenig gereizt: »Mir scheint, da ist jemand beleidigt, weil ich von der Jägerei nichts verstehe. Allerdings, ich halte nicht viel darauf. Ein guter Bekannter von mir sitzt im Kotter, weil er einen Hirschen schoß, der ihm den Kohl gefressen hat.«

Der Forstjäger reckte sein Köpflein vor, der Schnauzer borstete sich auf: »Han mir's denkt. Von der Gattung ist er einer! Oder gar — oder gar —!« Mit einem Streichholz fuhr er sich über den Hinterteil der Lederhose, leuchtete mir ins Gesicht: — »Groß werd' ich mich nicht irren. Der Teufel hol's, er ist es. Der Jagerfresser, ah, da schaut's her, der Jagerfresser! Na, Korrschamerdiener! Und will im Jagerhaus essen und trinken und schlafen. Aus ist's!«

Ein argloser Mensch würde diese Rufe für das gewohnheitsmäßige Poltern alter Leute genommen haben, mein böses Gewissen erkannte es sofort als das, was es war — als einen wohlgezimmerten Abschied. Der Mann hatte den [S. 226] Verfasser »Jakob des Letzten« erkannt. Eines Buches, das jeder Jäger naturgemäß tödlich hassen muß.

Nun stand ich in dunkler Nacht auf der Gasse und sann, was zu machen war. »Ins Schulhaus gehe!« flüsterte mir der Schutzengel zu. Denn die zwei beleuchteten Fenster dort waren just wie zwei Augen, die mir winkten. Der Lehrer, ein noch jugendlicher Mann mit schwarzem Vollbart, war nicht abgeneigt, einen obdachlosen Wanderer aufzunehmen. Er hieß mich ins Zimmer und zum Tische treten, wo von einem munteren Frauchen just Rauchfleisch mit Sauerkraut aufgetragen wurde. Er wollte mich dazu einladen, da blieb ihm das Wort im Munde stecken.

»Ich glaube, den Herrn sogar zu kennen,« sagte er, mir starr ins Gesicht blickend. »Es möchte mich aber doch wundernehmen, daß der Herr Dichter bei einem linkischen Dorfschulmeister zuspricht, oder wohl gar bei einem athletischen Lehrer, der seine ganze geistige Kraft in den Armen hat!«

Jessas! denke ich, der spielt an auf Bemerkungen in meinen Büchern. Im »Ewigen Licht« ist der athletische Lehrer mit den geistreichen Fäusten, im »Erdsegen« geht ein linkischer Dorfschulmeister umher. Ich wußte schon, daß einige Lehrer an den besagten Bemerkungen mehr herausfanden, als ich hineingelegt hatte, nämlich eine Beleidigung ihres Standes; es war mir daher klar, was ich hier zu tun hatte, nämlich Hut und Stock wieder in die Hand zu nehmen und allseitig eine ruhsame Nacht zu wünschen. Mit tragischem Ernste begleitete der Schwarzbart mich zur Tür, die er sofort auch dienstbereit öffnete.

Wieder im Freien, hatte ich Muße, die Sternbilder des Himmels zu betrachten; es mangelte mir für diese Erhabenheit aber einigermaßen die Stimmung. Eine Magd, die [S. 227] vom Brunnen Wasser geholt hatte, trat ich höflich an, wo man doch in diesem Orte ein Obdach haben könne über die Nacht? Sie blieb stehen und beratschlagte mit mir. Das Försterhaus war auch ihr eingefallen, ich bekannte, dem Forstjäger zu wenig wildes Tier gewesen zu sein. So verfiel sie auf ihren Dienstgeber, das sei ein herzensguter Herr und hätte in der Apotheke ein feines Fremdenbett.

Nun klopfte ich beim Arzt an. Eine alte runzelige Frau kam hervor, mit langem, schmalem Schleppkleid. Die erklärte barsch, jetzt wäre keine Ordinationsstunde.

»Ich bin auch kein Kranker!« meine Versicherung.

»Ah so, dann ist's was anderes. — Jonathan! Ein Herr will bei dir die Aufwartung machen.«

Der Herr Doktor Jonathan kam nun selbst an die Tür, forschend, ob endlich vielleicht einmal ein richtiger Tarockspieler da wäre für die langen Herbstabende. Seine Augengläser rückte er von der Stirn herab und besichtigte mich. Und murmelte was und besichtigte mich eingehender und kraute seinen Weißkopf.

»Nun, Herr Doktor!« rief ich lustig, »wo fehlt's bei mir?«

Er ging drauf ein, tippte mit dem Finger an meine Stirn und sagte bedächtig: »Bei Ihnen fehlt's da

»Was tausend! Mir fehlt's ja nur an einem Nachtquartier!«

Er blieb mit dem Kerzenlicht in der Hand an der Tür stehen und fuhr fort, mit behaglicher Langsamkeit zu sprechen: »Ich habe von Wien aus das Vergnügen, den Herrn Volksdichter zu kennen. Von einer steirischen Vorlesung her; und aus den Büchern, wo er sich so infam über uns Ärzte lustig macht. Als würden wir nur gerufen, um den Leuten leichter sterben zu helfen, oder so was. Und hätten für [S. 228] alle Krankheiten nur ein Mittel, das Hasenöl, das aber nichts anderes, als ein verdorbenes Schweinefett wäre. So ein alter Dorfbader hat ein gutes Gedächtnis, nicht wahr?«

Mittlerweile hatte er sich in den Zorn geredet und nun kam's: »Jawohl, solche Torheiten oder Bosheiten merkt man sich. Wo im Volke ohnehin schon bald alles Vertrauen beim Teufel ist! Ja, mein lieber Herr, wenn man sich so in Dinge mischt, die man nicht versteht, da kann dies nur mit Dummheit entschuldigt werden. Beim Esel im Stall, wenn Sie schlafen wollen!«

Und klapps, schlug die Tür ins Schloß.

Noch kam die alte Frau, entschuldigte ihren Mann, der halt über seinen Beruf keinen Spott kommen lasse und schon oft gesagt habe: Wenn er ihn einmal derwischen täte, denselbigen — gut ginge es ihm nicht! Übrigens, er sei so arg nervös, aber fressen täte er keinen, und sie wolle mich heimlich auf den Oberboden führen, auf einen Strohschaub aus Barmherzigkeit. Verderben dürfe der Mensch ja doch auch seinen Feind nicht lassen.

Offen gesagt, diese Alte mit ihrem barmherzigen Strohschaub war mir noch zuwiderer wie der wütende Doktor, dessen Beruf halt schon so ernst ist, daß er keinen Spaß verträgt. Ich ging wieder einmal hinaus unter Gottes freien Himmel und hatte Zeit, mich über die große Popularität zu freuen. Nur hatte ich sie mir teilweise anders gedacht, diese Popularität.

Da stand er, der Missetäter, der ausgestoßene. Da hatte er immer gemeint, die guten armen Menschen erheitern und erheben zu wollen, während er sie der Reihe nach tödlich beleidigte. Mitten im »treuen Alpenvolke« stand er nun einsam in eitler Nacht, fremd und fröstelnd, erschöpft von weiter Wanderschaft. Hinter mir bellte ein [S. 229] Hund, dem gesellten sich mehrere, groß und klein — die Hundeschaft des ganzen Dorfes — und brachten mir ein vielstimmiges Ständchen.

Es schnitt die Bergluft. Der Tau des Grases gedachte kalter Reif zu werden über Nacht.

Dort auf dem Hügel stand ein fahles Gemäuer. Es war die Kirche, deren Turmuhr die neunte Stunde schlug. Wie lang ist eine solche Septembernacht! — Aber neben der Kirche pflegt ein Pfarrhof zu stehen, und im Pfarrhofe ein christlicher Mann zu wohnen. Man hatte mir so oft geschmeichelt, in meinen Schriften stecke doch ein bißchen Religion. Nun, dann dürfte vielleicht ein Versuch im Pfarrhof nicht fehlgehen.

Dort an der Tür mußte ich aber lange ziehen am Glockendraht.

Endlich klirrte hoch an der Wand ein Fenster auf, und eine kräftige Männerstimme fragte herab, was es gebe?

»Ein obdachloser Reisender! er bäte um Unterstand über Nacht, sei es im Stalle, sei es in der Scheune, wo immer!«

»Es gibt wohl doch noch andere Häuser in der Krumpa.«

»Ich habe keine Geneigtheit gefunden!«

»Dann wird man schon der Richtige sein. Wer sind Sie denn?«

»Feuergefährliches, oder so was, habe ich nicht bei mir!«

»Wer Sie sind, will ich wissen?«

Auf diese unentwegte Frage nannte ich meinen Namen.

Da beugte sich der Pfarrer aus dem Fenster weiter hervor, fragte noch einmal und sagte dann: »Ich verstehe immer: Rosegger!«

»Es ist richtig, Herr Pfarrer!«

»Wohl doch nicht der Poet?«

[S. 230]

»Er ist es, Herr Pfarrer. Aber zur Zeit ohne Poesie, nur stark schläfrig!«

Der Herr oben begann zu lachen.

»Sie verzeihen schon, Herr Rosegger,« entschuldigte er sich, »ich lachte über den Zahltag. Daß Sie heute um Unterkunft bitten müssen an der Pforte jenes Standes, den Sie so oft dem Hohne der Menge preisgegeben haben. Erinnern Sie sich an den Stiefelknecht? An des Pfarrers Fiederl? Schaun's wie es geht. Wenn man die Kirche einreißt, dann sitzt man schutzlos auf der Welt. Übrigens sind wir Priester besser, als der Ruf, den Sie mit verbreiten halfen. Die Haushälterin wird bald aufschließen.«

Die Haushälterin hatte mich nicht mehr an der Tür gefunden. Doch vor dem Erfrieren war keine Gefahr mehr, erstens, weil mir dieser Leute Gastfreundschaft heiß gemacht hatte in der Brust, zweitens, weil ich einen Heustadl fand. Der stand auf der Wiese neben dem rauschenden Bach. Ich vergrub mich ins duftende Heu. Nur schade, dachte ich mir zu, daß nicht eine Fabrik, oder ein Grafenschloß dasteht, man würde dich auch an solchen Toren abweisen. Hernach die Gelehrten, die Studenten und derlei Kasten mehr. Oder die Parteien: die Antisemiten, die Juden! Allen hast du gelegentlich eine Schelle angehängt. Und wenn du bei dir selber anklopfest, keinen bayrischen Pfennig wette ich, du schreist dir zu: Kerl, auch über mich hast du dich schon lustig gemacht, marsch! — In Gottesnamen, bist halt ein Bösewicht. — Damit legte ich mich aufs andere Ohr.

Aber gerade, als es zum Einschlafen kommen wollte, war draußen eine rufende Stimme zu vernehmen. Sie kam näher, sie entfernte sich, sie kam wieder näher, und endlich war es deutlich, man rief meinen Namen.

Ich hob den Kopf: »Was Teuxel ist denn los?«

[S. 231]

»Hau!« rief es draußen, »im Heuschupfen ist er!« Dann kam der Rufer auch schon an die Wand und sagte: »Wenn er drinnen ist, so muß er heraus. Das wollen wir Schullehrer uns nicht ankreiden lassen, daß unser Waldschulmeister-Dichter in dem Heuschupfen schlafen soll! Ich bin ja auch so ein Waldschulmeister, aber nicht der in der Krumpa. Wir gehen zusammen jetzt nach Sankt Marten hinauf, ein Stündel. Dort gibt's ein gutes Bett!«

Als er das gesagt hatte, war meine wohlgesetzte Antwort: »Ich danke Euch, Waldschulmeister von Sankt Marten. Aber aufstehen tu' ich jetzt nicht. Wie ich just lieg', so gut liegt der Kaiser von China nicht auf seinen chinesischen Seidenkissen. Sollte ich aber morgen an Sankt Marten vorüberkommen, dann melde ich mich bei Euch, und itzo seid so gut und laßt mich in Frieden.« —

Am nächsten Morgen stieg ein göttlicher Sonntag auf. Ich ging aus meinem Heugrabe wie neugeboren hervor, und das Dörfchen Krumpa lag im feuchten Walddufte so lieblich da, als wären alle Rächer meiner literarischen Missetaten ausgezogen über Nacht. Die Wiese hatte einen silberweißen Reif, die Ahorne waren schon rot, und die Lärchen gelb, und hoch auf den Berggipfeln lag goldgrünlicher Sonnenschein, so daß es im blumigen Mai nicht farbenleuchtender sein kann, als an diesem stillen Herbstmorgen. Und vor meinem Heustadl stand ein ältliches Herrchen. Es stand durchaus nicht ruhig, es zappelte mit den Füßen, es schlenkerte die Arme hin und her, einmal über die Brust, einmal über den Rücken, der einen weidlichen Höcker hatte. Nach dem Gewandschnitte hätte es wohl ein notiges Bäuerlein sein mögen, allein der Hut, der rabenschwarze hochgebaute Filzhut mit der funkelnden Bandschnalle zeigte einen vornehmen Herrn an. Solche Hüte [S. 232] trugen die Gerichtsverweser und Doktoris vor achtzig Jahren. Und diesen letzten, nur wenig entarteten seines Geschlechtes, trägt mein Waldschulmeisterlein von Sankt Marten.

Das war in aller Herrgottsfrühe herabgekommen, hatte vor der Heuscheune auf meine Urständ gewartet und sich dabei fast Zehen und Finger verfroren. An der weichen, breiten Stimme erkannte ich den nächtlichen Schreier.

Und er im ersten Schreck: »Jesses, der ist es ja nicht!«

»Wer soll es denn sein?« fragte ich und streifte mir die Halme von den Kleidern.

Er zog ein Bildchen aus der kleinen Ledertasche, betrachtete es, verglich es: »Der da — auf dem Bildel — hat den Bart unter dem Kinn, und der vor mir steht, hat ihn unter der Nase!«

»Wenn der Mensch alt wird, so muß er sich jung machen,« meinte ich. »Ihr habt Euch ja noch jünger gemacht und den Bart ganz weggeschabt, daß Ihr wohl kaum mehr davon habet, als Eure ABC-Schützen!«

»Wahr ist's!« rief er lustig aus. »Und wenn Ihr's seid, so grüß Euch Gott!«

Dann gingen wir miteinander. Ich wollte an demselben Tage ja über das Martenjoch, da hatten wir durch den Sulzergraben den gleichen Weg. Und er erzählte mir den Schick. War nämlich dieser Lehrer von Sankt Marten gestern spät abends bei seinem jüngern Amtsbruder in der Krumpa gewesen und hatte von ihm gehört, daß eben vorhin der »Lehrerspöttler« von ihm abgeschafft worden wäre. Zuerst hatte der von Sankt Marten nicht gewußt, wer da gemeint sei, dann näher unterrichtet, habe er gesagt: »Kollege, hast du die Schriften des Waldschulmeisters gelesen?«

Nein, für derlei habe er keine Zeit.

[S. 233]

»Du bist halt erst aus der Stadt gekommen und noch zu wenig lang im Walde, um für derlei Sinn zu haben. Ich gehe ihn jetzt suchen, falls er noch keine Herberge hätte.«

So war der Alte an die Heuscheune gekommen, um das »Versehen seines Amtsbruders« gutzumachen. Und auf solche Weise habe ich dieses rührende Schulmeisterlein kennen gelernt.

Durch den langen Graben holte uns ein laufendes Weib ein, eine Holzknechtin. Sie war schon in der Krumpa gewesen beim Arzt.

»Ist das Kindel noch nicht besser?« fragte sie mein Waldschulmeister.

»Weiger nein, es wird alleweil schlechter!« gab sie weinerlich zur Antwort, »der Bader sagt gar, die Dipfterie!«

»Die Dipfterie sagt er! so schlimm wird's wohl nicht sein. Eine starke Halsentzündung, wie sie vor kurzem die Kohlnatzel-Kinder gehabt haben. Für arme Leute ist die auch gut genug, braucht's keine herrische Diphtheritis zu sein. Mein Weib wird dir Rotholleröl schicken. Den Hals recht schmieren damit und ein paar Tropfen eingeben!«

»Kommt mir eh ganz herab, das Bübel,« klagte das Weib, »nichts als Haut und Knochen.«

»Wenn du Geld brauchst, so komm halt noch einmal zu mir.«

»Bitt' hundertmal!« sagte sie und eilte voran, der Waldwildnis und ihrem kranken Kinde zu.

»Es geht Euch wohl gut auf Eurem Posten?« fragte ich nun den Alten, der, so klein er war, mit weiten Schritten gar würdig neben meiner einherstapfte.

»Besser schon, wie dem in der Krumpa,« antwortete er. »Aber Gehalt hat mein Kollege da draußen einen höheren, [S. 234] und Naturalien hat er auch mehr. Die Sache ist die, er ist ganz und gar nicht zufrieden in der Krumpa, er schaut alleweil aufwärts, anstatt abwärts, und das ist gefehlt!«

»Hohe Ideale muß sich freilich auch ein Schullehrer stellen.«

»So meine ich's nicht. Der Lehrer in der Krumpa schaut alleweil hinauf zum Oberlehrer in Schwarzbach, einen so großen Gehalt möchte er haben. Der zu Schwarzbach denkt sich wieder: Ei, was hat's der Schuldirektor in Elmstadt gut! Und der Schuldirektor in Elmstadt kann nicht begreifen, weshalb er nicht schon Landesschulinspektor ist. Na, na, wenn der Mensch alleweil ins Licht blickt, wird er blind. Da muß man die Holzlieserl anschauen, die uns vorhin wegfür gegangen ist, eine Stube voll kränklicher Kinder und einen schnapssaufenden Mann dazu. Oder unsere Kohlenbrennerleute, die sich zeitweise rein von der guten Luft und dem bißchen Wildobst nähren müssen. Oder immer ein Bäuerlein, das mehr Schulden als Schuhnägel hat, weil ihm das Weib heimlich Mehl und Butter austrägt und an ihre Lotter vertut. Freilich wohl, mein lieber Herr, mit solchen Leuten verglichen, ist unsereiner ein reicher Mann. So war das vom Auf- und Abwärtsschauen gemeint.«

Am Ende der Schlucht war eine Holzbrücke, diesseits derselben standen ein paar Hütten, und jenseits an der Felswand war die Kapelle mit einem hölzernen Dachreitertürmchen.

»So,« sagte mein Begleiter, »das wäre der Dom zu Sankt Marten. Und hier beim Bach die Universität.«

Ein hölzernes Schulhaus mit geräumigem Unterrichtszimmer und der niedlichen Lehrerswohnung.

»Ich habe ihn schon!« lachte mein Lehrer einer kleinen, weißlockigen Frau zu, die im Sonntagsstaat, aber mit einer [S. 235] breiten Küchenschürze um die Mitte, vor mir den Knicks machte:

»Wenn man ein einfaches Nachtmahl gehabt hat und in der frischen Gottesfrühe schon eine Stunde marschiert ist, da wird ein Tröpfel Kaffee wohl schmecken. Ich bitt' schön!«

Im sonnigen Stübchen, auf weißgedecktem Tische gab es dampfenden Kaffee, Weißbrot, Butter, Honig und einen Strauß frischer Blumen, wie sie im Herbst auf den Feldern wachsen. Alles in feinen Porzellantassen und daneben in einer Stahlschale zwei Zigarren. An der blankgescheuerten Wand Hausgeräte, Heiligenbilder und eine auffallend große Photographie in kunstvoll durchbrochener Metallrahme. Das Bild stimmte so eigentlich gar nicht zur Umgebung, und es war das Porträt des berühmten Chirurgen Professor Doktor Rottacher in Wien.

»Seid Ihr mit diesem Herrn bekannt?«

»Na, ich glaub's, daß wir mit ihm bekannt sind!« sagte das weißlockige Frauchen und legte die Hände über der Brust zusammen.

Dann kamen schon die Sonntagsleute, die so eine Weile vor den Hütten umherstanden.

Es war heimlich im Schulhause, und ich blieb den ganzen Tag dort. Vormittags versammelten sich im Kirchlein an dreißig Menschen, der Lehrer setzte sich in eine Bank und las laut und langsam das Sonntagsevangelium und ein Kapitel aus Thomas von Kempis' »Nachfolge Christi«. Seit einigen Jahren haben die zu Sankt Marten keinen Pfarrer, und so tut's halt der Schulmeister. Dann setzte er sich ans Harmonium und spielte ein Kirchenlied, bei dem einige Weiber mitsangen. Hernach sagten sie gemeinsam »Vergelt's Gott«, und der Gottesdienst war aus.

Jetzt ging's aber beim Schulhause an. Ein Häuslersweib [S. 236] kam und bat die Frau Lehrerin, daß sie im Obstgarten das Gras abmähen dürfe für die Ziege, der Jäger wolle das Tier auf freier Weide nicht mehr dulden. Die Lehrerin gestattete es. Das Gras wird auch so zertreten, sagte sie dann zu ihrem Mann. Ein anderes armes Weib fragte demütig an, ob sie die von den Bäumen gefallenen Äpfel zusammenklauben dürfe, um sie zu dörren für die Kinder. Die Lehrerin gestattete es und begründete ihrem Manne: die Äpfel wären ohnehin wurmstichig. An der Hausecke lehnte ein besonders ärmlich gekleideter Mann und hielt sich den Hut vors Gesicht, als schäme er sich. Der Lehrer ging zu ihm: »Deine Kinder haben wohl schon wieder einmal Magenweh, Sebastian!«

»Freilich, freilich, Herr Lehrer, schon seit gestern mittags!«

»Hast du die Flasche bei dir?«

»Wohl, wohl, Herr Lehrer!«

»Geh' nur in die Kammer zur Frau!«

Und die Frau Lehrerin füllte ihm die Flasche mit Milch und gab noch ein Stück Brot dazu.

Später kam ein hinkendes Weiblein dahergehumpelt und fragte an, ob die Frau Schulmeisterin denn gar nichts für sie zu stricken hätte.

Die Frau bestellte zwei Paar Socken, die Alte blieb aber noch stehen und sie hätte halt frei keinen Kreuzer Geld.

So ging das fort, dem Lehrerpaare schien alles ganz in Ordnung zu sein. Sie gaben und gestatteten, und wo das nicht ging, vertrösteten sie leutselig auf später.

»Zu wem sollen diese armen Leute sonst gehen!« meinte der Lehrer: »sie haben halt auch ihre Anliegen, und den Weg zum Schulhaus finden sie seit kindesher.«

Beim Mittagsmahl saßen wir unser drei beisammen, [S. 237] ich zwischen den alten Leuten, wie eine Art von Sohn. Da gab es gekochte Milchsahne, blaugesottene Forellen, Eiersalat und Zwetschkenklöße. Die Fürsten können solches nicht besser haben und es koste, wie die Frau versichert, fast gar nichts. »Die Sahne ist von unserer Kuh, die Eier sind von unseren Hühnern, die Zwetschken wachsen auf unseren Bäumen, und die Forellen angelt mein Mann von seinem Fenster aus dem Bache.«

Der Förster, der auch das Fischwasser hütet, habe deswegen zwar einmal Umstände gemacht, doch der Bezirksrichter habe entschieden, das wäre schon seit altersher so, daß mit der Hand gefangene und aus der eigenen Wohnung geangelte Fische Freigut sind.

Sie hätten es seit jeher so gehalten, wären ja schon zweiundvierzig Jahre in diesem Bergwinkel. Die ersten Jahre hätte es wohl geplagt. Acht Tage nach dem Herzug habe die junge Frau bei den Waldhäuslerinnen um Brot und Kartoffeln betteln müssen. Dazu eine verfallene Hütte als Schulhaus, das wäre dann aber vom Waldherrn neu gebaut worden. Später sei das Gehalt erhöht worden und die Frau hätte eine Erbschaft gemacht, so daß sie jährlich schier über sechshundert Gulden aufzubrauchen hätten. »Wir sind aber auch schier die einzigen Steuerzahler in Sankt Marten!« —

Das wurde mir mit Stolz erzählt, obschon der Alte gleich beisetzte: »Man soll sich freilich nicht prahlen, sondern Gott danken. Und das tut man alleweil am besten zu armen Leuten. Fünfhundert Gulden Gehalt, hundertzehn Gulden Renten! Zu Tod müßt' sich einer schämen mit so einem Vermögen, wenn man damit nicht ein bissel Vorsehung spielen wollte.«

»Und erst, seit uns der Julius so viel Sachen schickt!« [S. 238] rief die Frau drein, »aber der meinige will ja nichts nehmen!«

»Der Julius, wer ist denn das?«

»Das ist der da!« sagte der Lehrer und tippte mit dem Finger auf die Photographie an der Wand.

»Professor Rottacher! Ein guter Freund von Euch?«

»Aber ich bitt' Euch, das ist ja unser Julius!« rief die Lehrersfrau, »unser Herr Sohn!«

»Unser Bub'!« verbesserte der Alte.

Da habe ich erst einmal aufgehorcht.

»Ist halt ein bisserl auf Abwege geraten, unser Sohn,« fuhr der Lehrer gesprächig fort — wir saßen ja bei einem Kruge Apfelwein — »hätt' auch Lehrer werden sollen nach meinem Wunsch, weil wir derer ohnehin nicht allzuviel taugliche haben. Aber der gute Julius war halt auch kein tauglicher, und so hat er ein Handwerk lernen müssen.«

»Ihr meint doch den Chirurgen Julius Rottacher!«

»Chirurgie ist mehr Handwerk als Wissenschaft, lieber Herr Volksdichter. Hat auch einen goldenen Boden. Aber tauschen täten wir nicht mit ihm, gelt Mutter! Sind einmal bei ihm in Wien gewesen —«

»Das prächtig schöne Haus, das er hat!« rief die Frau dazwischen, »wie ein Graf. Und Diener mit Silberknöpfen!«

»Ein Holzarbeiter da drinn im hinteren Martenwald, hat's besser,« darauf wieder der Alte, »der hat wenigstens bei der Nacht eine Ruh'. Beim Doktor, wenn's nicht klingelt, so beißt die Sorge, wie es mit den Kranken steht, ob die Operation geglückt ist. Heut' ist er noch im Ungewissen, morgen nicht mehr. Der Operierte? — Nein, da danke ich für den silberknöpfigen Lakaien und alles miteinander. Nie, Julius, hab' ich ihm gesagt, nie wieder komme ich zu dir, müßte krank werden vor lauter Angst [S. 239] um deine Patienten. Dem Schullehrer schlägt bei seinen Kindern ja auch nicht alles zum Guten an, aber da gibt's nicht leicht den Vorwurf, daß man die Krankheit mißkannt, daß man sich im Mittel vergriffen hat, man behandelt die Kinder mit Güte und heilsamer Strenge, alles andere muß man Gott überlassen.«

»Und so wird's der Julius auch mit seinen Kranken machen,« sagte die Frau, »Fritz, du willst mir halt immer die Freud' verderben an ihm.«

»Ärgern tu' ich mich!« rief der Alte hitzig, »weil er mir erbarmt, der arme Mensch, mitten in seinen Ehren und Reichtümern. Keine Ruhe und keine Sammlung und kein Besinnen auf sich selber. Nein, das ist kein Leben. Und was hat er aufzuweisen? Recht selten eine Arbeit, wo nichts zurückbleibt, so gut er's auch meint. So ein Metzgern da! Seit zehn Jahren, denkt Euch, war er einmal bei uns in Sankt Marten, ein einzigesmal auf drei Tage. Glaubt Ihr, er hätt' was Lustiges mitgemacht oder wäre im Wald umhergegangen? Nichts, als immer studiert, spintisiert, an Hasen und Hühnern herumprobiert, daß es oft schon gar nicht mehr schön war, hernach Briefe geschrieben und Zeitung gelesen, bis er — hast es nicht gesehen — wieder fort ist.«

»Dafür verdient er sich zehnmal leichter den Himmel, als unsereins im sorglosen Leben!« das sagte die Frau, schüttelte den weißbelockten Kopf und forschte nach dem Eindruck, den ihr Ausspruch bei uns gemacht.

Dieser Eindruck war nicht bedeutend.

»Nicht einmal zum Heiraten hat er Zeit!« rief der alte Lehrer. »Und da möchte ich wissen, wie man ohne Hauskreuz soll in den Himmel kommen können!«

Sofort hatte er für die heitere Bosheit seinen kleinen [S. 240] Klaps auf der Wange, der Ernst des Gespräches war abgebrochen.

Auf Einladung der Leutchen bin ich über die nächste Nacht im Schulhause geblieben. In dem wohlverschalten Dachgelaß wurde mir ein Bett angewiesen; grobe, weißgebleichte Bauernleinwand und mitten über das mit Haferrispenspreu gefüllte Kopfkissen ein gestickter hellroter Streifen. Der Lehrer war noch eine Weile an meinem Bette gesessen, um zu plaudern. Endlich war's ihm darum zu sagen, ich möchte in diesem Bette besser schlafen als sein Julius geschlafen habe, der die ganze Nacht Patienten klingeln hörte. »Und ich,« schloß mein Gastgeber schalkhaft, »muß jetzt noch ins Schulzimmer, um meine Schriften des Waldschulmeisters zu schreiben!«

Am nächsten Morgen vor dem Antritte meiner Wanderung habe ich Einsicht genommen in diese Schriften des Waldschulmeisters: Auf der schwarzen Schultafel mit Kreide geschrieben standen Buchstaben des ABC für die Anfänger. — Und damit leistete er sicherlich mehr, als unsereiner mit den Fabeleien.


[S. 241]

Der Orgler zu Sankt Thomas.

An einem taufrischen Sommer-Sonntagsmorgen kamen drei Touristen aus Wien in das Alpendorf, genannt Sankt Thomas in der Klausen. Auf dem Hügel stand das Häuschen Gottes, dessen zwei Glocken durch das enge Tal klangen, um die auf allen Höckern und in allen Falten des Gebirges zerstreute Gemeinde zusammenzurufen. Die Touristen stiegen zum Kirchl hinan. Aus Frömmigkeit geschah es nicht. Sie wollten nur einmal sehen, wie es in so einer Dorfkirche zugeht. Da gab es nun was Besonderes zu hören auf dem Chore. Dort saß ein Knabe und spielte die Orgel in einer verwunderlichen Weise. Er spielte ein Kirchenlied so rührend, schlicht und fromm — man meinte gar, die Orgelpfeifen wären lebendig und lobten aus eigenem Herzen den Herrn. Unsere Städter hatten wohl schon die größte Kunstfertigkeit auf ähnlichen Instrumenten zu bewundern Gelegenheit gehabt, aber eine solche Innigkeit, ja Heiligkeit im Orgelspiel war ihnen was Neues. Zudem war der spielende Bauernknabe schön wie ein Engel. Sein Haupt mit den lichten Locken war etwas vorgebeugt, auf den Wangen blühte die Freude über die Klänge, seine schattigen Augenlider waren geschlossen. Seine Lippen bewegten sich leicht, als begleite er die Orgel mit leisem Gesang. Als sich das Spiel in höhere Töne hob, hob auch der Spielende sein Haupt, schlug die Augenlider auf und — in diesen Augen leuchteten keine Sterne.

Der Knabe war blind.

[S. 242]

Hier will ich die kleine Geschichte des blinden Musikanten erzählen, wie sie den Touristen erzählt worden ist.

Mit dem Rocken-Hans hebt sie an. Der war vor fünfzehn Jahren noch Wildschütze gewesen — teils aus Hunger — weil Notwehr erlaubt ist — und teils aus Neigung — weil das Wildern verboten ist. — Arme Wildschützen sollte man nicht zu Verbrechern machen — sondern zu Jägern. Das sind die findigsten, wachsamsten Kerle, die verläßlichsten Hüter und, gilt es, die schärfsten Schützen. Auch den Rocken-Hans hatte man zum Jäger gemacht, aber aus der Klausen in eine andere Gegend versetzt, wo er an die zehn Jahre verblieb, sich ein Weib beilegte und fast zufrieden war. Vollauf zufrieden darf selbst ein Jäger im grünen Walde nicht sein. So scharfe Augen der Vater hatte, das Kind war blind. So schön das Mutterantlitz ist, wenn es zum Kinde lächelt, der Knabe sah es nicht. Nur ihre Wiegenlieder hörte er. Dann, als die Mutter stumm geworden war, und fortgetragen, saß der Knabe auf dem Bankl vor dem Jägerhause und hörte den Finken und den Drosseln zu und allem Gevögel, das da sang und zirpte im Waldland. Am Abende waren die Grillen und Frösche zu hören und das Rieseln des Baches und das Säuseln der Wipfel im Abendhauch. Im Winter aber — wenn alles still war — schlafend die Vöglein, hartgefroren der Bach, verhüllt die Bäume — saß der Jäger neben dem kleinen Sohne und machte ihm vor, wie die Gemse pfeift, das Reh bellt, der Auerhahn balzt und der Rabe kräht. Das war alle Musik in weitem Bergrund', und der blinde Knabe dürstete nach dem Lichte der Töne.

Sagte der Jäger eines Tages zu seinem Sohne: »Jetzt bist du schon stark, Heinrich, und morgen ist Lichtmeß; du gehst mit mir nach Thomas in die Klausen — bin selber schon eine gute Weil' nicht mehr dort gewesen — und da [S. 243] wirst du auf dem Kirchenchor was hören, was du deiner Tage noch nicht hast gehört. Mußt dich jetzt schlafen legen, wir stehen um eins in der Nacht auf.«

Der Weg vom Jägerhause bis in die Klausen ist im Sommer fünf Stunden lang, im Winter zieht er sich auf sechs und unter kurzen Beinen ist er noch länger. Der Knabe ging zu Bette, aber schlafen konnte er nicht. In Trauer schläft sich's leicht ein, in Freude schwer. Heinrich dachte an des Vaters Worte vom Kirchenchor — was das sein sollte, wußte er freilich nicht, was Besonderes gewiß. Endlich, als er einschlummern wollte, kam der Jäger, ihn zu wecken. Und sorgfältig kleidete der Mann den Knaben an, gab ihm heiße Ziegenmilch zu trinken und schnallte ihn auf die hölzerne Rückentrage, wie solche im Gebirge gebräuchlich sind. Und nahm die Trage auf den Rücken, verschloß das Haus und ging in sternheller Winternacht davon.

Nach einer halben Stunde fragte der Knabe: »Kommen wir schon in die Klausen, wo die Kirche steht?«

»Jetzt noch nicht, Heinrich. Bist du müde, so schlafe.«

In zwei Fuchshäute gewickelt, schlief der Knabe ein und der Vater ging und ging und freute sich insgeheim auf die Kirchenmusik in Sankt Thomas, die immer so prächtig war gewesen, freute sich auf die Freude seines Kindes.

Und dann, als hoch an den starren Felsen die Morgensonne leuchtete, ging er durch die Schlucht der Klausen. Und als die Glocken vom Sankt Thomas-Kirchlein läuteten, wachte der kleine Heinrich auf und sagte: »Vater, hörst du's auch, wie der Vogel schön singt?«

Der Jäger tat den Kleinen von der Rückentrage und nun gingen beide den Hügel hinan und ins Kirchl hinein.

Am Altare stand der Priester, die Gemeinde lallte Vaterunser auf Vaterunser — und nichts als das.

[S. 244]

Heinrich horchte andächtig und meinte, das wäre jenes Seltsame am Chor, wovon der Vater gesprochen. Der Jäger aber wendete sich flüsternd an einen alten Bauer: »Was ist's denn, haben 'leicht die Thomasler keine Musik?«

»Freilich nicht, freilich haben wir keine,« gab jener zur Antwort, »die Orgel und die Pfeifen und Geigen sind wohl noch oben, aber kein Musikant ist dabei. Die alten sind weggestorben und junge werden keine mehr abgerichtet. 's schaut kein Geld dabei heraus und umsonst wollen die Leut' heutzutag' nicht einmal für den Herrgott was tun. Der Herr Pfarrer kann wohl orgeln — aber wer liest hernach die Mess'? Unser Lehrer bläst nur eine Pfeife, seine meerschaumene. — Gottsredlich wahr, jetzt hat eins in der Kirche auch keine Freud' mehr.«

Der Mann hätte sicherlich noch eine Zeitlang fortgeflüstert, da stieß ihn ein Beisitzer mit dem Ellbogen: »Willst schwatzen, Michel, so geh' hinaus.«

Der Alte war still, der Rocken-Hans führte sein Söhnlein wieder aus der Kirche, daß der Kleine doch zum wenigsten die Spatzen und die Gimpel höre, die auf den Dächern zwitscherten.

Gingen hierauf zum Bäckerwirt und der Vater rückte dem Knaben das Suppenschallerl unter das Kinn und das Weinglas in die Hand.

»Vater, wann ist das auf dem Kirchenchor, was ich mein Lebtag noch nicht habe gehört?«

Am Nebentische saß, eben vom Gottesdienste zurückgekommen, der Pfarrer. Er nahm das Frühstück ein, hörte die Worte und rief zum Jäger herüber: »Der Rocken-Hans? Auch wieder mal bei uns herüben? Brav, brav! — Sohn das? Recht brav. Ein sauberes Bübel! Nicht Handküssen. [S. 245] Wie heißest denn, Kleiner, he? Heinrich? Brav. Mein Gott, das Kind hat ja — schlechte Augen?«

»Halt ja, halt ja, Hochwürden,« sagte der Jäger, »und desweg', weil er nicht sehen tut, so wollt' ich ihn was hören lassen.« Und erzählte nun, daß sie gekommen wären, um die Orgel zu hören in der Kirche zu Sankt Thomas. Allsogleich rannen dem Pfarrer die Tränen über die Wangen; das blaue Sacktuch kam schon zu spät.

»Ah na,« sagte er hernach, »umsonst sollt ihr den Weg nicht gemacht haben. Ist dir warm, Bübel? Dann wollen wir miteinander in die Kirche gehen.«

Sie gingen in die Kirche, es war kein Mensch mehr drin. Die Leute hatten sich satt gebetet und dabei Appetit für ein Mittagessen bekommen. Die drei stiegen auf das Chor. Der Pfarrer setzte den Knaben in die Orgelbank, legte dessen Fingerchen auf die Tasten. »So, Kleiner, jetzt halte still, gerade so, wie die Finger liegen. Brav. Und wenn ich sag': Druck' nieder, verstehst, so druck' nieder und halte aus — halte aus, so lang's dich freut.«

Zog hierauf die Riemen des Blasebalges und rief sein: »Druck' nieder!« Der Knabe tat's und erschrak vor dem, was jetzt war: ein klingendes Band, ein tönender Stab — und doch unvergleichbar mit allem, ganz einzig zu hören, wie ein Gedanke, der schallt, wie eine Freude, die klingt.

Unbeweglich saß der Knabe da — sein Antlitz blaß wie ein Steinbild, so horchte er der Musik. Die Hände preßte er auf die Tasten, bis die Finger vor Wonne zu zittern begannen. Und siehe, da zitterte auch der tönende Stab und nun wurde er es inne, der Knabe aus dem Wald, daß man seine Seele kann ausrufen in solcher Weise.

Dann spielte der Pfarrer und der Knabe hat gemeint, er sei im Himmel. — Er sah mit den Ohren.

[S. 246]

So war der Anfang gewesen.

Und von diesem Tage an verblieb Heinrich, der kleine Junge, in Sankt Thomas und lernte von dem Pfarrer das Orgelspielen. Traurig und glücklich im Vaterherzen kehrte der Rocken-Hans allein zurück in sein Revier. Zu jedem Sonntag aber kam er in die Klausen und nach einem und einem halben Jahre — am hohen Frauentage im August — als er wieder in die kleine Kirche trat, summte nicht mehr der eintönige Psalter an sein Ohr, da der Pfarrer am Altare stand. Die Orgel klang, und der alte Waldmensch fühlte in jenen Tönen das liebe, junge, weiche Herz seines Kindes.

So ist die Gemeinde von Sankt Thomas wieder zur Kirchenmusik gekommen. —

Einer von unseren Touristen war nach solcher Kunde zum Pfarrer des Alpendörfchens gegangen, um ihm die Hand zu drücken.


[S. 247]

Der Naturfreund.

Das war auch wieder einmal eine Kindesseele, die sich in einen Stadtmenschen verirrt hatte, und solches ist so häufig ein Unglück.

Ich sehe ihn sehr lebhaft vor mir, obzwar er sich vor einiger Zeit wieder aus dem Staube gemacht hat. Seine Gestalt war komisch, und sein Herz war rührend. Man hätte ihn geliebt, wenn man ihn nicht immer hätte auslachen müssen. Er war ein kleiner untersetzter Mann, dessen Frohmut es erlaubte, daß das Bäuchlein wuchs. Die Beine schienen der Last, auf die sie ursprünglich nicht berechnet gewesen, auch nicht ganz gewachsen zu sein, sie ließen sich etwas weich und unsicher, so daß bei jedem Schritte der Körper stark hin und her neigte. Auch mit den stets etwas krummgebogenen Armen tat er mit, gleichsam, als wollte er den schwachen Füßen durch Schwimmen in der Luft nachhelfen. (Für das Schwimmen in der Luft hatte er überhaupt Vorliebe, wie sich's später zeigen wird.) Zumeist trug er lichtgraue, wenn nicht gar weiße Blusen und Beinkleider und auf dem Haupt einen Zylinder mit stark geschweifter Krempe und von lichtgrauer Farbe. Der Hemdkragen war selbstverständlich fast immer blank, und an der Brust wehte ein flottgeschwungenes buntes Halstuch. Das wirkliche Merkmal aber war das Haupt, das Gesicht. Zu Salzburg, wo er sich seinerzeit in den Tagen der Kaiserzusammenkunft aufhielt, wurde er von den Tor- und Stadtwachen mit den höchsten Ehren begrüßt, die einem Potentaten zustehen, denn man hielt ihn für Napoleon III. Auch als er einst eine Weile in Paris bei seinem Freunde, dem Luftschiffer Godard, lebte, [S. 248] stürzten die Leute, wenn er harmlos lustwandelte, auf die Gasse und hielten ihn für den Kaiser. Einmal trieb ein Gendarm den Pöbel zurück und rief, wenn es Seiner Majestät beliebe, im Inkognito spazieren zu gehen, so habe Paris ruhig zu bleiben und den Kaiser nicht zu sehen.

Die Ähnlichkeit unseres Mannes mit dem letzten Franzosenkaiser war in der Tat merkwürdig! Dieselben scharfen, grauen, lebhaften Augen, dieselbe derb gewachsene und »feinausgearbeitete« Napoleonnase, derselbe aufgehörndelte Schnurrbart, derselbe graudurchwirkte kühne Knebelbart, dasselbe meist kurzgeschnittene Haar, das die Glatze bloß zur hohen Stirne machte, dieselben feinen Runzeln des fahlen Gesichtes, und vollends die französisch lebhaften, nervösen Gebärden in allen Bewegungen, in der Sprache, die, weiß Gott woher, welschen Akzent hatte und sich gerne sprudelnd und munter in krausen Hyperbeln erging.

Ja, das war der gute, harmlose Peter Berner, geborener Steiermärker und Handelsreisender mehrerer solider Firmen in Wien, Brünn und Triest.

In unserer Stadt kannte ihn jedes Kind, es war ja keiner unter den hunderttausend Einwohnern so wie er. Er hatte es gerade nicht ungern, wenn man ihn mit Napoleon verglich und er wußte den Mann zu repräsentieren, von außen. Die Natur mußte in einer köstlichen Laune gewesen sein, als sie es unternahm, diesem gutherzigen, harmlosen, poetisch angelegten Gemüte die Maske des Erzschelmes an der Seine zu geben.

»Die Natur!« Da habe ich ein Wort ausgesprochen, welches mit seinem unermessenen Inhalte das Leben Peter Berners mit Schmerzen und Wonne ausfüllte, ja demselben geradezu verhängnisvoll wurde. Er verstand unter der »Natur« die Landschaft mit ihren Wiesen, Feldern und [S. 249] Wäldern, die Bergwelt mit ihren Felsen, Gletschern und Seen, und das einfache Leben des Landvolkes mitten drinnen. Es ist ein wunderliches Merkmal unserer Zeit, daß sich der Kulturmensch so sehr sehnt nach der stillen Größe des ländlichen Lebens. In Peter Berner, dem Handelsagenten, hatte diese Sehnsucht die dreisteste Verkörperung gefunden. Streckte und reckte denn auf seinen Handelsreisen »Napoleon der Dritte« ununterbrochen den Kopf zum Wagenfenster hinaus und tat fortwährend Ausrufe der Freude, der Überraschung, der Begeisterung, so oft ein hübsches Landschaftsbild — und er mochte es schon hundertmal gesehen haben — vorbeiglitt. Mußte er in der Stadt weilen, so besuchte er Gasthäuser, wo sich irgendeine Tischgesellschaft fand, die ihm zuhörte, beistimmte, wenn er von der »herrlichen Natur« und einzelnen Gegenständen derselben in unbeschreiblicher Lebhaftigkeit und Begeisterung schwärmte. Fand er nicht das gewünschte Verständnis an seinen Tischgenossen, so verfiel er bald in schweigsame Schwermut und war über kurz aus der Gesellschaft verschwunden.

Es gab Zeiten, wo er besonders Ursache hatte, den Hang der Städter nach Prunk, Flitter und falschem Schein und die tölpelhafte Stumpfheit gegen Sonnenauf- und Untergang, gegen Waldeszauber, Vogeljubel und Bergesherrlichkeit zu beklagen. Wissenschaftliche Dinge liebte er nicht, weil derlei — wie er sagte — die Schönheit von den Wesen reißt; Musik, bildende Kunst und Theater waren ihm leidig, weil er das Echte daran nicht sehen konnte, und wenn der Karneval kam, da verlor er kein Wort, sondern floh aus der Stadt. Verehelicht war er nicht, und so vergaß er leicht alle Bande, die ihn mit der »in Unsinn rasenden Welt« zusammenhielt, vergaß seine Freunde, seine Geschäfte, verlor sich auf Wochen lang und niemand wußte, wohin er geraten.

[S. 250]

Kehrte er endlich wieder zurück, so war es stets etwas zerfahren bestellt mit seiner Gewandung, mit seinen geschäftlichen Verbindungen, mit seinem Haushalte überhaupt, aber sein Auge war hell und sein Mund sprudelte unerschöpflichen Preis »den paradiesischen Gefilden der Bergwelt«.

Weil Peter Berner ein geschickter Agent war, so kam er rasch in gute Verhältnisse; und weil Peter Berner ein so unbändiger Naturschwärmer war, so kam er auch allemal rasch wieder in die kümmerlichen Umstände zurück.

Einst sollte seine Sehnsucht nach den Höhen, nach dem Ausblick ins weite, liebliche Land, sein Drang, aus dem Bereiche des städtischen Staubes, »des anmaßenden und hohlen Pöbels aller Stände« zu kommen, eine seltsame Erfüllung finden.

Der französische Luftschiffer Godard kam in unsere Stadt. Sofort bot Peter Berner dem Manne alle seine Dienste an, wenn ihm dagegen die freie Mitfahrt in die Lüfte gestattet werde. Seine Tätigkeit für diese Sache war erstaunlich; er schlichtete alles Nötige bei den Behörden, besorgte den Platz der Auffahrt, die Ausbesserung des durch frühere mißlungene Fahrt und die Reise geschädigten riesigen Ballons, besorgte die Füllungsarbeiten, hatte den ganzen tausendgestaltigen Reklameapparat der Stadt in die klapperndste Bewegung gesetzt — und daß die weite Wiese die herbeiströmende Menschenmenge kaum zu fassen vermochte, es war sein Werk.

Man hatte den guten Peter noch niemals so in seinem Elemente gesehen. Er schleppte Holz zur Feuerstelle, wo die Luft erwärmt wurde, er spannte die Stricke an, er machte den Korb zurecht, und zwar mit einer Fertigkeit, die den Luftschiffer selbst zur Bewunderung hinriß, so daß er in seinem gebrochenen Deutsch ihn sogleich für seine Reisen [S. 251] als Helfer warb. — Nun gab es aber unter den Zuschauern Leute, die ihr Geld nicht dafür gezahlt haben wollten, daß sie den Peter Berner glückselig gen Himmel fahren sehen könnten, sondern dafür, daß sie das Napoleongesicht mit einer noch längeren Nase erblicken sollten. Wie es zuwege kam, konnte nicht erhärtet werden, aber auf einmal wehte von einer Seite des schier völlig gefüllten Ballons ein lustiger gelber Rauch auf, und im selben Augenblick sank das bauchige Ungeheuer in sich zusammen.

Zuerst schlug Peter Berner die Hände zusammen und rief alle Heiligen an. Dann, als es sich herausstellte, daß der Ballon an seinen Brandwunden verloren sei, begann er zu rasen. Mit geballten Fäusten rannte er umher, warf Holzstücke, warf Steine in das Feuer, hastete suchend nach dem Missetäter, fiel dann wieder Monsieur Godard um den Hals und weinte laut. Die Zuschauer unterhielten sich köstlich.

Als Peter wieder zur Besinnung kam, rief er in die Menge hinein, die Vorstellung sei noch nicht aus; wenn sie ihn steigen lassen wollten, so sollten sie es nur tun! Hierauf nahm er seinen weißen Zylinder in die Hand, und mit feuchten Augen ging er Geld sammeln für das verunglückte Luftschiff. Da flogen die Papierfetzen nur so in den Hut, denn im Grunde tut die Welt einer guten Seele doch mehr zulieb', als sie sich selber gestehen mag. Die Sammlung wurde in den nächsten Tagen fortgesetzt durch einen öffentlichen Aufruf, in dem Berner an die » edlen Menschenherzen« klopfte, seinen teuren Freund, den so schwer geschädigten Luftfahrer, der »zur Ehre Gottes und zum Heile der Menschen die unbeschreiblichen Wunder der großartigen Natur erforschen wollte«, nicht zu verlassen.

In wenigen Wochen nachher war Godard instand gesetzt, [S. 252] einen neuen Ballon zu bauen, mit welchem er endlich an der Seite seines Gönners und Freundes Peter Berner eine glückliche Fahrt tat.

Berners Beschreibung dieser Fahrt ist in Druck gelegt worden, sie spricht in stets gesperrten fetten Lettern von der » unbeschreiblich herrlichen Pracht, der über alle Maßen großartigen Aussicht und dem furchtbaren Schwindel, der einen auf dieser unendlichen Höhe erfaßt.«

An Kaufmann Steinbacher in unserer Stadt hatte Peter einen Freund, der nicht, wie andere, mit ihm sein Spiel trieb, der das goldene Herz mit Kennerblicken wog und schätzte. Dieser Mann wußte den Naturfreund von seinen aeronautischen Plänen abzubringen und vermittelte ihm eine Agentschaft für steierischen Bauernloden, die ihm den Verkehr mit den Landleuten und der Natur von neuem erschloß.

Der Luftschiffer zog nach stürmischen Umarmungen und heißen Küssen seitens Berners von dannen, und Berner zog ins Gebirge.

Von Zeit zu Zeit las man im Inseratenteile unserer Blätter Aufrufe, wie folgenden:

»

Aufruf!


Anläßlich der bevorstehenden Feiertage sehe ich es als meine heiligste Pflicht an, alle Naturfreunde , Bergbesteiger , wie nicht minder alle Ausflügler auf die herrliche prächtige Perle unseres Heimatlandes, auf das Paradies Steiermarks , (z. B.) auf Deutsch-Landsberg , als das würdigste Ziel eines Touristen, aufmerksam zu machen und sie aufzufordern, diesem wahrhaft gelobten Lande zuzuwallen. Dort, umgeben von den herrlichsten Bergen , fühlt man sich frei und dankt dem

[S. 253]

Schöpfer, der all das Herrliche geschaffen. Drum auf, nach Deutsch-Landsberg, wo nicht nur für die Seele , sondern auch für den Leib gesorgt ist durch die vortreffliche Küche und den ausgezeichneten Keller im Brauhause.

Peter Berner , Tourist.«


Selten und seltener wurde der Mann, der nun — wie er in der Beschreibung seiner Luftreise dartat — schon mehr als » fünfzig Lebensjahre sein eigen nannte«, in der Stadt gesehen, immer unregelmäßiger besorgte er die Handelsinteressen seiner Firmen, und endlich blieb er ganz aus. Sonst war Peter seiner absonderlichen Wesenheit wegen allemal unschwer auffindbar gewesen, diesmal aber vergingen Monate, ohne daß eine Spur von ihm zu entdecken war. In den Blättern blieben die Aufrufe aus; der Hausherr, bei dem Peter sich die Kammer gemietet hatte, warf die bescheidenen Armseligkeiten ins Versatzamt, oder sonstwohin, und man mußte annehmen, daß der »Tourist« auf einer seiner Hochtouren verunglückt sei. Da ging im Spätsommer desselben Jahres in der Stadt das Gerede um, draußen hoch in den Bergen, im Dorfe des heiligen Oswald, sei ein Bauernknecht gesehen worden, der zwar nicht an Gewandung, wohl aber im Angesichte und allem Gebaren dem verschollenen Peter Berner aufs Haar ähnlich sehe.

Kaufmann Steinbacher machte sich auf den Weg in das entlegene Bauerndorf, dort fand er nach vielem Suchen seinen Mann hoch oben an einer Feldlehne, wo dieser hinter einem Ochsenfuhrwerk vermittelst einer Eisenkrampe mit nervöser Hast vom Karren Stalldung auf die Erde kraute. Sein Anzug bestand aus arg zerfahrenen Bauernkleidern, wovon die Hose zu schlotternd, die Joppe zu knapp war. An den Füßen trug er nichts als »Schuh von Menschenhaut«, [S. 254] wie er die Barfüße nannte, auf seinem Haupte aber saß — von braunen Stallfliegen umsummt — der weiße Zylinder.

»Peter!« rief der Kaufmann, »Peter, aber was treibst du da?«

»Grüß' dich!« knurrte Peter, ohne von seiner Arbeit abzulassen, befahl dann den Ochsen, daß sie ein paar Schritte weitergehen sollten und er ein neues Häuflein vom Karren krauen könne.

»Bist du endlich toll geworden, mein lieber Freund!« rief der Kaufmann. Da warf Peter die Krampe weg, schlug die Arme aus. »Toll geworden! Toll geworden!« sprudelte er in seiner schnarrenden Weise, »weil ich aus dem übelriechenden Steinhaufen geflohen bin, den ihr Stadt nennt, ihr armen Teufel! Weil ich eure Windbeuteleien verlache, die ihr Kulturleben heißt, ihr armen Teufel! Weil ich in der schönen Natur leben will, in der frischen Luft, unter dem freien Himmel Gottes, den ihr nicht ertragen könnt, ihr armen Teufel! Da er die blendende Sonne hat, die gewaltigen Stürme hat, darum, sagt ihr, toll geworden?! O, du armer, armer Knabe, komm an meine Brust, laß dich küssen!«

Damit stürzte er dem Freunde ans Herz. Der Kaufmann schämte sich unbändig, aber es war nicht anders, denn Peter weinte wie ein Kind.

So hatte dieser wunderliche Mann, dessen Existenz nach allgemeiner Schätzung eine sorglose, behagliche gewesen, solche von sich geworfen; so hatte er sich als Bauernknecht verdingt aus Liebe zur Natur. Willig hatte er die schwersten Arbeiten, denen sein Körper nicht gewachsen war, verrichtet, die ungewohnte Nahrung, das schlechte Nachtlager ertragen und die Roheiten der Dorfleute, die ihn freilich nicht so anwiderten, weil sie ja »Natur« waren gegenüber [S. 255] den giftigen Bosheiten und süßelnden Falschheiten der Städter.

»Stadtdodel!« schrie ein Junge vom Hof herüber und meinte Peter. »Ja,« sagte dieser, zum Kaufmann gewendet, »das muß ich mir gefallen lassen, weil ich's einmal gewesen bin, weil ich heute noch städtische Unarten an mir habe. Stadtdodel! Hast schon recht, Franz! Mordsbub!«

Es bedurfte viel, den Mann, den sie auf dem Dorfe geradezu verhöhnten dafür, daß er ihnen seine Kraft weihte, sein Herz gebracht hatte! — es bedurfte viel, um ihn von den Fluren des heiligen Oswald loszubringen und wieder zu einem halbwegs zivilisierten Menschen zu machen. Es bedurfte vielen Zuredens, vieler List und besonders vieler Seife.

Aber endlich sah man den Napoleon doch wieder durch die Stadt haspeln, hörte im Gasthause wieder seinen scharfen Laut, wie er in rasch herausgestoßenen Worten unermüdlich das ländliche Leben beschrieb, bis ihm vor Begeisterung und Rührung die Stimme brach.

Und nun zu dieser Zeit, da seine Schwärmerei für Idylle und Einfachheit den höchsten Grad erreicht hatte, tat er etwas, was er tun mußte, weil es im Schicksalsbuche solcher Menschen steht, mit heiligem Schwunge stets das Ungereimteste zu vollbringen. Peter Berner ging nach Paris. Freilich nicht die Weltstadt lockte ihn, aber der Freund rief ihn, Godard der Luftschiffer telegraphierte aus Paris, er möge so bald als möglich zu ihm kommen.

»Der Mann ist in Not!« rief Peter aus, »ich muß ihm zu Hilfe kommen!« Mit einem Ruck waren alle kommerziellen Fäden, die ihn bereits wieder umgarnt hatten, zerrissen, er reiste nach Paris.

Dort fand er seinen Freund in einem Zustand, von [S. 256] dem er bis ins Innerste erschrak. Godard war reich geworden. Mit den Luftballon, den ihm Peter einst erbettelt, hatte er sich ein Vermögen erworben, den Ballon dann in die Rumpelkammer geworfen und sich in das Weltleben gestürzt, an dem er nun mit allen Fasern eines lustigen Franzosen hing und sog.

»Was willst du mich? Was soll ich da?« schrie ihn der empörte Berner an, als ihn jener in die prunkenden Gemächer seines Hotels führte.

»O, Freund! Freund!« rief der Franzose, »ik dich aben lassen holl, pour remercier , ik dir danken, ma fortune , ma prospérité , mein Sukunft! Ik dir wollen erweisen la joie , l'honneur , l'amitié ! Oh, Freund, pardon , daß ik sprecke en ma Muttersprak, es jauchzen mein 'erz zu können dich umarm! Ik grüßen, ik grüßen dich!«

Godard gab hierauf zu Ehren der Anwesenheit seines Freundes ein glänzendes Fest, überhäufte ihn mit Ehren. Der Mann, der ein paar Monate früher in einem steierischen Gebirgsdorfe Stalldung vom Karren gekraut hatte, war jetzt Mittelpunkt einer der feinsten, geistsprühendsten Gesellschaften der Seinestadt. Die französische Liebenswürdigkeit, mit der ihm das Fest in großem Stile geboten wurde, berückte sein leicht erregbares Gemüt; das Weltleben, das er bisher verachtet hatte, umgarnte ihn plötzlich mit allen Zaubern und Reizen einer schönen, koketten Frau, die ihn »zu einer nie dagewesenen Begeisterung« hinrissen. Nach seiner Rückkehr aus Paris erzählte er uns strahlenden Angesichtes, daß er bei jenem Feste »mit tiefbewegter Stimme eine brillante , von tosendem Beifall oft unterbrochene Rede« gehalten habe, in der er für die » höchst ehrende , eines Königs würdige Auszeichnung« dankte.

Der Aufenthalt in Paris schien für einige Zeit der [S. 257] Mittelpunkt seines Lebens geworden zu sein. Wohl pries er die Natur wie vor und eh, aber er stand nicht mehr mit jener weltüberlegenen Lust auf dem hohen Berge, sah nicht mehr durch die glückselige Kindesträne den Aufgang der Sonne. Es beunruhigte ihn — Paris. Es war ein Zwiespalt in ihn gekommen, dessen er sich selbst kaum bewußt ward, der aber tückisch an seinem Gemüte nagte. — Das Gedächtnis seines Freundes hielt er fort und fort über alles hoch in Ehren und das großmütige Geschenk, eine goldene, auf seinen Namen geprägte Erinnerungsmedaille, mit dem der dankbare Franzose sein Fest gekrönt hatte, war und blieb sein Stolz und seine Freude bis an sein Ende.


[S. 258]

Der lange Rauk.

Von meinem Fenster aus gegen Osten hin sehe ich eine Hochebene, auf der lauter Wald steht. Junger, gemischter, stundenlanger Nadelwald. An klaren Tagen werden im fernsten Hintergrunde blasse Berge sichtbar, sonst aber scheint sich mein Wald ins Blaue und Unendliche zu verlaufen. Hie und da stehen über das jüngere Baumgeschlecht breitkronige oder spitzige Stämme aus den vorigen Jahrhunderten empor wie Kuppeln oder Kirchtürme in einer Stadt.

Besonders ist es ein Baum, der weit draußen im blauenden Meere des Waldes steht, von unten hinauf buschig ist, sich aber allmählich in eine schlanke, scharfe Nadel aufspitzt — nicht anders zu sehen als der Stefansturm, wenn man von einer Anhöhe der Umgebung hineinblickt auf Wien. Wenn ich dann noch ein Übriges tue, nämlich den Kopf niederbeuge und zwischen die Beine durchblicke hin auf den Wald, da hat mein solcher Stellung ungewohntes Auge das schönste Schattenbild von Wien, wie es mit seinen Zinnen und Türmen daliegt. Nur daß die Einzelheiten dort der Stadtdunst verhüllt und hier der Höhenrauch. Aus Wien ist es mir noch nie gelungen, einen Wald zu schaffen, aber aus diesem Walde baue ich Euch dergestalt ein Wien, so oft ihr wollt. Und wenn ich meine beschauliche Stunde habe, so setze ich mich in einen Winkel meiner Stube, so daß mir das Waldmeer mit dem Stefansturme im Fenster liegt, und denke: das ist das ausgestorbene Wien; man hört keinen Laut, sieht kein Rauchwölklein aufsteigen aus seinen Giebeln. Und was war das einst für Lust und Leben in diesem Wien! Aber die Lust ist erstickt in der Begier, das [S. 259] Leben ist versunken in seinen Sünden. Nur die Formen der Stadt ragen noch starr und düster.

Ein frevelhaftes Träumen! Wie kann man den reinen, friedensvollen, tausendfältig lebenden, in hundert klaren Quellen sprudelnden, in allen Wipfeln säuselnden und von Vogelsang erklingenden Wald — wie kann und darf man ihn vergleichen mit einer großen Stadt! — Aber wenn ihr nur erst kommt und seht, besonders diesen Baum: es ist der leibhafte Turm von Sankt Stefan.

Des ward ich mir endlich klar, eine uralte Fichte muß es sein, an der Sturm und Blitz Wipfel und Astwerk zerrissen, den Stamm von oben herab kahl gehauen, und der in seinem Schaft und in seinen tieferen Kronen doch zu gewaltig ist, als daß ihn Sturm und Blitz vernichten konnten. So steht er da, ein vielhundertjähriger Geierhorst, und die ältesten Leute der Gegend sagen mir, ihres Erinnerns habe der Baum nie anders ausgesehen als heute.

In früheren Jahren, da ich den Wald durchstreifte, habe ich mich bemüht, den Baum aufzufinden und an seinen Fuß zu gelangen. Es war mir aber nie gelungen. Entweder ich verlor die Richtung oder kam in Dickicht, Gefällholz, Struppwerk, auf grundlosen Moorboden, so daß ich umkehren mußte. Es gibt Gründe darin, auf die jahraus jahrein kein Sonnenstrahl fällt, aber ich weiß es wohl, daß der Eigentümer schon sehnsüchtig die Jahre zählt, bis er »stocken« wird. Manchem prächtigen Tier begegnet man im Wald, aber auch manchem stattlichen Jäger. Mit dem Zauber des Urwaldes wäre es also nicht sehr weit her, und doch war es wie verhext, daß — so sehr mir außerhalb des Waldes stehend die Richtung klar war — ich in ihm wandelnd meinen Stefansturm nicht finden konnte. Es ist aber auch in der wirklichen steinernen Stadt Wien Etlichen nicht [S. 260] anders ergangen. Ich fand manchen mächtigen Baum, der hoch über die andern hinausstand, der wild und zerrissen war und von dem ich mir einbildete, er sei's. Bei näherer Prüfung war er's allemal nicht. Ich hatte mich auch schon mehrmals im Walde verirrt, so daß mir einfiel, was die Leute sagen, es wären Irrwurzeln drin, und wer auf eine solche trete, der finde gar nicht mehr aus dem Walde hervor, sondern müsse immer im Kreise herumgehen, so lange bis ihm ein Sonntagskind begegne. Die Erfahrung lehrt aber, daß man sich mit Sonntagskindern auch verirren kann, besonders wenn sie hübsch sind. — Dabei hatte mir das Suchen einen solchen Reiz, daß ich mich nie entschließen konnte, einen Führer zu nehmen. Und so sind elf Sommer vergangen, an denen ich oftmals nach Sankt Stefan im Walde pilgerte, ohne ans Ziel zu gelangen.

Im heurigen Frühsommer, als auf den freien Matten die Hitze zu groß ward, als auf den Wiesen die klaren Bächlein im Sande versickerten und das kurze Federgras zu gelbem Heu welkte noch auf den Wurzeln, als fortwährend die trockenwarmen Winde hinfegten über das fahle Erdreich und die Wolken des Himmels aufsogen, als in meiner Nachbarschaft sogar ein Brunnenständer samt Trog niederbrannte — da war keine Freude mehr auf freien Weiten, da hielt ich mich die längste Zeit im Walde auf. Man konnte viele Stunden im Moose liegen und bekam keinen Schnupfen; die Mückenschwärme mit dem prickelnden Gifte existierten fast nicht, dafür drückte die heiße Sonne, die über dem Walde lag, allen Wohlduft der Harze zu Boden und das fliegende und kletternde Getier kam auch herab gegen den kühleren Erdengrund und trieb sein munteres Wesen vor meinen Augen. So war es ein wonniges Sein.

Manchmal begegnete ich einem Waldbruder, nicht viel [S. 261] seltener einer Waldschwester — Früchtesammler, auch arme Leute, denen draußen, »weil des Gesindels schon allzuviel ist«, die Tür vor der Nase zugeworfen wurde, und die gekommen waren, um in unseres Herrgotts schattigem Speisesaal zu essen. Am merkwürdigsten von all diesen wunderlichen Leuten war mir der lange Rauk. Ich kenne ihn schon seit ein paar Jahren, er bringt bisweilen Beeren ins Dorf. Ein hochschlanker, blatternarbiger Geselle ist's, mit einem schwarzen Bart und einem langen braunen Lodenmantel, den er um den Leib zu werfen weiß, daß er darin schier nicht anders aussieht, wie der heilige Apostel Jakobus. Den hat nicht der heiße Sommer dürr gemacht, sondern die Faulheit, er will nicht arbeiten. Die Leute sagen, er wäre so häßlich, der lange Rauk; ich sage, er wäre das Entzücken der Maler.

Als ich denn auf meinen diesjährigen Waldgängen öfter mit dem Rauk zusammentraf, gab ich ihm den Rat, er möchte sein Geschäft aufgeben.

»Welches Geschäft?« fragte er.

»Das Hungerleiden.« Möchte es aufgeben, möchte in Malerschulen gehen und sich abmalen lassen.

»So!« antwortete er und ich merkte, wie er innerlich empört war. »So!« sagte er.

»Dort braucht Ihr nichts, als dazusitzen,« belehrte ich, »oder auch an der Wand zu lehnen, wie eben die Herren wollen; es sind unterhaltsame Burschen, diese Maler; mancher auch sagt gar nichts und ist ganz Pinsel. Ein Pfeifel Tabak spendieren sie mitunter und zahlen auch noch das Tagwerk, achtzig Kreuzer, die Verschwender gar einen Gulden und mehr.«

»So!« antwortete er tief gedämpft, »so!« sagte er. Und fuhr dann fort: »Ein Kerl, dem's schon übel genug ist, daß er auf seinem heustanglangen Geripp' ein anschieches G'friß [S. 262] (häßliches Gesicht) herumtragen muß auf der Welt! Wenn ich mich noch ducken kunnt! verstecken kunnt und in der Kirchen nit so höllisch lang hinausstehen tät' über die anderen Köpf, just wie die Rauberfeichten im Ziselwald! Zum Hasenschrecker möchten sie mich gern brauchen auf ihren Krautäckern, wenn sie mich in die Erden stecken kunnten, wie einen Krautscheuchstecken und nit Angst hätten, daß ich ihnen selber die Gebel tät' fressen. Und so ein Kerl soll sich noch abmalen lassen? Sollen ein paar Jahrl warten, bis von meinen Knochen Haut und Haar weg ist, nachher bin ich so schön wie die anderen im Beinhaus!«

Es stellte sich heraus, daß der lange Rauk sich nur darum von den Leuten und ihren Arbeiten zurückgezogen hatte, weil sie ihn seiner Häßlichkeit wegen verhöhnten.

»Ich ertrag's nit!« sagte er, »ich hab' Weiberhoffart in mir, die hab' ich von meiner Mutter geerbt. Faulheit! sagt vor etlichen Tagen der Herr Meigel aus dem Flecken zu mir. Bei sich selber nennt er's Ruhestand. Ich weiß recht gut, daß man Gott den Herrn kniend verehrt und den Teufel liegend. Oh, ich fürcht' mich allzusehr vorm Stinken, als daß ich nichts tun möcht'. Mach's freilich nit so wie die andern Leut', die nur desweg arbeiten, damit sie Mittel kriegen zum Faulenzen.«

»Aber ein Krügel Wein bisweilen will doch verdient sein!«

»Was hilft mir der Wein, wenn ich ihn im Wirtshaus nit mit Frieden trinken kann! Allerweil: Der lange Rauk! Der schieche Rauk! Der dürre Rauk! Und — der dumme Rauk! Das sag' ich mir selber, der dumme Rauk, der sich unter die Leut' setzt und seines Vaters einzigen Sohn ausspotten laßt!«

Was die Wirtshausgesellen sagen, meinte ich hierauf, [S. 263] das könne ihm ziemlich gleichgültig sein; wichtiger sei es, was die Weibsleute von ihm dächten.

»O Jeß, die Weibsleute!« rief er aus. »Ihrer zehn oder zwölf Jahr' lang hab' ich mich foppen lassen, alsdann hab' ich genug gehabt.«

Das sei nichts, meinte ich, die schönsten und tüchtigsten Männer würden ihr Lebtag lang gefoppt.

»Das schon,« sagte der Rauk, »und die schönsten und tüchtigsten Männer foppen wieder. Von einem Kerl wie unsereiner laßt sich aber keine foppen, und das verdrießt mich.«

Ob er ein Hiesiger wäre?

»Vaters halber ist's schon möglich,« antwortete er, »der Pfarrer sagt, er weiß nichts davon — heißt das, im Kirchenbuch. Mit den Musikanten bin ich umgegangen, aber wie mir die Zähne ausgefallen sind, hat das Blasen ein End' gehabt. Hab' ich mich halt im Ziselwald eingenistet, und muß alle Tag' ein bissel achtgeben, daß ich nit verhunger'.«

Wo er seine Wohnung habe?

»Gleich können Sie ihn sehen, den Turm von meinem Gschloß!« rief er, und in der Tat, als wir noch einige hundert Schritte zwischen jungem Fichtenwald hingestrichen waren, stand uns über dem Gewipfel her das Bild entgegen. Fast schon in der Nähe ragte aus dem Schober eines wildmassigen finsteren Astwerks die knorzige Nadel empor. Es war mein Stefansturm.

»Das freut mich,« sagte ich, »daß wir auf einmal bei diesem Baume sind.«

»Wir sind noch nit bei ihm,« entgegnete der Rauk. Und wahrlich, wir hatten noch eine halbe Stunde oder länger zu tun, bis wir ihn erreichten. Die Bäume standen sehr dünn, waren verkrüppelt und hatten Flechtenbärte, der Boden [S. 264] hatte eine blaßgrüne Moosdecke, auf der gruppenweise Binsen mit ihren weißwolligen Federbüschen standen, und Sauerklee, Seidelbast und Wildfarnkraut. Der Waldsteig, den mein Begleiter früher einzuhalten wußte, obwohl er streckenweise kaum zu erkennen war, hatte sich ganz verloren, und mit jedem Schritte sanken wir bis über die Knöchel in den schwarzen, moorigen Ungrund. Der Rauk schleppte einen Zipfel seines Mantels hinter sich nach wie ein König, doch sank er nicht so tief ein als ich, weil er breiteres Schuhwerk hatte und das Gehen auf solchem Boden besser verstand.

»Sich fein gering machen!« rief er mir immer zu. Wenn ich nur auch gewußt hätte, wie man das anstellt. Leicht und vorsichtig auftreten, das kann man, doch der Rauk behauptete, man könne mehr. Man könne sich mit gutem Willen um etliche Pfunde leichter machen; der feste Willen hebe einen hoch, wie der Suppendampf den Hafendeckel. Er habe schon Wetten gewonnen, indem er sich in derselben Minute mehrmals wiegen gelassen auf der Fleischhauerwage, und ganz verschiedenes Gewicht gegeben. »Gebt acht, jetzt mach' ich mich schwer!« sagte er, und sank auf der Stelle tiefer ein.

Ich hätte ihm seine Kunst aufgelöst, wenn Zeit und Stimmung dazu gewesen wäre. Einstweilen mußte ich trachten, einen so starken Willen zu entwickeln, daß er mich zur Höhe hob, »wie der Suppendampf den Hafendeckel«, und wir weiter kamen.

Endlich blieben wir aber doch stecken. Bis zu den Knien im Morast, so rasteten wir uns aus, und der lange Rauk lachte.

Er hatte leichter lachen als ich, denn bis er von unten bis oben versank, das brauchte länger, als bei mir Durchschnittsmenschen.

[S. 265]

Ich war etliche Schritte hinter ihm steckengeblieben, wir konnten uns nicht mit den Stecken, geschweige mit den Armen erreichen.

»Der größte Spaß wäre,« rief er, »wenn jetzt die Geier kämen!«

»Welche Geier?«

»Die auf der Rauberfeichten ihre Nester haben und erst im vorigen Jahr einem Hirschen, der hier steckengeblieben ist, das Fleisch aus dem Leib gehackt haben.«

»Vergelt's Gott für Euren schönen Zuspruch!« sagte ich.

»Oder die Hornussen, die gar nit weit von da ihre Bruten haben und von den Mardern gern wild gemacht werden. Nachher stechen sie, die Vieher; ihrer sieben erstechen ein Roß. Grausam stechen sie!«

Da ich wirklich das Schwirren eines solchen Tierchens bemerkt zu haben glaubte, so hatte ich Gelegenheit zu erfahren, was ein fester Wille vermag. Ich arbeitete mich mit Macht heraus, um dann wie ein Krokodil auf dem Bauche zu kriechen.

»Aha, Sie haben es!« lachte der Rauk schnaufend und knetete an sich herum; »ja, für den Notfall macht man's so. Passiert mir aber wunderselten, daß ich just an die Stelle komm'. Die hoffärtigen Engel aus dem Himmel sind durch das große Loch, das hier gewesen, in die Höll' gefahren. Später hat's der Teufel mit Morast zugestopft.«

Mittlerweile war auch er herausgekommen. Wir gelangten allmählich auf festeres Erdreich — und nach wenigen Minuten standen wir am gewaltigen Baum.

Ringsum ist eine Art von Anger mit Sumpf, in welchen die Arme der Wurzeln ausgreifen, teils unter der Moosdecke verborgen, teils über derselben in hundert Knien und Verzweigungen ausklammernd, teils morsch und rindig, teils hart [S. 266] und weiß wie Elfenbein. — Die anderen Bäume halten sich in respektvoller Ferne, die stattlichsten von ihnen reichen dem Koloß bis zum untersten Astwerk empor. Der Stamm ist zerklüftet, teilweise entrindet und fast wie ein Strick gedreht. Ich glaube, daß ihn vier Männer nicht zu umspannen vermögen. Viele Arme des Geästes sind für sich schon Baumstämme; einzelnes Geknorre ist kahl und fahl wie Knochen, anderes ist so dicht in ein dunkelgrünes Reisiggefilze eingewoben, daß es der Blick nicht durchdringt und man über sich nur eine dunkle Masse sieht, in der die korbartigen Horste der Raubvögel sind und aus der mancher Strunk seine abenteuerlich geformten Glieder in die Weite reckt.

Ich wunderte mich, daß dieser Baum, der ein ganzes Dorf über den Winter mit Brennholz versehen könnte, noch nicht gefällt worden sei. »Sie getrauen sich nicht über ihn,« sagte der Rauk, »der fällt nicht wie andere!«

Zur Stunde fächelte und rauschte der Wald in einem lebhaften Winde.

An der Riesenfichte regte sich nichts, alles starr, nur ein dumpfes Sausen war zu hören hoch im Astwerk. Über demselben ragt der kahle Schaft, vielfach zerrissen und dennoch urkräftig in die Einsamkeit der Lüfte auf. Die Gestalt ist wuchtig und viel gegliedert, aber der spitze Schaft über dem Kronenwerk schien mir hier kaum hoch genug, um für die Ferne die schlanke Nadel des Stefansturmes vorzustellen.

Fast schade, daß der Name: »Rauberfichte« so harmlosen Ursprungs ist. Zusammenkünfte von Räubern an diesem Platze, Räubergelage im Schatten des Baumes, wilde Mordgesellen ihre Beute teilend und wie der Rauch vom Feuer des üppigen Mahles langsam ins Astwerk aufsteigt und der Gegend weitum die Schrecken verkündet, oder ein paar Erzräuber baumelnd an den Ästen — und wäre es auch [S. 267] nur in Sage und Märchen — würde mir den Baum recht aufputzen. Dergleichen ist nicht.

Draußen im Tale stehen zwei Bauernhäuser mit dem Vulgärnamen: Die Rauber. Die Gründe des »oberen Raubers« erstreckten sich einst weit in den Wald bis zur Stelle, wo die alte Fichte als Grenzbaum steht, die daher die Benennung: »Rauberfichte« erhalten hatte.

Der Rauk war langsam um den Baum gegangen und jetzt auf einmal verschwunden. Durch eine Höhlung zwischen dem Gewurzel war er ins Innere geschlüpft. Ich guckte ihm nach.

Im hohlen Raum war ein Lager von Binsenstroh, eine Holzaxt und ein Sack, halbgefüllt mit Harzrinden. Die Wände der Höhlung waren teils verkohlt, als würde auf diesem häuslichen Herd auch bisweilen Feuer unterhalten.

Die Höhlung ging hoch in den Baum empor, und wenn man mit dem Stock hinauffuhr, so erreichte man keine Decke, und an den Wänden rieselte Moder nieder und Käfergezücht.

So sieht es mit dem Innern dieses Baumes aus. Aber die Haut und Hülse ist noch dicker, als mancher fünfzigjährige Stamm, und vermittelt Mark und Saft der Fichtenkrone, die hoch auf solchem Holze wuchert.

»Das ist das Haus des langen Rauk,« sagte der lange Rauk. »Wir haben auch beide Platz herinnen, wenn Sie Ihre Füße rein machen wollen. Wir machen Feuer, daß die Strümpfe trocknen mögen.«

»Ist Euer Haus gegen Feuer assekuriert?« fragte ich.

»Lebendige Häuser brennen nicht nieder,« war die Antwort.

»Von außen gesehen wäre es das stolzeste Wohnhaus im ganzen Land.«

»Ist aber nur meine Werktagsresidenz,« berichtete er, [S. 268] »und nur wenn ich am Abend diesem Baume näher bin, als einer Köhlerhütte, übernachte ich in ihm. Weiter ist's nichts.«

So hat sich die ganze Sache mit dem Stefansturm, mit der Rauberfichte, mit dem Rauk und seiner Abenteuerlichkeit als etwas hohl erwiesen. Der Schlupfwinkel eines Pechschabers.

Ich kehrte an jenem Tage spät und müde vom Walde heim.

Und wenn ich nun wieder sitze in der kühlen Stubenecke, und im Fenster liegt das sonnenblaue Meer des Waldes mit seiner spitzen Nadel im Horizont, da will meiner Phantasie die alte Herrlichkeit nicht mehr so ganz gelingen. Aber leid täte es mir doch, wenn eines Tages ein Rauchqualm aufstiege oder eine Feuersäule emporlohte in stiller Nacht — und mein schlanker Turm in sich zusammenbräche.

»Das nit!« sagt der lange Rauk, »der Baum steht noch länger als wir zwei zusammen.«


[S. 269]

Hans Johanns Hauptsache.

Wenn ich sage es war ein einzig guter rührender Mensch, so legt jeder das Buch hin und läuft davon. So sage ich lieber, er war ein Taugenichts.

Und das war er auch.

In den Schulen, wo er stets vorgeschriebene Marschroute hatte, da ging es noch an. Aber als er selbst der leitende Teil ward, als Lehrer in der Dorfschule, da ging es nicht mehr an. Die unterschiedlichen Kinder machten ihm viel zu große Sorgen, als daß er sich ihrem Unterrichte widmen konnte. Ob sie in der Fibel lesen konnten oder auf der Schiefertafel die Ziffern zusammenzählen und in einer sehr verläßlichen Ordnung hinschreiben, das war Nebensache. Hauptsache war die Gesundheit. Und so kümmerte er sich, ob das kleine Volk auch warme Joppen hätte und Schuhe an den Füßen, ob die Kinder wohl gewaschen und gekämmt wären — und wo es mangelte, da griff er flink zu und trachtete, beim Bäcker, beim Müller, beim Fleischer, als den Großen des Dorfes, für die armen Wald- und Gebirgskinder altes Gewand zu bekommen; er nahm auch Eßwaren und ließ durchblicken, daß solche Wohltaten an ihren eigenen Kindern würden vergolten werden. Die großmütigen Spender verstanden das so, daß — wie die Kinder der Armen Not an Hemden und Strümpfen hätten — die Kinder der Reichen zumeist Not an guten Schulnoten haben, und daß der Herr Lehrer dann wohl den richtigen Ausgleich treffen würde. Hans Johann sah auch wirklich nicht ein, weshalb er die Spenden für mittellose Kinder nicht mit hübschen Fleißzetteln und ausgiebigen Fortgangsklassen der [S. 270] reichen Bürgerskinder schlichten sollte. Hauptsache war die Gesundheit. Und so setzte er sich auch gerne zu den Kindern auf eine Bank und gab ihnen Verhaltungsmaßregeln, wie sie gesund bleiben, ihren Körper stärken und zur Arbeit tüchtig werden könnten. Solches Bestreben war nicht fruchtlos und nach einem Jahre schon waren alle Kinder reinlich gehalten, soweit ordentlich gekleidet und von frischerem Aussehen. Der Bezirksschulinspektor aber konnte bei der Schulschlußprüfung nichts als den Kopf schütteln und die Hände ringen, und als die Kinder nach überstandener Plage lustig davontrollten, stellte er sich vor den Lehrer hin, rang wieder die Hände und rief: »Aber um Gottes willen! Herr Johann!«

Sonst sagte er nichts. War auch nicht nötig.

»Seh's eh ein,« sprach der Lehrer ganz gemütsruhig, »daß ich nicht recht tauge zu einem Lehrer.«

»Wenn Sie irgendwo eine Stelle als Kindsmagd bekommen können, greifen Sie sofort zu.« Mit diesem wohlwollenden Rate ging der Bezirksschulinspektor seines Weges.

Und der Johann des seinen. Denn er war erledigt. Aber nicht auf lange. In demselben Orte hatte er unschwer die Briefträgerstelle bekommen. Er hatte täglich über Berg und Tal zu gehen und den zerstreuten Vierteln die Post zu vermitteln. Das tat er auf das gewissenhafteste, und wenn ihm ein Bauer eine Post auftrug, für ihn im Dorf Einkäufe zu besorgen, oder eine Bäuerin irgend was Wichtiges zur Nachbarin zu befördern hatte, so tat er's bereitwillig, vergaß aber dabei manchmal, den Brief abzugeben. Es war zuwider, aber Besonderes daran konnte Johann nun nicht finden. Was pflegen sich die Leute denn zu schreiben? Daß sie, Gott sei Dank, soweit gesund sind, daß der oder die geheiratet hat oder gestorben ist, daß es sonst nichts Neues gibt und daß sie schön grüßen lassen. Ob die Bauern das wissen [S. 271] oder nicht, Hauptsache ist, daß man ihnen mitunter eine Gefälligkeit erweisen kann. Das ging ein Jährchen so herum. Dann kam die Geschichte mit dem Geldbrief. An den Obergamshofer in Spittelberg hatte Johann einen Geldbrief zu bestellen. Aber der Weg dahin ist ziemlich weit, unterwegs hatte er ein mühseliges Bettelweib getroffen. Dem war die Fußkrücke entzweigegangen und so konnte es nicht recht vorwärts. Johann ging ins Wegmacherhaus um Werkzeug und zimmerte der Alten eine neue Krücke. Denn es war just des Obergamshofers Weidknecht des Weges gekommen, dem konnte er den Geldbrief mitgeben. »Ja richtig, Mathes,« sagte er noch, »das Blattel da mußt unterschreiben. Nicht können tust schreiben? Nachher mach halt drei Kreuzeln. Bin froh, daß du mir den Weg ersparst. Hauptsach' ist, daß das Mutterl da wieder auf die Füße kommt. Bleib' schön gesund, Mathes.«

Einige Wochen später kam's zutage, daß der Obergamshofer keinen Geldbrief erhalten hatte, daß ihm aber sein Weidknecht durchgebrannt war. Dieses Ereignis kostete dem Briefträger allerhand und auch den Dienst.

Jetzt hatte er Zeit, sich den Hauptsachen zu widmen, und merkwürdig — jetzt verlangte niemand danach. Ja, es kam allmählich ungefähr so heraus, als ob für den Hans Johann nun die Hauptsache wäre, einstweilen nicht zu verhungern. Er bewarb sich also wieder um einen Dienst. Das Steueramt im nächsten Bezirksorte suchte einen Amtsboten. Aber den Johann nahm man nicht an, aus Besorgnis, er würde aus Erbarmen mit den Parteien die Steueraufträge unterschlagen. Das Landesgericht hatte für einen Gerichtsarrest die Profosenstelle ausgeschrieben; der Bewerber Hans Johann wurde rundweg abgelehnt; der hätte keinem Arrestanten die Türe verschlossen gehalten nach dem Grundsatz, [S. 272] Hauptsache bei den Menschen sei die Freiheit. Soweit war unser Johann schon in Verruf gekommen. Dann verscholl er auf einige Zeit, um später in einem Haushaltungsbureau aufzutauchen.

Hier war er fleißig und gewissenhaft und füllte seine Stelle völlig aus. Aber es war das Haushaltungsbureau eines Siechenhauses. Seine Erholungsstunden brachte er bei den Siechenden und Krüppeln zu, um ihnen die Zeit zu vertreiben und sie aufzumuntern. Er ließ sich von ihnen ihre Anliegen erzählen; sie, auf die sonst niemand mehr hören wollte, an denen jeder gleichgültig vorüberging, waren seiner Teilnahme so froh. Er besorgte den Ofen, wenn sie fröstelten, holte ihnen ein frisches Glas Wasser, wenn sie dürsteten, schrieb ihnen Briefe an Angehörige. Dann blieb er noch länger und las ihnen erbauliche oder lustige Geschichten vor oder trieb Schwänke und Späße in eigner Person. So daß die Armen getröstet und munter wurden. Wenn er darob bisweilen seinen Bureaudienst versäumte, so dachte er, ob die Reisballen, die Strohsäcke und Bettdecken und Medizinen aufgeschrieben werden oder nicht, wenn sie nur da sind. Hauptsache sind die armen Leutle und daß sie immer einmal ein bissel Zerstreuung haben.

Da war in der Anstalt ein alter Holzhändler, so vergichtet und mühselig, daß er in der dunkeln Stube bleiben mußte, wenn draußen die warme Sonne schien, weil niemand war, der ihn ins Freie führte. Als nun der Schreiber Johann erschien, der tat es gerne. Er blieb auch sitzen unter dem Kastanienbaum neben dem alten Manne und hörte geduldig seinen Klagen zu. Und eines Abends, als die übrigen Spazierhumpler und Sitzer sich verzogen hatten, weil es kühl geworden, und auch Johann seinen Schützling ins Haus führen wollte, blieb der Alte sitzen, langte mit [S. 273] der dürren, fiebernden Hand hinter seine Brustjacke und zog ein verknülltes, vergriffenes Paket heraus.

»Herr Johann!« sagte er leise und hastig, »das gehört Ihnen. Es ist mein Geld, sie wissen nichts davon. Ich mag nit, daß es in den großen Sack kommt, da spürt kein Mensch was davon. Sie sind der Mensch, der's recht anwendet. Es gehört Ihnen. Da, da — nur geschwind einstecken!«

Johann nahm das Paket in die Hand. »Sie meinen, daß ich's Ihnen aufheben soll.«

»Ich brauch's nimmer. Will nur, daß wer was hat davon. Erspart ist's redlich. Aber dumm dürfen Sie nit sein und es ausplauschen. Tun's es gut einschieben.«

Es schien ihm nicht weh zu tun, dem Alten, wie er nun seinen Sparpfennig hingab, an dem er wohl viele Jahre lang gesammelt hatte und an dem sein Herz gehangen war. Aber angelegentlich verfolgte sein Auge den Vorgang, wie Johann das Paket in seine Brusttasche steckte. »Schön fleißig zuknöpfeln!« murmelte der Alte und knöpfte mit krampfigen Fingern über Johanns Tasche den Knopf ein. Bald hernach wankte er am Arm des Schreibers ins Haus.

An demselben Abend war's, daß der Direktor der Anstalt dem Hans Johann eröffnete, daß er entlassen sei. Grund gab er keinen an, war auch überflüssig. Johann wußte recht gut, daß er nicht aufgenommen worden, um die Pfleglinge zu unterhalten, sondern um die Rechnungen und Wirtschaftskorrespondenzen zu besorgen. Da er letztere vernachlässigt hatte, so fand er seine Abdankung völlig in Ordnung.

Stärker überrascht war er nachher auf seinem Zimmerchen, und zwar von der Menge Geldes, die er im Paket fand. Dafür kann man ja ein Schloß kaufen und den alten Holzhändler in der Kalesche hineinführen! Und dann kann [S. 274] der Hans Johann sein Kammerdiener werden — so ist allen geholfen.

An einem der nächsten Tage, als er mit solch neuem Lebenslaufe beginnen will, ist der alte Gichtkrüppel richtig schon seit frühmorgens tot. Der Johann steht wie zerschlagen da. »Was tu' ich jetzt!« Auf die Leiche verwendete er nicht viel, denn davon hat niemand was und der Hans Johann ist ein praktischer Mann. Auch Almosen teilte er nur spärlich aus; Almosen, sagte er, mache Bettler; den Leuten müsse man viel gründlicher helfen. Von seinen großen Mitteln ließ er noch nichts verlauten, nur daß er ein Weilchen später im vorderen Labachtal, dort wo es windgeschützt und sonnig ist, ein Grundstück kaufte und große Erdarbeiten beginnen ließ. Eine Anstalt für Gichtleidende und Unheilbare soll errichtet werden, wo die armen Kranken besonders gut gehalten werden müssen und wo er mitten unter ihnen leben will, um zu helfen, zu trösten, wie es nötig sein wird.

Während die weitläufigen Grundfesten zu diesem Gebäude gegraben und gebaut wurden und stellenweise schon ein Mauerwerk emporzustreben begann, half der Johann einem notigen Kleinhäusler das Heu und das reife Korn unter Dach bringen, denn das — meinte er — sei für den Bauern die Hauptsache. Inzwischen, zu den kleinen Ruhepausen, trachtete er im Heu oder auf den Garben dem Söhnlein des Kleinhäuslers das Abc beizubringen; derlei Buchstaben, sagte er, seien zwar nicht die Hauptsache, auch die Lesekunst nicht und auch die Gelehrtheit nicht, aber daß man mit solchen Wissenschaften in der lieben Welt weiterkomme und ein tüchtiger Mann werde, das sei die Hauptsache.

»Wann d' schon alleweil von der Hauptsach' redest, da hast eine!« Mit diesen Worten versetzte ihm der Kleinhäusler [S. 275] eine klatschende Ohrfeige. »Garbentragen heißt's jetzt und nit schulfuchsen!«

Der Johann griff sich an sein also bedachtes Haupt und schwieg. Nichtig ist's eh, dachte er, wenn sie im Winter was zu essen haben wollen, muß man jetzt ernten. Daß er für sich nur Undank erntete, das war er schon gewohnt und fand es auch für selbstverständlich. So viel Tiefblick hatte er wohl, um zu wissen, daß es am besten sei, einem, dem man was Gutes getan hat, nachher in weitem Bogen auszuweichen; denn die Begegnung mit dem Wohltäter, den sie nicht mehr brauchen, ist den Leuten zuwider und der ganze Mensch wird ihnen zuwider, sie wollen am liebsten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Außer sie brauchen ihn wieder plötzlich einmal, dann halten sie es auch für selbstverständlich, daß er ihnen neuerdings hilft, und wenn er das zufällig einmal nicht kann, so werden sie ihm weit feindseliger als einem anderen, der ihnen nie was Gutes getan hat. Das alles hatte Johann erfahren und er dachte weiter nicht darüber nach. Er war jedem dankbar, der sich von ihm etwas Gutes tun ließ und blieb ihm dankbar und betrachtete ihn als einen Gönner, dieser mochte oft noch so roh und erkennungslos sein. Nun, so hat den Johann auch die Ohrfeige nicht im mindesten beirrt, er half emsig Garben tragen, und abends, als der Häusler ihm fast freundlich eine gute Nacht zurief, schlich der Johann gerührt in seine Behausung und dankte Gott für die vielen guten Menschen, die er erschaffen hat.

Wenn Johann dann wieder hinausging, um die Fortschritte seines Baues zu beschauen und wie emsig hier brave Leute arbeiteten, um armen Kranken ein Heim zu schaffen, da freute ihn die ganze Welt. Jedoch aber! Als die dritte Auszahlung war und der Baumeister darauf drang, endlich [S. 276] doch auch einen Kostenüberschlag zu bestimmen, da kam für unsern Idealisten einmal eine wirkliche Überraschung. Er hatte gemeint, mit seinen zweieinhalbtausend Gulden, dem Nachlasse des alten Holzhändlers, ein stattliches Krankenhaus mit den hierzu erforderlichen Stiftungen bestreiten zu können, und nun zeigte es sich, daß das Geld schon verbraucht war, während das Mauerwerk kaum noch mannshoch aus der Erde hervorstand. Da haben wir's jetzt. Der Johann griff sich an den Kopf und rief: »Deuxl, Deuxl noch einmal, daß so was so saumäßig teuer mag sein!« Nun mußte der Bau eingestellt werden und mit dem Gelde, das zu so hohen Dingen bestimmt gewesen, war nichts geschaffen als ein durchwühlter Boden mit Schutt und Steinen. Hans Johann wollte sich jetzt den Kopf wegreißen. Nicht ob der Leute Gelächter und Spott, denn hierin hatten sie ja recht, und er lachte und spottete mit ihnen — ach wie bitter bitterlich ist es, sich selbst auslachen zu müssen. Daß er aber ein so grundschlechter Verwalter des Nachlasses gewesen und kein einziger Notleidender davon auch nur um eines Hellers Wert Erleichterung hatte, das wollte ihm nicht gestatten, einen solchen Kopf noch länger auf dem Rumpfe stehen zu lassen. Jetzt wußte er endlich auch, was bei ihm die Hauptsache war. Eine grenzenlose Dummheit.

Fast schien es, als hätte er nun auch allen Kredit verloren. Wenn er jemand auf der Straße das Bündel wollte tragen helfen, oder wenn er am geländerlosen Labachsteg schwindelige Leute hinüberführen wollte, da sagten sie dreist: »Schau du auf dich selber!« Und das war tatsächlich ein guter Rat, denn er begann leiblich zu verkommen und zu verderben. Auf der Baustelle, zwischen den Mauern und Sandhaufen, baute er Erdäpfel an, aber diese wußten, daß der stolze Grund nicht ihnen vermeint gewesen, fühlten darob [S. 277] ihre Ehre verletzt und wollten nicht recht wachsen. Als sie im Spätherbste endlich doch so weit waren, daß sie den Spaten lohnten, dachten die Nachbarsleute: der Johann verschenkt sie ja doch! und stahlen ihm die Erdäpfel in der Mondnacht.

So ist die praktische Seite von Johanns Tätigkeit stets unpraktisch ausgefallen, während über die ideale Rechnung im Himmel gewacht wird, wir einstweilen also keinen Einblick haben. Zu jener Zeit aber behauptete ein tiefsinniger Mann, der Hans Johann würde seinen Mitmenschen noch einmal tüchtig imponieren und er hätte das Zeug zu einer großen Heldentat. Man hörte aber nichts weiter, als daß Johann in einem Eisenwerke ein Weilchen Schichtenschreiber war. Später soll er in einem Meierhofe des Unterlandes als Taglöhner gesehen worden sein. Und dann hörte man gar nichts mehr von ihm. Er war verschollen und auf der verlassenen Baustelle, wo das große Krankenhaus hätte stehen sollen, wucherten Nesseln und Disteln.

Um so merkwürdiger ist es, daß viele Jahre später von Leuten, die darum wußten, bei Mostar in der Herzegowina auf einem Friedhof ein halb verwitterter Grabstein gefunden wurde, der die Inschrift trug: Hans Johann, Soldat aus dem steierischen Infanterieregiment 27. Und darunter einige Worte in türkischer Sprache. Die darauf angestellten Forschungen ergaben folgendes: Hans Johann soll unter außergewöhnlichen Umständen für einen jungen Rekruten, der sehr an Heimweh litt, eingestanden sein, sei aber ein spottschlechter Soldat gewesen. Bei dem Einmarsche der Österreicher in die Herzegowina habe sich auf einem Bergpasse zwischen den Österreichern und den Türken ein Gefecht entsponnen. Johann sollte schießen, da sah er in demselben Augenblick, von einer anderen Kugel getroffen, einen türkischen Soldaten fallen. Das Gewehr warf er weg und eilte [S. 278] hin, um dem Schwerverwundeten beizustehen. Während er ihm aus seiner Feldflasche Labung einzuflößen suchte und ihn aus dem Bereich des Kampfes schleppen wollte, sank er selbst nieder, von einer Kugel getroffen. Der türkische Soldat, der mit dem Leben davongekommen, habe den barmherzigen Österreicher mit Ehren begraben lassen und den Denkstein mit der Inschrift gestiftet. Die türkischen Worte auf demselben heißen zu deutsch: Aller Hauptsachen Hauptsache ist die Liebe.


[S. 279]

Der Himmelherrgottswirt.

Eins sagt man den Tirolern nach. Sie hätten nämlich — sagt man — ihre Straßen darum so krummlinig angelegt, damit die Fremden um so länger durchs Land zu reisen und dabei um so mehr Geld im Lande zu lassen hätten. Indeß vermute ich, daß die krummen Linien weniger vom geradsinnigen Tiroler, als vielmehr von seinen höckerigen Bergen herrühren. Wohl wahr, die Straßen, die dort und auch anderswo im Zickzack die Täler durchziehen, wie eine mit schwerfälliger Hand gezogene Schrift, könnten streckenweise nachdenklich machen, wenn nicht schon die Eisenbahn da wäre, die, keinen Berg und keine Schlucht respektierend, die alte Schrift mit geraderen Linien durchstreicht.

Ich bin kein Ehrabschneider, aber dem Himmelherrgottswirt zu St. Peter beweise ich's, daß er viele Jahre lang jene Absicht hatte, die man den Tirolern ungerechtfertigterweise zuschreibt.

Man sieht's ihm sonst nicht an, er ist ein Bauer wie jeder andere, und trägt auch gerade kein Gesicht um, dem man so viel Bösartigkeit zutrauen könnte! Aber er hat ein Wirtshaus und treibt Handel, und so Leute, die ihren Vorteil bei anderen Leuten suchen müssen, werden es allmählich gewohnt, andere zu übervorteilen. »Geschäft« heißen sie es. Ja, wenn jedes unschöne Ding einen so schönen Namen hätte, es gäbe keine Betrüger und Gauner und Galgenstricke auf der Welt.

Weiter sagt man dem Himmelherrgottswirt nichts Unrechtes nach. Daß ich nur erzähle.

Das Dörflein St. Peter mit der Kirche und dem Wirtshaus [S. 280] steht auf einem Hügel. Die belebte Straße, die durch das Tal geht, steigt diesen Hügel hinan und drüben wieder hinunter in dasselbe Tal. Auf der Höhe, just vor dem Kirchhofstore, auf einer weißen Tafel steht mit schwarzen Lettern der schöne Spruch: »Radschuh bei Strafe von zwei Gulden!« Was sind an diesen beiden Steigungen nicht für höllische Wetter zusammengeflucht worden von blaukitteligen Fuhrleuten! Ruckweise gehetzt und geflucht, dann wieder geschoben und geflucht, dann wieder stecken geblieben und geflucht, und nachher die wilde Jagd von einer Wasserkehre zur andern und geflucht.

So ging's Tag und Nacht und selbst am Festtage war keine Stunde frei von solchem Lärm. Was sind die Rösser seit Urzeiten nicht geprügelt worden auf diesem Wege zum heiligen Peter hinan! Aber oben — fast schon oben nah' der Kirche — stand das Wirtshaus, da gossen die Fuhrleute Wein auf ihre Galle. Und hinunter ging's lustiger, da gab's nur zu fluchen, wenn bei Nichtanwendung des Radschuhes der Wagen einmal ein paar Pferde niederstieß und darauf der Zöllner die zwei Gulden Strafe einhob.

Ähnlich ging's Jahrzehnte lang zu. Da kam den Leuten vor wenigen Jahren eine merkwürdige Idee, die weiß Gott wie lange schon in der Luft gehangen sein mochte oder unten auf dem Erdboden gelegen neben dem Bach, ohne daß sie ein Mensch gefunden hätte.

»Warum,« sagten die Leute auf einmal, »muß die Straße den vertrakten Berg hinansteigen? Warum soll sie nicht unten im ebenen Tal neben dem Bach hinlaufen wie die vielen Meilen her?«

Warum? Ja, es wußte keiner warum. Nur der Kirchenwirt zu St. Peter gab Antwort.

»Warum?« sagte er und machte die Augen zu, wie er [S. 281] immer tat, wenn er etwas Gescheites sagte, »das ist desweg', weil im Tal beim Bach meine Wiese ist, über die ich nicht fahren lasse.«

»Du laßt nicht fahren!«

»Laß nicht fahren.«

»Kirchenwirt,« sprach ein anderer, »du weißt recht wohl, daß dir deine Wiese gut bezahlt werden wird.«

»Weiß es wohl.«

»Aber du weißt es auch, daß dein Wirtshaus auf dem Berg von der Straße leben muß. So steht die Sach'!«

»Und so wird sie auch stehen bleiben!« Damit schnitt der Wirt das Gespräch ab.

Seitdem war's wieder beim Alten. Aber doch nicht ganz. Früher fluchten die Fuhrleute, aber sie wußten nicht, auf wen; die steile Straße war unschuldig, sie wäre am liebsten gar keine Straße und möchte grünes Gras auf sich wachsen lassen; die schweren Eisenflossen waren unschuldig, sie wären am liebsten für alle Ewigkeit im Erzberg ruhen geblieben. Und die Weinfässer, Salzladungen und Kornsäcke konnten nichts dafür, daß sie so schwer wogen — und den Pferden konnte im Grunde nichts Überpferdliches zugemutet werden. Und wenn manchmal eine Kutsche mit Leuten bepackt heranächzte, so waren es gerade diese Lasten, die am wenigsten ein Scheltwort annehmen wollten. Die schönsten Flüche verpufften in der Luft. So früher. Aber jetzt! Jetzt wußten sie, wer Ursache war des blutigen Marterweges zu diesem Dorfe hinan, wo schließlich keiner was zu tun hatte, was nicht auch im Tale getan werden konnte. Die Flüche nannten von nun an den Kirchenwirt, schossen dem Kirchenwirt zu, diesem »kreuzvermarideiten Himmelherrgottswirt!« Wer wüßte es nicht, wie einzig so ein blaukitteliger Fuhrknecht [S. 282] in seiner Wut schelten kann. Und so bekam der Kirchenwirt den an und für sich sehr schönen, aber seiner Ursache wegen nicht schmeichelhaften Titel: »Himmelherrgottswirt«. Man muß es nur hören, wie das klingt, wenn es zwischen knirschenden Zähnen herausgeknurrt wird.

Aber der Himmelherrgottswirt machte sich nichts draus. Eher, als er die Straße unten im Tale über seine Wiese gehen ließe — an St. Peter vorüber, ohne nach St. Peter zu kommen, und die Fuhrleute und die Reisenden etwa gar unten beim Mosthansel einkehrten — eher läßt er sich kohlschwarz anfluchen über und über; dem Geldbeutel tut das ja nicht weh. — Dem Geldbeutel, meint ihr, das Fluchen nicht weh? Ja, seht, das Heranfluchen freilich nicht, aber das Vorbeifluchen doch! Die schwersten Fuhrwerke ächzten an dem Wirtshause vorüber und kehrten im Tale beim Mosthansel ein. Das war sonst eine recht kleine, schlichte Wirtschaft gewesen, beim Hansel, denn der Kirchenwirt hatte sie nie emporkommen lassen. Aber jetzt schaffte sich der Hansel mehrere Gattungen Weine an — alte und junge, weiße und rote, süße und saure — fast so verschiedenerlei, als der Gäste waren; legte sich auch Heu, Hafer und Mais zu, den Zugtieren zu Nutz; und Tierfleisch für solche, die Heu und Hafer verschmähten und sich doch sättigen und stärken wollten zum Fluchen über den Hügel, oder sich davon zu erholen hatten. Der Hansel selbst war ein junger, umsichtiger und unterhaltsamer Mann, der mit einer alten Muhme, die recht schwätzen konnte, die nun aufblühende Wirtschaft betrieb. Und wenn der Sonntag kam, so kamen sogar die Bauern der Umgegend zum Hansel zusammen, weil dort jetzt immer Gesellschaft war, und auch weil es freier herging, als wie beim Kirchenwirt, wo der Pfarrhof und der Friedhof so nahe waren. Da fanden sich auch Musikanten ein, und es tat sich [S. 283] zur Sommerszeit oft ein ganzes Volksfest zusammen vor dem Mosthanselhaus.

Zu solcher Zeit schien es fast, als käme die Reihe zum Fluchen an den Himmelherrgottswirt. Tat's aber nur im Gedanken; auswendig schnitt er ein lustiges Gesicht.

»Das wär' schon zum Lachen, wenn unsereiner auf so ein paar läppische Roßknecht' anstünd'. Man hat eh' von diesen Leuten mehr Schaden gehabt als Nutzen. Den Hof voll Mist, ja, das machen sie einem, und schuldig bleiben, das können sie wie's Schmenten (Fluchen) und das Schmenten können sie weit besser wie Vaterunser beten. Fuhrleut' Geld haben! Ja, wer's glaubt, wird selig; auf meiner schwarzen Tafel steht ein ganz anderes Evangeli zu lesen. Und die Herren Kavaliere, die vorbeifahren — hört mir auf, denen ist das beste zu schlecht und das wohlfeilste zu teuer. Mag mich gar nimmer scheren mit so Leuten — mag nicht, sag' ich!«

»Da hast einmal in Grund und Boden recht, Wirt,« entgegnete ihm darauf eines Tages der Tabakkrämer. »Desweg' ist's am gescheitesten, wir bringen die Straße zum Dorf herauf ganz ab. Lassen es gar nicht mehr herauffahren, das Bettelvolk — soll unten bleiben am Bach und Kroißen (Krebsen) fangen.«

»So redest du !« rief der Wirt, »du, der morgen schon Hunger leidet, wenn heut' kein Fuhrknecht mit der Blader vorspricht! Oder willst du ihn dir mit Essig und Öl machen lassen, deinen Tabak?«

Der Andere schupfte die Achseln: »Was kann ich machen! Die Landstraß' haben sie nicht gebaut, daß ich meinen Tabak anbring'. Verlegen sie den Weg, so muß ich mir halt helfen, wie ich kann. Daß ich ein Narr wär' und gegen die Vielheit streiten wollt'! — Schnupf eins, Himmelherrgottswirt!«

[S. 284]

Der Wirt schlug ihm die Dose aus der Hand.

»Geschieht mir recht,« murmelte der Tabakkrämer, »wenn man den heiligen Namen auf den hängt, das ist Gotteslästerung.«


Aber der Bau der Straße im Tal verzögerte sich von Jahr zu Jahr, denn gutwillig gab der Wirt die Wiese nicht und Gewalt wollte man nicht brauchen.

Da ging einmal ein alter Wurzelgräber durch das Dorf; der hörte das Schelten und Gotteslästern der Fuhrleute, die dem Kirchenwirt alle schwere Not und den Teufel ins Haus wünschten. An der hinteren Tür des Wirtshauses standen die Kinder des Wirtes, denen rief der alte Mann zu: »Euer Vater führt ein gutes Leben. Wenn aber die Flüche all' an euch ausgehen sollen! Es heißt ja doch, der Eltern Sünden müssen die Kinder büßen. 's ist schauderlich! Behüt' euch Gott, Kinder, ich tu' euch nichts.«

Und ging von Hundegekläff begleitet vorüber.

Da stund es an noch etliche Jahre, und es kamen die Weihnachten 1876. Der Heilige Abend ist doch sonst gewiß kein Unglückstag, gleichwohl er der Jahrestag ist, an welchem Adam und Eva erschaffen worden sein sollen. Aber beim Kirchenwirt zu St. Peter trug sich an diesem Tage was Trauriges zu.

Bisher, so lange von steifen Trotzköpfen und bösem Fluchen die Rede gewesen war, wollte ich das Dasein eines schönen Kirchenwirtstöchterls nicht verraten. »Sie war wie eine Blume,« man kann's besser nicht sagen. Sie war nun siebzehn Jahre alt und das Einzige, welches dem Wirte von seinen Kindern übrig geblieben. Ihretwegen war die letzte Zeit her mancher junge Fuhrknecht, der zu Trotz hier nicht [S. 285] mehr einkehren wollte, weit schwerer auf dem ebenen Boden vor dem Wirtshause vorübergefahren, als den Berg heran. Dieses Wirtstöchterl war bei so manchem der triftigste Grund, daß die Straße an beiden Seiten den steilen Hügel zum Dorfe hinanstieg. Ob Julchen für oder gegen die Verlegung der Straße war, das getraue ich mir nicht zu entscheiden, denn junge Leute gehen ihre eigenen Wege.

Und einen solchen, ganz absonderlichen, ging sie an jenem Heiligen Abend.

Man kennt ja die Weiber — aus lauter Warmherzigkeit und Lebenssehnsucht und Ahnen und Bangen abergläubisch über alle Maßen! Schon die jungen! — Da ist der rote Holler. Am Christabende während des Ave-Läutens gepflückt und dann in einen Blumentopf gesteckt, kann er im nächsten Fasching grünen. Tut er's, so kommt in demselbigen Jahre der Bräutigam. Ein Dirndl von siebzehn Jahren — da kann der Hollerzweig doch wohl schon treiben ... Man probiert's, nützt es nicht, so schadet es auch nicht.

An der rückwärtigen Kirchhofsmauer zu St. Peter wächst roter Holler. Mit einigem Zagen, aber vielem Mute läuft Julchen, während auf dem Turme die Ave-Glocke klingt, im Dunkel über den Kirchhof. Sie schaut sich nicht viel um, erhascht einen Zweig, eilt rasch wieder zurück und stürzt aus Hast in ein offenes Grab. Das war für einen alten, müden Pilger bereitet worden, der just am heiligen Christtag in die ewige Ruh' gehen wollte, oder — wie man's nimmt — in die Krippe aus Erden. — Wie der Küster das Tor schließt, hört er den Schrei — läuft hin und zerrt das vor Schreck ohnmächtige Mädchen aus dem Grabe hervor; es ist bewegungslos wie eine Leiche, und so wird sie nach Hause getragen.

Der Wirt ist dem Zusammenbrechen nahe, er meint, [S. 286] das Kind sei tot. Die Leute rennen auf der Gasse um und der böse Leumund, der immer nur auf einen Anlaß — am liebsten ein Unglück — wartet, bricht los wie ein zischend Heer in der Luft, das man nicht sieht und nicht fassen kann, und das in jedes Ohr bläst Spott und Hohn, und Schadenfreude weckt in dem Menschenherzen, auf welches reuig zu schlagen wohl jeder eine Ursache hätte.

»Da seht, da seht,« riefen die Leute, »das hat er jetzt! Umsonst ist da nicht so oft geflucht worden. Jetzt geht die Frucht auf. Fällt ihm sein Kind lebendig ins Grab! Ist das nicht augenscheinlich eine Strafe Gottes?«

Kann ein abgerissener Zweig wieder grünen, so kann auch ein junges, dem Grabe entrissenes Menschenkind wieder leben. Meint ihr nicht, Leute? Tretet ins Haus und seht, Julchen sitzt aufrecht, es fehlt ihr nichts. Ohnmachten bei jungen Leuten ziehen vorüber wie eine Frühlingswolke an der Sonne. Ihr Vater ist noch blaß vor Schreck, mit zitternder Hand streicht er ihr die Friedhofserde von ihrem braunlockigen Haar.


Und in der Nacht, als das Mädchen geruhsam im Bette schlief und auf dem Turme des Himmels Engel schon die Glocken läuteten, auf daß die zerstreute Gemeinde zusammenkomme zum strahlenden Altare — da schritt auch der Wirt in die Kirche. Er wankte wie ein Greis, der Schreck stak ihm noch in den Gliedern, noch bebte ihm das aufgerüttelte Herz. Daß sie an dem bedeutungsvollen Tage in das Grab fiel, das konnte kein gutes Zeichen sein ... Ihm war hart und bang.

So wollte denn in dieser Nacht, in welcher der Christ mit seiner Gnade herabgestiegen ist zur Erde — der Kirchenwirt [S. 287] vor der Krippe knien und Beruhigung erflehen. — Und als die zwölfte Stunde schlug, als das Christamt begann und das Lied: »Dies ist der Tag, von Gott gemacht!« erklang, da wurde dem Manne leichter ums Herz.

Zur Wandlung verstummte die Orgel. Die Gemeinde lag auf den Knien und jeder betete in dieser feierlichen Stunde für das liebste seines Herzens. — Mit gefalteten Händen betete der Wirt vor der Krippe für sein Kind. — Still war's. — Da rasselten draußen auf dem hartgefrorenen Boden schwere Wagenräder, Pferde stampften und wieherten unter pfeifenden Peitschenhieben, und von den Lippen des Fuhrmannes gellte ein grober Fluch. Und das war auf des Kirchenwirts Gebet die Antwort gewesen. —

Was bei diesem Zwischenfalle der Kirchenwirt empfunden hatte, das zeigt am besten sein Gang in die Sakristei, als kaum der Gottesdienst zu Ende war.

»Ein Wort mit dem Herrn Pfarrer,« stotterte er, »vielleicht wäre auch der Gemeindevorstand zuwege. Ein Stück Papier und Schreibzeug!«

Mit bebender Hand schrieb er's hin:

»Die Wiese am Bach für ewige Zeiten zur Straße.

Anton Egghofer,
Kirchenwirt zu St. Peter.«

Heute ist die Straße fertig. Sie geht, wie die Leute sagen, »handeben« im Tale hin. Das Fluchen kann man den Fuhrleuten nicht nehmen, sie haben sonst auch nicht viel Unterhaltliches auf der Welt, aber auf ebener Straße hört sich das ganz anders, als auf bergigem Grund.

Zu beschreiben wäre noch die Dankbarkeit der Pferde — doch, wir wollen die Wagen aller Art mit Gott und gutem Gespann ihrer Wege ziehen lassen.

[S. 288]

Wer nach St. Peter hinauf will , die alte Straße ist und bleibt noch fahrbar. Im Herbst des nächsten Jahres war's, als etliche sehr schwere Wagen vom Dorfe zu Tale ächzten. »Radschuh bei Strafe von zwei Gulden!«

Ja, freilich, bei solchen Brautfuhren, da heißt's einschleifen. —

Gekommen war's so: Im Fasching hatte der Hollerzweig gegrünt, im Mai hatte er geblüht, im Juni war der Mosthansel zum Julchen gegangen. Und jetzt Hochzeit.


[S. 289]

Herr v. Florin.

Er hätte Künstler werden können, er hätte Professor werden können, er hätte Bürgermeister werden können — Landtagsabgeordneter, Herrenhausmitglied — dann Baron oder Präsident, so oder so. Baron, wenn der Staat eine Monarchie verblieben, Präsident, wenn er eine Republik geworden. — Und ist nichts, als ein windiger Rasierer.

Ein Bartscherer, ein Haarkräusler und Geckenaufputzer, ein Perückenflechter und Haarzopfsträhner. Man verlangt, daß er Späße mache, und da er sie nicht macht, so macht man sich welche mit ihm. Man nennt ihn Doktor, er protestiert nicht dagegen, der Titel gebührt ihm; er ist belesen, er nennt alle hohen Berge der Welt beim Namen und weiß, wie hoch sie sind, weiß es in Fuß und Metern, kennt die Tiefen des Meeres und berechnet nach einem alten Atlas, wo die größten Tiefen sind. Er gibt dem Landmann, während er ihm den Bart abschabt, Fingerzeige über die Witterung der nächsten Monate, belehrt ihn, wie er den Dung streuen, woher er den Samen beziehen müsse. Er hat Agentschaften, und zwar deren so viele, daß er vor lauter Schildertafeln die Tünche seines Häuschens erspart. Er versichert dem Bauer das Haus, das Vieh, die Feldfrüchte, das Leben. — Wenn mir dieser »Lebensversicherer«, denkt sich der Bauer, »nur jetzt die Gurgel nicht abschneidet! Anstellt er sich g'rad so. Kratzen tut der Saggra schon, daß man die Engel singen hört! Schneidet denn das Messer nit?« — Allerdings, das Messer rostet schon, denn Herr Florin hängt das Geschäft an den Nagel und rasiert den Mann nur aus Gefälligkeit. Er will ihm auch aus Gefälligkeit den Prozeß führen helfen, [S. 290] den der Bauer mit einem Nachbar hat. Meister Florin weiß sich gut aus im Gesetzbuch und wird dem findigsten Doktor zu gescheit. Er führt verschiedenerlei Schreibergeschäfte, hat hier einen Strauß mit dem Steueramt, dort einen Handel mit dem Bezirksgericht, da ein Renkontre mit dem Notar oder mit einem Gläubiger, mit dem oder jenen — und gewinnt, gewinnt alles.

Daher will er das Rasiergeschäft aufgeben, es sind schlechte Zeiten. Ja, früher, in seines seligen Vaters Jahren, wo jeder brave Staatsbürger fortweg sein glattes Gesicht haben mußte, da war's leicht, Rasierer zu sein. Aber jetzt, wo die Leute ihren Patriotismus und ihre Weisheit und ihr politisches Bekenntnis in den Barthaaren herauswachsen lassen, jetzt wird der Rasierer — und er mag der klügste und fleißigste Mann sein — ein fallider Fallot.

Überhaupt — und das Wörtlein hat Meister Florin immer auf der Zunge — überhaupt, das fliegt so über alles hin, da steckt alles d'rin, was der Sprecher meint, aber nicht weiß, oder wenn er gar nichts meint und nichts weiß, als nur, daß hier ein Wort gut stehe, so sagt er: überhaupt, und hat damit sehr viel und sehr vernünftig gesprochen. Also — »überhaupt«, sagt der Meister Florin, »es ist nicht mehr so wie früher, die Welt ist ganz anders geworden, heute siegt nur das Geld und der Protze, der Brutale, der Aufdringliche, überhaupt der Windbeutel. Ich könnte heut' auch anders dastehen, aber ich bin immer zu ehrlich und bescheiden gewesen. Den ersten Prügel hat mir mein Vater unter die Füße geworfen, weil er mich nicht studieren ließ, sondern mich zu seinem Handwerk zwang, zu dem ich niemals Lust und Schick gehabt habe. Ich bitt' euch, ein strebsamer, intelligenter, für alles Schöne begeisterter junger Mann, Friseur! Aber ich habe mich herausgearbeitet. Wenn ich heute [S. 291] das Geld hätte, das mir die Kerzen gekostet haben, bei denen ich die ganzen Nächte hindurch studiert habe! In den einundzwanzig Jahrgängen der Theaterzeitung und in den Jahrbüchern des Gothaer Almanach und im Selbstadvokat gibt's kein Blatt, das ich nicht in mich aufgenommen hätte. Ich habe meine Freude dran gehabt, überhaupt, ich habe immer Sinn für was Besseres gehabt. Und ich hab's mitgemacht, wie wir die Eisenbahn bekommen haben und den Telegraph. Bei meinem Aufwachsen hat noch keiner in unserer Gegend eine Baumwolljoppe getragen, und das Einjährig-Freiwilligen-Institut jetzt, die Hinterlader, überhaupt das ganze Kriegswesen. Das ist ein Fortschritt! Ich bin fortweg bei den Fortschrittsmännern und Aufgeklärten gestanden und überhaupt, früher ist die Welt in zweihundert Jahren nicht um das weitergekommen, als wie zu meiner Zeit. Es ist besser geworden und es wäre ganz gut geworden, wenn nicht die Anmaßung das große Wort führte. Der ehrliche Mann verarmt. Es ist ja zum Rasendwerden, wenn man betrachtet, wer heute das Heft in der Hand hat.« So seine Betrachtungen.

Er war im Stadtschulrat, aber sie haben ihn nicht zum Obmann gemacht, er ist in den Gemeinderat gewählt worden, aber bei der Bürgermeisterwahl, da —! Er hätte wenigstens zwei Drittel der Stimmen gehabt, aber die Kabale! Die Kabale, ihr Herren! — Sie haben es ganz gut gewußt, was sie tun; denn wenn er, der Meister Florin, obenauf gekommen wäre, da hätt's anders gehen müssen. Er wüßte schon, was zu machen wäre! Eine Mustergemeinde hätte er geschaffen, an der sich selbst der Staat ein Muster genommen haben würde. Man hätte »oben« gefragt: wer ist der treffliche Mann? Gehörte er nicht vielmehr hierher an's Ruder, als daß er seine Kraft in dem engen Wirkungskreise vergeude?

[S. 292]

Vor einer solchen Aussicht wird jeder Geschäftsmann — er braucht nicht erst Friseur zu sein — die Lust an seinem Berufe verlieren. Meister Florin macht bekannt: er rasiert nicht mehr. Jetzt kommen Fremde ins Städtchen, Touristen, sie suchen einen Friseur. Ist keiner da. Sie suchen auch einen Führer. Allsogleich tritt Meister Florin hervor und macht seine höfliche Aufwartung, er kennt die Gegend, wie sonst gar keiner mehr, er ist gerne bereit. — Schön, was er begehre? — Bitte, es macht ihm ein Vergnügen, er ist mit von der Partie. Sie suchten einen Führer und finden einen Kavalier. Um so besser. Den Träger für Mäntel und Mundvorrat bestellt der Herr Florin; sie laden ihn ein, aus ihrem Vorrate zu essen, mitzutrinken; er will nicht ablehnen, er tut den Schinken und Flaschen sehr viel Ehre an; er ist stets delikat, aber das ist zufällig seine Leibspeise, sein Tropfen — hoch sollen sie leben!

Er weiß unterwegs stets zu erzählen und spricht ganz im Geiste der Zeit, heißt das, wenn er merkt, die Fremden hätten keinen. Er erzählt gern von sich und was ihm eben so am geläufigsten ist; die Fremden heucheln Interesse, so lange sie's vermögen, endlich aber danken sie für seine freundliche Begleitung und gehen ihrer Wege.

Trotzdem, oder — überhaupt, die Fremdenführerschaft trägt mehr, als das Friseur- und Rasiergeschäft, sie trägt wenigstens die Kost und man ist in der frischen Luft und Naturfreund ist man auch. Ist's und wird's von Tour zu Tour mehr, denn überall erinnert man sich, was einen früheren Touristen entzückt hat und das entzückt einen nun auch und so bringt man im Laufe der Jahre eine Unzahl von »romantischen« Wegen, entzückenden Punkten und Aussichten zusammen.

Endlich nimmt er wahr, daß er ein so gewaltiger Naturfreund [S. 293] und Tourist geworden ist, daß er davon leben kann. Er läßt sich als Führer immer noch nicht lohnen, aber die Präsente, die der Kavalier dem Kavalier verehrt, die darf er nicht abweisen. Er hat davon schon eine respektable Sammlung, er verkauft sie nicht, es sind werte Andenken von hohen Bekanntschaften und lieben Freunden — und versetzen, nur wenn's sein muß. Auch die Touristenvereine sind ihm erkenntlich, und wie die Assekuranzen — die er längst vernachlässigt und verloren hat — einst das Äußere seines Hauses mit Agenturtafeln dekoriert haben, so dekorieren die Touristenvereine es von innen mit Diplomen, Gebirgskarten und Edelweißorden. Er übt wieder Gegenerkenntlichkeiten und wirbt Mitglieder für die Vereine. So wird er bekannt und gesucht und jeder Fremde, der am Bahnhof dem Zug entsteigt, frägt als sein erstes nach dem Herrn Florin. Der steht schon da, stets nett beisammen, in Nationaltracht, stets höflich, lüftet seinen Touristenhut, ist dem Herrn zuvorkommend zur Hand beim Aussteigen, beim Gepäcktragen, bei der Suche nach einem Hotel, und dem Fremden bleibt nichts anderes übrig, als sich gefangen zu geben.

Der Gasthofbesitzer weiß meinen Florin wohl zu würdigen, und wenn dieser für genossene Speis und Trank um die Rechnung ersucht, so vertröstet ihn der Wirt von Tag zu Tag, bis Herr Florin endlich nicht mehr ersucht und sich die Gasthauskost von Tag zu Tag so trefflich munden läßt, als ob's auf der weiten Welt kein Stücklein Kreide gäbe. Es geht. Sehr gut geht's, und Meister Florin sagt es selber: es ginge ihm sehr gut! und er muß es am besten wissen. Daß er einmal Rasierer gewesen, hört er nicht gern, es war auch nur ein Spaß von ihm gewesen, ein schlechter Spaß. Er wohnt auch gar nicht mehr im Friseurhäuschen, das ist der Habgier eines Gläubigers zum Opfer gefallen, gegen den [S. 294] der Meister den langjährig geführten Prozeß ganz unstreitig gewonnen hätte, wenn nicht Bestechung und Hinterlist von Seite des Gläubigers stattgefunden hätte. Überhaupt sind die Leute heutzutage von einem greulichen Eigennutz besessen, nur der Wirt nicht, nein, der ist ein braver Mann. Jetzt wohnt er auch bei ihm.

So verkehrt Meister — was Meister! Herr von Florin nur mehr mit vornehmeren Leuten, und wenn man dem Gespräche zuhört, das er und ein zugereister Universitäts-Professor führen, so ist kein Zweifel, wer der Gescheitere ist — nämlich der Herr von Florin. Man kann aber ordentlich erschrecken, wenn Florin plötzlich behauptet, das deutsche Kaiserreich tauge nichts und er mit wenigen diktatorischen Aussprüchen mir nichts dir nichts die Republik einführt und der Fürst Bismarck wie ein armer Schlucker dasteht, noch um ein paar Stündlein Leben bittend. Der Professor ist gar nicht imstande, der Tragweite dieser unerhörten Reformen zu folgen, daher schweigt er, und das imponiert den umsitzenden Zuhörern. — »Ja, wie Florin gesprochen, da hat der gelehrte Herr nachher kein Wort mehr zu sagen gewußt.«

Wie steht er jetzt da, der Herr von Florin! Von altersher — und zwar seit etlichen vierzig Jahren — heißt er Franz Viktor Florin; jetzt, der Name ist ihm zu lang, er ist selber nicht über fünf Schuh lang, er braucht keinen so langen Namen, er kürzt ihn, setzt anstatt des Wortes Viktor bescheiden nur ein kleines v. und jetzt lautet die Visitkarte: Franz v. Florin. Das steht! sehr gut steht's, und somit wäre er nun eigentlich oben.

Aber da sehe man den Neid des Schicksals! Überhaupt, wer zum Unglück geboren ist usw. Auf einmal legt sich der Wirt hin und stirbt und macht den Herrn v. Florin brotlos und dachlos. Denn der junge Wirt ist ein Zopf und sagt, [S. 295] Florin solle arbeiten, er sei noch stark genug dazu. — So! Also das ist der Lohn, daß er die Fremden herbeigezogen und die Gegend bekannt gemacht hat! Das ist der Lohn für die Dienste, die er dem Hause und der Gemeinde und jedermann geleistet hat! Die Kinder werden einst als alte Leute erzählen von Herrn von Florin, wie schlicht er war und jovial und welche Reden er der Jugend oft gehalten hat und wie er für den Fortschritt gewesen und was ihm das Städtchen verdankt. Manche alte Schrift von seiner Hand wird verblaßt und vergilbt noch Zeugnis ablegen von dem strebsamen, vielseitigen Manne, der seiner Zeit voraus gewesen. Aber heute! Heute läßt man ihn darben. Zwar findet er immer noch gute Seelen, die seinen Nahrungsbedürfnissen Rechnung tragen, mein Gott, er ist ja leicht zufrieden! Aber der Rock will verblassen und die fremden Herren, wenn sie kommen, wollen mit dem fadenscheinigen Rock nicht gerne an einem Tische sitzen. Er ist immer noch geistesfrisch, ja lustiger als früher und weiß allerlei Schnurren, auch singt er und macht Musik dazu auf der Zither oder der Gitarre. Er weiß possierliche Lieder, Sprüche und schalkhafte Anekdoten. Man lacht darüber, man wartet ihm mit einer Zigarre auf oder läßt ihm ein Glas Wein vorsetzen und so ist es immer noch unterhaltsam. Es gibt Leute, die sagen ihm, er solle sich nicht so an die Fersen der Fremden heften und sich nicht zum Spaßmacher hergeben, er solle lieber wieder seinen Rasierladen aufmachen. Das sind die Kurzsichtigen. Sie wissen nicht, was er will und worauf er es abgesehen hat. Er wird noch eine einflußreiche Stellung gewinnen und dann seine weltbeglückenden Pläne durchführen.

Einstweilen verkommt er immer mehr. Mancher Fremde, der im Städtchen absteigt, er mag Tourist sein oder Agent oder Vereinsmeier, nützt ihn aus, so viel noch auszunützen [S. 296] ist. Er ist eine allbekannte Figur und viel armseliger und niedriger denkende Subjekte, als er ist, machen ihn zur Zielscheibe ihres Spottes.

Endlich glaubt er's, daß er nichts erreichen wird; er klagt über ein verfehltes Leben, setzt die Hoffnung aber auf seine Kinder.

Er hat einen Sohn; der ist geistig sehr begabt, hat ganz den Kopf von seinem Vater. Der soll studieren. Es ist kein Geld da, es ist keine Protektion da, oder hat ein oder der andere seiner guten Bekannten doch etwas zugesagt? Gewerbsmeister des Städtchens wollen den aufgeweckten Jungen ins Geschäft nehmen, ihm ein Handwerk lehren. Ha, das wäre wieder die alte Leier; dieses florinische Blut ist für was besseres rot geworden; der Bursche muß in die Hauptstadt. Er soll sich dort selber fortbringen, Freunde suchen und sich aus eigener Kraft aufschwingen. Das macht den Mann. Der Vater hält ihm noch eine schwunghafte Standrede, wie sie wortprächtiger in keinem Buche zu finden ist, und der Junge geht in die Stadt. Er schreibt verzagte Episteln heim, der Vater schickt ihm Briefe voll begeisternder Phrasen, aber sonst ohne Inhalt. Da schreibt der Sohn in immer längeren Zwischenräumen immer kürzere Briefe, endlich bleiben die Briefe ganz aus und das ist dem Herrn Florin ein Zeichen, daß die Taube ein Gestade gefunden hat.

Nun hat Florin — sein Weib ist ganz Nebensache, das ist da oder es ist nicht da, einerlei; ist es da, so wird es wohl irgendwo eine Dachkammer haben, wo es sich mit Nähen oder Stricken fortbringt — trotzdem hat Herr Florin auch eine Tochter. Mit der läßt er sich nicht ungern auf der Gasse blicken, denn sie ist schon bald kein Kind mehr und wächst sich recht sauber aus. Sie als Küchenmädchen zum Wirt geben, oder gar zu einem Bauer in die Arbeit? Nein. Das [S. 297] Mädchen hat bessere Aussichten. Ein Baron war da, ein Tourist, der sagte, das Kind müsse in die Stadt, da könne es sein Glück machen. Da erinnert sich der umsichtige Vater sofort an gelesene oder gehörte Fälle, wo arme aber hübsche Mädchen auch in der Stadt ihr Glück — bisweilen sogar ein unglaublich großes Glück gemacht haben. Der Herr Baron erklärt sich bereit, für das Kind eine Stellung ausfindig zu machen, einstweilen könne es in seinem eigenen Hause wohnen. — Also doch gute Leute, und Herr v. Florin sagt, Glück habe er niemalen viel gehabt, aber gute Menschen habe er immer gefunden, überhaupt habe es den Anschein, daß sich sein Glück erst bei seinen Kindern einstellen werde.

Er läßt das Mädchen fort und nun — sind die Kinder versorgt. Sie sind's zwar nicht, aber Florin ist gewohnt, alles so auszulegen, wie es am schönsten klingt. Sein Stolz ist, wenn er erzählen kann: Der Sohn studiert auf einen Doktor, die Tochter ist beim Herrn Baron.

Florin beginnt zu altern, aber er hat noch einen Plan, das ist der einzige, den er in seinem Leben durchgeführt hätte, wenn er ihn durchgeführt hätte. Er kann singen, versteht sich auf Saitenspiel, hat die Gabe, zu unterhalten; er will fahrender Musiker werden. Das ist gar nicht dumm, das ist der erste Schritt zum Mitgliede eines größeren Kunstinstitutes.

Das Mißgeschick ließ es aber nicht dazu kommen. Überhaupt, das Mißgeschick! Nun sitzt er viel in den Schänken herum und setzt sich zu dem, der just da ist und hebt einen flotten Diskurs an und läßt Possen los und will fortgehen. Die Leute sind warm, da darf der Herr von Florin nicht fortgehen, sie lassen ihm Wein bringen. Das Wasser, das er zum Wein gießt, hält ihn noch aufrecht. Aber beim Branntwein, da ....

Der Branntwein tut das seine und es gibt einflußreiche [S. 298] Leute in der Gemeinde, die behaupten, für den alten Florin wäre es am besten, wenn man ihn ins Armenhaus täte.

Der alte Florin?

Ja, es ist wahr, er ist grau, er sieht verfallen aus. Wenn er sich nur öfters ein Stück Fleisch gönnen könnte! Warum sollen denn seine Kinder, denen es in der Stadt gut geht, nichts für den Vater tun? Keines läßt was von sich hören.

Nun wird in die Stadt geschrieben. Es kommt eine Antwort; sie ist von fremder Hand und berichtet, daß der Sohn vor längerer Zeit wegen Bauernfängerei eingezogen, später wieder freigelassen und seitdem verschollen sei.

Herr v. Florin erschrickt zuerst, dann aber lächelt er, denn er glaubt es nicht.

Aufgefordert, schreibt auch die Tochter, sie sei nicht beim Herrn Baron, aber sie wolle ihren Eltern nicht mehr unter die Augen treten.

Herr Florin schüttelt den Kopf — er kann es nicht verstehen.

Und so rinnt die Zeit hin, von Tag zu Tag mit steigender Geschwindigkeit — wie es im Alter schon geht. Der Florin sitzt auf der Gartenbank des Armenhauses und schaut den Bienen zu. Einer, der vorbeigeht, denkt sich: Ja, alter Florin, du hättest den Bienen früher zuschauen und dir an ihnen ein Beispiel nehmen sollen. Du hast dich deines ehrlichen Gewerbes geschämt, hast es verlassen und verleugnet. Hast hingeflunkert, hast hergeflunkert, dein spitzfindiges Spintisieren und deine hohle Schlauheit hat dich auf die Holzbank vor dem Armenhaus gebracht. Und wenn jetzt von den fremden Herren, denen du gefällig warst, von den hochgestellten Freunden, die dir geschmeichelt haben, einer hier vorbeigeht, so wird er dich nicht kennen, und kennt er dich, [S. 299] vielleicht sein Haupt wegwenden und in sich hineinmurmeln: Ei, das ist ja dieser Schwätzer, dieser Fex, dieser — er hat allerlei Namen zur Auswahl. Er ist bald vorüber. Ich aber bin der, welcher dir einst vielleicht den Rat gegeben hat: bleibe deinem Gewerbe treu und arbeite! Ich gehe nicht an dir vorbei, ich frage dich: »Wie geht es dir, alter Florin?«

Er schrickt auf. »Danke, danke,« sagt er, »so weit gut, recht gut. Dank der Nachfrage!«

Eine solche Zufriedenheit auf dieser Bank verdient doch einen Zehner. »Da, Alter, kannst damit nichts mehr verderben — gönne dir ein Glas auf mein Wohl!«

O, im Glase, das er nun trinkt, ist mehr d'rin, als der Spender ahnt, der Florin — der Herr Franz von Florin ist Bürgermeister, Touristenvater, Abgeordneter, Regierungsrat, Schöpfer und Ordner aller politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse des Landes.

Um einen Silberzehner! In der Tat, billiger kann man das Glück nicht haben. — Und überhaupt das Glück ....


[S. 300]

Der Steinschädel.

Es war ein so prächtiges Bauerngut gewesen. Voreh'! Voreh'!

Dann wurde es anders. Der Hinterberger zahlte keine Steuern. Und doch war er der Besitzer und Nutznießer aller Grundstücke, die den Hinterberg einhüllten und die sich fast herab ins Tal der Lansa erstreckten.

Der Hinterberger war nichts weniger als glaubselig. Was in den Büchern stand, von dem meinte er, das Papier wäre geduldig und man könne d'rauf drucken, was man wolle. Was auf der Kanzel gepredigt wurde, von dem hatte er eine nicht viel bessere Meinung: reden ließe sich alles, was man reden wolle, und man wolle gerade das reden, was zu eigenem Vorteile wäre. Gegen die Meinungen der Nachbarn und den Rat der Verwandten war er nicht minder verstockt — der Steinschädel wurde er geheißen.

Da kam im Jahre 1848 einer jener Wanderprediger, wovon manche vernünftig, viele aber Narren gewesen sind. Und dieser Mann predigte, daß der Bauer von nun an freier Herr seines Grund und Bodens wäre und also keine Steuern und Abgaben mehr zu entrichten brauche.

Keine Steuern und Abgaben mehr! Das glaubte der Hinterberger aufs Wort. Das leuchtete ihm ein; denn was mein ist, davon bin ich keinem Menschen was schuldig. Zudem stand's ja auch in den »Herrschaftsbriefen«, er bekam ein- für allemal die Papiere über die Grundablösung — und nun war er ein freier Mann im freien Staate.

Er zahlte keine Steuern mehr, blieb aber trotz aller Behörden Besitzer und Nutznießer des ganzen Hinterberges. [S. 301] Die Behörden zwangen ihn auch nicht — sie ließen ihm bloß das Vieh aus dem Stalle und das Getreide von der Scheune führen und deckten damit die Steuern und die Unkosten, die aus solchem Gebaren erwuchsen.

Da schrie der Hinterberger freilich auf, man täte ihm kreuzunrecht, und der Staat, der verpflichtet sei, Hab' und Gut seiner Bürger gegen Raub zu schützen, sei selber der Schelm ...

Zu den Advokaten ging er und suchte Gerechtigkeit, wie er sie dachte.

»Ja, Bauer, das ist nicht so!« sagten die Advokaten.

»Warum ist das nicht so?«

»Ihr sagt ja selbst, daß Ihr den Schutz des Staates erwartet — wollt Ihr den umsonst haben?«

»Ich? Den Schutz des Staates? Wozu? Können mir meine Felder gestohlen werden? Kann mir mein Wald von Räubern umgehauen werden über Nacht? He?«

»Aber in Eure Wohnung kann man einbrechen, mißhandeln kann man Euch und das Haus über dem Kopf anzünden.«

»Freilich,« rief der Hinterberger, »wer's will und stark genug ist, der tut's, bricht in meine Wohnung, schlagt mich tot, zündet mir das Haus an. Bis Eure Polizei hinaufkommt auf den Hinterberg, ist alles vorbei. Wenn ich selber kein Gewehr im Haus hab', so bin ich hin. Jetzt möcht' ich wissen, wofür ich Steuern zahlen soll!«

»So wollt Ihr dem Staate entsagen, Hinterberger? Glaubt Ihr, daß Ihr allein bestehen könnt? Habt Ihr alles auf Eurem Grund, was Ihr zum Lebensunterhalte braucht? Seid Ihr nicht angewiesen, die überschüssigen Früchte Eurer Felder zu vertauschen, zu verkaufen, um anderen Bedarf, der bei Euch auf dem Hinterberge nicht wächst, einzulösen?«

[S. 302]

»Ich?« fragte der Bauer, »nein. Wir Hinterberger Bauern sind auf ein solches Austauschen nicht angewiesen, aber Ihr Herrenleut' seid es. Ihr sollt froh sein, wenn wir Euch das Korn und das Rindfleisch verkaufen . Freilich kommt Ihr billiger dazu, wenn Ihr mir's mit Gewalt wegnehmt.«

Das war die Logik des Hinterbergers. Und die Advokaten, die sonst jeden Prozeß der Klienten mit Zuversicht auf sich zu nehmen pflegen, ließen ihn im Stich — alle. Der Bauer fand's ja erklärlich — sie halten all' zusammen.

Die Nachbarn sagten ihm: »Sei gescheit, Hinterberger!«

Er antwortete: »Oh, ich bin gescheit genug, aber ihr seid dumm. Tätet ihr mit mir halten, durchsetzen wollten wir's! Aber einer allein? ... Und doch geb' ich nicht auf, was mein ist, davon zahl' ich nichts weg!«

So ging es fort. Alljährlich war dasselbe. Zuerst kam der Bote mit der Aufforderung zum Steuerzahlen, dann kam die Drohung, dann kam die Pfändung.

Und hierauf saß der Mann traurig vor seiner Haustür und murmelte: »Jetzt sind wieder die Schelme dagewesen.«

Er hatte Weib und Kinder. Die Kinder verwahrlosten, das Weib verkam. Dem weinenden Weibe drückte der Gerichtsmann gutmütig die Hand und bat um Verzeihung, daß er seine Pflicht tun müsse. — Als die Knaben heranwuchsen, kannten sie nur eine Ungerechtigkeit auf der Welt: das Gesetz, und nur einen Feind: den Steuerbeamten.

Der Gerichtsbote weigerte sich, in den Hinterbergerhof hinaufzugehen; die Knaben empfingen ihn mit Steinwürfen, der Bauer tat sein altes Schußgewehr zurecht. »Jeden Schelm, der in mein Haus kommt, schieß' ich nieder.«

Da mußte er's erfahren, daß das Gesetz noch ungerechter sein konnte, als bloß Hab' und Gut wegzunehmen, daß es [S. 303] auch die persönliche Freiheit vernichten konnte. Zwei Standarn (Gendarmen) kamen und reckten zur Tür die Gewehrläufe mit den Bajonetten hinein. Das Weib des Hinterbergers kreischte auf — solche Räuber waren noch nie dagewesen. Der Mann sagte gleichgültig: »Ein dummer Kerl müßt' ich sein, wenn ich mich jetzt wehren wollt'. Da habt's mich, schleppt's mich mit, bringt's mich um!«

Er saß wochenlang im Arrest. Er machte dort Bekanntschaft mit anderen, die mit dem Gesetze ebenfalls im Kriege lebten. Der »Steinschädel« war sonst ein Feind des Lernens, weil er ja ohnehin alles wußte und weil Fremdes seiner Überzeugung stets entgegen war. Aber im Arrest — das gestand er sich — war manches zu profitieren. Die Genossen waren reich an Erfahrungen und hatten neue Ideen. — Entweder der Mensch hat sein Eigentum für seine Person, dann muß der Mensch dieses Eigentum fest zusammenhalten, und keiner hat das Recht, davon zu nehmen. Oder der Mensch hat kein Eigentum, alles ist gemeinschaftlich, gut, nachher muß aber der Reichtum so verteilt sein, daß jeder gleich viel hat. Nachher hat jeder Sachen genug, nachher gibt es keinen Armen mehr.

Der Hinterberger hatte sein Lebtag noch keinen Menschen so gescheit sprechen gehört als den arretierten Tischlergehilfen, der obiges erörterte. Entweder so oder so! — Aber Steuerzahlen, das ist nicht so und nicht so und hat keinen Sinn.

Als der Hinterberger endlich vom Gefängnisse entlassen nach Hause kam, fand er das Elend noch größer. Die letzte Kuh war aus dem Stall gepfändet; das Weib lag krank auf dem Stroh und die Kinder balgten sich um die letzte Brotkrume. Zu den Nachbarn war sein Weg, daß sie ihm hülfen. Sie lachten ihn aus: »Du Narr, du bist selber schuld. Hättest [S. 304] nur etliche Bäume aus deinem Wald verkauft und die Steuerschulden wären gedeckt gewesen.«

»Die Steuer- Schulden ? Wieso Schulden?«

»Ja glaubst denn, Nachbar, du kommst auf, gegen die Weltordnung?«

»Ich weiß es, daß ich zugrunde gehe, aber ich weiß es auch, daß ich recht habe, und das ist ein ganz anderes Recht als jenes, so in euern Gesetzbüchern steht. Und es wird kommen, daß kein Mensch mehr Steuern zahlt, als etwa der Pächter. Ja, da möcht' ich leben.«

Es kam die Zeit heran, da der älteste Sohn des Hinterbergers militärpflichtig wurde. Das wird wieder einen Sturm geben mit dem Alten, meinten die Leute. Aber siehe, der Bauer hatte kein Wort dagegen und ermahnte noch den Burschen, seinen Vorgesetzten zu gehorchen und ein tapferer Beschützer des Vaterlandes zu sein.

Die Behörde hatte mit ihm so viel Nachsicht als möglich. Der Pfarrer besuchte ihn einmal und suchte ihn mit Vernunftgründen zu bekehren. »Hochwürden« sprach der Bauer rundweg, »wenn Er vom Himmel und Hölle predigt, da hört man Ihm gern zu; wenn er anstatt Saufen und Raufen das Beten und Almosengeben aufbringen will, so hat's auch noch seinen Schick, aber vom Steuerzahlen — mit Verlaub — versteht Er gar nichts.«

Da stieg der Oberamtmann selber einmal hinauf gegen den Hinterberg mit der Absicht und der festen Überzeugung, den närrischen Kauz mit Güte zu bekehren. Er kam eher zurück, als er sich gedacht hatte, kam sehr aufgeregt zurück und gab Befehl, gegen diesen wilden Menschen auf dem Berge nicht die geringste Rücksicht mehr walten zu lassen. Was ihm passiert war, ist nicht offenbar worden.

Nun pfändeten sie dem Hinterberger den schwanken [S. 305] Tisch und den wurmstichigen Kasten, so daß die wenigen Habseligkeiten hingeworfen lagen auf dem morschen Fußboden. Elend sah es aus im Hause, und die erwachsenen Jungen lungerten arbeits- und zuchtlos draußen in den Weiten herum und aßen ihr Brot, wo und wie sie es fanden. Eines Tages wurden zwei davon als Wildschützen eingefangen.

»Ist nicht in Ordnung das!« meinte der Alte, »nur abstrafen, ist schon recht, nur abstrafen!«

»Dann muß man auch dich mitabstrafen,« rief ein Nachbar, »wie du deine Kinder hast gebogen, so sind sie erzogen. Darf man ein Gesetz überschreiten, warum nicht auch zwei, warum nicht auch das dritte, wenn's gelegen ist, warum nicht alle?«

Mit der armen Hinterbergerin hatte es endlich ein Ende. Ihr letztes Wort im Sterben war gewesen: »Gott Lob und Dank!«

Die Leichenkosten bezahlte er willig und bar. Aber als die Verlassenschaftsgebühren zu erlegen waren, fluchte er: »Der Tod auch besteuert? Auch mit dem machen sie noch ein Geschäft? Verdammt!«

Eines Montagmorgens war die ganze Gegend in Aufregung. In der Lansa war ein junger Bursche erschlagen gefunden worden. Ein Raufhandel war in der Nacht gewesen. Am nächsten Tage kehrte der jüngste Sohn des Hinterbergers nicht ins Haus zurück. Dafür kam die Botschaft, der Hinterberger möge mit dem Mittagessen nicht auf sein Bürschl warten, dasselbe käme heute nicht heim, käme vielleicht auch morgen nicht, käme vielleicht viele Jahre lang nicht — die Standarm hätten ihn mit sich genommen, weil er einen blutigen Rockärmling gehabt habe. Und einen blutigen Ärmling habe er gehabt, weil er den Sager-Urb umgebracht hätte.

[S. 306]

»Was hätte er?« fragte der Hinterberger.

»Den Sager-Urb hat er umgebracht.«

»Wer?«

»Dein Bürschl — dein Hans.«

Da legte der Alte die Hand ans Ohr, daß sie die Schallwellen hineinleite und sagte leise: »Jetzt muß ich noch einmal fragen, wie du's meinst!«

Und der Bote antwortete eben noch einmal.

Jetzt nannte der Alte den Boten eine Bestie.

Aber solcher Bestien waren mehr. Keiner hat es zwar gesehen, daß der Hinterberger-Hans den Sager-Urb erschlagen und in die Lansa geworfen hatte, doch jeder war davon überzeugt. Beim Lindenwirt waren sie des Abends zusammen gewesen, es wurde getrunken, gesungen, gezankt und gerauft. Der Metzger Pankraz hetzte, der Urb gab dem Hans einen Schlag auf die Wange und nannte ihn einen Strolchen von der Hinterberger-Höhlen, von der seit Jahren schon kein braver Mensch mehr herausgegangen sei, weil keiner hineingehe. Auch eine Wilderergeschichte war dabei und einer Liebschaft wegen ging es her. Der Hans war so wütend, daß er das Ofengeländer zerriß, um mit der Holzlatte den Urban niederzuschlagen, hätten ihn nicht mehrere Männer davon abgehalten. Nun ging er in die Nacht hinaus und kam nicht mehr zurück. Um Mitternacht steckte der Urb seine große Brieftasche ein und verließ das Wirtshaus; eine halbe Stunde später war an der Lansa ein Schrei.

Und am nächsten Morgen begegneten zwei in die Arbeit gehende Männer dem Hinterberger-Hans, der just am Hollerbrunnen Blut von seinem Ärmling wusch. Ein paar Stunden später fand man unten an der Hammerwehr den toten Sager-Urb, der mehrere Stiche am Halse und an der Brust hatte.

[S. 307]

Der Hans wurde als Verbrecher zu Gericht geführt. Er leugnete die Tat, die Leute lachten ihm ins Gesicht: Was das Leugnen helfe, wenn alles sonnenklar liegt!

»Daß ich beim Nachhausegehen in der Nacht Nasenbluten gehabt, das wird mich doch nicht unglücklich machen!«

Man befahl ihm, daß er schweige. —

Der Hinterberger lief zum Gericht: »Den Buben laßt mir aus! Ich verpfänd' Haus und Hof für meinen Hans! Er hat nichts getan.«

»Geht, Alter, Haus und Hof habt Ihr nicht mehr zu verpfänden!«

Der Hinterberger schwankte heim zu, da fand er die Türe seines Hauses versperrt und versiegelt. — Seit so vielen Jahren die Steuern verweigert, da hat man ihm endlich den Prozeß gemacht.

So lag nun unter dem Schatten der Esche ein Bettelmann. Nein. Er wollte nicht betteln, er wollte da liegen bleiben und sterben als ein vom Staate Zugrundegerichteter. Aber zwei mitleidige Bauern schleppten ihn mit sich. Er blieb dabei, der Hans wäre an dem Morde unschuldig; und die Leute blieben dabei: kein anderer hätte den Sager-Urb erschlagen als der Hinterberger-Bursch'. Die einen gaben ihm lebenslänglichen Kerker, die anderen ließen ihn hängen.

Im Gerichtssaale ging es heiß zu. Und das Urteil wurde gesprochen. — Der Hans kehrte aus dem Kriminal zurück und war frei.

Der Alte hatte es nicht glauben können, daß er schuldig sei und konnte es jetzt nicht glauben, daß er frei war.

»So hat dich doch der heilige Johannes von Nepomuk gerettet?« Der von Nepomuk ist nämlich ein Patron, den man anruft, um eine verlorene Ehre wieder zu finden.

»Glaub' nicht, daß er's gewesen ist,« berichtete der Hans, [S. 308] »er hat einen schwarzen Frack angehabt. Ein Doktor ist's gewesen, und der hat alles genau untersuchen lassen und hat alle Zeugen überwiesen und hat nicht eher Ruh' gegeben, bis es ist herausgekommen, daß ich unschuldig bin, nachdem sie derweil den richtigen Mörder erwischt haben. Der Pankrazl, der Schelm! Wegen Geld. — So haben sie mich freilassen müssen.«

»Und hast nichts Gewisses erfahren, wer der brave Mensch ist gewesen?«

»Nichts Gewisses nicht; den Verteidiger haben sie ihn geheißen und haben gesagt, das Gesetz tät' vorschreiben, daß jeder Angeklagte einen Verteidiger müßt' haben.«

»Das Gesetz tät's vorschreiben?« fragte der Alte.

War schon der Gemeindevorsteher da und sagte: »Wenn du auch ein Feind bist gewesen gegen den Staat und das Gesetz, so hat dich der Staat und das Gesetz doch nit verlassen.«

Von dieser Stunde ging der Hinterberger in der Einsamkeit um. Dann ging er zur Behörde und fiel nieder auf die Knie: »Meine Herren, tun's mir verzeihen!«


[S. 309]

Der Feuermann Balthasar.

Das Jahr ist alt geworden. Und der Knabe ist noch so jung. Er steht unter dem Birnbaum und schaut zu zu den Zweigen, an welchen die Eiszähnchen des Rauhreifes wuchern. Er schaut hinaus über die Heide und sieht eine kleine Strecke hin die braunen Birnbaumblätter liegen, und hie und da einen Stein oder einen gebrochenen Rispenhalm; dann geht alles in den grauen Nebel hinein. Und der Knabe schaut vor sich auf den Boden hin und vergräbt seine Füßchen in das froststarre Laub, das vor kurzen Monden noch hier oben grünte.

Und dann zieht er mit seinen kleinen hageren Händen das Linnenwämschen zurecht, daß es überall langen und wärmen solle, und dann steht er unbeweglich und blickt in den Nebel hinaus.

Und sieh, dort im Nebel ist ein kleiner dunkler Punkt, und der wird schärfer und größer und löset sich endlich ganz ab von dem Grauen, und es ist ein Mensch, der hastig des Weges kommt; ein sorgsam eingemummtes Mädchen, wohl ein wenig erwachsener als der Knabe, aber doch lang' nicht tausend Wochen alt.

Das Mädchen hält an und sieht auf den Knaben hin:

»Was stehst denn du da?«

»Ich weiß es nicht,« war die zaghafte Antwort.

»Wer bist du denn?«

»Ich bin der Bübi.«

»Wartest du auf wen?«

»Auf den Tati.«

[S. 310]

»Du armer Narr, du frierst ja in den Nebel hinein. Mußt du noch lange warten?«

Der Kleine sah mit seinen braunen Augen auf. Diese Augen taten dieselbe Frage: »Muß ich noch lange warten?«

»So will ich dir ein Feuer machen, daß du dich wärmen kannst, bis der Tati kommt.«

Sie zog ihre Hände aus der Schürze und hub an, Reisig zusammenzutragen auf einen Haufen, dann tat sie ein Streichhölzchengefäß hervor und dann brannte das Holz.

»So, und jetzt stelle dich daran und wärme dich und versenge dein Gewand nicht und warte.«

Das Mädchen ging weiter, ging wieder in den Nebel hinein, bis es in ihm verschwand. Der Knabe hatte dem Mädchen unverwandt zugeschaut, und als es nun nicht mehr zu sehen war, wendete er sein Auge auf den Reisighaufen. Da drin knisterte es und die Flämmchen mehrten sich und hüpften von einem Ästchen zum andern und strebten empor. Hastig stieg der dünne, blaue Rauch auf und verschwamm in dem Nebel. Der Knabe blickte in die Flammen. Ganz nahe stand er am Feuer, rührte kein Glied, bewegte keine Miene, starrte gleichweg in die Flammen.

Das Feuer prasselte, schlug hoch empor; das Reisig brach ein, die Flammen schrumpften zusammen, die Kohlen knisterten milder, glühten still, bröckelten und sanken zur Asche in den Boden.

Stunden waren vergangen, und der Knabe blickte mit geröteten Wangen in das versterbende Feuer. Er hatte kein abseits gefallenes Ästlein in die Glut geschoben, er hatte keine Kohle geschürt; wie das Feuer strebte und verging, so ließ er es streben und vergehen. Die letzten Kohlen glühten heller und tiefer, denn es hub an zu dunkeln, und der Nebel lag dichter und finsterer auf der Heide.

[S. 311]

Seit dem Mädchen war kein Mensch mehr gekommen und gegangen; der Knabe hatte nach keinem ausgeblickt. Es war, als wollte er so stehen bleiben durch den Abend, durch die lange Nacht und immer.

Als es schon sehr dunkelte, kam von jener Seite, in die das Mädchen hingegangen, ein Knarren und Ächzen heran. Es war ein Fuhrwerk; zwei Rinder zogen einen Wagen, auf dem ein Mann saß, der Tabak rauchte. Als er den Knaben sah, rief er: »Ho, oha!« Da blieben die Ochsen stehen und nun fragte der Fuhrmann, wie vor Stunden das Mädchen gefragt hatte: »Was stehst denn du da? Wer bist? Auf wen wartest du so spät in der Weite?«

»Auf den Tati.«

»Auf deinen Vater? Wo ist er denn hingegangen?«

»Der ist auf die Kirmes gegangen.«

»Sprich die Wahrheit, Kleiner! Heute gibt es weit und breit herum keine Kirmes.«

»Auf der Kirmes hat er Musik gemacht bis in die späte Nacht, und jetzunder ist er noch nicht zurückgekommen.«

»Alle Heiligen!« ruft der Mann, »das war ja der Musikant, den es vor drei Tagen in Ottenkirch auf der Kirchweih getroffen hat! Kleiner, das Warten ist nichts. Komm' zu mir auf den Wagen.«

Jetzt wurde der Knabe verwirrt, aber er kletterte mit Hilfe des Mannes auf den Karren und setzte sich auf das Stroh. Hierauf taten sie eine härene Decke über ihre Glieder und der Mann rief »Hie jetzt!« und der Wagen hub an zu knarren. Sie fuhren durch Nacht und Nebel über die Heide. Der Knabe antwortete kaum auf die Fragen seines Schirmers, sondern starrte fast unverwandt in das Glimmen der Pfeife, aus der jener den Rauch sog. — —

Seit diesem Tage waren ungezählte Tage vergangen. [S. 312] Der Knabe von der Heide war erwachsen und ein wohlgebildeter Jüngling geworden. Jener Fuhrmann war ein Schmiedmeister gewesen und hatte den kleinen Balthasar in seinem Handwerke erziehen wollen. Aber das ging nicht, der sonst so fleißige Bursche starrte fortweg in die sprühende Esse oder blickte träumerisch das glühende Eisen an, statt auf dasselbe frisch loszuhämmern. »Junger Mann, das Eisen muß man schmieden, solange es warm ist!« sagte hierauf der Meister eines Tages und riet dann dem Burschen, er möge es einmal anderswo versuchen.

Balthasar kam in einen Pachthof. Das war ein flinkes Arbeiten auf dem Felde und im Obstgarten; aber des Abends, wenn andere im Freien herumstreiften, scherzten und mit den Weibsleuten schäkerten, saß der Balthasar am Herd und sah den Flammen zu.

»Balthasar,« sagte nun der Pächter einmal, »was schaust du so drein und bist nicht lustig wie die andern?«

Da blickte der Bursche auf: »Ich? Warum sollt' ich denn nicht lustig sein? mir geht es gut.« Sein Auge sank wieder der Glut des Herdes zu und das Antlitz des Jünglings sah nicht betrübt.

»Wenn ich nur wüßte,« rief der Pächter, »was um des Himmelswillen da in der Aschengrube drin zu sehen ist.«

Jetzt hob der Balthasar wieder sein Haupt und sagte die Worte: »Ich weiß auf der Welt nichts Schöneres.«

Der Pächter schwieg eine Weile und starrte auch in die Flamme, aber nur im Sinnen, was er auf die Worte entgegnen sollte. Und endlich entgegnete er: »Wärst du sonst nicht so bündig und findig, man müßte hell meinen, du bist ein Narr!«

Und der Pächter ging davon. Der Balthasar aber blieb sitzen am Herde und murmelte in die Glut hinein: »Allmiteinander [S. 313] wissen sie es nicht, wer das Feuer hat angezündet. Mädchen, dich will ich nicht verraten, aber du bist so schön und so gut wie das Licht.«

Balthasar konnte gar flink und heiter sein; viel öfter aber verlor er sich in stilles Sinnen und Träumen. — Ich weiß nicht woher, aber sie ist gekommen und hat mir das Feuer gemacht auf der Heide, daß ich Waisenkind nicht bin erfroren. Und sie ist wieder gegangen, ich weiß nicht wohin. Mir schwant, ich soll sie nimmermehr sehen. Aber in den Flammen, da ist sie bei mir.

Sie haben es nicht geahnt, welche Art von Frömmigkeit es war, wenn Balthasar am Sonntag in der Kirche sein Auge vom Altar nicht abwendete, bis die letzte Kerze verloschen.

Eines Tages brannte das Armenhaus; ein Kind war in Lebensgefahr. Balthasar brach lustig durch die Flammen und befreite das Kind.

»Der ist der Prophet Daniel oder der Teufel,« sagten die Leute.

»Ei, das ist ja der Narr, der die schönsten Weiber übersieht und mit der Herdglut liebäugelt; dem tut kein Funke was, das ist der Feuermann!«

Der Feuermann! Dieser Name ist dem Burschen geblieben, und in diesem Namen war es ihm, als sei er mit dem Feuer, dem Sinnbilde seines Glückes, getraut und vermählt.

Stiller und verschlossener wurde der Balthasar; teils schwermütige, teils heitere Schwärmerei webte in ihm; er lebte in vergangenen Zeiten. Seine Vergangenheit, sonst so arm und dunkel und frostigkalt, hatte einen leuchtenden Stern. Die Mitmenschen spotteten seiner, da wendete er sich noch mehr von ihnen ab und noch mehr der Flamme zu. Fast [S. 314] unheimlich war es, wie er an Feuerstätten des Herdes oder des Waldes saß, und dem wunderbaren ewigen Rätsel des Flammenlebens zusah und darüber alles andere vergaß. Zuletzt wurde Balthasars Auge so geübt, daß er selbst in die Sonne hineinblicken konnte, wenn er auf dem Felde lag. Hingegen zogen sich nach und nach alle anderen Gegenstände von seinem Auge ab und verschwammen zitternd und unsicher in Dämmerung. Endlich hatte die Flamme wahrhaftig gesiegt. Eines Tages war Balthasar erblindet.

Jetzt waren genug Leute da, die behaupteten, so hätten sie es vorausgesehen, und so hätte es kommen müssen. Und früher war kein einziger gewesen, der dem seelenkranken Burschen das zehrende Feuer zu mildern gesucht hätte durch die Wärme eines verstehenden Herzens.

Balthasar aber saß nun stets auf der Bank vor dem neugebauten Armenhause und wendete das Antlitz ruhig hinaus gegen das Weite. Er war's zufrieden. Von allen lichtlosen Dingen der Erde verlangte ihm nichts zu sehen, und die Flamme hatte er, schaute er noch immer mit seinem Auge. »Wie schön hell sie leuchtet!« lispelte er zuweilen vor sich hin; und ein anderesmal wieder war er betrübt und murmelte: »Weh', heut' ist sie matt. Wenn sie verlischt! Balthasar, wenn du erblindest!« Er wußte es kaum, daß er längst erblindet war, daß er keine Blume und keines Menschen Angesicht und in Wahrheit keinen einzigen Lichtfunken mehr sah. Sein Sehnerv träumte nur noch von dem Flammenreiche, in dem er seit Kindestagen gewandelt war.

Manches lange, einsame Jahr hatte die Sonne seitdem erweckt und versenkt. Da kam wieder einmal die Kirchweih in Ottenkirch.

»Balthasar,« sagte der Ortsrichter zu dem Blinden, der auf der Bank des Armenhauses saß, »dein Vater hat auf der [S. 315] Ottenkircher Kirmes musiziert, so magst du wohl auch auf diese Kirmes gehen, auf daß du kleine Gaben für dich sammelst.«

»Wohl, wohl,« sagte Balthasar.

Und am Morgen der Kirchweih lächelte Balthasar vergnügt bei sich. — Er wird Glück haben bei seinem Gabensammeln, die Flamme, die er stetig sieht, brennt heute hell. — Ein Knabe führte ihn nach Ottenkirch und dort, wo am Beginne des Dorfes das Kreuz steht, ließ er den Blinden hinsitzen auf den reiftauigen Rasen und ging davon. Balthasar fühlte den Frost und den Nebel wie einst auf der Heide, aber er hörte die Kirchenglocken und die Schritte und das Plaudern und das Lachen der Leute, die vorübergingen. Die Leute sahen den Blinden nicht, oder gedachten auf dem Rückweg ihm das Almosen zu reichen. — Auch Musik hörte Balthasar von den Häusern her; ihm war, als ob sein Vater geigte. Die Flamme flackerte vor seinem Auge, als ob ein Sturmwind ginge.

Zwei übermütige junge Herren in feinen Tuchröcken und Seidenhüten kamen des Weges.

»Ei, schau,« sagte der eine, »da sitzt ein armer Blinder, dem müssen wir ein Almosen reichen!« und warf ein schweres Stück in den Hut.

»Vergelt's euch Gott!« rief Balthasar, und tastete nach der Gabe; »Herr,« sagte er dann, »das ist ein Kieselstein. Und man kann daraus Funken schlagen. Vergelt's Euch Gott!«

Die jungen Herren gingen lachend weiter, gingen in das Dorf. Sie riefen jedem Krämer einen scharfen Spott zu. Vor der bekränzten Kirchentür saß ein Weib und bot Obst feil. Das Weib war nicht alt, aber auffallend häßlich geartet im Antlitze, bis auf die großen schönen Augen.

[S. 316]

»Ei,« rief einer der beiden jungen Herren und hob einen Apfel aus dem Korb; »sind diese Äpfel aus jenem Urwalde, in welchem deine Eltern auf den Bäumen herumgeklettert?«

Die Obstverkäuferin erschrak. Wohl mochte sie gewohnt sein, ihrer Häßlichkeit wegen manchen Spott zu verwinden, aber diesmal ging's ihre Eltern an — das grub wild.

Die Obstverkäuferin war im Herzen verletzt, sie nahm den Korb und ging davon, ehe das Fest noch recht anhub.

Als sie vor das Dorf hinauskam, sah sie den Bettler. Sie blieb stehen und blickte eine Weile auf die Züge des Mannes, der noch fast jung war und ein solches Schicksal hatte. Der ist zu gut, um vor der rohen Menge zu betteln, dachte sie, und dann, indem sie ein Geldstück aus der Tasche zog, sagte sie: »Armer Mann, was willst denn du da?«

Kaum den Ton der Worte vernehmend, springt Balthasar auf, tastet mit den bebenden Händen und stöhnt: »Mädchen, Mädchen, du — du bist es, die mir das Feuer hat angezündet! — O, ich kenne dich, ich sehe dich, du schöner, du guter Engel! Bleib' nur ein wenig, bleib' bei mir!«

Das Mädchen setzte den Korb ab und suchte den erregten Mann zu beruhigen. »Weißt du's nimmer!« rief Balthasar mit freudeglühenden Wangen, »es ist Herbst gewesen; der Waisenknabe ist gestanden auf der Heide, zum Erfrieren. Dann bist du gekommen und hast das Feuer gemacht. Du mußt es wissen, das Feuer brennt ja noch.«

Die Obstverkäuferin hat dem blinden Manne das bereitete Geldstück nicht gegeben; sie hat den armen Balthasar mitgenommen, am Arm geführt und zuletzt auf einem Wagen heimgebracht in den Wohlstand und den Frieden ihres Hauses.

Er wußte seine Blindheit nicht, er sah das Herrlichste, was man sehen kann, die Schönheit einer guten Seele.


[S. 317]

Herr Meyer, der Belehrende.

Michel war von väterlicher Seite ein geborener Meyer, von mütterlicher Seite ein geborener Sonderling. Sein Vater war Landwirt im oberen Ennstale; seine Mutter war die Landwirtin dazu. Sie waren vom Haus aus lutherische Leut', und die Frau trug — so ging die böse Mär — unter ihrem letzten innersten Brustfleck ein Amulett, ein kleines Bild des großen Tintenkleckses, welchen Luther erzeugte, als er sein Tintenfaß dem Teufel an den Schädel geschleudert hatte. Der Meyerin liebster Wandel war, daß sie umherging, um die Nachbarn zur reinen christlichen Lehre zu bekehren. Das gelang ihr nur bei einigen von denen, die ihr Geld oder Butter schuldig waren, die andern blieben verstockte Katholiken. Da wurde der Meyerin eines Tages gesagt: »Du scher' dich nicht um fremder Leut' Glauben und schau einmal, wie's dein Michel treibt, der glaubt nichts Katholisches und nichts Lutherisches; Heid ist er keiner, Jud ist er keiner. Dein Michel ist gar nichts.«

Ihr Michel, der war seit seiner Kindheit in der Stadt und hätte die Gottesgelehrtheit studieren sollen. Aber weil er alles wissen wollte, so studierte er auch andere Gelehrtheiten. Und als ihrer solche immer mehr wurden und im Gehirne des Jünglings kräftig aufwuchsen, so fielen sie über die arme Gottesgelehrtheit her und fraßen sie auf. Und der Michel Meyer war auf einmal ein Weltgelehrter; er blickte in das Wesen der Dinge ein, aber von Muttern blieben die Gelder aus — denn die Gelder waren lutherisch.

Hingegen hatte der Vater, der alte Meyer, etwas Konfessionsloses [S. 318] in seinem Kasten, und das half dem Studiosus recht christlich über Zeiten hinaus, die sonst schwer gewesen sein würden.

Der Michel aber war kein regelmäßiger Studiosus, der nach regelmäßigen Rigorosen und Kommersen ein regelmäßiger Professor wird. Ihm war die Wissenschaft mehr als ein Handwerk, das sonst mit allen Vorurteilen einer alten Zunft ausgeübt wird. Und doch steckte in dem Michel dickes Schulmeisterblut. Die Wissenschaften, die er eingesogen, die in ihm großgewachsen waren, wollten ihn nun fast zersprengen, und schier, wo er stand und ging, explodierte sein Gehirn. Das heißt, wo er stand und ging, dozierte er; ja noch mehr, schon des Morgens, wenn er noch im Bette lag und die alte Haushälterin mit dem Frühstück in die Stube trat, tat er derselben dar, wieso es eigentlich komme, daß das Glas schwitzt, wenn es mit frischem Wasser vom Brunnen kommt, und wie das mit dem Wetter zusammenhänge, so daß an einem schwitzenden Glase die Beständigkeit der schönen Witterung vorausgesagt werden könne. Auch machte er die Alte oftmals darauf aufmerksam, daß der Kaffee in der Schale ein vorzüglicher Barometer sei. »Wenn sich in der Schale jetzt der Zucker, den ich hineingeworfen habe, aufgelöst, so werden Sie sehen, daß auf der Oberfläche ein Schaum entsteht; steht dieser Schaum in der Mitte, so hält das schöne Wetter an, legt er sich aber an den Rand, so haben wir bald Regen. Sehen Sie, er steht in der Mitte! — Das ist merkwürdig, nicht wahr? Nun hören Sie, jetzt will ich Ihnen erklären, wie das kommt.«

Die Haushälterin machte sich stets beizeiten aus dem Staube, der noch nicht aufgewischt war; sie bewunderte die Weisheit ihres Zimmerherrn, aber sie verstand nichts von dem, was er erklärte. Sie glaube es schon auch ohne Erläuterung, [S. 319] meinte sie, und sie sei halt so viel eine einfache Person.

Der Herr Meyer aber benützte fleißig das schöne Wetter, das ihm von seinem Kaffee vorausgesagt worden war, und ging hinaus in die freie Natur zu den schlichten Landleuten, um sie zu unterweisen und aufzuklären. Denn »in der Dorfschule lernen sie nichts und auf die Universität gehen sie nicht; aber eines jeden Gebildeten Pflicht ist es, sie aus der ägyptischen Finsternis herauszuführen«. — So der Grundsatz des braven Michel, der zudem auch Schick hatte, die Dinge einfach und gemeinverständlich darzutun. Er sprach daher mit dem Bauer von der rationellsten Bewirtschaftung der Felder, erklärte, was der Humus eigentlich ist, was der Dünger tut, und daß der Regen nicht unmittelbar als Wasser auf den Boden wirkt, sondern als Lösungsmittel, welches die Salze in der Erde auflöst und den Pflanzen also zugänglich macht.

Kam er zu einem Hirten auf die Au, so setzte der Michel bei diesem das größte Interesse für die Blumen und Kräuter voraus und hielt ihm auf der Stelle einen botanischen Vortrag. Und wenn der Hirt davonlief, so schüttelte der Michel über einen solch krassen Indifferentismus schwermütig den Kopf.

Hingegen war er glücklich, wenn er unterwegs irgendwo einen jener grübelnden Handwerksleute traf, die über alles sinnieren, nach allem fragen oder im Notfalle auch alles selbst zu erklären wissen. Weiß der eine: Ja, so ein winziges Sternl am Himmel ist viel größer, als es uns scheint; nur die Entfernung macht es uns so klein, in Wirklichkeit ist es gewiß so groß wie ein Eimerfassel. — Oder aber: Das Erdbeben! Da ist halt ein großer Drache in der Erden d'rin, und so oft sich der bewegt, schüttelt sich der Boden und das [S. 320] ist das Erdbeben. — Wieder ein anderer berichtet: Ja, jetzt kriegen wir Krieg. Unser Kaiser hat seinen Alleröbersten, der nach ihm halt der Höchste ist, zum Türken in die Türkei hineingeschickt, und daß er — der Türk' — halt sollt' Fried' geben und nicht Krieg führen. Und jetzt, da ist der Türk' hergegangen und hat dem Kaiser seinen Freund, halt, der nach ihm der Alleröberste ist, abschlachten und braten lassen, und hat ihn gebraten unserem Kaiser in einer Kisten zurückgeschickt. Deswegen wird jetzt ein schauderlicher Krieg anheben. — Oder: Unsere liebe Frau ist ja wieder einem Hirtenmädchen erschienen und hat ihr's vertraut: daß, wenn sich die Menschen nicht bekehren, eine solche Hungersnot kommen wird, daß die Leut' Brot von gemahlenem Haberstroh essen, und das nicht einmal genug haben werden.

Da gab's denn für Herrn Michel Meyer in Hülle und Fülle zu tun. Derlei Ansichten und Reden machten ihm das Blut heiß, und mit Eifer suchte er sie zu widerlegen und die Wahrheit, wissenschaftlich bewiesen, dafür hinzustellen. Nur in einem hätte er selbst belehrt werden sollen, nämlich, daß die Seele des Volkes am liebsten von der Phantasie lebt.

Aber der Michel predigte drauflos. Dem erklärte er das Wachstum der Bäume; einem anderen bewies er, daß die Erde rund ist wie ein Ball; einen Dritten belehrte er über die Natur der Staatsschuld, ihre Ursache und Rückwirkung und ihre Notwendigkeit; einem Vierten zeigte er mit Kerzenlicht und einem Apfel das Wesen der Sonnen- und Mondesfinsternisse; einem weiteren legte er die Eigenarten gewisser Steine dar, erläuterte die Anziehungskraft großer Körper oder eine andere der physischen Kräfte: den Magnetismus, die Elektrizität.

Häufig fand der Wanderdozent ein geneigtes Ohr, bisweilen sogar ein gelehriges — und da kam eine tiefe Befriedigung [S. 321] in sein Wesen, und er sagte sich: Also, endlich geht es doch vorwärts — muß es vorwärts gehen. Die nächste Generation wird vernünftig sein; vielleicht richte ich schon in dieser was aus.

Eines Tages begegnete Herr Meyer einem kropfigen, schnaufenden, grinsenden Kretin. Den faßte er liebevoll an der Hand, zog ihn zu sich auf eine Bank und sprach vom Kretinismus. Er sagte, daß er — der Kretin — nicht selbst schuld sei an seinem Unglücke, daß die Ursache oftmals in den geologischen Verhältnissen, in der Feuchtigkeit der Gegend und der Luft, im Trinkwasser und leider auch oft in der Erziehung liege.

Der Kretin starrte ihn an, streckte seine langen, dürren Finger nach einem Härchen aus, das dem Michel gerade auf der Nasenspitze wuchs und grinste. Allein, der Herr Meyer ließ sich nicht irre machen, gab seinem Bankgenossen Verhaltungsmaßregeln, was die Lebensweise anlangt: viel Bewegung machen, sich von Fleischspeisen nähren, stets auf gesunde Luft und Reinlichkeit sehen; dadurch entwickle sich der Körper und die Entwickelung des Körpers hätte jene des Geistes zur Folge.

Der Kretin brach in ein röchelndes Lachen aus; denn es hatte sich das Härchen auf der Nase bewegt.

Und ein andermal, da sah der Michel auf der Wiese vor einem Haus ein Mädchen. Das sang ein schelmisches Liebeslied und begoß einen langen Leinwandstreifen, der auf der Wiese zum Bleichen ausgebreitet lag. Der Herr Michel sah dem hübschen Wesen eine Weile zu, und aus der Gießkanne regnete es hin auf das von der Sonne beschienene Leinwandfach, welches ohnehin schon weiß genug schien, um von einer anmutigen Hausfrau geglättet und in den Schrank gelegt zu werden.

[S. 322]

Eine anmutige Hausfrau! In Ermangelung eines anderen Hörers hatte es sich der Herr Michel selbst einmal auf Grundlage seines Charakters und Alters sehr folgerichtig bewiesen, daß er eine Hausfrau haben müsse. Und als er nun das Mädchen sah, welches das schelmische Liebeslied sang und ihn dabei so holdselig anblickte, drängte sich ihm sonder jeglichen Beweises die Überzeugung auf: das ist die zukünftige ehr- und tugendsame Hausfrau des Herrn Michel Meyer. Er trat daher ganz zu ihr hin und sagte: »Tust du Leinwand spritzen, Dirn?«

»Ja, ich tu' Leinwand spritzen, Bub'.«

Das trauliche Bub' machte dem Michel das Herz lebendig.

»Und weißt du wohl, wie das ist, daß die Leinwand durch das Bespritzen weiß wird?« fragte er.

»Freilich, weil sie gewaschen wird.«

»Daß sie gewaschen wird,« sagte er, »würde nicht genügen, es muß noch die wohltätige Einwirkung der Sonne dazukommen.« Und hierauf erklärte er den Einfluß des Lichtes auf die Farbe; und wie die Leinwand noch auf anderem, dem chemischen Wege weiß gemacht werden könne.

Das Mädchen hielt die leere Kanne in der Hand, hörte zu und wendete kein Auge von dem jungen Manne, der so schön sprach, daß sie nachgerade noch weniger davon verstand, als bei der Viehausstellung, wenn der Herr Doktor eine Rede hielt, die doch auch immer sehr schön ausfiel.

Und als er seinen Vortrag geendet hatte, sagte sie: »Laß es wohl gelten.«

Und er dachte jubelnd bei sich: Das ist ein intelligentes Mädchen! Meinem nicht ganz unschwierigen Gedankengang hat sie zu folgen vermocht. Sie liebt mich, und die Liebe [S. 323] hebt naturgemäß das Weib zum Manne empor — auch in geistiger Beziehung.

Mit einem sehr höflichen Gruß verließ er die Leinwandbleichende und nahm sich vor, am nächsten Tage um dieselbe Zeit wieder an der Stelle zu erscheinen. Allein am nächsten Tage war ein anderer da, der das Geschäft der Sprenge besorgte — ein schöner, frischer Landregen. Doch wie schon echte Weisheit jedes Hindernis zur Fördernis zu machen weiß, so kehrte der Herr Michel heute im Hause ein — bittend um Obdach. Das Mädchen war allein daheim; Vater und Mutter waren auf die Hochzeit eines Verwandten gegangen.

»Zum Glücke bist du nicht gegangen,« sagte der Michel, »du wärest doch gewiß viel hochzeitlicher wie Vater und Mutter.«

»Ich mag nicht früher auf die Hochzeit gehen, als bis ich selber dabei die Braut sein kann,« war die Antwort.

»Da hast du schon recht. Ich mag ebenfalls bei keiner dabei sein, außer ich wäre der Bräutigam.«

»Da hat der Herr auch recht.«

»Du Mädel,« versetzte der Michel fast zärtlicher, als es einem Manne der Wissenschaft ansteht, »gestern hast du mich Bub' geheißen. Der möchte ich auch heute wieder sein.«

»Man ist nicht alle Tag' zu so Dummheiten aufgelegt. Heut' ist Regenwetter, und ich hab' nicht gut ausgeschlafen.«

»Hat dich etwa gar deine Hochzeit nicht mehr schlafen lassen?«

»Die Trud hat mich gedrückt.«

»Der Alp?«

»Ist auf mir gelegen — ein schauderhaftes Getier, und gemeint hab' ich, ich müßt' ersticken.«

»Das ist ja kein Getier gewesen,« lachte der Herr Michel, und dann fuhr er ernsthaft fort: »Der Alp oder die Trud, [S. 324] wie Ihr sagt — auch Nachtmahr wird die Erscheinung genannt — ist weder ein Körper noch ein Gespenst, sondern das Produkt einer Atemnot. Das Alpdrücken wird erzeugt, wenn auf Mund oder den Nasenöffnungen die Bettdecke, das Kissen oder dergleichen zu liegen kommt. Diesen Beschwerden gesellen sich sofort beängstigende Träume bei, welche so lange währen, bis es dem Schlafenden gelingt, durch eine unwillkürliche Bewegung die Respirationsöffnungen wieder zu befreien.«

»Der Herr kann gewiß ein Trudenkreuz machen?« fragte das Mädchen, »aber sieben Ecken muß es haben. Mit fünf Ecken kann's der Peter auch, die helfen nichts.«

Sie gab ihm ein Stück Kreide in die Hand und führte ihn in die Kammer zu ihrem Bette. Es war fein und hoch geschwellt, hatte eine lichtblaue Decke mit schneeweißem Linnenüberschlag und ein rosenrotes Kissen.

»Da sollt's halt herkommen, da,« sagte sie und deutete mit der Hand auf das Kopfbrett.

»Liebes Kind,« sagte er, »das kann ich nicht tun, weil es den Aberglauben befördert, oder wenn du mir lohnst, so zeichne ich dir etwas anderes auf die Bettstatt. Doch — ich muß einen Kuß dafür kriegen.«

»Aber na!« lachte sie, »Er ist doch recht ein verliebter Ding!«

»Ich gestehe es dir, Mädchen, ich liebe dich. Ich trete in kurzer Zeit eine Professur an und heirate dich, Mädchen, wie du mir schon gestern gefallen hast; ich will dich aus der Unwissenheit des Volkes reißen und eine rechte, gebildete Frau aus dir machen. — Wie heißest du?«

»Gusta,« flüsterte das Mädchen errötend und schlug die Augen zu Boden.

»Also, Augusta, willst du mein sein?«

[S. 325]

Sie hielt ihr Köpfchen tief gesenkt und schwieg.

»Ich begreife es wohl,« sagte er, »daß du mit deiner Antwort zögerst, so lange dir das Wesen der Liebe in seiner Definition noch unbekannt ist. — Die Liebe, Augusta, in welche beide wir nun einzugehen gedenken, haben in ihrer Totalität die größten Männer aller Zeiten bisher nicht vollständig zu erklären vermocht. Doch vom modern wissenschaftlichen Standpunkte aus ist sie eine elektromagnetische Kraft, welche zwei Personen beiderlei Geschlechts zusammenführt, aber stets nur in solcher Wahl, daß die physischen Eigenschaften, sowie auch die psychische Bildung der beiden Personen sich gegenseitig ersetzen und vervollständigen. Um hiervon den Beweis zu erbringen, wird es allerdings nötig sein, eine mathematische Formel aufzustellen, und zwar —«

Er begann mit der Kreide auf die Bettstatt zu schreiben.

» Plus A und minus B können, um mich populär auszudrücken, nicht mitsammen harmonieren; noch weniger werden sich plus A und plus B mitsammen vertragen, ein Verhältnis, das sich mit minus A und minus B wiederholt. Demnach ist im gegebenen Beispiele nur eine Komposition möglich, nämlich plus A und minus A , oder auch plus B und minus B — eben so viel, als zwei gleichgeartete, aber nicht gleichartige Wesen, die sich gegenseitig ersetzen und den Unterschied in ihrer Vereinigung aufheben — was zu beweisen war.«

Gusta sagte, sie höre das Ferkel so arg grunzen und müsse nachsehen, ob es sich etwa nicht wieder, wie letzthin, den Fuß zwischen den Barren verklemmt habe. Sie ging hinaus und ließ den Herrn Michel stehen in der Kammer.

An einem der nächsten Tage suchte er das Mädchen wieder auf und sagte, wenn es ihn von nun an definitiv liebe, so würde er sich vielleicht gelegentlich doch noch entschließen, das Opfer zu bringen, gegen seine Prinzipien zu [S. 326] verstoßen und ihr zu Liebe das Trudenkreuz an ihre Bettstatt zu malen.

»Je!« rief Gusta, »da ist der Herr schon zu spat dran. Just gestern hat mir der Peter das Trudenkreuz gemacht — ein siebeneckig's ist's worden, und heut' in der Nacht hab' ich gut geschlafen.«

Freilich hat sie ihm verschwiegen, daß sie gestern noch Atembeschwerden gehabt, weil ihr der Peter einige Augenblicke lang die Respirationsöffnung durch einen Kuß verschloß.

Aber der Herr Michel ahnte etwas dergleichen und zog fürbaß. Und als er sich auf seinen Wanderungen vielfach überzeugt hatte, daß die besten seiner verkündeten Theorien im Volke schon längst praktisch geübt werden und es eben diese Theorien waren, die ihm selbst nicht Zeit ließen, praktisch zu sein, beschloß er, seine Fahrten aufzugeben.

Wir finden ihn heute in Wien als Dozenten; jede Lehrstunde, die er gibt, läßt er sich vergüten.

Und recht hat er. Das Gold des Wissens schleudert man nicht in Hellerchen unter die Leute, die es in den Staub treten. Selbst die feingebildete Hausfrau des Herrn Professors, die er in der Stadt gefunden, verzichtet gerne auf den mathematischen Beweis seiner Liebe.


[S. 327]

Ein Mann, ein Wort.

In einer kleinen Männergesellschaft war davon die Rede, daß in dem Spruch: »Ein Mann, ein Wort« eigentlich der Hauptgrund des bürgerlichen Rechtes, sowie des Völkerrechtes, folglich die Basis aller Zivilisation liege.

Obwohl diese Behauptung Stoff zu einer schönen Gegenrede gegeben hätte, widersprach ihr kein einziger — bis auf den Major Schläger.

»Ein Mann, ein Wort!« sagte er ablehnend, »ich bin auch ein Mann, aber ich kann dieses Wort nicht hören.«

Das machte Aufsehen, denn just den Major kannte man als einen höchst wahrhaftigen, pflichttreuen Charakter.

»Ja,« sprach der Major mit einem Ernste, der für diesen Abend sonst die Gesellschaft nicht beherrschte, »der Spruch ist mein Schild geworden, ihm lebe ich, aber hören kann ich ihn nicht mehr, er ist hart, manchmal zu hart für den Menschen. Mit dem Prinzip von der Gerechtigkeit ist's nicht immer getan, wir alle bedürfen Rücksicht, Nachlaß, Liebe. Die Liebe ist schöpferisch, die Gerechtigkeit ist im besten Falle nur erhaltend. Man kann aus Gerechtigkeitsliebe manchmal ungerecht werden. Wenn ich von mir verlange, mein Versprechen zu halten, so ist das recht; wenn ich das unerbittlich von anderen begehre, so kann das unter Umständen sehr unrecht sein. Ein gegebenes Wort läßt sich nicht mehr biegen, aber ein Mensch kann sich biegen, wenn er daran denkt, daß höher als Gerechtigkeit die Liebe steht.«

Da sich die Gesellschaft über eine solche Weichheit des sonst trotzigen, auch physisch soldatenhaft strammen Mannes [S. 328] verwunderte, so begann der Major ein Erlebnis zu erzählen, durch das seine Aussprüche tiefere Begründung erlangten.

»In der Touristensaison des vorigen Jahres« — so erzählte der Major — »beschloß ich, die Schwabenkette in Steiermark zu durchwandern. Ich begab mich nach Aflenz, um von dort aus den Hochschwab zu besteigen und jenseits des Bergstockes den Abstieg nach Weichselboden oder Wildalpen zu machen. Ich hatte mich schon am Vortage in Aflenz eines Führers versichert, eines kräftigen Älplers, der — da in der Gegend die Holzarbeiten eingestellt waren — keinen Erwerb hatte, wohl aber ein zurzeit arbeitsunfähiges Weib und eine Hütte voll von Kindern. Der Schütter-Franz war mir als ein sehr verläßlicher und gutmütiger Führer geschildert worden, und so war ich für meine nicht unbeschwerliche Tour der Hauptsorge enthoben.

Am nächsten Morgen — es war ein prächtiger Tag zum Wandern — sprach ich verabredetermaßen in der Hütte meines Führers, die am Wege in die Fölz lag, vor, um den Franz abzuholen. Durch die Hüttentür eilten mehrere Weiber aus und ein, und im Innern hörte ich ein gewisses zartes Geschrei, so daß ich zum Franz, der an der Schwelle stand und nicht recht wußte, was er hier zu tun habe, die Bemerkung machte:

»Ich glaube, daß du heute nicht auf den Hochschwab steigen wirst.«

»Warum denn nicht?« fragte der Mann befremdet.

»Wenn das, was ich da drinnen in der Stube bemerke, deine Familie angeht.«

Er zog mich ein wenig zur Seite und vertraute mir, sein Weib hätte eben einen kleinen Buben kriegt, weiter wäre es nichts.

[S. 329]

Ich beglückwünschte ihn und erkundigte mich, ob er mir einen anderen Führer anraten oder verschaffen könne.

»Will der Herr denn mich nicht haben?« rief er erschrocken.

»Wie sie, so bist auch du entbunden — von deiner Zusage, das ist selbstverständlich.«

»Des kleinen Buben wegen soll ich daheimbleiben? O du blutiger Heiland, wenn ich allemal daheim bleiben hätt' wollen, so oft ich einen kleinen Buben kriegt hab', da hätte ich mein Lebtag viele Tagewerke versäumt!«

»Nein, nein,« sagte ich, »das geht nicht.«.

Hierauf zog er mich mit in die Stube, und insofern es ihm gelang, dort den Jüngsten zu überschreien, verklagte er mich bei seinem Weibe, daß nun doch wieder nichts aus dem Verdienst würde, weil ich, unserer Verabredung entgegen, ihn nicht mitnehmen wolle.

Die Wöchnerin, die wohl ein recht blasses Gesicht mit den Dulderzügen der Armut hatte, bat mich mit leiser Stimme, unsere Vereinbarung doch gelten zu lassen; es sei alles in guter Ordnung, was auch die anwesenden Nachbarinnen bestätigen könnten. Sie wüßten ja gar nicht, was jetzt anfangen, wenn kein Kreuzer Geld im Hause.

Der Führerlohn war auf vier Gulden festgesetzt, wovon ich allsogleich den vierten Teil dem jungen Weltbürger zum Angebinde auf das Fensterbrett legte und den Franz, der mir als gemütvoller Mensch geschildert worden, nochmals aufforderte, in dieser Zeit bei Weib und Kind zu verbleiben. Die Partie würde an drei Tage in Anspruch nehmen, ich könnte es nicht verantworten, ihn so lange von seinem Hause abzuziehen.

Ob es nur das wäre oder ob ich etwa sonst einen Widerwillen gegen ihn gefaßt hätte, daß ich seiner auf einmal [S. 330] los sein wolle? So seine Frage. Ich versicherte ihn, daß es einzig nur aus Rücksicht auf das eingetretene Ereignis seines Hauses geschehe, wenn ich ihn ablehne.

Er ließe sich aber nicht ablehnen, meinte der Franz.

»Du gingest mit und würdest unterwegs unruhig sein, in steter Furcht und Angst: wie mag's daheim zugehen? Würdest mürrisch werden, die Partie abkürzen wollen und kein Ohr und Auge haben für das, was ich will. Einen solchen Führer und Gesellschafter kann ich nicht brauchen. Mein Begleiter ißt und trinkt und raucht mit mir, soll mich aufmerksam machen auf dies und das, soll mich unterhalten, ein munteres Gesicht haben und so sorglos sein, als ich es bin. Guter Franz, dazu bist du dieser Tage nun einmal nicht der Mann.«

Ich sah es, wie er mit leichtem Kopfnicken beistimmte, aber als er sein bekümmertes Weib anschaute, das Kind, welches sie in arme Fetzen wickelten, die größeren, die sich um die Rinde des Morgenbrotes balgten, da war er doch wieder entschlossen, er ginge mit mir. Die Weiber versicherten einstimmig, es sei um und um gar kein Bedenken da und sollte sich etwas ändern, so könne der Mann am wenigsten dabei was ausrichten, so Leute stünden bei derlei Dingen eher zum Hindernis im Wege, als daß sie sich nützlich machen könnten. Der Franz versprach mir, unterwegs recht lustig zu sein und mein treuer Diener, so lange ich ihn brauche.

»Bedenke es wohl!« stellte ich ihm noch einmal vor, »bis wir Mittag zur Fölzerhütte kommen, wird dir schon bange werden, durch die Dulwitz wirst du nichts mehr anderes reden, mindestens denken, als: wie wird dem Weib sein? dem Kind? Es ist leicht was geschehen. Am Abend, wenn wir in der Dulwitzhütte schlafen sollen, wirst du nach Hause wollen und vielleicht morgens wieder kommen, abgehetzt und [S. 331] schläfrig. Ich aber sage dir, Franz, ich werde keine Rücksicht haben, ich werde dich nicht von mir lassen. Du wirst mich übergeben wollen an einen andern Führer, wenn uns einer begegnet, daß du nach Hause eilen kannst. Ich aber werde dich halten fest, wie der Herr den Sklaven; ich bin nicht gewohnt, mich in fremder Gegend an fremde Leute hintauschen zu lassen, ich behalte den, dessen Dienste ich mir gekauft habe, so lange, bis der Vertrag abgelaufen ist. Ich werde unerbittlich sein, darum rate ich dir noch einmal: Bleibe zu Hause, ich werde einen andern finden, dich aber für ein andermal vormerken und bei Gelegenheit empfehlen. Wir scheiden als gute Freunde.«

»Ich gehe mit!« rief er entschlossen, »ich werde meinen Mann stellen, wie es der Herr wünscht.«

»Also denn!« sagte ich, »wenn du durchaus nicht anders willst. Du wirst drei Tage lang mit mir sein.«

»Ich werde den Herrn nicht verlassen.«

»Ein Mann, ein Wort!«

Er schlug in meine Rechte.

Der Wöchnerin schien ordentlich leichter zu sein, da sie das Geschäft abgemacht sah. Sie lächelte, als sie ihre kühle Hand in die meine legte und dann in die ihres Mannes: Wir sollten nur recht gutes Wetter haben, und der Franz sollte ihretwegen ganz und gar unbesorgt sein. Sie sagten sich: »Behüt' dich Gott!« und das Weib ermahnte ihn noch, wenn er schon was tun wolle, so solle er dem Bübl ein Kreuz über das Gesicht machen, es würde dann zur Taufe getragen.

Er tat's, lud die bereiteten Sachen auf, und wir gingen davon. Der Weg durch die Fölz ist schön. In der stundenlangen Schlucht lagen noch die Schatten, die Alpenrosensträucher am Wege feucht vom Tau und dem Wasserstaube der rauschenden Fölz. Voll Harz- und Tannen- und Speikduft [S. 332] war die kühle reine Luft. Hoch an den Felsen lag der Sonnenschein. Frisch und flink, wie wir wanderten, war freilich das Herz heiter und die Seele klingend.

»Franz,« sagte ich unterwegs, »nachdem wir beide uns unserer Pflichten und Rechte wohl bewußt sind, wollen wir als Kameraden miteinander wandern. Ich bin aus der großen Stadt gekommen, um mir als Unterbrechung meines Berufes einige frohe Tage zu machen. Ich wünsche, daß du sie mit mir teilst und, so wie ich, das herbe Leben vergessest.«

Er ließ einen Juchschrei los als Antwort, wie sehr er mit meinem Vorschlage einverstanden sei, und er suchte mich durch Munterkeit und mancherlei Schwänke, die er vorbrachte, zu überzeugen, daß er den guten Humor nicht zu Hause gelassen hätte.

Dann kamen die Anstiege, es kam die heiße Sonne, es kam der Durst. Wir rasteten im Schatten und labten uns aus unserem reichlichen Vorrat. Der Tag war lang, wir erfreuten uns an den Almen mit ihrer Flora und ihren Herden, an den wildschründigen Felsen des Fölzstein, der Mitteralpe, der Dulwitz, wir ergötzten uns an Steinfalken und Stoßgeiern, die den blauen Himmel belebten, an den Schroffen und Überhängen des »Ochsensteiges«, an dem eisigen Kristall des »goldenen Brünnleins«, an den Gemsen, die in ganzen Rudeln über Kare und Schuttriesen setzten oder von den Zinnen auf uns niederlauerten. Mein Franz tat manche treffende Bemerkung mit klarem Hausverstand, der stets anspruchslos auftrat, nicht so wie bei manchen Bergführern, deren Urwüchsigkeit ausgeklügelt und gemacht ist. Ich erinnere mich noch, daß ich ihn fragte, weshalb er bei seiner Mittellosigkeit geheiratet hätte, worauf er zur Antwort gab: als er nicht hätte heiraten wollen, habe ihm sein Vater gesagt: »Willst ein rechter Mann sein, so mußt auch Weib [S. 333] und Kind haben!« So hätte er freilich heiraten müssen. — Ich bin, wie ihr wißt, Junggeselle und habe dieses Gespräch nicht fortgesetzt. Indeß gab's mancherlei Stoff. Doch der Tag ist lang, das Wandern macht müde, auch wenn man noch so oft rastet; die Ergötzung spannt ab. Das würde ein Älpler leicht verwinden, wenn die Ermüdung und Abspannung nur die Schatten nicht aufkommen ließe, die im Herzen schlummern mögen! — Es kam, wie ich gesagt hatte, es kam genau so.

Franz sagte kein Wort von daheim, aber er war kleinlaut geworden.

Ich begann von seinem Weibe zu sprechen, daß er vielleicht sein Herz ausschütten wollte, er lenkte ab und schwieg. In der oberen Dulwitzhütte, die leer stand, machten wir Feuer, bereiteten uns ein Abendbrot und Nachtlager. Er ging zwar nicht davon, aber ich merkte, daß er auf seinem Reisig nicht schlief, ich hörte die Seufzer, die er zu unterdrücken suchte. Ich sagte nichts, freute mich fast, daß der Mann nun erfahren mußte, wie ich, der Fremde aus der Stadt, ihn besser kenne, als er sich selbst.

Am andern Tage stiegen wir an bis zur höchsten Spitze des Gebirges. Mein Genosse sprach unterwegs sehr wenig und ich nicht viel mehr, denn dieser Aufstieg, die steilen Hänge und Wände beschäftigten die Lunge andererseits zur Genüge. Auf der Höhe, wo kein Strauch und kein Halm mehr wächst, peitschten kalte Winde, flogen Nebelfetzen, zwischen denen wir nur zeit- und stellenweise die Aussicht in die weite Alpenwelt genießen konnten. Mein Führer war stets hinter mir her, gab meinen Bemerkungen und Fragen kurze und verkehrte Antworten und schien gleichgültig sowohl gegen mich, als auch gegen die Schönheiten des Gebirges.

Auf der Spitze des Berges begegneten wir einigen Touristen, [S. 334] die von Weichselboden heraufgestiegen waren und just ihren Führer entließen, da sie den Abstieg durch die Dulwitz nach der Fölz allein zu machen gedachten. Aus dem kleinen Gespräche, das ich mit ihnen führte, erinnere ich mich nur, daß sie zum Teil aus Graz, zum Teil aus Leoben waren.

Wir hielten gemeinsamen Ausblick mit freiem Auge, wie mit Fernrohren, wir tranken uns gegenseitig Wein zu, steckten dann in die leeren Flaschen unsere Visitkarten und friedeten sie mit Steinen ein, damit die Nachkömmlinge von uns auf solcher Höhe ein Denkmal fänden, und taten, was Bergbesteiger an ihrem Ziele eben zu tun pflegen. Ich hätte es vorgezogen, mit meinem Franz allein auf der Spitze dieses Berges zu stehen, vorausgesetzt, daß wir beide bei Humor gewesen wären.

Als ich mich wieder nach meinem Genossen umsah, stand der abseits hinter einem Felsblock und führte mit dem Führer aus Weichselboden ein Gespräch. Mir kam das gleich verdächtig vor.

Nicht lange währte es, so kam — während sich Franz hinter dem Felsen mit seinen Bergschuhen zu schaffen machte — der fremde Führer zu mir heran und sagte: »'s ist schade, daß die Aussicht nicht ganz rein ist, gnädiger Herr, aber es wird heute noch heiter. Der Barometer steigt. Sehen Sie, dieser Kamelrücken dort, das ist die hohe Veitsch.«

»Ich weiß es,« war kurz meine Antwort und wendete mich nach der anderen Seite.

»Aha, der gnädige Herr schauen sich die Ennstaleralpen an,« schwatzte er weiter, »der Dachstein hat leider Gottes eine Haube auf. Der hohe Berg, der dort wie ein Heuschober steht, das ist der Grimming.«

»Ich weiß es!« schnauzte ich ihn an, »Franz, wo steckst du denn?«

[S. 335]

Der Führer aus Weichselboden ließ sich nicht verblüffen. »Der Herr sind von Aflenz heraufgekommen,« sagte er, »und wollen gewiß zur Salza hinabsteigen. Das ist auch mein Weg und könnten wir leicht miteinander gehen. Mit Verlaub!« Er suchte mir diensteifrig den Plaid umzuhüllen, den mir der Wind von der Achsel gerissen hatte. Ich ging gegen den Felsen und sah, wie dort Franz kauerte und in die Gegend von Aflenz hinabschaute. Der Weichselbodner Führer kam mir nach und sagte:

»Ganz im Ernst auch noch, gnädiger Herr, wir haben den gleichen Weg hinab und ich will den gnädigen Herrn für ein kleines Trinkgeld recht gern weisen.«

Nun merkte ich wohl schon, daß ich verraten und verkauft war, doch stieß ich derb heraus, man möge mich in Ruhe lassen, ich hätte ohnehin meinen Führer.

»Das schon,« meinte der Weichselbodner, »aber der sagt mir, daß ihm schlecht geworden ist.«

Da kam schon der Franz auf mich zu mit gefalteten Händen und bat: »Herr, ich kann's nicht mehr aushalten, ich muß heim. Ich bitte tausendmal, daß mich der Herr gehen läßt. Der Mathias dort, der ist aus Weichselboden, ich kenne ihn gut, er übernimmt meinen Dienst gerne und kennt den Weg besser als ich. Ich kann nicht mehr, — — wenn ich auf heim denk'.«

So sprach er. Ich habe ihn an der Hand genommen und in aller Ruhe folgendes zu ihm gesagt: »Franz, du wirst nicht gehen, du wirst bei mir bleiben, so lange ich dich brauche. Ich habe dir früh genug alles vorgestellt, du hast es so haben wollen, du hast mir dein Wort gegeben. Ich bin ein alter Soldat und lasse mit einem Ehrenwort nicht spaßen. Ich lasse mich nicht nach Laune und Stimmung verschachern, [S. 336] ich habe dich gekauft, du bist mein und du bleibst bei mir, bis die drei Tage um sind.«

»Wenn daheim ein Unglück geschieht!« stotterte er.

»So geschieht's!« rief ich zornig, »und wenn dein Weib stirbt, deine Kinder umkommen, deine Hütte niederbrennt, du hast dein Wort gegeben, daß du bei mir bleibst und das fällt nicht. Du bleibst!«

Darauf war der Franz still und sagte kein Wort mehr — und blieb bei mir.

Wir begannen den Abstieg, passierten das Gschöderkar, und auf dem Edelboden, wo uns wieder die ganze Milde eines heiteren Sommernachmittags umfloß und die Würze der Alpenkräuter uns erquickte, hielten wir Rast. Franz war immer noch still, aber aufmerksam für alle meine Wünsche und gutmütig. Ich war sehr mit mir zufrieden, daß ich meine Sache so gut durchgesetzt hatte. Wohin käme auch die Welt, wenn das Verhältnis zwischen Herrn und Diener so lax würde und willkürlich! Die ganze gesellschaftliche Ordnung ginge aus den Fugen und der Teufel möchte da noch Herr sein. Es tat mir leid, aber mein Franz, der mußte nun parieren, und als wir spät abends im Wirtshause zu Weichselboden anlangten, wollte ich ihn und mich für die Mühen entschädigen mit allem, was das Haus bieten konnte. Doch mein Franz suchte bald das Bett. Wie er geschlafen, das weiß ich nicht.

Am nächsten Morgen mochte er, so lange ich schlief, mäuschenstill gewesen sein, aber als ich die Augen auftat, machte er Lärm. »Es gibt nichts Schöneres auf dieser Welt, als den heutigen Tag!« so rief er aus. Ich fand den Tag nicht just besonders, der Himmel war mit Wolken bedeckt, die stellenweise an den Wänden niederhingen. Als wir später durch das großartig wilde Engtal gingen, das der Ring heißt, [S. 337] und dann in der Steinwüste, der »Höll«, dem Karstriegel zuwanderten, schnitt uns von den Höhen nieder eine frostige Luft entgegen; dort und da rieselte es in den Schuttmulden oben, dann krächzte irgendwo ein Rabe. In den schwarzen Wassertümpeln, an denen wir vorbeikamen, spiegelte sich das Gebirgsbild in seiner Düsternis. — Aber nichts Schöneres als dieser Tag! hatte mein Begleiter ausgerufen; es war eben der dritte unserer Partie, der letzte, an dessen Abend er frei sein und die Seinigen sehen sollte! — Den Ausläufer des Schwab, die Aflenzerstarritze, wußte er auf schlechten Steigen zu umgehen, so daß wir am Mittag schon in Seewiesen waren.

Im Wirtshause zu Seewiesen lag ein schwerkranker Maria-Zeller Wallfahrer, der schon früh nach Aflenz um Arzt und Priester geschickt hatte und immer noch vergebens auf sie wartete. Franz machte ihm die Zusage: wenn sie uns auf dem Wege begegnen sollten, so würde er zur Eile ermahnen.

Wir waren eine Stunde gegangen, da begegneten sie uns. Der Priester, vom Boten mit dem Versehglöcklein und dem heiligen Licht in der Laterne begleitet, war im Chorrock und trug das Allerheiligste. Wir beugten die Knie, er segnete uns und warf dabei einen Blick auf meinen Begleiter, den der aber nicht bemerkte, weil er das Haupt gesenkt hielt. — Ein paar hundert Schritte weiter hin begegnete uns der Arzt.

»Ihr sollt nur eilen!« rief ihm der Franz zu, »sonst kommt ihr zu spät.«

»Wer wird uns aufgehalten haben!« sagte der Arzt im eiligen Vorübergehen, »du kommst halt auch zu spät, mein lieber Franz!«

Ich weiß kaum, wie wir nach Aflenz kamen, ich weiß nicht, wie mir zumute war, ich erinnere mich auch nicht, [S. 338] ob Franz ein einziges Wort des Vorwurfes, der Klage sprach, oder ganz stumm war.

Sein Weib fand er auf der Bahre.

Er trug den Schmerz, wie man den herbsten trägt — tränenlos.

Ich bat ihn um Verzeihung, daß er meines Starrsinns wegen sein Weib nicht mehr lebendig sehen konnte, ich bot ihm alles an, was ich bei mir trug. Er lehnte es ab und sagte nur, ich sei im Recht gewesen.

Im Recht ! Seitdem ist mir das Wort verdächtig. Der Franz hatte wie ein Mensch gehandelt. Ich wie der Dämon eines Prinzips. Daß er mit mir gegangen, aus Pflichtgefühl war es geschehen, er hatte seiner Familie Brot zu schaffen. Aus Sorge und Angst um seine Familie war's, als er mich auf dem Berge verlassen wollte. Ich dachte und fühlte nichts, als daß ich im Rechte sei, ich war ein blutloser Gesetzparagraph — und das ist ein Ungeheuer. Ein Mann, ein Wort! Vielleicht wäre diesmal die Erinnerung: Ein Mann, ein Weib! besser gewesen.«

So hatte der Major erzählt, und die Gesellschaft blieb nachdenklich, bis sie auseinanderging.


[S. 339]

Hauptmann Alles.

Ja, diesen Weihnachtsmorgen vergesse ich nicht. Eben trete ich hinaus in die kalte Morgenröte und schaue hin über die feuchten Schneefelder und denke: Heute ist Christtag, da muß man Gutes tun, und so will ich mir einen guten Tag antun.

Da kommt mein alter Knecht Martin von der Frühmesse daher — er hat heute seinen hochgespitzten Hut mit dem weißen Federbusch auf und sein vergnügtes Feiertagsgesicht an und eine große Zigarre d'rin stecken. Er raucht sonst Pfeifen, aber zu den hohen Festtagen, wenn der Meßner frische Kerzen in die Altarleuchter tut, da steckt sich der Martin zur größeren Ehre Gottes eine Zigarre in den Mund. Kann's aber nicht recht, zieht zu oft an, nebelt zu stark, nimmt sie dann nach jedem zweiten Zug aus dem Mund und spuckt die Tabakblättchen aus, die ihm an den Lippen kleben geblieben sind. »Guten Morgen,« sagt er jetzt zu mir, »aber in der Stadt geht's heut' zu!«

»Aha, sind die Wirtshäuser schon voll?« war meine Frage.

»Wäre schon recht,« antwortete mein Martin, »die Wirtsstuben sind leer und alle Türen haben sie offen gelassen. Die Leute umstehen das Kranzbäckenhaus. Im Kranzbäckenhaus hat sich in der Nacht was zugetragen.«

Auf diese Worte tat der Schalk, als wollte er weitergehen. Ich hielt ihn nicht zurück, und da er das merkte, blieb er von selbst wieder stehen und sagte:

»Der Herr soll mit ihm gestern spät in die Nacht hinein ja Karten gespielt haben?«

[S. 340]

»Mit wem?« frage ich nun.

»Mit dem Hauptmann.«

»Was ist's mit dem Hauptmann?«

»Das erfährt man nicht. Ich bin während der ganzen Frühmesse vor dem Haus gestanden und habe gesehen, wie die Weiber ein- und auslaufen und hinter sich allemal das Tor verriegeln. Eine hat gesagt, wir Leute sollten auseinandergehen und zusehen, daß uns selber die Gnad' Gottes nicht verlasse. Sonst erfährt man nichts.«

»Was muß das sein, wenn's den Weibern die Stimme verschlagen hat!«

»Im ganzen Kranzbäckenhaus,« fuhr mein Martin fort, »soll man noch die Schießbaumwolle riechen, sagen die Leute. Ich bin gegenüber auf das Wagenschuppendach gestiegen, aber man sieht nicht hinein; im Zimmer, wo der Hauptmann gewohnt hat, sind die Fenstervorhänge herabgelassen.«

Das war mir just genug. Ich eilte sogleich ins Städtchen. — Sollte er's denn wirklich vollbracht haben? Wir hatten am Abend zuvor das Wort für einen derben Scherz gehalten; in der Nacht, da ich schlaflos auf meinem Bette lag und die Christglocken klingen hörte, fiel es mir aber plötzlich ein: Dieser Mensch ist alles imstande.

Unter den Sonderlingen des Städtchens war mein Hauptmann das Prachtexemplar. Mit seiner Jugend soll es ganz regelmäßig zugegangen sein. Er war ein Soldatenkind, wurde selbst Soldat und war demnach auf jener festen Bahn, auf der man nie entgleisen kann, in seinem neunundzwanzigsten Jahre Hauptmann. In seinem dreißigsten hatte er das Mißgeschick, eine unvorhergesehene, sehr namhafte Erbschaft zu machen. Vor dieser Erbschaft — das versteht sich — war das Soldatenleben ein Glück für jeden, den es traf; es kräftigte Körper und Charakter; Pünktlichkeit, [S. 341] Gehorsam, Mut, Ritterlichkeit, und was weiß ich, lernte man nur beim Militär. Nach der Erbschaft war es plötzlich ein Knechteleben, ein Hundeleben — jeder ein Narr, der weggehen kann und es nicht tut. Hauptmann Alles wurde ein freier Mann und wandte sich den schönsten Seiten der Welt zu. Manche freie Stunde hatte er sonst mit Zeichnen, Farbenstudien, Musik oder anderen Künsten verbracht, jetzt wurde er Maler. Er wurde es so plötzlich, als man Staffelei, Leinwand, Farben kaufen und bereiten kann. Die braune Sammetjoppe war auch da, nur das Wachsen des Knebelbartes konnte mit der Vollendung des Meisters nicht gleichen Schritt halten. Und als die Freunde kamen und schauten, war es eine blendende Farbenpracht, und in den Blättern war die Rede von der edlen Komposition, von der Wärme des Tones, von dem harmonischen Zusammenstimmen, als handle es sich um eine Symphonie, und es war Meisters Ahles' Gemälde gemeint. Da dachte Ahles, wenn das schon auf der Leinwand so fein komponiert, so warm im Tone, so harmonisch zusammenklingend ist, um wie viel besser noch läßt sich das in einem Musikstück machen. Und er komponierte eine Oper. Von dieser sagten seine Freunde, sie wäre bei der Unvollkommenheit unserer Opernbühne, bei dem Mangel an bedeutenden Sängern heutigestags absolut nicht aufführbar. Während nun der Meister auf einen fürstlichen Mäcen wartete, der ihm die Aufführung ermöglichen sollte, vertrieb er sich die Zeit mit Poesie. Er schrieb ein großes Werk um das sich allsogleich zahlreiche Verleger bewarben — der Autor bezahlte nämlich im voraus bar den Druck.

Trotz alledem war dem Meister nicht wohl zumute. Anfangs hatte er keinen Tadel zu ertragen vermocht, allein das vorlaute, unbedingteste Lob, mit dem sie jetzt alles ohne Ausnahme, was von ihm kam, überschütteten, war ihm auf [S. 342] die Länge schier noch unangenehmer, ja nachgerade verdächtig. Eines Tages sagte ihm sein rücksichtslosester Freund: »Mir tut's weh, lieber Moritz, dich fortweg hänseln zu sehen. Laß das mit dem Malen, Komponieren und Dichten, du bist der Mann für etwas anderes.« Eine Weile nach diesem undankbaren Freundschaftsdienste führte der Hauptmann seine Liebhabereien noch fort, und zwar dem Freunde zum Trotz mit großtuerischem Wesen. Plötzlich jedoch verschleuderte und verschenkte er all seine Requisiten und Instrumente und kaufte sich in entlegener Gegend ein großes Landgut. Er verschrieb sich eine Anzahl landwirtschaftlicher Werke und fing an, genau nach solchen Lehren seine Wirtschaft zu betreiben. Er war glücklich über die Entdeckung, daß er ein genialer Landwirt sei. Die Kleinbauern um ihn her wagten es anfangs, seine neuen Methoden zu bezweifeln, indem sie sagten, daß eine Kappe nicht für alle Köpfe passe, und daß man die Gegend, das Klima und den Boden kennen und berücksichtigen, wenn man die Wirtschaft ertragsfähig machen wolle. Der Hauptmann ignorierte den verrosteten Sinn der fortschrittfeindlichen Nachbarn und arbeitete nach den allgemeinen Anleitungen der Fachgelehrten. Sonst aber gefiel der Mann den Bauern, er hielt mit ihnen, war stets nachbarschaftlich und uneigennützig, erleichterte ihnen den nötigen Verkehr mit der Außenwelt, indem er Roß und Wagen auf den Straßen hielt und Personen, auch oft kleine Warenladungen unentgeltlich beförderte. Auch nahm er sich in Steuerangelegenheiten ihrer an, bemühte sich, ihre Söhne dem Soldatenleben zu entziehen, und er sagte, wenn das Volk einmal die Soldaten verweigere, dann höre auch die Steuerplage auf. — Das war ihr Mann. Bei einer nächsten Wahl machten sie Herrn Ahles zum Abgeordneten.

Bei der ersten Sitzung verhielt sich der Gutsbesitzer im [S. 343] Parlamente ganz ruhig; es handelte sich um einen Zollvertrag. Er hörte die Vorschläge, ohne dafür oder dagegen zu stimmen, zum Schlusse aber bat er ums Wort. Er stellte folgenden Antrag: Es sei ein Zirkular an alle Fürsten der Welt zu erlassen, in dem sie gebeten würden, sich gegenseitig zu vereinigen, sich friedlich miteinander zu vertragen und ihre stehenden Heere zu entlassen. Er, der Antragsteller, glaube, daß sich keiner der hohen Herren weigern werde, diesen zu Gunsten eines jeden aufgestellten Vertrag eigenhändig zu unterschreiben.

Die Versammlung stutzte über diesen Spaß, den sich nach ihrer Meinung das neue Parlamentsmitglied an so ernster Stelle erlaubte. Als sie aber den ganzen Ernst des Redners sah, da gab's Gelächter. Während die Glocke des Präsidenten zur Ruhe klingelte, trat Herr Ahles zornig von seinem Sitze ab und wurde im Hause nicht mehr gesehen.

Nach dieser Zeit verlegte er sich mit großer Passion auf die Zuckerrübenkultur und erbaute auch eine Tuchfabrik, zu deren Zweck er eine große Schäferei anlegte von friesischen und englischen Schafen, die eine recht lange Wolle hatten.

Mittlerweile war seine Feldwirtschaft glücklich so tief herabgekommen, daß Ahles, dem man wegen seiner Allseitigkeit den Spitznamen »Alles« gab, daran die Freude verlor. Er suchte sich nun für seine Sorgen und Mühen zu zerstreuen, indem er in den Städten umherfuhr und das Leben genoß. Endlich kam er in unser kleines Landstädtchen, das nicht allzuweit von seinen Besitzungen entfernt lag, und in dem er sich beim Kranzbäcken ein Zimmer mietete. Er hatte das Bedürfnis, jemand zu sein. Er hatte allerlei Erfahrungen, hatte noch immer Geld, so wollte er noch einmal widerhallen. Das Städtchen war just klein und groß genug dazu, daß ein Mensch, wie der Hauptmann, darin seine überlegene [S. 344] Rolle spielen konnte. Er förderte Gesellschaften, die sich von ihm begasten und unterhalten ließen; er gründete Vereine, die ihn zum Präses machten, er veranlaßte öffentliche Wohltätigkeiten, und es erschien keine Nummer des Wochenblattes, die nicht preisend seinen Namen nannte. Daneben fand der noch immer als Garçon lebende Mann auch noch Zeit, den Frauen ein feiner Ritter zu sein. Er war der aufmerksamste Kavalier und versäumte keine Gelegenheit, den Damen gefällig zu sein, ihnen etwas Verbindliches zu sagen, sie zu verteidigen, wo es einen lustigen Strauß gab, ihnen Blumen zu pflücken, von denen er auch immer selbst im Knopfloche trug. Es fiel im Städtchen von schöner Hand kein Batisttüchlein zu Boden, das der Hauptmann nicht auf die galanteste Weise aufhob. Dazu war er ein schöner Mann, der sich den in seinen diplomatischen Tagen gegründeten Backenbart wieder wegschnitt, den Schnurrbart spitzte, sich wieder gerne Hauptmann nennen ließ, und der sich mit seiner Landwirtschaft nur insofern abgab, als er monatlich ein gut Stück Geld in sie hineinsteckte und täglich herzhaft auf sie losschimpfte.

Aber auch in diesem harmlosen Städtchen gab es Leute, die eine so schöne segensreiche Existenz allmählich zu untergraben suchten. Es erwuchsen gesellschaftliche Zirkel, die ohne Hauptmannsspäße bestanden, Vereine, in denen der Hauptmann nicht Präses war, Wohltätigkeitsvorstellungen, die der Hauptmann nicht anordnete, Wochenblattnummern, die den Namen des Hauptmanns nicht oder leise spottend nannten, und es gab Frauen, die seinen Aufmerksamkeiten in sehr kühler Weise dankten und sie hinter seinem Rücken in sehr warmer Weise belächelten. Nur eines mußten ihm auch seine Feinde nachsagen, nämlich, daß er ein Mann sei in den besten Jahren. Aber sie setzten dazu, daß es traurig sei, [S. 345] wenn ein Mann in den besten Jahren soweit fertig ist, daß er die Zeit in Wirtsstuben mit Knasterrauchen und Kartenspiel zubringt.

Und fürwahr, es war soweit gekommen; der Hauptmann Alles saß mit verlotterten Spießgesellen in den rußigen Schenken, und so verbrachten wir die Winterabende mit Trinken, Rauchen, Knurren und Karteln. Seine Laune war nicht die beste, und außer daß er bisweilen einen warmherzigen Fluch ausstieß, wenn ihm ein sehr schlechtes oder ein sehr gutes Blatt zufiel, war er wortkarg. Er trank dabei alten Wein, lud uns aber selten mehr zu seinem Trinken, wie er es früher gewohnt war. Gegen die Weiber war er etwas süßsauer geworden, und als uns am Christabende die stets heitere Wirtin einen Teller mit Früchtenbrot auftischte, das sie eigenhändig gebacken hatte, schob er den Teller unwirsch zurück und brummte, es möge jeder die Früchte seiner Taten selber genießen. Um so mehr sprach er dem Weine zu; wir anderen ließen uns auch den Lieblingstropfen holen, und so war der Abend recht leidlich vergangen. Auf einmal legte der schweigsame Hauptmann seine Karten auf den Tisch und sagte: »Es wird das Ersprießlichste sein, wenn ich jetzt nach Hause gehe und mich totschieße.«

Wir taten einen freundschaftlichen Lacher, obwohl jeder von uns denken mochte, daß ein so schaler Spaß eines so prächtigen Lachers eigentlich nicht wert sei. Wir spielten nicht weiter, denn wir hörten die draußen im Schnee knarrenden Tritte der nächtigen Kirchengänger. Wir standen auf und gingen auseinander. —

Während ich mir nun die ganze Geschichte so ins Gedächtnis gerufen hatte, kam ich ins Städtchen und vor das Haus des Kranzbäcken. Die Leute hatten sich verlaufen, ich ging den geradesten Weg in die Wohnung meines Zech- [S. 346] und Spielgenossen. An der halbangelehnten Tür derselben stand eine alte Frau. Dieses Anzeichen war schlecht; aber die alte Frau machte eine wichtige, nicht gerade trübselige Miene und dieses Anzeichen war gut. Sie deutete mit der Hand, welche ein Milchtöpfchen hielt, gegen die Türe und flüsterte, ich möge nur eintreten, aber nicht allzuviel kalte Luft mit durchlassen. Ich tat's; das Zimmer war dunkel und still — meine Augen suchten den Hauptmann. Endlich fanden sie ihn, er saß unweit des Ofens in einem geborgenen Winkel, rauchte die lange Hauspfeife und schaute auf ein Ding hin, das in seinem Bette lag, sehr sorgfältig verwahrt, und das bei näherer Besichtigung auf der weiten Welt nichts anderes war als ein neugeborenes Knäblein.

»Hauptmann!« rief ich.

»Halte dein Maul!« pfauchte er.

Allerdings, das Christkind schlummerte. Und das Angesicht des alten Kerls mit dem Schnurrbart schmunzelte. Mein Seel', das war ein redliches Schmunzeln — der Mann kam mir noch niemals so schön und gut vor als jetzt mit diesem Angesichte, das der Rauch umwölkte und in dem die zwei Augen leuchteten wie Sterne der Christnacht.

Jetzt trat die alte Frau zu ihm, fragte bescheidentlich, ob er bei Troste sei, und nahm ihm die Pfeife vom Munde weg. Nun hatte aber dieser Hauptmann die gottlose Gewohnheit, immer etwas vor den Lippen haben zu müssen; als ihm das Pfeifenrohr weggenommen wurde, neigte er sich hin und küßte das Kindl.

»Der Bursch' ist mein!« rief er dann, und hat es mir begründet.

Hat hernach auch das weitere erzählt. Er war in der Nacht nach Hause gegangen mit dem festen Vorsatze, einmal in seinem Leben eine wirkliche Tat zu üben, nämlich zu [S. 347] sterben, bevor er noch weiteren Unsinn begehe. Da fand er in seinem Zimmer die alte Frau, sie legte ihm etwas in die Arme und sagte: »Da bringe ich dem Herrn ein Christkindel.« Der Kleine wolle sich an den Vater halten, dem gehe es besser als der Mutter; die Mutter käme auf Wunsch auch nach.

Was ließ sich dazu sagen, was ließ sich machen?

Alsbald verbreitete sich das Gerücht, daß in der Stube des Hauptmannes etwas Absonderliches, Geheimnisvolles sei, und am Morgen versammelten sich vor dem Hause die Leute, zu denen die alte Frau dann sagte, sie sollen auseinandergehen und sich selber vorsehen. Nach wenigen Wochen kam auch die Mutter — ein armes, aber schönes blasses Weib, und nun war zum Totschießen keine Zeit und kein Verlangen mehr. Der Hauptmann zog mit Weib und Kind auf sein Landgut. Die Häuslichkeit mit ihrer Liebe und ihren Sorgen hat seinem zerfahrenen Leben endlich Inhalt und Wert verliehen.

Seit jener Zeit ist das fünfte Weihnachten vorbei. Hauptmann Alles hat der Welt nicht mehr Anlaß gegeben, seiner zu spotten.


[S. 348]

Die Tafelrunde der Berühmten.

Nach einem glanzvollen, aber kurzen Empfangsabend bei Hof saßen in einer Weinkneipe etliche berühmte Männer beisammen. Sie hatten sich heute ganz zufällig zusammengetan, aber große Seelen finden sich leicht und berühmte Menschen haben stets etwas Weltbürgerliches, vertrautsam Brüderliches an sich; in der Sphäre, in die sie emporragen, weht eine frischere, freiere Luft, in der sich die Elektrizität der Geister rasch sammeln und entladen kann.

Die Unterhaltung war munter genug, und jetzt machte einer — man weiß nicht aus welchem Anlaß, wahrscheinlich infolge eines Gespräches über die Berühmtheiten des Empfangsabends — den Vorschlag, jeder in der kleinen Gesellschaft solle nun erzählen, wie er berühmt geworden sei.

Wie er berühmt geworden? In der Tat, das war etwas. Ja! und eh bien! und wohlan! riefen sie durcheinander, und jeder war darauf gespannt, von jedem die persönliche Geschichte zu hören.

»Ganz merkwürdig, meine Herren, ist das bei mir zugegangen,« ergriff der Romanzier Paulo sofort das Wort.

»Ich bitte!« rief der Schauspieler Werner, »es muß systematisch vorgegangen werden; etwa nach der Popularität des Faches, in dem sich jeder bewegt.«

»Nach dem Alter die Reihe!« schlug der Chemiker Iseling vor, dessen Berühmtheit von der Erfindung des spanischen Brustmalzes im Jahre 1818 nach Christus herrührte.

»Nach dem Alphabet!« rief der Major Abacitz.

»Jetzt ist nur noch der akademische Maler Rakutti, der sich nicht gemeldet hat,« sagte Doktor Sauermann.

[S. 349]

»Und Sauermann, Doktor der gesamten Heilkunde,« entgegnete der Maler. »Die Gesundheit ist die Hauptsache, der Doktor soll beginnen.«

»Nun, wenn ihr durchaus wollt!« sagte Doktor Sauermann, denn er war der Bescheidene. Die Gesellschaft dämpfte ihre Stimmen. So begann er seine Geschichte.

Sie ist einfach genug. Sie ist schlicht, wie der Doktor selbst war. Auf einer Gebirgspartie verunglückte der reiche Baron Schuß von Überschuß. Der Chirurg des Alpendorfes, in welchem der Verletzte liegen bleiben mußte, behandelte ihn und telegraphierte täglich das Bulletin in die Welt hinaus: »In dem Befinden des Herrn Barons Schuß von Überschuß keine bedenklichen Symptome. Dr. Eras Sauermann.« — »Der Zustand des Herrn Barons nimmt seinen normalen Verlauf. Dr. Eras Sauermann.« — »In dem Befinden des Herrn Barons ist eine kleine Verschlimmerung eingetreten. Dr. Eras Sauermann.« — »Das Wundfieber des Patienten hat sich in besorgniserregender Weise gesteigert. Die Kräfte schwinden. Dr. Eras Sauermann.« — »In dem Befinden des Herrn Barons Schuß ist eine leichte Besserung eingetreten. Dr. Eras Sauermann.« — »Der hochgeborne Herr Baron Schuß von Überschuß, k. Oberkämmerer, der Krone geheimer Rat, Ordensritter des goldenen Kreuzes, Besitzer vom Orden des heiligen Ludwig usw., ist heute morgens drei Uhr gestorben. Dr. Eras Sauermann.« — Bei dem Leichenbegängnisse folgt unweit hinter dem Galawagen in offener Kalesche ein interessanter blasser Mann in tiefer Trauer. — Wer ist das? — Der Arzt, der ihn behandelt hatte. — Also ein Leibarzt. — Doktor Eras Sauermann. — Bald hernach zieht er in die Stadt und ist der renommierteste Arzt der Geld- und Geburtsaristokratie. »Ich kann wohl sagen,« schloß der Herr Doktor, »ich bin auf ganz normalem Wege [S. 350] emporgekommen. Von Reklame war ich stets ein geschworener Feind, das einzige, was ich mir in dieser Beziehung gestatte, ist, daß ich meinen Patienten möglichst das letzte Geleite gebe.«

»Nun, es ist ja gewiß keine Schande, heutzutage durch Reklame etwas zu erreichen,« sagte der akademische Maler Rakutti. »Neun Trommler und vierundzwanzig Trompeter müssen siebenmal sieben Wochen jeden Tag lärmend durch die Stadt ziehen, bis endlich jemand frägt, was der Teufel denn eigentlich los sei? — Meine Herrschaften, seht ihr dort den verkommenen Menschen?« — Jawohl, was soll der? — »Der soll viel, ihr schönen Frauen und ihr noblen Herren, denn er kann alles. Es ist das Genie ! — Ah!«

»Sehr gut, sehr wahr!« rief die Tischgesellschaft.

»Eine eigenartige Illustration für oder, wenn Sie wollen, gegen das Gesagte ist meine Geschichte,« fuhr der Maler fort. »Ich habe Kunstwerke geschaffen, ich bin kein Freund von vielen Worten, ich sage bloß: Kunstwerke. Dieselben hingen in den Ausstellungen oder sie wurden durch Mißgunst der Akademie-Direktoren, von welchen die meisten leider auch selbst malen, dem Publikum vorenthalten. Die Kritik verschwieg, oder was noch schlimmer, lobte mich mit jenen tückischen Phrasen, die dem Publikum nichts sagen als: Der Mann ist sehr arm, denn seht, wir geben ihm Almosen. — Kurz, als ich das dreiundzwanzigste Bild schuf, war das erste noch nicht verkauft. — Vierundzwanzig macht majorenn, dachte ich, und das vierundzwanzigste Bild soll etwas Besonderes werden. Es wurde auch! Das ewig Weibliche, Frauen in unverhüllter Schönheit sind immer willkommen! Als ich eine Reihe solcher Gestalten gemalt hatte, ohne eigentlich dabei an etwas anderes zu denken, als an die Wirkung der Farben (denn die Farben sind bei einem Gemälde doch die Hauptsache) nannte ich sie: die Genien der Freude. — Sie [S. 351] gelangten mühelos in die Kunstausstellung, denn das Echte siegt endlich doch. Aber am dritten Tage nach der Eröffnung verlangten die Journale die Entfernung des Bildes — aus Sittlichkeitsrücksichten. Noch an demselben Tage strömte das Publikum massenweise in die Galerie, um sich an den Genien der Freude weidlich zu entrüsten. Allein, wo das Bild gehangen, gähnte nur mehr die leere schmutzigrote Wand mit dem Zettel: Nr. 52 zurückgezogen. Aber die Genien blieben in ihrer Zurückgezogenheit nicht allein. Durch besondere Schliche war es immerhin möglich, das Bild in seinem Gewahrsam zu sehen, und weil jeder mit starkem Kopfschütteln aus der Kammer trat, so wollten immer noch mehr Besucher hinein. Es war ein Skandal, von dem die halbe Stadt sprach. Der Skandal lag jedoch nur im Skandal, nicht im Bilde. Und was geschah? Ich erhielt eine Zuschrift: Euer Wohlgeboren, da ich kaum voraussetzen darf, daß Sie als Verfertiger — Verfertiger schrieb der Gauch! — und Eigentümer Ihres geradezu skandalösen Bildes: Die Genien der Freude, dasselbe vernichten werden, so fühle ich mich im Namen des guten Anstandes veranlaßt, es ein- für allemal vor unberufenen Augen unsichtbar zu machen. Ich biete Ihnen dafür dreitausend Mark. — Unterschrift der Name eines bekannten Börsenjobbers.«

»Selbstverständlich waren Sie entrüstet über das unwürdige Angebot und verlangten sechstausend Mark!« lachte der Major.

»Nein,« sagte der Maler, »ich sandte dem Herrn ein höfliches billet de correspondance , in dem ich sehr bedauerte, das Bild unter zehntausend Talern nicht abtreten zu können. — Am nächsten Tage hatte ich die dafür lautende Kassa-Anweisung in der Hand. — Die Genien wurden allsogleich abgeholt, sollen aber bis heute noch nicht vernichtet sein. [S. 352] — Ich malte nun Bild für Bild ähnlichen Genres, keines kam in die Ausstellung, jedes wurde von den Reporters, die sich in den Ateliers herumtreiben, und auch von neugierigen Kunstmäcen mit Interesse beblinzelt, mit Würde verdammt und fast noch vor seiner Vollendung von Privaten angekauft. — Jetzt erst verstand ich das Wohlwollen der Presse und ich wollte den Rezensenten zu Ehren ein Fest geben. Sie lehnten es in Mehrzahl höflich ab. Ich aber bin seither der berühmte Mann und gedenke es auch noch ein Weilchen zu bleiben.«

Nun war die Reihe — es ging um den Tisch wie ein Rundgesang — an dem Major Abacitz. Der war jedoch zur Tür hinausgegangen.

»Er soll sich ja im letzten Kriege ausgezeichnet haben,« sagte der Chemiker Iseling.

»Meines Wissens,« antwortete der Doktor, »hat er bloß das Gefecht von Otterlitz verloren.«

»Darüber ließe sich zur Tagesordnung gehen, und so hätte wohl Herr Werner das Wort.«

»Meine Geschichte ist groß!« versetzte der Schauspieler hohlen Tones, als begänne er den Franz Moor des Lewinsky zu deklamieren, »sie ist sehr groß. Ich will den Schauspieler nicht mit anderen Künstlern vergleichen. Was ist der Maler? Er hat als Material die Leinwand, die Farbe; der Bildhauer hat den Marmor, der Dichter das Wort, der Musiker den Ton. Der Schauspieler allein ist sein eigenes Material, seine eigene Leinwand und Farbe, sein eigener Marmor, sein eigenes Klavier. Der Schauspieler ist der einzige Künstler, der aus sich selbst schafft.«

»Also aus nichts —« warf der Maler ein.

»Was sagen Sie?«

»Ich meine, aus nichts, wie Gott die Welt erschuf.«

[S. 353]

»In der Tat, ja. Doch davon zu sprechen gebührt mir nicht,« sagte der Schauspieler, »ich komme zu meiner Geschichte. — In wenigen Monden gehen sieben Jahre um, seitdem ich nicht mehr am Leben wäre, wenn mich damals auf dem Theaterplatz in — doch, wozu Ortsnamen! — die Polizei nicht geschützt hätte. Was sagt ihr? — Ich frage euch: ist ein Applaus im Auditorium ein Applaus? Ist das Klatschen und Strampfen und Johlen und Namenrufen ein Applaus? Nein, meine Herren, das ist kein Applaus. Sind Lorbeerkränze mit roten Seidenschleifen und Goldbuchstaben: »Dem großen Mimen Fridolin Werner« ein Applaus? Sind hundert verhimmelnde Notizen in den Tagesblättern über unvergleichliche Darstellungskraft, über Wiedergabe der Rolle, wie wir sie nachgerade noch nie erlebt, über fingierte Engagements in großen Hoftheatern und dem unersetzlichen Verlust, der unserer Bühne droht; sind glorifizierende Feuilletons mit Biographie und schwungvoller Aufzählung aller Triumphe in glühenden Superlativen ein Beifall? Wenn dich Studenten von der Bühne zur Garderobe auf den Achseln tragen — nennt ihr das Erfolg? — Es tut mir leid, dann seid ihr schlecht berichtet. — Wenn du aber in »Kabale und Liebe« den Wurm spielst, und das Publikum gerät über den elenden Bösewicht derart außer sich, daß es dich nach der Vorstellung auf deinem Wege in den Klub abpaßt und aus wütend empörtem Gerechtigkeitsgefühl totschlagen will: Das ist Applaus, Beifall, Erfolg!«

Werner ließ sich auf die Lehne seines Sitzes zurücksinken und sagte weiter kein Wort. Es war auch keines mehr nötig. Das war die Geschichte, wie er berühmt wurde; der Vorfall stand damals in allen Blättern, und auch seither, so oft Herr Werner auf irgend einer Bühne Gastrollen gab, vollends wenn er den Wurm brachte, ließ er's »auf dem Platze« abdrucken, [S. 354] wieso ihm der Erfolg dieser Rolle schier einmal an's Leben gegangen sei.

Jetzt war's am Chemiker Iseling.

»Ihr sprecht da von Erfolgen,« sagte dieser, »die mir nicht imponieren können. Ich möchte sie Zufallserfolge nennen. Eine mit männlicher Entschlossenheit durch allerlei Hindernisse mit schweren Opfern zielbewußt selbstgeschaffene Existenz weise mir einer auf, wie die meine! Eine Berühmtheit, die über den Großen und Stillen Ozean ebenso mächtig hinklingt, wie über unsere Donaugelände, weise mir einer auf, die der meinen gleichkommt! Iseling's spanisches Brustmalz! Depots in Paris, London, Kalkutta, San Franzisko, Melbourne —«

»Fischamend, Benslau —« spottete der Maler.

»Nicht zu verachten, meine Herren! In kleinere Orte ist es schwerer zu dringen, als in die großen. Wen der Kleinbürger und der Bauer kennt, der darf sich auf seine Berühmtheit eins gönnen!«

Er trank scharf sein Glas Rheinwein aus. »Es hat mich ein gut Stück Geld gekostet,« fuhr er fort, mit der hohlen Hand seinen Bart trocknend. »In ein paar Jahren hoffe ich das Jubiläum der Million feiern zu können.«

»Die Sie mit dem spanischen Brustmalz gewonnen haben?«

»Ach Gott, dieses Jubiläum ist längst gefeiert. Die Million, die ich für Inserate und andere Reklame ausgegeben habe!«

»Ich kann mich aber in der Tat kaum erinnern, je einmal ein Inserat über das spanische Brustmalz in den Zeitungen gelesen zu haben,« bemerkte der Maler.

»Lieber Freund,« belehrte Iseling, »mit dem gewöhnlichen Annoncieren und Anpreisen, mit dem Abdruckenlassen [S. 355] der Dankschreiben durch das Brustmalz geretteter Personen und was dergleichen Schwindel mehr ist, befasse ich mich nicht. Da täte mir wahrhaftig meine Ware leid. Wir verfügen über andere Mittel.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel wollen wir einmal den Kalender von der Wand nehmen. Da haben wir gleich — Zeitrechnung auf das Jahr 1883. Sie sehen! Seit der Erschaffung der Welt 5832 Jahre. — Seit der Einführung des Gregorianischen Kalenders 304 Jahre. Seit der Erfindung des spanischen Brustmalzes 35 Jahre ....«

Lachend stießen sie mit ihm die Gläser an, nur Paulo, der Romanzier, starrte finster auf die Tischplatte, und als er wegen seiner schweren Schweigsamkeit zur Rede gestellt wurde, murmelte er: »Das ist mir zu frivol.«

»Nun müssen ja Sie mit Ihrem Latein vorrücken.«

»Ich schweige,« antwortete Paulo und schüttelte seine lange schwarze Mähne, die das blasse Gesicht wie bei einem Magier umrahmte. Dazu hatte er eine Art Schlangenbändigeraugen und um den Mund die Furchen des Weltschmerzes und die Klammern des Spottes. »Ich schweige,« antwortete er, »denn an einer Tafelrunde, wo Erfolg und Ruhm in solcher Weise charakterisiert worden sind, könnte die Erzählung eines sich aus schwerer Not und mit sittlicher Kraft zur Anerkennung der Nation emporgerungenen Mannes wohl kaum jemals Verständnis finden.«

»So könnten wir jetzt vielleicht ein Kartenspielchen arrangieren,« meinte sehr boshafterweise der Schauspieler Werner.

»Ja und tausendmal ja!« rief Paulo, wirklich erbost darüber, daß just er nicht zum Erzählen kommen sollte. »Spielet, spielet! Das ist ja die Art der guten Deutschen, [S. 356] zechen und kartenspielen, anstatt sich an dem geistigen Schatze der Nation zu belehren und aufzurichten und ihre Schriftsteller vom Untergange zu retten. — Mich haben, das kann ich wohl sagen, lediglich die Gelegenheitsgedichte zu Hochzeitsfesten, Kindstaufen und Jubiläen vor dem Hungertode gerettet. Meine Jugendgedichte! — außer Schiller und Heine schriebe sie mir keiner nach! — Und wenn ich Ihnen sage, daß ich die Druckkosten derselben mit der kleinen Erbschaft meiner Tante als meinem einzigen Vermögen bestreiten mußte! In Deutschland, wo jährlich Tausende für Zeitungs- und Kolportagegeschmiere ausgegeben werden! Ich wollte hierauf eine große Dichtung schreiben als Seitenstück zum »Faust«. Doch nein, Paulo, sagte ich mir, die Deutschen sind derlei nicht wert; sie hätten auch den Geheimrat Goethe verhungern lassen, wenn Geheimräte zu solcher Todesart überhaupt inklinierten. Hingegen schrieb ich nach manch kleineren Arbeiten, die mir viel Lob eintrugen, aber kein Geld, einen großen Roman unter dem Titel: Die Auster von Tergestum. Daß diese Dichtung mein Glück machen werde — ich wußte es im voraus. Ich trug das Manuskript zu meinem Verleger. — Gucken Sie nicht so sauer drein, lieber Mann, sage ich, heute habe ich einmal etwas für Sie. Sie wollen doch Millionär sein? — Ich hätte nichts dagegen, meinte er. Gut, ich verkaufe Ihnen das ein- für allemal, für alle Auflagen, für die Übersetzungen in allen Sprachen. — Aber, mein Teurer, es tut mir leid! sagte der Verleger, und solche Leute, wenn sie höflich werden, sind unausstehlich. Teuerster! sagt er, heutzutage einen dreibändigen Roman, und von einem unbekannten Namen! Wo denken Sie hin! — Herr, der Roman ist gut! rufe ich. — Ach, das ist Nebensache, der Name muß gut sein! sagte der Verleger. Schreiben Sie ein schlechtes Buch, so schlecht Sie wollen, [S. 357] aber setzen Sie auf's Titelblatt einen berühmten Namen, zum Beispiel: Max Freihag, und ich drucke es und zahle dreißig Taler für den Druckbogen. — Tun Sie das? frage ich. — Jawohl. — Gut. — Ich nehme mein Manuskript unter den Arm und gehe geradewegs zu Freihag. — Der Romanschriftsteller Freihag wohnte nämlich in derselben Stadt in — doch wozu Ortsnamen! rufe ich mit Freund Werner. — Freihag, ich wußte aus mancherlei Anlässen, daß er mir wohlgestimmt war und ein gutes Herz hatte. — Ich traf ihn zu Hause. Oh, lieber Freund! rief er mir schon an der Türe entgegen, heute ist's nicht! — Was ist nichts? frage ich. — Sie wollen ja doch wieder Geld von mir! — Ach nein, Herr Doktor, sage ich. — Das ist gut, meinte er, denn heute habe ich selbst keines. — Das macht gar nichts, sage ich, denn heute müssen Sie mir mit etwas anderm helfen. Sie müssen mich glücklich machen für mein ganzes Leben! Ich will nämlich heiraten — und ich wollte in der Tat, ich war gerade in ein reizendes Ballettmädchen verliebt und in dem rechten Moment fiel es mir nun bei: wahrhaftig, das könntest du als Motiv anführen, und sie hernach wirklich heiraten. — Da soll ich Ihnen wohl gar den Brautwerber abgeben? lachte der Doktor. — Das nicht, sage ich, oder ja, wenn Sie's so nehmen wollen. Sie müssen mir nämlich meine materielle Existenz gründen. — Aber, lieber Freund, wie vermöchte ich das? — Doktor, Sie vermögen es, Sie können es und Sie werden es tun. Hier habe ich einen Roman geschrieben und Sie werden meinen Verleger vermögen, daß er mir dafür Honorar zahlt. — Wie soll ich das anfangen? fragt er; ach, 's ist ein liebenswürdiger Mann. — Das ist sehr leicht, berichte ich, es wird Ihnen im Leben selten etwas so wenig Mühe gemacht haben, als das, und Sie werden nicht leicht wieder einen finden, der sich mit so [S. 358] geringem Opfer namenlos glücklich machen läßt, als ich. Denken Sie: eine schöne, herrliche Braut, in die ich sterblich verliebt bin. Es wäre mir unmöglich, auch nur einen Tag noch zu leben, ohne die Gewißheit, sie heiraten zu können. — Ja, es scheint, daß Ihnen die Liebe wirklich schlimm mitspielt, sagt der Doktor nicht ohne Zweideutigkeit; wenn es jedoch in dem Bereiche der Möglichkeit liegen sollte, Ihnen zu dienen —! Gut, sage ich, so wäre das abgemacht. Ich danke Ihnen. — Nun, was wollen Sie denn eigentlich? ruft er aus. — Ach ja so. Sehen Sie, sage ich, das ist der neue Roman: Die Auster von Tergestum, von Emil Paulo und Max Freihag. Oder wollen Sie voranstehen? — Ich soll als Autor des Romanes? — Ja, Doktor, Sie werden als Mitverfasser Ihren Namen auf das Titelblatt drucken lassen. — Als Mitverfasser! ruft er, ich als Mitarbeiter an Ihrem Roman, ohne eine Zeile daran geschrieben zu haben?! — Das können Sie nachholen, wenn Ihnen daran gelegen ist. — So müßte ich das Werk doch zum mindesten durchlesen, denn Sie werden begreifen, daß —. Nein, unterbrach ich ihn, Doktor, das begreife ich nicht. Haben Sie Lust, den Roman heute zu lesen, so wird's mich freuen, aber was gewinnen Sie dabei? Entweder Sie finden, daß Sie ihn verantworten können, dann war's unnützer Zeitverlust; oder Sie werden durch die Lektüre veranlaßt, Ihr Versprechen zurückzunehmen, dann bin ich verloren. Und daran, Herr, daran zweifle ich keinen Augenblick, wenn Sie mit einem Namenszug einen Menschen retten, ja deren zwei glücklich machen können, so schreiben Sie Ihren Namen, wenn es sein muß, selbst auf ein ägyptisches Traumbuch. Die Revisionsbogen werden Ihnen ja Gelegenheit geben, den Roman kennen zu lernen, respektive zu bearbeiten. Die Hauptsache ist jetzt Ihr Name; mein Verleger schließt in einer halben [S. 359] Stunde das Kontor. — Das war mein Begehr, und nicht einmal die Pistole brauchte man dazu in der Hand zu haben. — — Er hat's getan. Ich wußte recht gut: nach einer Stunde tut er's nicht mehr; sobald ihm wieder der Herzschlag langsamer geht, sobald er nachzudenken beginnt, tut er's nicht mehr. Nun, es gelang und er hat's getan.

Atemlos hatte die Gesellschaft dem Romanzier zugehört.

»Und wie verlief die Sache?« fragte der Schauspieler, der früher der Gleichgültigste geschienen und jetzt der Aufmerksamste war.

»Sie verlief gar nicht,« antwortete Paulo, »sie ist noch heute, und ganz vortrefflich. Ich kam mit dem Roman zum Verleger zurück, der sah auf demselben freudestrahlend den berühmten Namen, den er für seinen Verlag schon seit langem vergeblich zu gewinnen gesucht, und zahlte mir fünfzehnhundert Taler als die erste Hälfte des Honorars auf die Hand. — Außer einigen Streichungen fand der Doktor an dem Roman nicht viel zu modifizieren, das Buch ging reißend ab und hat bis heute sieben Auflagen erlebt. Selbstverständlich schrieb ich nun munter voran und für den Kompagnon Max Freihag's taten die Verleger allerorts ihre Arme und Börsen auf, obwohl die folgenden meiner Bücher nur mehr unter meiner Firma allein erschienen.«

»Und hat der Streich dem Renommee Freihag's doch nicht etwa —?« Iseling sprach's, hatte aber nicht den Mut, den Satz zu Ende zu bringen.

»Geschadet, meinen Sie!« fuhr Paulo empört auf. »Herr, seit der Erfindung des spanischen Brustmalzes mag es allerdings erst fünfunddreißig Jahre her sein, aber seit der Entdeckung des gesunden Menschenverstandes ist es doch etwas länger. Und der Menschenverstand sagt sonnenklar: [S. 360] Zwei ist mehr als eins. Freihag kann froh sein, ein höchst bedeutendes Werk unter seinem Schilde zu führen, zu dem er kaum die Feder angesetzt hat.«

»Und Ihre Braut haben Sie geheiratet?« fragte der Maler.

Ohne darauf zu antworten, nahm Paulo seinen Überrock und sagte: »Gute Nacht, meine Herren!«


[S. 361]

Der Mann mit den dreizehn Talern.

Der Mann, dessen Geschichte ich in schaulustigen Jugendtagen aufgeschrieben, war eine sehr wunderliche Erscheinung. Auswendig und noch mehr inwendig. Er war nicht groß, aber stark untersetzt und unter der rechten Achsel auffallend ausgewachsen, so daß an derselben Seite der kurze graue Wollspenser zwischen sich und der Hose das Hemd hervorlugen ließ. Das bleiche Gesicht sah recht offenherzig aus, war rund und hatte für das Dorf astronomische Bedeutsamkeit. Wenn dieses Gesicht neu und glatt rasiert war, so konnte man überzeugt sein, daß der Mond im ersten Viertel stand.

Die Welt sah er nur halb, das heißt immer bloß mit dem einen, rechten Auge an, das linke hielt er stets zugedrückt. Und doch war er nicht einäugig, denn einmal hatte es sich ereignet, daß beide Augen hellicht offen standen. Die Leute meinten, der Alte verschließe das linke, weil er alles recht sehen wollte; andere behaupteten, er tue es aus Sparsamkeit, damit, wenn sich im Greisenalter die gewöhnliche Sehkraft erschöpfe, er noch ein neues, frisches Auge habe, und wieder andere vermuteten, der Alte tue es aus Nachsicht, daß er immer ein Auge zudrücke.

Einen Zweck mußte es wohl haben, denn alles, was der Alte tat oder ließ, hatte einen Zweck. Oder weshalb ließ er seine nun bereits weißen Haare so lang wachsen, daß er sie wie einen Turban um die Stirne drehen konnte, als daß er dadurch die Kopfbedeckung von fremden Haaren ersparte? Und weshalb kaute er immer und immer wieder an einem Strohhalm, als zum Ersatz für das Rauchen, das er sich in [S. 362] seiner Jugend einmal angewöhnt hatte? Und weshalb hatte er in seinem Stübchen eine beflügelte Windmühle, die mehr als den halben Raum einnahm? — Ja, die Geschichte von der Windmühle ist nicht einfach! Die Maschine stand aber auch nur im Winter in der Wohnung des Mannes, im Sommer ruhte sie in einer Rumpelkammer, die gleich daneben, und zu der die Stube des Mannes eigentlich das Vorzimmer war. Ob über diese Räume der alte Mann oder die Mäuse Hausherr waren, das ist nie recht klar geworden; bestimmt ist nur anzunehmen, daß beide Parteien in den Dachstuhlräumen des alten Pfarrhofes wohnten.

So bedenklich die Holzleiter aussah, die zu diesen Räumen emporführte, so wohnlich waren sie eingerichtet. Eine Matratze, die am Boden lag, ein dreibeiniger Sessel, der daneben lehnte, ein wurmstichiger Schrank, der an der Wand stand und ein kleiner eiserner Ofen, der im Winkel kauerte — das war außer der Windmühle die Einrichtung der Wohnung des Malchus Zacharias Rosenkranz. Das Fenster, das in der schiefen, reichlich mit Lehm überworfenen Dachwand in einer Nische stand, war wie der alte Malchus einäugig, da der andere Flügel mit blauem Papier verklebt gewesen. Indeß war der Ausblick durch die eine Glasscheibe um so erfreulicher, sie ging in den Hof zu den lieben Haustieren. Dem Fenster des Malchus gegenüber stand das Wirtschaftsgebäude und auf dem First desselben saß zu allen Stunden des Tages ein Spatz oder die Katz'! Und über dieses Bild wölbte sich am Tag der blaue Himmel, zur Nacht das Sternenzelt und zu trüben Zeiten der Nebel.

Gelänge es mir, nun euren Blick von diesem Bilde ab- und nochmals auf das Innere der Behausung des Malchus zu lenken, so möchte ich auf den schwärzlichen Hafentopf aufmerksam machen, der am eisernen Ofen steht. Dieser birgt [S. 363] das Mittags- und Abendmahl des Mannes, sowohl für alle gewöhnlichen Tage, als auch für alle Feste des Jahres berechnet — ein nahrhaftes Erbsengericht. Lohnend dürfte es sein, auch einen Blick in den Schrank zu tun. Da uns die zahlreichen Wurmstichlöcher aber doch immer keinen Einblick in das Innere zu gewähren vermögen, ist Malchus Zacharias Rosenkranz bereit, die Decke zu öffnen. Die hier verwahrten Holzschuhe und falbledernen Beinkleider, sowie der Sack Erbsenvorrat sind von minderem Belange; um so auffälliger aber ist uns die viele Schafwolle, die auf Spulen und Knäuel gewickelt ist, und das sorgsam gehaltene Strickzeug. Wir haben hier die Stätte der Arbeit vor uns; Malchus beschäftigt sich jahraus jahrein mit Stricken und versorgt alle Bauern, Hirten und Holzhauer der Umgebung mit Fäustlingen und Socken.

Im untersten Winkel des Schrankes befindet sich aber ein Wollbeutel, der einen feinen, zarten Metallklang gibt, sobald ihn der Mann berührt; Malchus schichtet alle vorrätige Wolle über den Beutel und blinzelt dabei ganz merkwürdig mit dem rechten Auge. Dann blickt er unstet um sich, aber das linke Auge bleibt zu, nur der Strohhalm, an dem Malchus kaut, macht ein paar Schwingungen auf und nieder, was wohl gar eine Drohung bedeuten mag.

Ein Geizhals, meint Ihr? — Recht gut, so hat es einen Zweck, daß ich euch die Geschichte des Mannes erzähle.


Malchus Zacharias Rosenkranz lebte schon seit einigen fünfzig Jahren in dem Dachstübchen des Pfarrhofes, und ihm sind auch die Tage bekannt, die er noch hier verleben wird. Er weiß den Tag seines Todes. Wie sie ihn über die hinfällige Leiter hinabbringen werden, das ist ihre Sache — gewiß nur ist, daß sie nach Verlauf der bestimmten Zeit [S. 364] den alten Malchus hinaustragen werden auf den Kirchhof. Der Alte verzehrt trotzdem heute sein Erbsengericht so ruhig als vor dreißig Jahren. Er betet und hofft nur, daß bishin kein Unglück mehr komme.

Eine Tagereise von unserem Dorfe, in einer schönen Gebirgsgegend, liegt der rote See. Dieser ist an vielen Stellen grundlos tief, birgt sogar Forellen in sich und hat seinen Namen von den roten Felswänden, die an seinen Ufern aufragen und sich in dem klaren Wasser spiegeln.

Am Ufer dieses Sees stand vor vielen Jahren eine Fischerhütte. Sie war aus rohen Waldstämmen gezimmert und mit Lehm und Moos gegen Wind und Wetter wohlverwahrt. In der Hütte wohnten ein Mann und ein Weib und ein Kind. Der Mann war kühn und trieb sich die meiste Zeit auf dem See herum, bis er zu Abend mit beladenem Kahne gegen die Hütte ruderte. Das Weib war arbeitsam und pflegte den Gemüsegarten und die Ziegen, und in der Winterszeit höhlte es Holzschuhe aus zum Verkaufen. Das Kind war ein freudvoller Knabe, in welchem Jugendlust sprudelte und ein reiches, kraftvolles Leben zu schlummern schien.

Das Fischerpaar liebte sein Kind unsäglich, aber es lag eine Betrübnis in seiner Doppelseele, so oft es den heiteren Knaben ansah. An jenem Tage nämlich, als dem Fischer das Kind geboren wurde, fing er in seinem Netze eine große Seespinne, wie er noch nie eine gesehen hatte, weil sie im roten See nicht vorzukommen pflegten. Er schleuderte das Tier wohl wieder zurück in die Wellen, aber nach seinem Sinn sollte der Fang für die Zukunft seines Neugebornen von böser Bedeutung sein. Er teilte dies auch seinem Weibe mit, welches zwar den Wahn des Gatten überlaut zu widerlegen suchte, im Innern aber bangte, des unglücklichen Lebens gedenkend, das vielleicht ihrem Kinde bevorstehe.

[S. 365]

Trotzdem wuchs der Knabe auf zum schönen Jüngling, der da lachte, als ihm die Eltern die Geschichte von der Seespinne mitteilten.

Der Jüngling kam selten zu fremden Menschen; er sah dann und wann nur einen Holzhauer, einen Jägersmann, und wenn er auch bisweilen hinauskam in die Gegend, wo das Dorf und die Kirche standen und wo die Leute auf dem Felde oder auf der Wiese arbeiteten, so fühlte er sich dort nicht behaglich. Die ganze Liebe seines Herzens wendete er den Eltern zu.

Zur Liebe kam auch der Segen. Jener Wahn des alternden Paares begann in diesem ruhigen und heiteren Fortleben zu schwinden.

In einem Winkel oben unter dem Dache wohlverwahrt stand ein Kästlein aus hartem Buchenholz voll blanker Silbermünzen. Durch die vielen Jahre der Arbeit und des Fleißes hatte sich die kleine Familie ein Vermögen erworben, welches in dem alten Fischer keinen geringeren Plan wachrief, als den, die baufällige Hütte niederzureißen und sich am Ufer des Sees ein größeres Wohnhaus zu bauen. In seiner Seele mochte vielleicht das Bild einer lieben Tochter zu dämmern beginnen, die der Junge früher oder später bei den vielen Menschen draußen finden und nach Hause bringen werde.

So zog der Jüngling eines schönen Julimorgens aus, um einen Baumeister und Arbeiter zu dingen. Wenn er an großen, stolzen Bauernhöfen vorüberkam, so studierte er die Bauart und den Geschmack, und er freute sich auf das Leben im neuen Hause, das sich in der Einsamkeit zwischen dem See und den roten Wänden doppelt schön ausnehmen werde, und er freute sich auf das Lieben und Pflegen der alten Eltern.

[S. 366]

Als er hierauf nach gewissenhaft vollführter Sendung in das Felsengebirge zum roten See zurückkehrte, da war alles aus. Wo die Hütte gestanden hatte, knisterte ein Gluthaufen und von demselben rieselte über die breiten Steine ein schmales Silberbächlein gegen den See, gleichsam als fordere dieser die unzähligen Silbermünzen, die er durch seine Fische erwerben half, geschmolzen wieder zurück. Und in dem Aschenhaufen lagen die verkohlten Leichname. — — Schöner Fischerjunge! Dort am Ufer steht noch der Kahn, dein Erbe. Geh' hinab, mache ihn los, springe hinein und fahre hinaus bis in die Mitte des Sees. Dort stürze dich kopfüber hinab — zur Seespinne. —

Er sprang nicht in die Glut, er sprang nicht in den See; er brach nicht zusammen; es trat ihm keine Träne ins Auge. Einen kurzen, gellenden Schrei stieß er aus — — dann drückte er sein linkes Auge zu und blinzelte mit dem rechten.

Später wühlte er in den Kohlen und Bränden. Die Leichen seines Vaters und seiner Mutter ließ er liegen, wie sie lagen, bis nach vielen Stunden Leute kamen, die das Unglück sahen, das Fischerpaar begruben und den Jüngling mit hinaus nahmen ins Dorf.

Aber seine Jugend war zu Ende. — Das plötzliche unfaßbare Unglück, das mit einem einzigen Schlage alles geraubt hatte, was er besaß, was er liebte und an dem er hing mit seinem ganzen Wesen, hatte sein Gehirn erschüttert, sein Lebensmark geschmolzen — ein blödsinniger Greis von siebzehn Jahren — drückte stets das linke Auge zu und kaute an einem Strohhalm.

Die Brandstätte seiner Heimatshütte lag öde da; Fischlein im See reckten oft ihre Köpfe empor, ob denn der Alte nicht wieder einmal käme mit seinem hinterlistigen Garnsack, [S. 367] und da er nicht kam, so veranstalteten sie lustige Spiele und feierten das Fest durch Tänze und Wettrennen nach Mücken und Würmchen. Doch endlich kam wieder ein starker Mann, der mit riesigen Garnbeuteln den roten See neuerdings unsicher machte.

Für das geschmolzene Silber, welches von der Hütte über die breiten Steine gegen den See geflossen und unterwegs gestockt war, bekam der arme Malchus dreizehn Taler.

Bisher hatte er eine Wollmütze am Kopfe getragen, die nahm er nun ab und wickelte das Geld hinein und sagte zu sich: »Das ist gerade genug, daß sie die Glocken läuten und daß der Pfarrer mitlauft, wenn mich die sechs Träger hinaustragen. Sechs? Ei, ich dächte, für den Malchus tätens auch bloß zwei.«

Ein alter Pechbrenner, in dessen Hütte Malchus seit dem Unglücke wohnte, ließ sich die dreizehn Taler zeigen, legte dann den Finger auf den Mund und flüsterte: »Malchus, das ist ein Kapital, geh' damit ein Geschäft an! Schau, ich habe vor fünfunddreißig Jahren, als ich in den Wald ging, nur zwei Sechser gehabt, kaum, daß ich mir davon den Pechhafen hab' kaufen können, und heute schau dir einmal meine Pecherei an! Probier's auch du. Kannst es so weit bringen wie ich!«

Auf diese Worte legte der junge Mann einen Grashalm auf die Zunge; indem er an demselben zu kauen begann, sagte er langsam: »Meinst? Wart, Domini, wart, mit fünfunddreißig Jahren hab' ich's weiter gebracht als du. Bin ja ein Glückspilz, ich!«

»Wie du ein Kerl bist, sollst du ja die Welt auf die Achseln nehmen wie einen alten Heukorb! Fikra sikra Haferstern! Wenn ich der Malchus wär', ein Schloß von Elfenbein [S. 368] müßt' ich haben und das schönst' Weible drin und ein goldenes Bettstattl mit Roßhaar! — tät's nicht billiger!«

Malchus lächelte, aber sagte nichts drauf; er wickelte seine dreizehn Taler wieder langsam in die Wollmütze.

»Und was willst du nachher mit deinen dreizehn Aposteln da? Geh, ist ja der Judas noch dabei! Du, Malchus, den mußt weg, er verrät dir sonst die andern all. Oder der dreizehnte stirbt und steckt dir die anderen an. Mußt ihn weg, Malchus!«

»Mag wohl wahr sein,« meinte der Bursche, faltete seine Mütze wieder auseinander und hielt dem Pecher eine Münze hin.

»Junge, da tust du gescheit,« sagte der andere schnell und steckte den Taler in die Tasche, »bei mir hat er's gut, wenn du ihn brauchst, so komm und hol ihn.«

Ein andersmal, als Malchus tagelang zwecklos im Walde herumgelaufen war, sagte der Pechbrenner zu ihm: »Ja, was willst denn, Malchus, du bist ein ganzer Narr!«

»Das hab' ich mir auch schon gedacht,« entgegnete der Bursche. Dann warf er sich schluchzend an die Brust des alten Mannes und sagte: »Domini, lieber Domini, ich weiß mir keinen Rat. Du, ich sag' dir's, wenn sie mich nicht gleich auf die Bahr' legen, so kommt noch früher ein großes Glück über mich!«

»Ein großes Glück, meinst? Tät' dir schon recht geschehen und ich wollt' dir's wünschen.«

»Weh!« rief Malchus aus und wollte dem Pechbrenner den Mund verhalten. Und nachher sagte er: »Ja, ja, Glück wär schon recht! Aber da kommt dir auf einmal eine Stunde, und das Glück, fleißig aufgebaut in vielen Jahren, wird in einer Nacht zum Unglück. Domini, ich sag' dir's, wenn unten beim roten See jetzt eine Fischerhütte stünde, und [S. 369] es lebte ein guter Mann drin, der mein Vater, und eine gute Frau, die meine Mutter wäre — ich ginge nicht hinab zu dieser Hütte; nein, alter Domini, und wenn ich nur mit den Tieren des Waldes leben müßte, ich ginge nicht hinab — 's möcht vielleicht schön sein unten — schau mich an, Domini — schön sein unten; es möchten Tage sein wie die himmlischen Freuden — da kommt das Unglück und alles ist hin. Nein, nein, ich ertrags nicht mehr, das Glück, das falsche, und du wirst wohl recht haben, Domini, ich bin ein ganzer Narr.«

Dem alten, lustigen Domini war diesmal zur Entgegnung kein Scherz eingefallen. Er schwieg und dachte daran, wie das plötzliche Unheil auf den Burschen einen solchen Eindruck gemacht hatte, daß er das Glück nur als Ursache des Unglückes betrachtete und es fürchtete, wie das Unglück selbst.

»'s wird alles wegen der Seespinne geschehen sein,« sagte Malchus, »und ich weiß nun schon, ich darf nichts anfangen in der Welt, 's tät' mit allem schlecht ausgehen. Ich will keine Freude mehr haben, die Trauer nachher ist zu bitterlich; mag auch kein Geld und Gut, tät's doch wieder verlieren. Mag gar nichts, bin einmal zum Unglück geboren. — Ich will das Elend schon ertragen, Domini, den Hunger fürcht ich nicht, die Kälte nicht. — Ich ertrag' die Not, nur jäh darf sie nicht kommen. Domini, ich kann stricken; ich find' schon wo ein Platzel für die paar Jahre, und da stricke ich und erwerbe mir für jeden Tag eine Brotsuppe, oder, wenn das Geschäft gut geht, von Erbsen was. Die Lederhose da, schau einmal, Domini, sie ist von Hirschleder, die hält mir's reichlich aus, und dann soll das Unglück nur kommen, wo wills denn aufsitzen? — Bleibt mir mein Geld nicht, ist recht, nur fort, liegt mir wenig daran; [S. 370] und bleibt es mir, so ist's gut. Die dreizehn Taler sind für mein Begräbnis.«

»Hast nur zwölf mehr,« warf der Pechbrenner ein.

»Zwölf?« sagte Malchus befremdet, »wo hätt' ich hernach den dreizehnten?«

»Hast ihn ja mir gegeben, von wegen dem, weil er der Judas war,« lachte der Alte, »aber, wenn du ihn wieder haben willst ...«

»Nein, behalt' ihn nur,« sagte Malchus, »du hast mir jetzt lange Zeit hier in deinem Hause Dach und zu essen gegeben. Ich dank' dir's tausendmal, Domini, aber jetzt werde ich dich verlassen, ich gehe ins Stricken aus; bet' dann und wann ein Vaterunser für mich; schau der Malchus ist eigentlich doch ein armer Teufel.«

Das waren die Abschiedsworte. Seine Wollmütze im Sack, einen Stock in der Hand und einen langen Halm zwischen den Zähnen — so wandelte Malchus langsam durch den Wald und hinab zum See, wo am Ufer eine kleine rötliche Mauer stand. Der Herd ist noch geblieben, als ob das Schicksal höhnen möchte: Ei, sieh' da, Malchus Zacharias Rosenkranz hat doch auch einen eigenen Herd! —

Der blödsinnige Bursche wühlte — weil er just vorüberging — ein wenig in dem Aschenboden, ob etwa nicht irgendwo noch ein Eisennagel läge. Einen rostigen Pfeifendeckel aus Stahl fand er — — den hatte der alte Fischer einst auf- und zugedrückt, als er behaglich schmauchend am Tischchen gesessen war und zu seinem Weib und zu seinem Sohne gesagt hatte: »Nu, was meint ihr, werden uns halt ein Häuslein bauen müssen, das ein wenig größer und bequemer ist. Junge, zuletzt wirst du auch noch zwei Stuben haben wollen!«

[S. 371]


Als sich der Bursche in einem entfernteren Tale nach Strickarbeiten umsah, lachten ihn die Leute aus. — So jung und ein Altweibergeschäft!

Aber weil's gar zu sonderbar war, so gaben sie ihm doch eine Arbeit.

Malchus half auch auf dem Felde, aber da war er sehr unbeholfen. Einmal zur Erntezeit sagte man ihm: »Nur fleißig Korn tragen, Malchus.« Und setzten das Sprichwort dazu: »Die Kornträger werden reich.« Auf diese Worte wollte der Bursche keine Garbe mehr anrühren.

»Warum gehst du denn immer barhaupt?« fragte ihn einmal eine junge Magd, und wickelte sich seine wirren Locken um den Finger.

»Das weiß ich nicht,« antwortete Malchus und blickte seitwärts.

Wenn er mit andern zu Tische war, so aß er immer nur Brotsuppe und Gemüse, und wenn sie ihn zum Fleischgericht oder zu fetten Mehlspeisen einluden, sagte er: »Vergelt's euch Gott, nach so was ist's so viel schwer, sich was Einfacheres anzugewöhnen.«

Einmal sagte der Bauer, bei dem er arbeitete: »Malchus, ich schenk' dir eine Pfeife, daß du nicht immer an einem Strohhalm zu saugen brauchst.«

Darauf der Bursche: »Wenn du auch den Tabak dazu gibst?«

»Wie hast dir denn dein linkes Aug' abgebrochen, Malchus?« fragte ihn die schalkhafte Bäuerin eines Mittags, als sie dem Burschen eine Erbsensuppe vorsetzte.

Dieser aß die Erbsensuppe, antwortete jedoch nicht auf die Frage. —

Endlich sah man ein, daß der Malchus ein Hascher sei, und man behelligte ihn nicht mehr mit Witzen und Zumutungen, [S. 372] denen er nicht entsprechen konnte; man gab ihm Wolle und ließ ihn bei seinen Stricknadeln, und Malchus strickte und schien zufrieden.

Er war ruhig, gutmütig und anhänglich, man ließ dem armen, heimatlosen Burschen auf dem Dachboden des alten Pfarrhofes ein Stübchen.

Malchus, der seit dem Unglücke bisher im Tale in verschiedenen Bauernhöfen gelebt und gearbeitet hatte, war anfangs kaum zu bewegen, seine neue Wohnung zu beziehen. »Auf einmal wird mein Haus niederbrennen.«

Gegen die Stiege, die man ihm zu seiner Dachkammer bauen wollte, verwahrte er sich auch. »Gebt mir nur eine Leiter, die man allzeit wegziehen kann; dem Unglück darf man nicht auch noch die Wege machen.«

So begann nun Malchus in seinem neuen Hause zu leben. Bei trübem Wetter saß er auf der Matratze und strickte oder sah sich dann und wann auch seine zwölf Taler an, die er im alten Holzschranke verwahrt hielt. Die sind halt für's Läuten und für's Hinaustragen und für den Segen in die Grube. Ja, wo war denn der dreizehnte? Den hatte er zuletzt gar dem alten Domini geschenkt? Ei, ei!

An heiteren Tagen aber kletterte er über die Leiter herab, ging durch das Dorf, über Feldwege und redete einige Worte mit den Leuten, die ihm begegneten, und strickte.

Mit seinem lockigen Barhaupte und dem zwinkernden Auge und den unvermeidlichen Halm zwischen den Lippen sah er aus wie ein stillheiteres Gemüt.

Die Arbeit holte er sich von seinen Kunden selbst, wer hätte es auch wagen mögen, über die gebrechliche Leiter in sein Stübchen zu steigen!

So saß er denn allein und strickte oder sah am kleinen Ofen nach, was die Erbsen machten; zu Zeiten, wenn eine [S. 373] lebhafte Flamme war, wurden sie gar lebendig und stiegen heraus, und Malchus mußte sie mit kaltem Wasser wieder zurück hineinjagen, die Flüchtlinge, die er doch verzehren wollte. —

An einem Sonntag Vormittag. Die Leute waren alle in der Kirche, auch Malchus saß in einem Winkel hinter dem Taufstein und betete seinen Rosenkranz ab und murmelte zu der braunen Korallenkette: »Du bist ein Rosenkranz und ich bin auch einer; du hast ein Kreuz und einen »Glauben« und zweiundsiebzig Perlen; ich hab' auch ein Kreuz und einen Glauben, aber ob ich mein Lebtag zweiundsiebzig Tugenden zusammenbring', d'rauf wollt' ich nicht wetten. Bin doch oft recht untugendsam, wenn ich gar so übermäßig über mein Unglück trauere und das Leben und meine Jugend verachte, als ob just auf mich alles Elend kommen wollte. Zuletzt werde ich so glücklich sein wie alle anderen, und mein Klagen und Zittern ist ein Frevel. Deswegen, du tugendsamer Rosenkranz, tu' nur ein wenig beten für den untugendsamen!«

Da kam plötzlich der Kirchendiener aus der Sakristei und sagte dem Pfarrer am Altare etwas ins Ohr. Der Pfarrer kehrte sich gegen die Gemeinde und rief laut: »Feuer ist im Dorf, geht löschen!« Am Turm schlugen schon die Glocken an.

»Aha, ist schon da!« murmelte Malchus und erhob sich von seinem Stein.

»Wo brennt's denn?« fragten sich die Leute und stürmten in das Freie.

»Wo wird's brennen, ihr Kindischen,« sagte Malchus ruhig, »im Pfarrhof brennt's; oben in meiner Stube brennt's; 's wird wieder meinen Vater und meine Mutter haben wollen oder mich, und jetzt bin ich gar nicht zu Hause.«

[S. 374]

Er steckte seinen Rosenkranz in die Tasche und ging hinaus.

Am unteren Ende des Dorfes qualmte dichter, rötlich-brauner Rauch auf. »Das ist der große Heustadl!« hieß es, und die Leute eilten mit Eimern und Kübeln und Leitern und Haken gegen den Brand, und weil keine Feuerspritze im Orte war, so trugen sie aus dem Ziehbrunnen, der auf dem Platze stand und aus dem Bächlein, das weiter unten hinfloß, Wasser auf die Dächer. Der Stadl war nicht mehr zu retten, da pfiffen die Flammen schon aus allen Fugen und Löchern; jetzt brachen sie gewaltig aus; glühendes Stroh, brennende Schindeln flogen hoch. Auf den Nachbargebäuden kletterten Männer herum, warfen die Dachbretter herab, begossen die Firste und Dachstühle, vermauerten die Fenster. Sie riefen sich zu, aber im Knattern der Bretter und im Brüllen des Feuers hörten sie sich kaum. Die Weiber jammerten in den Gassen und schleppten Hausgeräte aus ihren Wohnungen; alte Kästen und Bettstätten zerrten sie hervor und vergaßen den Sparpfennig. Auf dem Turme schrillten stoßweise, in ungleichen Zwischenräumen die Glocken, daß von den Nachbargemeinden Hilfe kommen möge.

Über all das lag der klare Sommertag und Sonnenschein, wenn auch die Schatten des Rauches über Dorf und Kirche hinflogen.

Malchus half nicht im Löschen, nur daß er in der Nähe des Feuers beim Ausbringen von Hab und Gut tätig war.

Zuletzt ging er gar davon, setzte sich auf einer Anhöhe nieder und sah dem Feuer zu. »Wie ihr auch löschen und wahren mögt,« sagte er, »das ganze Dorf brennt nieder. Das Feuer ist dort unten und mein Pfarrhof ist da oben am andern Ende. Du rothaariges Unglück, du hast es doch nur auf mich abgesehen, und jetzt hüpfest du über alle Hausdächer [S. 375] bis zu meiner Wohnung. Und ich bring' so viel Unheil über alles; es wär' doch das beste, ich tät der ganzen Welt aus dem Weg gehen — ganz, ganz aus dem Weg — die Seespinne wird keine Ruh' geben.«

In einer Stunde später war der Heustadl eingestürzt und die Flammen leckten nur mehr an den Wandbäumen, die am Boden lagen. Die nächst angrenzenden Gebäude standen unversehrt da, nur daß bei einigen das rötlichgraue Dachstuhlgerippe nackt aufragte, weil es die Leute abgedeckt hatten.

Die Kirchenglocken waren zur Ruhe gekommen, das Schreien war verstummt, die Weiber trugen ihre Geräte wieder in die Häuser und sie lachten, wenn sie gleich noch vor Aufregung zitterten.

Malchus stieg vom Hügel, schüttelte wiederholt den Kopf: »Jetzt hat die rothaarige Bestie sicher gemeint, ich wohne im Heustadl!«

Als er über seine Leiter steigen wollte, lag diese in Trümmern auf dem Boden, und neben ihr, ächzend und sich in Schmerzen windend, lag der Schuhflicker Fritz.

Malchus kannte ihn gleich, der Mann flickte ihm ja seine Kuhlederschuhe. Er rief also: »Ja, Schuster, was ist denn dir geschehen?«

Dieser wimmerte: »Wie das Feuer auskommen ist, hab' ich dem Malchus wollen sein Hab und Gut retten und bin über die Leiter gestürzt — Fuß und Hand hab' ich mir gebrochen.«

Während er dies sagte, wälzte er sich um und suchte einen grauen Wollbeutel zu verdecken, der neben ihm lag. Aber Malchus hatte diesen bemerkt und sagte: »Fritz, es schaut so aus, als ob du mir mein Geld gestohlen hättest!«

»Malchus, nur retten hab' ich dir's wollen — oh weh!«

[S. 376]

»Das kann sein, und es kann auch nicht sein — gib nur her, Fritz.«

»Zu tausendmal gern; aber sag niemandem was davon. Malchus, schau, bin ein armer Mann und hab' Weib und Kind. Hab' sonst noch keinem was gestohlen, mein Lebtag nicht. Sag nichts davon, Malchus; muß ja eh bald sterben!«

So jammerte der Schuhflicker, und Malchus beruhigte ihn: »Ist dir vergessen; und zuletzt hätt' doch nur ich da herabstürzen sollen; das Unglück ist heut' schon das zweitemal zum Unrechten gekommen. Magst dich auf meine Achsel helfen, Fritz, ich trag' dich heim in dein Häusel.«

Und er trug den Fritz heim in sein Häusel. »Frau Schusterin,« sagte er, »tut Euch nicht erschrecken; beim Löschen ist er auf den Erdboden gefallen«.

Dann ging Malchus wieder seiner Wohnung zu, band die Leiter zusammen und stieg zu seiner Stube hinauf. Die Türe war offen, der Schrank ebenfalls. Malchus barg seine zwölf Taler wieder an ihrer Stelle.

Leute, die den jungen Mann während des Brandes auf dem Hügel hatten sitzen sehen, sagten lieblose Worte. Andere, die ihn mit dem Schuster Fritz begegneten, erzählten Gutes von dem blödsinnigen Stricker.


Es war im Spätherbste desselben Jahres, als eines Abends durch das Dorf der lustig polternde, pudelnärrische Brechelzug ging. Die Leute kehrten eben von der »Haarstube« zurück, wo sie gemeinsam ihren Flachs gebrechelt hatten; gingen jetzt zu einem reichlichen Mahle, welchem Tanz und anderes Freudige folgen sollte. Die Pfeifen und Geigen waren schon da und die Bläser und Streicher auch dazu, und die Füße des jungen Völkleins waren bereits voll Räder und Federn, besonders die der Dirndeln.

[S. 377]

»Wia liab daß so a Diandl,
Wan's bleedan tuat, is!«

Dem Zug voran gingen zwei Burschen, die mit Besen die Gasse auskehrten, und hinter her zog eine Magd und streute Agen auf den Weg, damit der Lust und der Freude, die hier im Triumph einherzog, die Kümmernis nicht folgen konnte.

Als sie über den Platz am tiefen Dorfbrunnen vorüberkamen, standen einige plötzlich still und legten die Finger an den Mund; »ein Gespenst!« Andere blieben ebenfalls stehen und horchten. — »Du Kreuzsappermost, was ist denn das da unten?«

Aus der Tiefe des Brunnens hörte man Laute — wie ein Wimmern und Weinen, dann wieder wie ein Lachen. Das war ja wieder dieselbe Stimme, wie man sie vor dreißig Jahren gehört hatte, als darauf eine Überschwemmung kam; und das war auch dieselbe Stimme, die vor achtzehn Jahren im Brunnen rief, als dann die große »Sterb« in der Gemeinde ausgebrochen.

Die Pfeifen waren in schrillen Tönen ausgelaufen und schwiegen; die Leute flohen.

Nur Malchus floh nicht. Er stand am niederen Brunnengeländer, starrte in die Tiefe und rief hinab: »Na heut' geraten wir zusamm', verdammte Seespinne du!« Dann verlangte er einen Strick, sie sollten ihn hinablassen.

Die Leute wußten nicht was, aber sie brachten einen Strick und ließen Malchus in den Brunnen.

Der Arme — noch einen Blick gegen die Abendröte, gegen die Waldberge, gegen die weiße Dorfkirche, gegen die Menschen — dann hatte er den Eimerbaum seitwärts gestoßen und es ging hinab — von dem Lichte zur Dämmerung, [S. 378] zur Dunkelheit, zur Finsternis, den schauerlichen Tönen näher.

Der Strick war lang und ging tief und tiefer hinab.

Endlich schien die Last auf dem Wasser zu sein, der Strick war locker.

Man horchte, man hörte kaum mehr die Laute von früher. Das halbe Dorf hatte sich um den Brunnen versammelt.

Die Mauern und weißen Schindeldächer der Häuser waren gefärbt von der Abendröte; Fensterscheiben leuchteten, als ob alle inneren Räume in Flammen ständen — so herrlich scheidet der Tag, so unheimlich naht die Nacht, und dem Manne im Abgrund — wie wird's ihm ergehen?

Endlich tönte aus dem Brunnen ein hohles, langgezogenes: »Auf!«

Man spannte den Strick, man zog und zog; die Last war schwer, das Seil lag schon am Boden in unzähligen Ringen und Schlingungen wie eine endlose Schlange, und endlich —

Malchus kam herauf und in seinen Armen hatte er, bedeckt von Schlamm —

»Martha, meine Martha!« erscholl in dem Augenblicke eine Stimme, und ein Weib stürzte zum Brunnengeländer, auf das sich Malchus erschöpft mit seiner Beute gesetzt hatte. Nun erst sah er recht, was er trug: ein bleiches, schönes Mädchen, dessen feuchte Locken weit über seinen Arm hinabhingen.

Malchus riß die Augen auf, auch das linke, und diesmal war es, daß der Mann die Welt zweifach anschaute.

Das eine sank aber sogleich wieder zu, als das Weib, eine Näherin, mit ihrem Kinde laut weinend in das nächste Haus ging.

Aber Malchus ging nach in das Haus und blieb so lange [S. 379] bei dem Mädchen, bis es die Augen aufschlug — die blauen Augen, und bis es die Mutter küßte auf seinen zarten Mund und sagte: »Martha, du mein Leben, was hätte ich getan, wenn du dahin gewesen wärest!«

Martha war neun Jahre alt und der Häuslerin einziges Kind. Zum Krämer war sie heute gegangen, auf daß sie Zwirn hole; spielend mit der kleinen Geldnote dahin über den Dorfplatz. Das Lüftchen spielte in ihren losen Haaren, aber dasselbe Lüftchen entführte ihr die Geldnote und trug das Papier hin und hin über das Geländer des Dorfbrunnens. Und wie nur zu viele Menschen dem Gelde nachjagen und in den Abgrund stürzen, so erging es auch der kleinen Martha; am Geländer blieb das Blättchen nicht liegen, es schwebte, das Mädchen langte über — und so kam's.

Unten unmittelbar in dem Wasser stand ein Balken in die Quere, daran klammerte sie sich, da kam Malchus hinab.

Wie ihm das arme Weib dankte, wie ihn Martha anblickte, da war's doch, wie noch nie, wie noch gar nie in allen seinen Lebenstagen.

»Und jetzt geh' ich dem Brechlerhause zu, heut' möcht' ich tanzen.«


So vergingen wieder einige Jahre und das erwartete Unglück kam nicht.

Malchus war um ein gut Stück heiterer geworden, aber er lebte immer in seinem Dachstübchen und strickte oder tat andere Kleinigkeiten. Zur Weihnachtszeit erhielt er immer ein Paket Wäsche, er wußte nicht von wem; der Pfarrer sagte: »Ich weiß wohl, wer dir das schickt, darf es aber nicht sagen.«

Malchus fragte auch nicht mehr, sondern fühlte sich behaglich in den weichen Linnen und war zufrieden.

[S. 380]

Zweimal des Jahres war ein Fest in seiner Stube, da schickte ihm Martha, die indeß zu einer lieben Jungfrau geworden war, einen Strauß schneeweißer Röslein, wie sie im kleinen Garten der Näherin am Hagebuttengesträuche wuchsen. Der eine Strauß kam immer zu seinem Namenstag, der andere an einem Tag im Herbst — der Empfänger wußte es kaum, warum.

Martha hätte ihm die Rosen selbst gebracht, aber Malchus sagte einmal zu ihr: »Martha, die Leiter zu meiner Stube ist gebrechlich.«

Du guter Bursche, dein Herz war gebrechlich. Du bist fünfundzwanzig Jahre alt.

Wohl dachte der Jüngling daran. Aber er will keine Nahrung sammeln für die Seespinne.

Und die gab doch keine Ruh', er sollte nicht glücklich werden.

Marthas Mutter, die Näherin, war dürftig. Da kam eines Tages Malchus mit seinem Wollbeutel, öffnete ihn und legte die zwölf Taler auf den Tisch, dann suchte er noch eine Weile im leeren Beutel herum und murmelte: »Weiß nicht, aber ich hab' doch dreizehn gehabt!«

»Was machst denn da, Malchus?« fragte die Näherin.

»Mutter,« sagte der Bursche und blinzelte stark, »ich hab' ein Anliegen. Schenkt mir so viel Liebe und nehmt die paar Groschen!«

Da sagte das Weib: »Eher ins Grab, Malchus, eh' ich einen Groschen von dir nehmen tät; wir sind dir viel tausend Gottesdank schuldig!«

Malchus mußte sein Geld wieder in seine Wohnung tragen. Sein Leben hatte er aber so eingerichtet, daß er nicht notwendig hatte, etwas von den zwölf Talern anzubrauchen, so wie er von seinem kleinen Erwerbe auch nichts [S. 381] dazu tat, sondern damit seine Bedürfnisse bestritt. Auf diese Art besaß er durch alle die Jahre zwölf Taler und nicht mehr und nicht weniger.

Ein erzählender Hausierer in der Schenke eines Bergdorfes ist den Leuten Zeitung, Romanliteratur, Anekdotenschatz, Theater und Erbauung. Aber die Gurgel muß so einem Mann feucht sein, sonst ist kein glattes Wort hervorzubringen. Der Wirt hat ein Fäßchen, da ist ein treffliches Gurgelöl darin, davon werden alle Gedanken los und ledig und kommen herauf in merkwürdigen Worten, und da schlüpft freilich auch manches Geheimnis mit.

Kommt so ein gesprächiger unterhaltsamer Hausierer ins Haus, so schmiert der Wirt gerne und unentgeltlich mit diesem Öle, denn er weiß, alle Gäste bleiben um zwei, drei Gläser länger sitzen als sonst, um den Geschichten und Neuigkeiten zu horchen.

Ein solcher Hausierer kam auch in unser Dorf.

Und heute wußte der Hausierer eine ganz besondere Neuigkeit, wie sie nicht alle zehn Jahre zu hören ist im Dorfe.

»Ja, Leutchen,« erzählte er in seiner stets ruhigen Weise, aber jedem Worte Gewicht gebend, »da draußen im Land soll jetzt ein reicher Graf gehenkt werden, der den König hat ermorden wollen. Wißt ihr's, daß Raben und große Herren sich einander die Augen nicht auskratzen? Nu, wenn ihr's wisset, nachher trinken wir einmal.«

Er hob den Humpen und neigte ihn so gegen seinen Mund hin, daß er wacker rinnen lassen konnte; die ihm zuhörten, taten es nach.

»Wär's ein kleiner Spitzbub gewesen,« fuhr der Erzähler fort, »man hätt' einen neunundneunzig Klafter hohen Galgen gebaut, daß sie den kleinen Spitzbuben hätten baumeln sehen im ganzen Land. Weil's aber ein großer Herr, [S. 382] nu, so ist's erlaubt worden, einen anderen für ihn zu hängen.«

»Was?« riefen die Gäste und ein paar sprangen von ihren Sitzen auf.

»Je nu,« sagte der Erzähler, »freilich einen andern, der sich eben dazu hergibt. Der sich einschreiben läßt. Wisset, wie ich hab' vernommen, soll die Sache so sein: der Graf ist begünstigt und darf zwanzig Lose ausgeben und muß jedes derselben aus seinem Reichtum mit zwanzigtausend Gulden ausstatten. Eines von den zwanzig Losen aber ist schwarz — schwarz wie der Teufel — und wer das zieht, der muß sich für ihn henken lassen. D'rin in der Stadt beim Kreisgericht sind die Lose zu haben. Eh' ich mir das meine hol', trink' ich den Wein aus.«

Und er trank.

»Du liebe Welt mit Sauerkraut!« sagten einige, »so Lose werden doch noch anzubringen sein. Die Unwahrscheinlichkeit, daß man den Fehlgriff tue, ist neunzehnmal da und die Wahrscheinlichkeit einmal; eine kleinere Ziffer kann sie kaum mehr haben. Dem einen wird bigott wohl auszuweichen sein, und das Glück ist gemacht, und sein Lebtag braucht einer nicht ein Tüpfel mehr zu arbeiten, kann liegen im Gras und die Zwanzigtausend vergurgeln. Ich nehm' gleich ein Los.«

»Ei ja, so denkt jeder von den Zwanzigen,« sprach ein alter Strohdecker, »den's aber erwischt, der ärgert sich und denkt: Donner, warum denn just mich? Jetzt muß ich mich henken lassen und weiß nicht warum. 's mag richtig sein; neunzehn Stück taugen der Gurgel von innen, aber das zwanzigste greift sie auswendig an.«

»Wenn einer seine zwanzigtausend Gulden wenigstens früher verjuxen könnt',« sagte ein Schneidergeselle.

[S. 383]

»Drei Tag' hast Galgenfrist,« belehrte der Hausierer.

»Drei Tag'! schau, das ginge noch an; da tät' ich gleich einen lustigen Handwerkertanz geben und drei Mädel foppen.«

»Und ich tät' mir gleich den Freiherrntitel kaufen!« rief der Krämer.

»Du den Freiherrntitel?« lachte der Schmied, »ja, bist du nicht unser Erzdemokrat, der die Adeligen nicht leiden kann?«

»Just desweg',« sagte der Krämer, »so ließe ich den Baron statt des Bürgers henken.«

So redeten sie in Spaß und Übermut, und es gab über den Gegenstand viel zu lachen.

Und in den nächstfolgenden Tagen sagte so mancher, wenn ihm etwas nicht recht zusammenging: »Seh's schon, werd' wohl müssen auf das Kreisamt gehen um ein Los.«

»Ja, wenn ich gewiß wissen tät', ich erwischte das schwarze nicht, ich tät mir gleich eins holen,« sagte mancher, und ein anderer entgegnete darauf: »Narr, wenn ich das wissen tät', alle neunzehn müßt' ich haben.«

Es ging aber doch keiner.

Es sollte aber doch einer gehen. Malchus hatte sich die Geschichte dreimal erzählen lassen, dann hatte er noch einmal nachgefragt: »Und das schwarze Los hat die zwanzigtausend Gulden auch?«

Dann war er stundenlang auf seiner Matratze gesessen und hatte mit sehr großem Nachdruck seinen Strohhalm zerkaut.

»Werde ich gehenkt oder lassen sie mich laufen,« murmelte er endlich, »das Geld bekommt Martha. Zwar, es wird kein Zweifel sein, die Seespinne wird mich abtun, aber schon recht, dann ist sie mit mir fertig und ich bringe auf [S. 384] diese Weise mein Leben noch am anständigsten weg, weiß so nichts damit anzufangen. Ja, so wird's sein.«

Dann stand er auf, aß seine Erbsen, nahm einen Knotenstock, versperrte alles wohl und verließ den Pfarrhof und das Dorf.

Als er am Häuschen der Näherin vorüberkam, klopfte er an die Fensterscheibe und sang das Liedel:

»Zwei Roß und ein Wäglein,
Und auf dem Wäglein ein Mägdlein,
Und neben dem Mägdlein ein Bräutigam,
Und der hat ein gold'nes Kleidlein an!«

Dann schritt er fürbaß auf der Straße gegen das Kreisgericht.

Als Malchus in das Städtl kam, begegnete ihm der alte Domini, welcher eben eine Harztrage auf den Markt gebracht hatte.

»Hast du auch ein Los geholt?« war das erste Wort, welches Malchus dem Alten entgegenbrachte.

Der wußte von allem kein Wort und der Bursche mußte ihm erzählen.

Domini hörte auch ruhig zu, dann aber sagte er: »Malchus, ich will dir was sagen, du wirst kein Los bekommen. Schau, die Sache ist so: Leute, die keinen Kopf haben, die kann man nicht henken.«

Schier wollte dem Malchus bei diesen Worten auch das linke Auge aufgehen.

Aber Domini fuhr fort: »Hör' mich einmal, Junge, und wenn's auch wahr wäre, wer wollt' sich gleich aufknüpfen lassen! Das tät' ich nicht, und nicht um ein Gschloß! Aber sag' mir, hast denn gar nichts zu beißen, weil du auf solche Gedanken kommst?«

[S. 385]

»Ich schon,« sagte der Bursche, »aber, es gibt noch andere Leut' auf der Welt. Domini, ich weiß mir völlig nicht zu helfen, dir sag' ich's. Daheim in unserem Dorf kenn' ich was, und das wird mich nach und nach umbringen. Ich möchte sie oft gern ansehen, aber ich kann nicht. Es ist noch wie ein Kind, aber ich tu' so schwer mit ihm reden, wie mit einem König. Dann, wenn ich so dasteh', mein' ich, es ist nicht anders und es trifft mich der Schlag. Ich fürcht' nur, es ist mir was antan worden, Domini!«

Der alte Pechbrenner sagte: »Ja, Malchus, du mußt heiraten?«

Nach einer Weile entgegnete Malchus: »Das Zeug ist mir auch schon eingefallen. Aber ich darf doch andere Leut' nicht mit mir ins Unglück bringen.«

Domini sah den Burschen mitleidig an. Er hatte über die armselige Denkweise des jungen Mannes unwirsch werden wollen, es war ihm schon ein herbes Wort auf der Zunge gelegen, aber er schluckte es wieder hinab — der Arme kann ja nicht dafür, und kein Mensch auf der Welt kann ihn mehr anders machen. Domini sagte zuletzt nur: »Malchus, mach' was du willst und magst, ich, der alte Domini, der es immer gut mit dir gemeint hat, sag' dir nur das, tu' nicht sinnen und grübeln, sondern immer nur arbeiten und arbeiten. Kannst du singen? Lerne Lieder und singe; Malchus, das ist das allerbeste Mittel gegen die Seespinne. Mußt das nicht vergessen, Malchus, tu' fleißig singen. Geh' jetzt heim.«

So gingen sie auseinander und Malchus zog sein blaues Sacktuch heraus und machte einen Knoten daran, daß er sich erinnere, was ihm der Pechbrenner gesagt hatte.

Und der Knoten blieb lange im Sacktuch.

Malchus wollte singen und er sang:

[S. 386]

»Magst zählen die Sternlein am Himmel,
Die Halmlein im weiten Land.
Magst zählen die Tropfen der Wasser,
Magst zählen die Körnlein im Sand.

Doch nimmer magst du zählen,
Zu kurz ist die ewige Zeit,
Die Schmerzen in meinem Herzen,
Und meine Traurigkeit!«

So hatte es der Pechbrenner aber nicht gemeint.

Auf der Heide weidete eine junge Hirtin Ziegen.

Malchus war einigemal strickend hingegangen, um im Walde abgefallenes Brennholz zu sammeln, das er in den Korb tat, den er auf dem Rücken trug.

Immer, wenn er an der jungen Hirtin vorüberkam, sagte er: »Tust gaißhalten, Martha?«

Und darauf antwortete stets das Mädchen: »Ja, ich tu' gaißhalten, Malchus.«

Einmal sagte sie aber auch noch etwas anderes: »Gib deinen Hut her!«

»Geh, Martha,« sprach er, »was tätest denn mit meinem Hut, ist schon ganz zerrissen.«

Er gab ihr ihn aber und sie steckte ein Sträußchen Heideblumen darauf. Und es war doch nicht sein Namenstag, und es war auch nicht der Gedenktag im Herbst. Es war ein Sommertag.

Dem Burschen war's wieder so, wie er es dem alten Pechbrenner erzählt hatte. Er drückte schier beide Augen zu; nicht einmal den Strauß sah er recht an, schnell tat er den Hut auf die wirren Haare, und schnell eilte er dem Walde zu.

Am andern Tag ging Malchus mit einem kleinen Holzkübel taleinwärts dem Bach entlang. Oft unterwegs zog [S. 387] er seine Wolljacke aus, streifte die Hemdärmel zurück, legte sich am Ufer des Wassers hin und langte, wo es tief war, unter den Rasen. Wo ihm eine Forelle nur einmal in die Hand kam, entschlüpfen konnte sie ihm nicht mehr.

Heute hatte der Bursche einen besonderen Vorsatz. Am Abend, wenn er die Fische hintrage, wollte er Martha sagen, daß er sie lieb habe und er wolle nicht mehr stricken, er sei an die dreißig, er wolle zu den Holzschlägern gehen und im Walde arbeiten und Geld verdienen.

»Wart du verblitzter Fischdieb!« rief es plötzlich neben dem hingestreckten Burschen.

Malchus sprang auf. Ein großer Mann mit einer langen Stange über der Achsel stand da, es war der Fischer.

»Ei schau, der Malchus ist's. Na hörst, wie kommst denn du unter die Pharisäer?«

Der Bursche war wie vernichtet, jetzt erst fiel es ihm ein, daß hier das Fischen verboten sei.

Nun war er ein Dieb, und der Mann treibt ihn vor das Gericht. — Die Seespinne!

»Lass' es gut sein, Malchus, und geh' jetzt heim, die Forellen, die du da gefangen hast, die schenk' ich dir, lass' sie dir backen und schmecken.«

»Will sie nicht!« brummte Malchus, seinen Strohhalm zerkauend, und stürzte den Kübel samt Wasser und Forellen in den Bach.

Als er zu dem Pfarrhofe zurückkam, trat eben die alte Nähterin aus dem Hause, sie hatte es dem Seelsorger angezeigt, daß ihre Tochter heute aus der Gemeinde fortgezogen sei, um sich in der Fremde einen Erwerb zu suchen. Bei einem Verwandten, der in der Kreisstadt ein Haus habe, werde sie Dienst finden — es sei so das beste.

[S. 388]

Malchus hörte es, stieg über seine Leiter und als er im Stübchen saß, murmelte er: »Ja, ja, es ist so das beste!«

Dann fuhr er sich mit dem Sacktuch über die Augen. Was doch das für ein Knoten war im Sacktuch?

Der Mann wußte es nicht mehr.

Singen sollst!

Aber der arme Malchus sagte zu sich: »Jetzt wär's schon bald Zeit, daß die Geschichte zu Ende ging' — jetzt hab' ich kein' Freud' und kein Leid mehr auf der Welt.«

Aber es kam der Herbst und der Winter und der Frühling und jeder hatte Freuden und Leiden, und es ging nicht zu Ende.

Da war's an einem Maimorgen. Malchus saß in der Kammer am offenen Fenster, strickte und sah hinaus auf die Bretterdächer des Wirtschaftsgebäudes, aus welchen die Sonne noch den Tau sog. Die Luft war frisch und rein und der Himmel blau. Über das Dach ragte der Wimpfel einer junggrünenden Esche empor und auf diesem saß heute schon seit früher Morgenstunde ein Kuckuck. Er schrie in einem fort seinen hellen Ruf.

Da warf Malchus sein Strickzeug weg, lehnte sich an die Fensterbrüstung und sagte: »Jetzt muß es gelten! Sag' mir, du Vogel, wie lange werde ich noch leben? Nenne mir die Jahre!«

Der Kuckuck schwieg.

»Kein Jahr mehr?« murmelte er dann, »nicht ein einzig Jahr mehr! Schau mich genau an, Vogel, ich bin noch jung!«

Und es war wirklich, als ob sich der Kuckuck gegen ihn wendete. Dann begann er zu schreien. Er schrie zweiundvierzigmal.

[S. 389]

Dem Burschen ging schier das linke Auge auf. »Also zweiundvierzig Jahre! — Oder willst noch weiter schreien?«

Der Vogel flog ab. Aber eine Stimme hörte er irgendwo: »Nach zweiundvierzig Jahren am Urbanitag!« — Ei der Kuckuck?

Malchus wendete seinen Blick in die Stube zurück; sein Auge war geblendet, es war fast finster. Das Strickzeug ließ er eine Weile auf dem Boden liegen, nun war ja noch so viele, so viele Zeit zum Stricken.

Zweiundvierzig Jahre, Malchus! Hast du Pläne? Wie wirst du diese Zeit ausfüllen? —

Der Mann zog seinen Rosenkranz hervor, zählte zweiundvierzig Perlen ab, machte nach diesen einen Knoten in das Schnürchen. Die noch übrigen Kügelchen entfernte er, und nun bedeutete ihm der Rosenkranz die Zeit, die ihm noch beschieden war auf Erden.

Seine zwölf Taler suchte er von nun an zu verwahren, seine Zeit und Lebensweise noch regelmäßiger einzuteilen und sein Leben so ruhig und einfach als möglich einzurichten, damit das Unglück nirgends eine Nahrung habe.

So kamen und gingen nun Jahre und Jahre.

Malchus Zacharias Rosenkranz lebte einsam in dem Dachkämmerlein des alten Pfarrhofes. An seinem Fenster blühte nie mehr ein Strauß von weißen Rosen.

Nur die Mäuse, die kleinen, behenden, uralten, grauen Mäuse kamen von der nachbarlichen Rumpelkammer öfters zu ihm herüber auf Besuch und guckten ihn helläugig an und wisperten ihm auch oft was vor. Es freute ihn nicht, wußte er doch, daß der Besuch seinem Erbsentopfe galt.

Mit den Menschen verkehrte Malchus nur wenig; sie hatten nichts für ihn als Wolle, und sie verlangten nichts [S. 390] von ihm als Strümpfe. Er strickte aber auch Handschuhe, Hauben und Unterjacken.

Im Sommer ging er die stillsten Wege, die es im Tale gab, am liebsten aufwärts gegen die Heide, wo Martha einst die Ziegen gehütet.

Vom Walde trug er weniges Brennholz heim; zur Erwärmung im Winter brauchte er nicht zu heizen, denn dafür hatte er eine Erfindung gemacht. Er hörte einmal, daß schnelle Bewegung der Körper Wärme erzeuge; sofort bat er den Pfarrer, daß dieser ihm die alte Windmühle borge, die schon lange Zeit unbenützt in der Scheune stand, weil sie keinen Rieselboden mehr hatte. Diese Windmühle nun stellte der Mann zur Winterszeit in sein Stüblein, und wenn ihn frieren wollte, begann er an der Handhabe zu treiben, daß es sauste und klapperte, und bald war ihm ganz leidlich warm und er konnte wieder stricken.

Wohl schienen die Mäuse über ihren polternden Nachbar ungehalten zu sein, denn sie entzogen ihm nach dergleichen stets auf längere Zeit ihre Besuche.

Seit mehreren Jahren hatte sich Malchus auch einen anderen, neuen Hausrat anzuschaffen bemüßigt gefunden — ein Rasiermesser, mit dem er sich nach jedem Neumond regelmäßig seinen braunen Bart schnitt.

Die Kopfhaare begann er stehen zu lassen, und er wand dieselben nun, da der alte Filzhut schon längst den Weg alles Irdischen gegangen war, wie einen Turban um das Haupt.

Aus praktischen Gründen hatte Malchus auch die bereits grau gewordenen Lederschuhe gegen Holzschuhe vertauscht, eine Änderung, mit der die Nachbarschaft ebenfalls nicht einverstanden war. Zum Weihnachts- und Osterfeste war er immer beim Herrn Pfarrer zu Tische geladen, weil er im Laufe des Jahres dann und wann kleine Kirchendienste [S. 391] tat, aber Malchus fand sich bei der Tafel nicht behaglich. Der Braten, ei ja, der täte schon schmecken, das Glas Wein auch, aber wie leicht ist die böse Angewohnheit da! Zu Weihnachten bekam er immer das Paket Wäsche. In der Neujahrsnacht langte Malchus stets seinen Rosenkranz aus dem Schranke hervor, tat eine Koralle weg, warf sie aus dem Fenster und ließ sie hinabrollen über die Schneerinde des Daches, so wie das Jahr hinabgerollt war in die Ewigkeit.

Schon viele Kügelchen hatte der Rosenkranz auf diese Weise verloren, und Malchus war durch sein Sitzen auf der Matratze buckelig und mühselig geworden.

Auch sein Turban war nicht mehr dunkel, sondern lichtgrau.

Im Dorfe und im Tale waren Menschen geboren worden und aufgewachsen. Sie hatten Hochzeiten und Kindstaufen und Begräbnisse gehabt, hatten sich endlich selbst auf das Brett gelegt, und Malchus Zacharias Rosenkranz hatte für sie gestrickt. Auch die alte Nähterin hatten sie auf den Kirchhof getragen. Ein fremder Wagen mit zwei Pferden war zum Begräbnis gekommen — ein Mann und eine Frau saßen darin.

Malchus bekam an demselben Tag vom Pfarrer einen neuen Anzug aus grauem Loden und ein silbernes Kreuz, das er um den Hals hing.

Es waren große Ereignisse in der Gemeinde vorgegangen, noch größere draußen in der Welt. Für Malchus war es das größte gewesen, daß während der vielen Jahre zweimal am Dache des Pfarrhofes gedeckt werden mußte, wobei gräßlich gehämmert wurde, und daß auf dem gegenüberliegenden Dach des Wirtschaftsgebäudes einmal drei Kater rauften, und so wütend rauften, daß einer davon halb zu Tode gebissen über die Bretter kollerte.

[S. 392]

Auch war im Laufe der Zeit, wie er meinte, jenem Stern, der in den Sommernächten gerade über dem Stallfirst stand, einmal ein so ungeheurer Schweif gewachsen, daß alle anderen Sterne der Nachbarschaft weit auseinander gehen mußten, um dem wüsten Ungeheuer eine Gasse zu machen.


So lebte der arme, alte Mann fort; er wußte schier nicht mehr, wie er in das Dachkämmerlein gekommen war. Er hatte vergessen den Schreckenstag in seiner Jugend, auch den alten Pechbrenner Domini, und wie dieser gesagt hatte, daß er singen solle. Aber der alte Mann hatte endlich ja auch die Seespinne vergessen, die als unheilvolles Erbe des elterlichen Aberglaubens durch die schönsten Jahre der Jugend hin sich an sein weiches Herz geklammert hatte.

Nur das war dem armen Malchus noch: es habe ihm einmal geträumt von einem lieben Mädchen, das auf der Heide die Ziegen gehütet und ihm Blumen gegeben hatte.

Wie einem doch so wunderlich träumen kann, nicht wahr, Malchus? — Aber sag einmal, wie viel hast denn noch Korallen an deinem Rosenkranz?

Der Alte mag selbst daran denken, der Grashalm wackelt ihm unsicher im Munde — er hat ja schier keinen Zahn mehr.

Draußen blüht und leuchtet der Maitag.

An der Kirchentür wird ein großer Kranz aus Tannenreisern geflochten, es werden auch Rosen hineingewoben, rote und weiße — es ist das Fest des Kirchenpatrones Urbanus nahe.

Unten im Hofe bei den Schweinen ist großer Schrecken, wie er immer war, wenn ein großer Tag herannahte, und der Pfarrer für den Festbraten sorgte.

Der alte Malchus befand sich ganz wohl. Aber er weiß, es naht der Tag ... Schon vor Wochen hatte er die Windmühle [S. 393] in die Rumpelkammer geschoben, wofür er von der Nachbarschaft eine sehr trauliche Gegen- und Dankvisite erhielt.

Malchus holperte noch einmal durch das Tal; er konnte im Gehen nicht mehr arbeiten, er mußte schon den Stock recht fest halten. Heute wollte er sich die Welt noch einmal ansehen, diese Erde noch einmal, den Himmel noch einmal. Ist gut beisammen, alles. Und die Luft trägt den Duft der Blumen herum, und sie trägt den Gesang der Vögel herum. Der Kuckuck schreit auch; das wird derselbe nicht sein, von der Esche. — Malchus, das ist ein wunderlicher Morgengang! Und alles ist so mild gegen dich und weiß nichts davon, daß du — schon in zwei Tagen.

Malchus bückte sich und riß einen jungen Halm ab, und begann an ihm zu saugen.

Zur Heide stieg er auch hinauf. Ein Bauer, der ihm begegnete, sagte: »Hab' dir's ein für allemal gesagt, Malchus, magst sie schon nehmen die herabgebrochenen Äste zum Heizen, brauchst nicht zu fragen.«

Am nächsten Tage kamen die Krämer mit ihren Tragekästen, schlugen auf dem Dorfplatz Stöcke in die Erde, banden Stangen daran und richteten ihre Stände auf. Kinder standen dabei und sahen zu.

In den Häusern wird gebacken und geschmort, ins Wirtshaus kommen schon vier Männer mit Pfeifen und Geigen; hinten geht eine ungeheure Baßgeige nach.

Der alte Malchus Rosenkranz humpelte gebeugt am Stabe durch das Dorf. Er kam jetzt von der Kirche, wo er eine Beichte abgelegt und die Kommunion empfangen hatte. Vor dem alten Brunnen, der schon lange verfallen war, und auf dem roter Holunder wuchs, blieb er einmal stehen und sah blinzelnd das frischgrüne Gebüsch an. Dann ging [S. 394] er weiter hinab bis ans Ende der Häuser, wo einmal ein alter Heustadl niedergebrannt war, und er ging weiter den Weg entlang bis zu einem Häuschen, in dem einst die alte Nähterin gelebt hatte. Dort kehrte er wieder um und ging durch die hintere Dorfgasse dem Pfarrhofe zu. Vor einer Schreinerwerkstatt blieb er stehen und sah durch das offene Tor den Gesellen zu.

Sie hobelten an Läden, die Späne schoben sich durch die Eisenscharte und flogen lustig davon. Dann nahmen sie den Zollstab und maßen, und schnitten in die Quer.

»Mit Verlaub zu fragen, was wird denn da gemacht?« fragte Malchus.

»Ja, mein lieber Malchus!« sagte der Obergeselle bedeutungsvoll.

»Ich verstehe,« murmelte Malchus, »werde auch bald so was brauchen.«

»Gratulier'!« sagte der Geselle.

Die Schreiner zimmerten eine Wiege.

Der alte Mann schritt langsam seiner Wohnung zu. Mühsam kletterte er über die alte, halbmorsche Leiter. Dann kochte er sich einen Topf Erbsen.

Am Abende desselben Tages saß er lange am Fenster und strickte. Er hatte für die alte Einleger-Ploni noch ein Paar Strümpfe fertigzubringen; 's ist schon gezahlt dafür, und 's wär' doch eine Schand, wenn er jetzt, ohne die Arbeit zu vollenden, durchginge.

Auf das gegenüberliegende Bretterdach fiel das bleiche Licht des aufgehenden Mondes. — Wenn er über das Haus herüberkommt und nach Mitternacht zum Fenster hereinlugt, vielleicht bist du dann schon fertig.

Auf dem Rosenkranz des Alten war keine Perle mehr, nur noch der Knoten — der letzte Knoten.

[S. 395]

Auf dem Eschenwipfel, der über dem Dachfirst emporragte, meldete sich ein Vogel. War's wieder ein Kuckuck, wie vor einigen vierzig Jahren? Wollte er noch ein paar Jährchen draufgeben?

Der Vogel krächzte — es war eine Eule.

Der Alte hörte dem Gekrächze eine Weile ruhig zu, endlich begann er zu brummen: »Ja, ja, ja, ist das eine ewige Kräherei! Weiß es ohnehin — hab' gemeint, die Arbeit da brächt' ich noch fertig, aber 's wird nicht sein mögen!«

Und er strickte und strickte.

Gegen Mitternacht zog er die letzte Nadel aus der letzten Masche und der Strumpf war fertig. Der Alte machte ein Kreuz über Stirne, Mund und Brust und legte sich auf die Matratze. Seine Glieder waren müde, sein Sinnen war umflort — er schlief bald ein.

Der Mond war über das Haus gekommen, blickte durch das Fenster und auf dem Fußboden lag seine weiße Tafel.

Auf der weißen Tafel saß eine Maus und guckte mit hellen Äuglein den Mond an.

Am andern Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen auf den Dachfirst fielen, läuteten alle Glocken. Malchus erwachte und schlug für einen Moment die beiden Augen auf. Es war das Fest des Kirchenpatrons Urbanus — jener Tag, der ihm vorausgesagt worden war. Ei, der Kuckuck, dachte sich der Alte, ich steh' jetzt auf und geh' in die Kirche; bist schon wieder beim Erbsensack, du vertrackte Maus? Nu, nu, nur nicht gleich so betreten, nag' zu, beiß' zu! Und wenn er kommt, so sag' ihm, er möge warten, ich sei bei der Messe.

Dem Alten war wunderlich um das Herz — nicht so, als ob er sterben sollte. Klar war sein Denken nicht, statt der stumpfen Ergebung war eine Berauschung eingetreten. [S. 396] Mit seltener Sorgfalt ordnete er seinen Anzug und wand seine Locken um das Haupt.

So kletterte er über die Leiter und ging in die Kirche.

Da standen die Leute auf dem Dorfplatz, Kopf an Kopf, mit grünen, schwarzen, grauen und anderen Hüten; Weiber und Kinder drunter, mit bunten Hauben und Kopftüchern; alles schmuck, sogar Blumensträuße hatten sie bei sich auf den Hüten, im Knopfloch oder am rotseidenen Busentuch. Und sie waren fröhlich und plauderten miteinander und sahen die Marktsachen an, die in den Buden und Ständen ausgestellt waren, und sie feilschten mit den Krämern — und das war ein Summen und Brummen über den Kirchplatz hin, und darüber lag die Morgensonne, und auf dem Turme klangen die Glocken und riefen zur Frühmesse. Da drängte sich das Volk der Kirchentüre zu — viele blieben auch im Freien stehen oder gingen ins Wirtshaus.

Trotzdem war die Kirche voll. Die Orgel war laut und hell — der Schulmeister hatte alle vier Register aufgezogen, sowie der Kirchendiener alle Kerzen, die in der Kirche waren, angezündet hatte. Der heilige Papst Urbanus, der in seinem goldenen Ornate über dem Altare stand und »der den Wein wachsen läßt«, hatte zwölf Kerzen und war in nicht geringer Feuersgefahr, was aber wenig zu sagen hatte, da der heilige Florian mit dem gefüllten Wasserbehälter daneben stand.

Endlich war der Festgottesdienst vorüber und alles drängte sich in das Freie. Unser alter Malchus suchte sich auch durch die Menge zu winden. Man warf ihm Kreuzer zu, die er aber nicht auflas und für die er nicht dankte.

Eine Bäuerin bat ihn, daß er ihrem Töchterlein ein Wollenjöpplein stricke, er sagte nicht zu. Er ging ein wenig durch das offene Tor in den kleinen Kirchhof. Da war alles [S. 397] grün und frisch. Es war aber keine rechte Stimmung. Malchus humpelte weiter.

Als er in sein Dachstübchen zurückkam, blieb er einen Augenblick an der Türe stehen. Es war ein fremder Mann da. Er war dem Fenster zugekehrt, stützte sich auf die Brüstung und sah in den blauen Himmel hinaus.

Er war sehr gebückt, hatte einen grauen Pelz an, und die wenigen Haare, die von seinem kahlen Kopfe über das Genick hinabhingen, waren weiß. Der Mann war uralt.

Aha, da ist er schon! dachte Malchus, ging dann auf den Fremden zu.

Der Alte kehrte sich langsam um. »Dennoch wohl, dennoch wohl!« sprach er nun, als er den Malchus erblickte. »Du, Junge, jetzt schau, ich bin keck gewesen, gelt? Nun, daß ich halt so heraufgekommen bin da in deine Stuben. Hab' wohl gewußt, daß du in der Mess' bist; hätt' auch können hineingehen, aber weißt, Junge, mag nicht recht, red' mit meinem Herrgott lieber, wenn ich mit ihm allein bin. Du schaust so! Kennen wirst mich doch wohl noch? — Bin ja der alte Domini, ich, gelt?«

Malchus glaubte, er träume. — Das wird doch nicht der Pechbrenner Domini sein, den er vorzeiten als alten Mann gekannt hatte!

»Siehst du, Malchus,« sagte der Domini, »dort auf dem Eschenwipfel sitzt ein kohlenschwarzer Rabe. Der ist ein Steinrabe, von dem gesagt wird, daß er zweihundert Jahre alt wird. Hab's noch nicht so weit gebracht, bin erst ein wenig über hundert, aber wir zwei werden es schon noch so weit bringen, Junge.«

»Ei, versteht sich,« entgegnete Malchus, »'s ist nur schade, daß vor einigen vierzig Jahren ein anderer Vogel auf dem Wipfel dort gesessen ist. Wenn du aber der Domini [S. 398] bist und aus deinem Grab kommst — sei nur so gut und mach' nicht viel Umstände, ich weiß es ja —«

»Red' nicht so kindisch; pack' lieber deine sieben Sachen zusammen; wirst heut' mit mir gehen müssen. Mit dem Pfarrer hab' ich schon gesprochen, wirst kaum mehr zurückkommen in dieses Dorf!«

Was hatte der alte Malchus Zacharias Rosenkranz zusammenzupacken? Seinen Wollenbeutel nahm er und seinen Stock, dann war er fertig. Er stieg voran über die Sprossen hinab; als Domini nachkletterte, brach die Leiter, der Greis erhielt sich noch glücklicherweise an einem Haken.

Zur selben Stunde schritten die zwei alten Männer aufeinander gestützt durch die Dorfgasse. Viele Leute blickten ihnen nach. Mehrere folgten sogar, und aus dem Wirtshause klang die Tanzmusik.

Wohl blieb Malchus noch einmal stehen und sah zurück, aber er dachte kaum an das, was kommen sollte, sein Geist war wieder in Stumpfheit versunken.

Am Ende des Dorfes, wo das Häuschen der Nähterin stand, war Roß und Wagen. Der Fuhrmann, der dabei war, half den beiden Greisen in den Wagen, und dann rollte das Gefährte davon.

Malchus fuhr sich mit dem Ärmling zweimal über die Augen, er öffnete auch das linke zuzeiten und sah in die Gegend hinaus und sah seinen wunderlichen Gefährten an. War's denn doch wohl der alte Domini? — Malchus fühlte sich nicht behaglich; er hatte vergessen, einen Halm aufzulesen, und jetzt wußte er nicht, woran er kauen sollte. Einmal öffnete er seinen Wollenbeutel, zählte die Taler und murmelte dann vor sich hin: »Wo hab' ich denn doch den andern gelassen? Es müssen dreizehn gewesen sein!«

Gegen Abend, als im Tale schon die Schatten lagen, [S. 399] ließ der alte Domini vor einem Wirtshaus halten; nach einem Imbiß ging das Fuhrwerk weiter. Der hatte sogar geschmeckt. Es kam die Nacht, sie fuhren über Auen und durch Wälder. Malchus saß in sich versunken da.

Als die Sonne aufging, stand Roß und Wagen still, und da war ein See und an beiden Seiten standen rote Felswände und spiegelten sich im dunklen Grunde. Am Ufer des Sees stand ein neues Haus und ein heiteres Gärtlein.

Domini führte den Malchus gegen das Haus und sagte »Wir zwei sind wohl ein wenig alt, aber da ist alles wieder jung geworden, seh' ich. Mich deucht, Malchus, du hast dem Pechbrenner Domini vor fünfzig Jahren einen Taler geschenkt, weil dieser Taler der Judas war, und mich deucht, der Pechbrenner Domini hätte mit demselben Taler zu hausen und wirtschaften angefangen, und er hätte dann dieses Haus bauen lassen, daß du eine Ruhestatt hättest für deine alten Tage. Jetzt, Malchus, schau ein wenig nach, ob's wohl so ist!«

Und als sie in das Haus gingen, da stand ein Weib vor der Tür, und das reichte dem Malchus die Hand, und der Malchus hat sie erkannt.

Und dann gingen sie in die Stube, in die freundliche Stube mit den großen Fenstern, durch welche die Fülle des Sonnenlichtes auf den gedeckten Tisch und auf das weiße Ruhebett strömte.

Das ist nun dein, Malchus, glücklicher Malchus, für den der Freund gesorgt, den die Liebste nicht vergessen. — Martha hatte einen Mann gehabt, hatte viele Jahre glücklich mit ihm gelebt. Als er starb, da war sie wieder allein, wie ehdem. Nur ihr Lebensretter war noch in der Welt, verlassen, vergessen. Nein, vergessen nicht, sie dachte ja an [S. 400] ihn und sie wollte dem alten pflegebedürftigen Mann ihre noch übrigen Lebenstage weihen.

Malchus ging hinab zum See, dann hörte er dem Kuckuck zu, der fort und fort schrie; dann ging er wieder ins Haus, kletterte auf den Dachboden, schlang sich den Turban seiner Haare wieder um das Haupt und setzte sich auf einen Holzstrunk. Dort saß er Stunden und Stunden und drückte das linke Auge zu und kaute an einem Halm. —

Und jetzt ist das Gesicht zu Ende. Ich weiß nicht, wie es weitergeht.


[S. 401]

Der glücklichste Mann von Graz.

»Wollen Sie, lieber Freund, nicht einmal mit mir gehen? Ich möchte Sie gerne zum glücklichsten Manne von Graz führen.« Mit diesen Worten lud mich ein Nachbar in genannter Stadt zu einem Spaziergange ein.

»Zum glücklichsten Mann von Graz?« entgegnete ich, »erlauben Sie, der bin ich ja selber.«

Mein Nachbar stutzte, blickte mich an vom Haupt bis zum Fuße und schüttelte seinen Kopf. »Wirklich?« sagte er endlich, »um so besser, so werden Sie meinen Mann auch recht verstehen können.«

Nicht lange danach, so stieg ich eines Nachmittags die südliche Lehne des Rosenberges hinan. Und auf sanfter Lehne, mit dem Ausblick auf die Wälder der Hilm und auf die schimmernde Kirche von Mariatrost habe ich den Mann gefunden. Ihr erkennt das Heim des Glücklichen an dem einen Merkmal: es ist mit einem Dornenkranze umgeben. Über Rosenzäune hüpft so gerne der Weltunfrieden; über eine Dornenhecke vermag Habsucht, Ehrgeiz und Neid schwer zu dringen. Wer aber an der kleinen Pforte zwischen den Dornen die Klingelschnur zu finden weiß, dem wird aufgetan.

Unser Mann ist Grundbesitzer. Sein Erdboden mit Haus und Hof, mit Obst-, Gemüse- und Weingarten beträgt nicht weniger als 53 Geviertklaftern. Auf diesem Grunde hat sich der Mann drei Häuser gebaut. Eines dieser Gebäude, ein hölzernes Bauernhaus, stand vor nicht langer Zeit in der Stadt. Viele Jahre wohnte und wirkte der Eigentümer in ihm und war's zufrieden. Aber das Haus stand auf keinem guten Boden; ein Sumpf- oder Moorgrund [S. 402] war es nicht, ein Zinsgrund war's. Und gleichwohl kein Fleckchen Erde in ganz Graz von den Mietern so gewissenhaft und haushälterisch verwertet wurde, als diese paar Klafter in der Lechgasse, so wucherte doch daraus das Unkraut der Mietzinse derart hervor, daß es das Häuschen und den Wohlstand darin gefährdete. Deß war nun unser Mann einmal nicht zufrieden. Rollte er denn vier Räder unter das Gebäude, spannte zwei Pferde daran und führte sein Haus davon. Er führte es am Hilmteiche vorbei und die Mariatrosterstraße kreuzend, den schönen Rosenberg hinan. Dort oben hatte er sich von dem Ersparten Grund und Boden zu eigen erworben und auf den stellte er das hölzerne Haus, so aus Graz ausgewandert war, und baute auch noch ein größeres dazu für Weib und Kind und gründete daneben ein Hüttchen, das »Industriegebäude« für den Erwerb. Und nun war er zu einem Gutsbesitze gekommen, wie es im Lande keinen seltsameren gibt. Da lächelt denn der Gute still in sich hinein, und wenn er von seinen Feld- und Gartenarbeiten spricht, so tut er's mit Selbstbewußtsein und mit Schalkheit zugleich. Nun gehört er mit zu den Besitzenden, und seinen Besitz und seine Welt hat er sich selbst erworben und geschaffen. Das ist eine Freude!

Während das Weib Haus- und Landwirtschaft versorgt, sind der Mann und die Tochter in der Werkstatt tätig, und das Rauschen der Sägen und das Klopfen der Hämmerchen ist wohl weit und breit zu hören. Und was wird denn erzeugt? Je nun, vielleicht hängt in deiner Stube ein hübsch geschnitzter Vogelkäfig, vielleicht spielt dein Söhnchen gerne mit einem »Spatzenschießer«; vielleicht besitzt meine Leserin einen feinen, wohlriechenden Wacholderfächer — hervorgegangen aus der kunstreichen Hand meines glücklichen Mannes.

[S. 403]

Ich will aber nicht Reklame machen für seine Vogelhäuser, sondern für sein Glück. Es ist bei ihm zu haben; seine heitere Gemütlichkeit, seine Zufriedenheit ist für den Besucher ansteckend, wenigstens so lange sich der im kleinen Bereiche des Dornenkranzes befindet. Fest steht der Steinbau, in dem des Schnitzers Familie wohnt; aber er, der alte Patriarch, lebt in seinem hölzernen Häuschen. Dieses ist das gelungenste Abbild eines steierischen Bauernhauses und hätte auf einer Weltausstellung den Preis erhalten. So freundlich und behäbig steht es da, das kleinwinzige Haus mit seinem Dachgiebel, seinem Söller, der zur Herbstzeit mit Kukuruzzapfen behangen ist, mit seinen glatten Fensterbalken und allem, was dran und drum dazu gehört. In der Stube, die etwa 5-7 Fuß lang und breit und hoch ist, steht der Wandkasten und der Gesindetisch und der Hausaltar und das Bett des Hausvaters und der Kachelofen. Aber das Bett ist zu kurz für eine Manneslänge und so muß für die Fußstelle der gute Kachelofen sein Inneres erschließen. Seit Menschengedenken ist in dem Hause noch nicht geheizt worden, weder zur Sommers-, noch zur Winterszeit; das ist ja auch eine Eigentümlichkeit des Mannes, daß er die Kälte nicht kennt. Wie viel Grad Wärme muß ein Herz haben, das in seinen Bretterwänden bei der ruhigen Schnitzarbeit im Jänner den Ofen erspart! Nichtsdestoweniger ragt ein Rauchfang über das Schindeldach; in diesem Rauchfang dreht sich eine Windmühle, die unten in der Stube ein Glockenspiel treibt. Tag und Nacht läßt solches Spiel, meist gemächlich langsam, zuweilen aber auch rasch und lebhaft, seine Musik erklingen. Und so hat sich's dieser Mann eingerichtet, daß, je stürmischer die Stunden, je lustiger sein Glockenspiel ertönt. In einer ganz windstillen, tonlosen Nacht kann der Mann gar nicht schlafen, und in einer Zeit, wo alles nach Wunsch ihm geht, [S. 404] kann er nicht recht ruhig sein; denn, sagt er, da kommt jählings was, das einen in die Haut zwickt. In der Stube hängt auch ein Vogelbauer; aber das Tor dieses Vogelbauers geht durch die Holzwand in das Freie, und da können die Vögelein aus- und einfliegen nach Belieben, und sie finden zu jeder Stunde Unterkunft und Nahrung in dem gastlichen Hause.

»Der Mensch muß nicht alles in seiner Faust haben wollen,« sagt unser Schnitzer; »was gerne daherfliegt, dem mach' ich Tür und Tor auf, und will es wieder davon, so laß ich's fliegen.«

Fragt ihn einmal, ob er zufrieden ist in seiner Lage, und seht dann sein Gesicht an. Er ist über die sechzig Jahre alt, und fragt ihr ihn, was ihm in seinem Leben schon Übles widerfahren ist, so antwortet er, er sei sein Lebtag nicht viel krank gewesen, und zu essen hab' er auch allweg gehabt. Und fragt ihr ihn, wie er mit der Welt stehe, so sagt er euch, an Geldeswert sei er niemand was schuldig und er kenne gute brave Leute die Menge. Und fragt ihr ihn endlich, was er von der Zukunft erwarte, so wird er entgegnen, er freue sich auf die Zeit, in der seine jungen Obstbäume Früchte trügen, und sollte er bis dahin nicht mehr sein, so würde wohl ein anderer die Nutznießung haben.

Mehr will ich nicht verraten. Und sollte doch jemand in der freundlichen Stadt Graz leben, der die Überschrift meines Kapitels zu anmaßend findet und selbst auf sie Anspruch machen zu können glaubt, der möge sich deß ja nicht laut melden, der möge es halten wie der Schnitzer vom Rosenberge und eine Dornenhecke ziehen um die stille Stätte seines Glückes.


[S. 405]

Der Waldteufel.

In der Stadt Graz geht zeitweilig ein wunderlicher Mann um. Ein Mann mit klobigem, braunem Gesichte und einem großen roten Vollbart. Sein Lodenwams hat manchen Flicken, bisweilen sogar klaffende Nahte. Eine stattliche Ledertasche an der Seite, oder ein Bündel von Wurzeln und Kräutern. Über dem Bauch baumelt ein großes Bockshorn, mitunter auch manch andere seltsame Zier, deren Vorhandensein den Leuten nicht einleuchten will. Wozu an der Hüfte das Skelett eines Schafskopfes? Schafsköpfe trägt man doch sonst nur über dem Schlüsselbein. Das Merkwürdigste an dem Manne ist ein Riesenhut mit hohem Spitz, in der Art der alten Tiroler »Sternstecher«, nur noch viel größer; die breiten Krempen beherbergen den ganzen breitschulterigen Kumpan auf das beste. Dieser Hut ist zumeist mit wilden Blumen geschmückt, besonders aber mit Hahnen- oder Geierfedern, die hoch und keck in den Himmel hineinstechen. Sehr langsam schleift er dahin, immer wieder stehenbleibend, um mit singendem Rufe sich bemerkbar zu machen. Ich habe manchmal bemerkt, wie der Mann nicht ganz sicher durch die Straßen schritt; das ging nicht immer gerade aus, so wie es wohl sein Wille gewesen wäre. Gerne singt er ein dreistes Liedel oder läßt gar einen »Juchezer« fahren. Bisweilen aber grollt und flucht er — und hat Grund dazu. Die Gassenjugend, die »liebe«, tut ihn nämlich manchmal gern ein wenig »aushetzen«, weshalb die Polizei ihn immer abschaffen will, anstatt die Gassenbuben abzuschaffen. Sie meint wohl, er solle nicht Ärgernis geben, und die gibt er auch nicht, so viel ich weiß. Es gibt viel [S. 406] ärgerlichere Dinge auf der Welt, als die absonderliche Tracht dieses lustigen Sonderlings, und werden doch nicht abgeschafft. Den Namen »Waldteufel« hat man ihm geschenkt, er hat ihn freundlich angenommen, erstens, weil er am Geierkogel eine alte Waldhütte bewohnt, zweitens, weil er im Walde Beeren, Pilze, Heilkräuter und Wacholderstauden sammelt, um sie den Stadtleuten zu verkaufen, und drittens, weil ja der Titel zu seiner Erscheinung nicht übel paßt. Wie andere Geschäftsleute ihre Orden und Ehrentitel, so benützt er den seinen zur Reklame und man kann manche Hauswirtin eilig über die Treppen herablaufen sehen, wenn sie nach dem Geschrei vernommen, daß der Waldteufel in der Nähe sei. Da lacht er dann gemütlich, bietet seine Wacholderstauden aus und meint, er möchte die »Kranabeten« gern in »Kranabetenen« umsetzen. Dieses Teufels einziges Höllenfeuer dürfte das Feuer des Wacholderbranntweins sein.

Wo der Mann sich zeigt, mit jemandem spricht, oder auch mit sich selber, oder mit einer Straßenlaterne, oder mit einer Statue, da sammelt sich um ihn bald ein Kreis von Zuhörern, die teils mit Neugierde, teils mit spöttischer oder mißtrauischer Geberde die Gestalt anstaunen, bis dann plötzlich irgend so ein Range hervorspringt, an seinen Kleidern zerrt oder ihn mit Staub bewirft.

Eines schönen Maimorgens sah ich den »Waldteufel« — umringt wieder von Neugierigen — vor dem neuen Hamerlingdenkmal stehen. Er schien gerade vertieft zu sein in ein Gespräch mit dem Dichter. »Du bist ein gescheiter Mensch gewesen,« hörte ich ihn noch sagen mit seiner rindenrauhen Stimme, »hast ihnen schon immer einmal was gesagt, denen, was sie nit ins Hutbandel stecken. Ein gescheiter Mensch! So wie auch ich einer bin!« Dabei verzerrte er sein klobiges Antlitz zu einer Fratze, als ob er seiner eigenen Gescheitheit [S. 407] ein Gesicht schneiden wollte. Der steinerne Dichter hat ihm nicht geantwortet; der lebendige Hamerling hätte für diesen Mann gewiß ein gutes Wort gehabt, obschon er solche Leute gerne mir überließ. »Die Waldteufel gehören Ihnen,« sagte er einmal, »mit diesen wissen Sie besser umzugehen als unsereiner, dem die Stadtteufel so viel zu schaffen machen.« Übrigens glaube ich, daß er das Wort »Stadtteufel« gar nicht ausgesprochen hat; man verstand auch, wenn er in halben Sätzen redete. Nun aber mit diesem »Waldteufel« wußte auch ich nichts anzufangen. So vor Leuten zu ihm hintreten und fragen: »Wie geht's euch! Wie lebt ihr? Was ist euch schon alles passiert? Was denkt ihr? Erzählt mir etwas!« — das mag ich nicht, würde bei solchen Menschen auch nicht anschlagen. Oder man wird tüchtig gefoppt. Da heißt's möglichst gleichgültig dreinschauen und warten, bis so einer selber anfängt. Und mein Waldteufel fing an.

Diesmal hatte er einen besonders merkwürdigen Hut auf. Auch der hatte die Form der Sternstecher, nur dünkt mich, er wäre noch wuchtiger und riesiger als seine sonstige Kopfbedeckung. Manchmal war solcher Hut beklebt mit illustrierten Zeitungsannoncen, weiß aber nicht, ob zur selbstgewählten Zier oder ob schlaue Geschäftsleute sie ihm angeschwätzt hatten, so daß er für sie eine wandelnde Annoncensäule abgab. Ich vermute den Mann des Lesens unkundig und immereinmal ein Opfer fremden Vorwitzes. Diesmal war der Hut aus Baumrinden gemacht, in doppelter Schichte, daß er besser halten sollte; die sehr breiten Krempen waren zierlich gezackt. Aber diese Krempen hatten ein paar Löcher. Der Hagel hatte ihn geschlagen. Er pflege — sagte der Mann in langsamer, gemütlicher Tonart — bei Ungewittern nie unter einen Baum zu gehen, er bleibe auf freiem Felde stehen und warte, bis es vorüber sei. Das sei sonst schier am sichersten, [S. 408] aber diesmal habe ihm der Hagel die Löcher geschlagen. Nun, es sei ja recht. Sonst hätte er doch auch nichts, was ihm der Hagel schlagen könne. Außer diesem Hut hätte er wohl einmal ein Haus gehabt, aber das sei ihm abgebrannt. Sei ihm immer noch leid um dieses Haus, seien ihm viel Altertümer mitverbrannt. Er meinte damit wahrscheinlich alte Kleider, besonders aber den weitbekannten Filzhut, den er sich vor vierzig Jahren selbst gebaut hatte. Um seine Angabe zu bezeugen, zog er ein Zeitungsblatt aus dem Sack; als er das abgegriffene Papier mit ungeschickten Fingern entfaltete, wollte es gleich auseinanderfallen, als ob auch diese letzte Erinnerung an seine Hütte zunichte werden sollte. Da stand denn in einer Notiz beiläufig erwähnt, daß am Geierkogel eine Hütte abgebrannt sei, in welcher der sogenannte Waldteufel sich manchmal aufgehalten habe. — So weit war auch dieser Naturmensch schon von der Kultur beleckt, daß er sich etwas Besonderes dünkte, »weil er in der Zeitung stand«. — Ja, Alter, das hat man davon, wenn man in die Stadt geht, Pilze und Kranabetstauden zu verkaufen. In die Zeitung kommt man, gedruckt wird man, gerade so wie der Dichter, der dort in Stein auf dem Sockel sitzt. — Da sagte er auf einmal: »Ihr Herren! Wenn ich alle Steine, die mir in Graz die Gassenbuben schon nachgeworfen haben, zusammengetragen hätte auf einen Haufen, es wäre auch ein Denkmal. Wäre auch eins! Wie mich die Kinder aushetzen.«

Es gibt ja böse Buben, hier wie dort. Der Unterschied, daß die Landkinder sich vor dem Waldteufel fürchten, während die Stadtjugend mit ihm ihren Spaß hat. Wie die löbliche Polizei sagt, Ursache daran wird doch wohl er selber sein mit seiner auffallenden Tracht. Ob er sich aus Eitelkeit so trägt? Oder ob er damit die Aufmerksamkeit der [S. 409] Leute aus praktischen Gründen auf sich lenken will? Vielleicht beides. Leicht ist sein Geschick sicherlich nicht. Wenigstens nicht in unseren Augen. Er selbst — wenn man ihn so sprechen hört — wüßte allerdings nicht, was ihm fehlt. Es müßten nur die »Altertümer« sein, die ihm verbrannt sind.

Als Beweis für die Schlauheit des Waldteufels wird ein Stückl erzählt. Wandern da einige bergfrohe Herren aus der Stadt auf den Geierkogel. Der Weg ist weit und die Sonne brennt heiß. Nirgends im Kalkboden eine Quelle, nirgends ein Labsal! Endlich ein Haus, vor dem einige Knechte stehen, darunter der wilde Waldteufel. Freundlich bitten die Ausflügler um einen Trunk Wasser, der ihnen aus einer Lagel gern und ohne Anspruch auf Bezahlung gewährt wird. Mit einem herzlichen »Gelt's Gott!« wollen sich die Städter wieder entfernen, da fängt der Waldteufel zu munkeln an: »Ich muß das Wasser weit hertragen und ihr schenkt es den reichen Städtern. Holt euch von morgen ab selber das Wasser herauf!« Natürlich griffen die Herren sofort in die Tasche und legten Nickel auf Nickel in die nun demütig dargebotene Hand des Waldteufels. Kaum waren die Ausflügler außer Hörweite, da zeigte der Fechtbruder seine Kollekte den Knechten mit den Worten: »Da, zwei Gulden fünfzig, und merkt's euch, wie leicht man bei den Städtern Geld verdienen kann!« Es braucht nur noch erwähnt zu werden, daß sich der Waldteufel nie mit Wassertragen abgegeben hat.

So ist es ihm sein Lebtag gut gegangen. Sein Vater, ein Tiroler, hat seine Mutter, eine Kärntnerin geheiratet. Und das Kind nachher ist ein Steirer geworden. Also drei Heimländer. Wer hat mehr? Er ist sein Lebtag viel gereist. Nicht bloß in den drei Heimatländern, wohl auch in Italien, im Küstenland und weiter um. Sein Vater war »Künstler«, Holzschnitzler, und ist dann mit seinen Waren: [S. 410] Holzschüsseln, Kornschaufeln, Kochlöffeln und dergleichen hausieren gegangen. Der Sohn ist überall mit ihm gewesen. Nicht jede Nacht haben sie ihr Quartier gefunden.

Nun, im Freien ist's auch bequemer, da hat man weit genug, hat frische Luft und wird nicht geniert. Das Gras auf der Wiese ist auch ein Federbett, ein ganz frisches, und kein Königskind hat ein süßeres Schlaflied, als das die Grillen singen. Aber noch lieber ist der »Franz« auf Steinhaufen gelegen, da kann man sich mit den Ellbogen das Bett graben wie man's gern hat. »San die Gliederlan wohl immer a bissel steif worden; muß einer nachher halt wieder brav laufen, alsdann werden sie schon wieder gelenkig.«

»Und hat's Euch nicht geschadet, bei Nacht und Wetter so im Freien schlafen?«

»Bis jetzt nit. Gesund, Gott sei Dank, bin ich alleweil gewest.«

»Wie alt seid Ihr denn?«

»Im Achtunddreißigerjahr geboren.«

»Was? Und nicht ein graues Gran im Bart!«

»Aber da, lieber Herr!«

Er hob seinen Hut vom Kopf, da hatte er noch eine schwarze Haube auf, wohl zum Schutz vor dem drückenden Baumrindendach. Das verschwitzte Haar hatte graue Fäden.

»Seht Ihr, und so einen würdigen Herrn will die Polizei abschaffen!« Er sagte es munter gegen einen Sicherheitswachmann hin, der den Waldteufel schon lange beobachtet hatte, ohne ein Arg an ihm zu finden. Dann hob er mit beiden Händen den Hut langsam und bedächtig wieder auf den Kopf. Einer, der diesen Hut vorwitzigerweise versucht, behauptete, er wiege wenigstens fünf Pfund. Dem Manne schien die Gefahr des Abgeschafftwerdens nicht aus dem Kopfe zu gehen. [S. 411] Es schien ihm schon oft passiert zu sein, obwohl die Behörden nie recht wußten, wohin mit ihm. Von den drei schönen Alpenländern wollte jedes das bescheidenste sein und auf den drolligen Vagabunden verzichten. Er wäre ja doch in keinem geblieben. »Ich tu' halt so viel gern reisen, so viel gern reisen! Und abgeschafft werden wir alle einmal!« lachte er laut, gegen den Wachmann hin. »Bis wir alt sind, werden wir alle abgeschafft. Aber ich bin decht noch jung.«

»Ja, bloß sechsundsechzig Jahre!« redete ich drein.

»Was ist das, sechsundsechzig Jahr! Meine Mutter ist hundertvier Jahr alt geworden. Mein Vater ist hundertvierzehn Jahr alt geworden, weil er brav Schnaps getrunken hat. Heut' kunnten sie noch leben, wenn —«. Er hielt ein mit irgend einer Anklage und setzte schmunzelnd bei: »Wenn sie nit gestorben wären.«

»So habt auch Ihr Aussicht, alt zu werden?«

»Ich werde zweiundachtzig Jahre alt,« antwortete er ruhig. »Damit wir zusammen dreihundert Jahr ausmachen, alle drei. Dreihundert ist kein Spott mehr. Mein Vater hat allemal gesagt, er möcht's gern derleben, daß die Leut' gescheiter werden. Hundertvierzehn Jahr ist er alt worden und hat's doch nit derwarten mögen. So lang mag ich nit leben, so lang nit. Nur das möcht' ich noch sehen, wie's ausschauen wird auf der Welt, bis die Leut' noch dümmer geworden sind.«

Da hatten wir gleich seine Meinung über den Stand unserer Welt. Er brauchte keine langen anarchistischen Reden zu halten, keine pessimistischen Bücher zu schreiben — das eine Wort sagte alles. Er, der keinen anderen Rock hat, als das in allen Nahten klaffende Lodenwams, kein anderes Dach, als den Rindenhut — von der Art seiner Nahrung war überhaupt nicht die Rede — er fühlte sich erhöht über die [S. 412] Millionen der Durchschnittsmenschen, die ihn erst dann interessieren werden, bis sie noch dümmer geworden sind.

Wie war nun dem stolzen armen Manne beizukommen? »Waren« hatte er diesmal nicht bei sich, die ihm etwa abzukaufen gewesen wären. War man sicher, daß der hohe Herr, der bedürfnislose, freie König des Waldes, eine bescheidene Gabe nicht zurückweisen würde?

»Wie würdet Ihr es halten?« fragte ich ihn tückisch, »wenn ein armer, braver und ganz zufriedener Mensch dastände und jemand gäbe ihm ein Silberstück in die Hand. Wäre das gescheit oder dumm?«

»Das wäre gescheit, das wäre gescheit!« rief er aus.

»Und was glaubet Ihr, daß der arme, brave und ganz zufriedene Mensch mit dem Silberstück anfangen würde?«

»Schnaps kaufen!«

So weit ging sein Freiheitsstolz — und nicht weiter. Alle Bande hatte er abgestreift oder gesprengt, aber der Schnaps war sein Herr und Gebieter geblieben. Doch ich sah ihn keinen trinken. Ehe wir auseinandergingen, vertraute er mir noch ein Geheimnis an. Er sei gesonnen, sich demnächst zu veräußern. Er stehe in Unterhandlung mit der medizinischen Fakultät, er wolle ihr seinen heiligen Leib verkaufen. Bei dem Worte heilig schnitt er eine ganz abenteuerliche Grimasse. Er glaube, mit fünfhundert Gulden sei der Waldteufel nicht überzahlt, aber man spare immer am unrechten Orte und wolle ihm nur dreihundert geben. So viel aber sei die Haut allein wert, wenn sie ausgestopft werde. Was habe er dann für die Knochen? Daß diese auch hübsch was nutz seien, beweise er jedem, der es bewiesen haben wolle. Er hob den Arm mit der geballten Faust. Indes hätte ihm ein Wachmann geraten, sich nicht voreilig zu verkaufen, er lebe dann keine drei Wochen mehr! Die Studenten seien so [S. 413] viel gierige Leut', die würden seinen Tod nicht abwarten wollen, sondern recht bald mit »einem Stupferl von hinten« nachhelfen, daß sie zu ihrem Kadaver kämen. Überhaupt würde er am Arm gezeichnet werden und dürfe auch nicht nach Amerika, oder sonst übers große Wasser. Als Mann der Freiheit vertrage er das nicht. Es sei also eine Lebensfrage, ob er sich derweil nicht doch noch behalten solle. Es werde am besten sein, er gehe fleißig betteln. — Und machte sich auch gleich ans Tagewerk.

Weiter weiß ich nichts von ihm. Jedenfalls erreicht der Mann ein hohes Alter, besonders, wenn er nach dem Grundsatz seines Vaters so lange leben will, bis die Leute gescheiter geworden sind.


Von

Peter Rosegger

erschien zuletzt im gleichen Verlage:


Frohe Vergangenheiten

Launige Geschichten


Mit einem Vorwort von

Hans Ludwig Rosegger

15. Tausend


»Der Titel trifft auf die Erzählungen, die, ernst und heiter vermischt, das schalkhafte Gesicht des Waldschulmeisters fleckenlos spiegeln , absolut zu. Es ist echtester Rosegger : Waldweisheit, die allerhand reizvolle Patina angesetzt hat und dennoch nicht nur ehrwürdig, sondern lebendig wie jedes Wort ist, das Rosegger je geschrieben hat. — Ganz ungewöhnlich lesenswert aber und als menschliches Dokument so ziemlich alles, was in den letzten Jahren auf dem Büchermarkt erschien, überragend, ist die dem Bande voran gesetzte »Lebns-Beschreibung«. Die Orthographie ist die des fünfzehnjährigen Bauernbuben, aber das, was der »Autor« mit früherwachter Selbstkritik, »keine interesande Geschichte« nennt, ist nicht literarische Kuriosität, sondern in seiner Wahrhaftigkeit und in der Hilflosigkeit des von allen ersehnten Quellen des Wissens ausgesperrten Bauernbuben rührend und erschütternd. Alle Schulorthographie ist, gegen dieses erste Stammeln eines großen Menschen gehalten, Makulatur. «

Karl Marilaun im »Neuen Wiener Journal«.